Musil: Der Mann ohne Eigenschaft. Die Druckfahnenkapitel – das Wesentliche

Die nachgelassenen Materialien zum Mann ohne Eigenschaften, mit denen das publizierte Werk hätte ergänzt und zu Ende geführt werden sollen, erstrecken sich in der von Frisé erarbeiteten Fassung [die zweibändige Ausgabe 1978, N.T.] noch einmal über mehr als eintausend Seiten. Darin enthalten sind die 20 Druckfahnenkapitel, die Musil nach nochmaliger Fristverlängerung im April 1938 hätte in Druck geben wollen. Dieses Vorhaben war hinfällig, als Nazideutschland am 12. März in Österreich die Macht übernahm; denn nach der gerade noch geglückten Flucht seines damaligen Verlegers Gottfried Bermann Fischer schwanden für Musil vorerst alle Chancen auf gedruckte Neuerscheinungen.“ (Wikipedia: Der Mann ohne Eigenschaften, dort „Roman ohne Ende“, 4/2023) In den Druckfahnenkapiteln wird also der dritte Teil des Romans fortgesetzt (Kap. 39-58). In meiner Frisé-Ausgabe von 1952 (Sonderausgabe 1970) sind das die Kapitel 39-47, 53, 49, 69-77; Frisé hatte also anderes Material Musils eingefügt, um einen quasi vollständigen Roman zu konstruieren. Mir scheint es angemessener zu sein, sich an den von Musil zur Veröffentlichung bestimmten Text und dessen Kapitelzählung zu halten, was Frisé 1978 möglicherweise auch getan hat.

Die Druckfahnenkapitel kann man kaum als eine Einheit betrachten, der dritte Teil des Romans wird nur in wenigen Aspekten fortgeführt:

  • Viel Platz nimmt Lehrer Lindner, Vater eines flegelhaften Sohnes, ein (Kap. 39-41, 43, 44, 56); sein Auftreten, seine Person, sein Werdegang, das ist eine köstliche Satire, und Agathe lacht ihn auch aus.
  • Im Kontrast dazu steht das Verhältnis Agathe-Ulrich (Kap. 42, 45-48), in dem es zu einer mehr als erotischen Begegnung kommt.
  • Ulrichs Gefühlspsychologie, breit und umständlich entfaltet, wird davon kaum berührt (Kap. 50, 52, 54, 55, 57, 58); ich habe mich bei der Lektüre gequält – wesentlich klarer ist Musils Zeitgenosse O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen (1941).
  • Im Gespräch mit Ulrich informiert Stumm diesen über die Geschicke der Aktion, die jetzt fast ein Jahr dauert und inzwischen vom Außenministerium dominiert wird – die Verbindung mit Band I ist nur angedeutet.

Auszug aus der Charakterisierung Lindners durch den Erzähler: Es gibt gegen die unberechenbaren Regungen eines leidenschaftlichen Herzens nur ein zuverlässiges Mittel: streng bis zum letzten durchgehaltene Planmäßigkeit; und ihr, die er beizeiten erworben hatte, verdankte Lindner sowohl die Erfolge seines Lebens als auch den Glauben, von Natur ein leidenschaftsstarker und schwer zu disziplinierender Mann gewesen zu sein. Er stand des Morgens früh auf, Sommer und Winter um die gleiche Stunde, wusch sich an einem kleinen eisernen Waschtisch Gesicht, Hals, Hände und ein Siebentel seines Körpers, jeden Tag natürlich ein anderes, worauf er den übrigen Körper mit einem nassen Handtuch abrieb, durch welche Einteilung das Bad, dieser zeitraubende und wollüstige Vorgang, auf einen Abend aller zwei Wochen beschränkt werden konnte. Es lag darin ein kluger Sieg über die Materie; und wer je Gelegenheit gehabt hat, die unzureichenden Waschgelegenheiten und unbequemen Betten zu betrachten, mit denen sich historisch gewordene Persönlichkeiten begnügt haben, der wird sich kaum der Mutmaßung entschlagen können, daß zwischen eisernen Betten und eisernen Männern ein  Zusammenhang bestehen müsse, wenn wir ihn auch nicht übertreiben wollen, da wir sonst gleich auf Nägelbetten schlafen dürften. Hier war dem Nachdenken also überdies eine vermittelnde Aufgabe gestellt, und nachdem sich Lindner im Widerschein anregender Beispiele gewaschen hatte, nützte er auch das Abtrocknen nur mit Maß dazu aus, dem Körper durch geschickte Benutzung des Handtuches einige Bewegung zu geben. Ist es doch eine verhängnisvolle Verwechslung, die Gesundheit auf den tierischen Teil des Menschen zu gründen, geistiger und sittlicher Adel sind es vielmehr, woraus die körperliche Widerstandsfähigkeit hervorgeht; und wenn das auch nicht immer auf den einzelnen zutrifft, so trifft es dafür umso sicherer im großen zu, denn die Kraft eines Volkes ist die Folge des rechten Geistes, und nicht gilt es umgekehrt. Lindner hatte darum seinen Abreibungen auch eine besondere und sorgfältige Ausbildung angedeihen lassen, die es vermied, mit rücksichtslosem Zugreifen den üblichen männlichen Götzendienst zu treiben, dafür aber die ganze Persönlichkeit beteiligte, indem er die Bewegungen seines Körpers mit schönen inneren Aufgaben verband. Er verabscheute besonders die halsbrecherische Anbetung der Schneidigkeit, die, von außen kommend, nun auch schon in seinem Vaterland manchem als Ideal vorschwebte; und sich von ihr abzuwenden, gehörte ganz und gar zu seinen Morgenübungen. Er ersetzte sie bei diesen mit großer Umsicht durch ein staatsmännischeres Verhalten im turnerischen Gebrauch seiner Gliedmaßen und verband Anspannung der Willenskraft mit rechtzeitiger Nachgiebigkeit, Schmerzüberwindung mit verständiger Menschlichkeit, und wenn er als abschließende Mutübung etwa über einen umgelegten Stuhl sprang, so geschah es mit ebenso viel Zurückhaltung wie Selbstvertrauen. Eine solche Entfaltung des ganzen Reichtums an menschlichen Anlagen machte ihm seine Leibesübungen, seit er sie vor einigen Jahren aufgenommen hatte, zu wahren Tugendübungen. (Kap. 40)

Ulrichs und Agathes Liebeserlebnis (Erzählerbericht): Bald nach diesem Besuch wiederholte sich das »Unmögliche«, das Agathe und Ulrich beinahe schon körperlich umschwebte, und es geschah wahrlich, ohne daß irgenderlei geschah.
Die Geschwister kleideten sich zu einer Abendunterhaltung um, es war niemand als Ulrich im Haus, Agathe zu helfen, sie hatten nicht rechtzeitig begonnen und waren darum eine Viertelstunde lang in lebhaftester Eile gewesen, als eine kleine Pause eintrat. Auf den Lehnen und Flächen des Zimmers lag Stück für Stück fast noch der ganze Kriegsschmuck ausgebreitet, der von einer Frau bei solcher Gelegenheit angelegt wird, und Agathe bückte sich soeben über ihren Fuß, mit der ganzen Aufmerksamkeit, die das Anziehen eines dünnen Seidenstrumpfs erfordert. Ulrich stand ihr im Rücken. Er sah ihren Kopf, den Hals, die Schulter und diesen beinahe nackten Rücken; der Körper bog sich über dem emporgezogenen Knie ein wenig zur Seite, und am Hals rundete die Spannung des Vorgangs drei Falten, die schlank und lustig durch die klare Haut eilten wie drei Pfeile: die liebliche Körperlichkeit dieses Bilds, der sich augenblicks ausbreitenden Stille entsprungen, schien ihren Rahmen verloren zu haben und ging so unvermittelt und unmittelbar in den Körper Ulrichs über, daß dieser seinen Platz verließ und, nicht ganz so bewußtlos, wie ein Fahnentuch vom Wind entrollt wird, aber auch nicht mit bewußter Überlegung, auf den Fußspitzen näher schlich, die Gebeugte überraschte und mit sanfter Wildheit in einen dieser Pfeile biß, wobei sein Arm die Schwester umschlang. Dann ließen Ulrichs Zähne ebenso vorsichtig die Überfallene los; die rechte Hand hatte ihr Knie umfaßt, und während er mit dem linken Arm ihren Körper an seinen drückte, riß er sie auf emporschnellenden Beinsehnen mit sich in die Höhe. Agathe schrie dabei erschrocken auf.
Bis dahin hatte sich alles ebenso übermütig und scherzhaft abgespielt wie vieles zuvor, und mochte es auch in den Farben der Liebe gestreift sein, so doch nur mit der eigentlich schüchternen Absicht, deren gefährlichere ungewöhnliche Natur unter solchem heiter vertraulichen Kleid zu bergen. Aber als Agathe ihr Erschrecken überwand und sich nicht sowohl durch die Luft fliegen als vielmehr in dieser ruhen fühlte, von aller Schwere plötzlich entbunden und an deren Stelle von dem sanften Zwang der allmählich langsamer werdenden Bewegung gelenkt, bewirkte es einer jener Zufälle, die niemand in seiner Macht hat, daß sie sich in diesem Zustand wundersam besänftigt vorkam, ja aller irdischen Unruhe entrückt; mit einer das Gleichgewicht ihres Körpers verändernden Bewegung, die sie niemals hätte wiederholen können, streifte sie auch noch den letzten Seidenfaden von Zwang ab, wandte sich fallend ihrem Bruder zu, setzte gleichsam noch im Fall das Steigen fort, und lag niedersinkend als eine Wolke von Glück in seinen Armen. Ulrich trug sie, ihren Körper sanft an sich drückend, durch das dunkelnde Zimmer ans Fenster und stellte sie neben sich in das milde Licht des Abends, das ihr Gesicht wie Tränen überströmte. Trotz der Kraft, die alles erforderte, und des Zwangs, den Ulrich auf seine Schwester ausgeübt hatte, kam ihnen das, was sie taten, merkwürdig entlegen von Kraft und Zwang vor; man hätte es vielleicht wieder mit der wundersamen Inbrunst eines Bildes vergleichen können, das für die Hand, die es von außen ergreift, nichts als eine lächerliche, angestrichene Fläche ist. So hatten sie denn auch nichts im Sinn als den leiblichen Vorgang, der ihr Bewußtsein ganz erfüllte, und doch besaß er neben seiner Natur als harmloser, ja anfangs sogar etwas derber Scherz, der alle Muskeln in Bewegung setzte, eine zweite Natur, die äußerst zart alle Gliedmaßen lähmte und zugleich mit einer unsagbaren Empfindlichkeit umstrickte. Sie schlangen fragend einander die Arme um die Schultern. Der geschwisterliche Wuchs der Körper teilte sich ihnen mit, als stiegen sie aus einer Wurzel auf. Sie sahen einander so neugierig in die Augen, als sähen sie dergleichen zum erstenmal. Und obwohl sie das, was eigentlich vorgegangen sei, nicht hätten erzählen können, weil ihre Beteiligung daran zu inständig war, glaubten sie doch zu wissen, daß sie sich soeben unversehens einen Augenblick inmitten dieses gemeinsamen Zustands befunden hätten, an dessen Grenze sie schon so lange gezögert, den sie einander schon so oft beschrieben und den sie doch immer nur von außen geschaut hatten. (Kap. 45)

Schwierigkeit, das Gefühl zu erfassen (Aufzeichnungen Ulrichs): »In diesen durchschnittlichen Graden erkennen und benennen wir ein Gefühl natürlich nicht anders als andere Erscheinungen, die im Fluß sind, um das nochmals zu sagen. Die Unterscheidung zwischen Haß und Zorn festzulegen, ist so leicht und so schwer wie die zwischen Mord und Totschlag oder einem Becken und einer Schüssel zu bestimmen. Es waltet nicht Namenswillkür, aber jede Seite und Biegung kann dem Vergleich und der Begriffsbildung dienen. Und so hängen auf diese Weise wohl auch die hundertundein Arten der Liebe zusammen, über die Agathe und ich nicht ganz ohne Kummer gescherzt haben. Die Frage, wie es kommt, daß so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird, hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames ›Gabeligsein‹ zugrunde; aber es steckt nicht als gemeinsamer Kern in ihnen, sondern fast ließe sich sagen, es sei nicht mehr als ein zu jedem von ihnen möglicher Vergleich. Denn sie brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein, es genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man von einem zum anderen kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die  Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in einer solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum andern und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat.«

*

»Wollten wir aber, wozu wir neigen, die zwischen allen Lieben bestehende Ähnlichkeit für ihre Ähnlichkeit mit einer Art von ›Urliebe‹ ansehen, die gleichsam ohne Arme und Beine in ihrer aller Mitte säße, so wäre es anscheinend der gleiche Fehler wie der Glaube an eine ›Urgabel‹. Und doch kennen wir das lebendige Zeugnis dafür, daß es solches Gefühl wirklich gibt. Bloß der Grad dieses ›Wirklich‹ läßt sich schwer bestimmen. Es ist ein anderes als das der wirklichen Welt. Ein Gefühl, das nicht Gefühl für etwas ist, ein Gefühl ohne Begehren, ohne Bevorzugung, ohne Bewegung, ohne Kenntnis, ohne Grenzen; ein Gefühl, zu dem kein bestimmtes Verhalten und Handeln gehört, jedenfalls kein ganz wirkliches Verhalten: so wahrhaftig dieses Gefühl nicht von Armen und Beinen bedient wird, so wahrhaftig ist es uns immer wieder entgegengetreten und ist uns lebendiger als das Leben erschienen! Liebe ist schon ein zu besonderer Name dafür, wenngleich es mit einer Liebe, für die Zärtlichkeit oder Geneigtheit noch zu handgreifliche Ausdrücke sind, wohl die allernächste Verwandtschaft hat. Es verwirklicht sich auf vielerlei Art und in vielen Beziehungen, aber es läßt sich niemals ganz von dieser Verwirklichung ablösen, die es verunreinigt. So ist es uns erschienen und verschwunden, eine Ahnung, die immer gleich blieb. Scheinbar haben die nüchternen Überlegungen, womit ich diese Blätter gefüllt habe, wenig damit zu tun, und doch bin ich fast sicher, daß sie mich an den richtigen Übergang geführt haben!« (Kap. 55)

Text:

http://musilonline.at/musiltext/der-mann-ohne-eigenschaften-4/druckfahnen39-58/

https://archive.org/details/MusilDerMannOhneEigenschaften/page/n1671/mode/2up?view=theater (Ausgabe Frisé, 1952)

In der online-Ausgabe folgen noch die Fortsetzung der Druckfahnenkapitel und weitere Materialien; aber das alles ist für mich als normalen Leser zu unfertig, das kann ich getrost den Doktoranden überlassen.

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Dritter Teil – das Wesentliche

Der dritte Teil des Romans, also der Anfang des Zweiten Buchs, wurde 1932 von Musil veröffentlicht. Er macht auf mich einen unfertigen Eindruck:

  • Es tauchen neue Figuren auf: Agathe, Ulrichs Schwester, als Hauptperson, die sich von ihrem Mann trennt und das Testament des Vaters fälscht;
  • als Nebenfiguren: ihr Mann, Professor Hagenauer; Meingast, ein schräger „Philosoph“, der Clarisse verrückt macht; Lindner, der die verzweifelte Agathe wieder aufrichtet; Feuermaul, ein Jungdichter und Schwätzer; Meseritscher, der Journalist.
  • Diotima verändert sich, statt der Seele entdeckt sie die Sexualwissenschaft;
  • ihr Verhältnis zu Arnheim, der in den Hintergrund rückt, ist abgekühlt;
  • die vaterländische Aktion dümpelt vor sich dahin und liegt in den letzten Zügen; das nebulöse Umfeld der Leitidee „Seele“ wird durch verschiedene polare Strömungen abgelöst.
  • Von den Themen bleibt die Moral, neu ist die Gefühlssache und vor allem das Verhältnis der Geschwister Ulrich und Agathe; Moosbrugger tritt in den Hintergrund.
  • Am Ende ist nicht abzusehen, wie es weitergehen könnte.

1. Das Verhältnis der Geschwister erreicht eine neuartige Intensität, ohne geklärt zu werden, trotz des Titels „Siamesische Zwillinge“: Agathe anerkannte in einer großen, schwellenden Empfindung, daß sie in der einzigen stolzen Leidenschaft ihres Lebens einem Irrtum erlegen war, und der Kern dieses Irrtums bestand aus einem feurigen Nebel, der sich nicht berühren und fassen ließ, mochte man nun sagen, daß Glauben nicht eine Stunde alt werden dürfe, oder es anders nennen; und immer war es das, wovon ihr Bruder sprach, seit sie beisammen waren, und immer war es sie selbst, von der er sprach, auch wenn er allerhand begriffliche Umstände machte und seine Vorsicht für ihre Ungeduld oft viel zu langsam war. Sie kamen immer wieder auf das gleiche Gespräch zurück, und Agathe brannte selbst vor Verlangen, daß sich seine Flamme nicht verkleinere.

Als sie nun Ulrich ansprach, hatte er die lange Dauer der Unterbrechung gar nicht bemerkt. Aber wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können: eine Reise an den Rand des Möglichen, die an den Gefahren des Unmöglichen und Unnatürlichen, ja des Abstoßenden vorbei, und vielleicht nicht immer vorbei führte; ein »Grenzfall«, wie das Ulrich später nannte, von eingeschränkter und besonderer Gültigkeit, an die Freiheit erinnernd, mit der sich die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen. Er und Agathe gerieten auf einen Weg, der mit dem Geschäfte der Gottergriffenen manches zu tun hatte, aber sie gingen ihn, ohne fromm zu sein, ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben; sie waren als Menschen dieser Welt auf ihn geraten und gingen ihn als solche: und gerade das war das Beachtenswerte. Ulrich, der in dem Augenblick, wo ihn Agathe wieder anredete, noch von seinen Büchern und den Fragen, die sie ihm aufgaben, in Anspruch genommen war, hatte trotzdem das Gespräch, das beim Widerstand seiner Schwester gegen die Frömmigkeit ihrer Lehrerinnen und seiner eigenen Forderung »exakter Gesichte« abgebrochen war, nicht für die kürzeste Zeit aus dem Gedächtnis verloren und erwiderte sogleich: »Man braucht durchaus kein Heiliger zu sein, um etwas davon zu erleben! Man kann auch auf einem umgestürzten Baum oder einer Bank im Gebirge sitzen und einer weidenden Rinderherde zusehn und schon dabei nichts Geringeres mitmachen, als wäre man mit einemmal in ein anderes Leben versetzt! Man verliert sich und kommt mit einemmal zu sich: du hast ja selbst schon davon gesprochen!« (Kap. 12)

Er hatte ihre beiden Hände gefaßt.

Die mattschimmernde Haut seiner Schwester, mit dem Geruch ihm unbekannter Pflanzen, die vor seinem Auge dem leicht ausgeschnittenen Kleid entstieg, verlor für einen Augenblick den irdischen Begriff. Der Stoß des Blutes klopfte aus einer Hand an die andere. Ein tiefer Graben unweltlicher Herkunft schien sie und ihn in ein Nirgendland einzuschließen.

Es mangelten ihm plötzlich die Vorstellungen, es zu bezeichnen; er verfügte nicht einmal über die, deren er sich dazu schon oft bedient hatte. »Wir wollen nicht aus der Eingebung der Augenblicke handeln, sondern aus dem bis ans Letzte währenden Zustand.« »So, daß es uns an den Mittelpunkt führt, von wo man nicht mehr zurückkommt, um zurückzunehmen.« »Nicht vom Rande und seinen wechselnden Zuständen her, sondern aus dem einzigen unveränderlichen Glück«: Solche Sätze kamen ihm wohl zu Munde, und es wäre ihm auch möglich erschienen, sie zu gebrauchen, hätte es nur als Gespräch geschehen sollen; aber in der unmittelbaren Anwendung, die sie zwischen ihm und seiner Schwester in diesem Augenblick erfahren sollten, war es plötzlich unmöglich. Das erregte ihn hilflos. Aber Agathe verstand ihn deutlich. Und es hätte sie glücklich machen müssen, daß zum erstenmal die Schale um ihn ganz zerbrach und ihr »harter Bruder« wie ein zu Boden gefallenes Ei das Innere preisgab. Zu ihrer Überraschung war aber diesmal ihr Gefühl nicht ganz bereit, mit dem seinen zu gehn: Zwischen Morgen und Abend lag die wunderliche Begegnung mit Lindner, und obwohl dieser Mann bloß ihr Erstaunen und ihre Neugierde erregt hatte, genügte auch ein solches Körnchen schon, die unendliche Spiegelung der eremitischen Liebe nicht entstehen zu lassen. Ulrich fühlte es an ihren Händen, noch ehe sie etwas erwiderte, und Agathe – erwiderte nichts. (Kap. 38)

Er sah in den Vorgängen des Abends, wenn sie auch nicht ohne Ungestüm waren und durch mißgünstige Auslegung sogar noch folgenschwer werden sollten, nur das Beispiel einer unendlichen Unordnung. Herr Feuermaul erschien ihm in diesem Augenblick so gleichgültig wie die Menschenliebe, der Nationalismus so gleichgültig wie Herr Feuermaul, und vergeblich fragte ihn Stumm, wie man denn aus dieser überaus persönlichen Stellungnahme den Gedanken eines greifbaren Fortschritts destillieren solle. »Melde eben,« erwiderte Ulrich »das sei der Tausendjährige Glaubenskrieg. Und noch nie seien die Menschen so schlecht gegen ihn gerüstet gewesen wie in dieser Zeit, da der Schutt ›des vergeblich Gefühlten‹, den ein Zeitalter über dem anderen hinterläßt, Bergeshöhe erreicht hat, ohne daß etwas dagegen geschähe. Das Kriegsministerium darf also beruhigt dem nächsten Massenunglück entgegensehen.«

Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte davon keine Ahnung. Es lag ihm auch gar nichts am wirklichen Geschehen, sondern er kämpfte um seine Seligkeit. Er versuchte alles dazwischenzuschieben, was sie hindern könnte. Darum lachte er auch und suchte die anderen durch den Anschein irrezuführen, daß er spotte und übertreibe. Er übertrieb für Agathe; er setzte sein Gespräch mit ihr fort, und nicht nur dieses letzte. Er errichtete in Wahrheit ein Gedankenbollwerk gegen sie und wußte, daß daran an einer gewissen Stelle ein kleiner Riegel wäre: zöge man an diesem, so würde alles von Gefühl überflutet und begraben werden! Und eigentlich dachte er unausgesetzt an diesen Riegel. (Kap. 38)

2. Ulrich denkt und spricht öfter über die Moral: Und er gab seinen Gedanken eine noch allgemeinere und unpersönlichere Form, indem er das Verhältnis, das zwischen den Forderungen »Tu!« und »Tu nicht!« besteht, an die Stelle von Gut und Böse setzte. Denn solange sich eine Moral – und das gilt ebenso für den Geist der Nächstenliebe wie für den einer Hunnenschar – im Aufstieg befindet, ist das »Tu nicht!« nur die Kehrseite und natürliche Folge des »Tu!«; das Tun und Lassen glüht, und was es an Fehlern einschließt, macht nicht viel aus, denn es sind die Fehler von Helden und Märtyrern. In diesem Zustand sind Gut und Böse gleich mit Glück und Unglück des ganzen Menschen. Sobald das Umstrittene jedoch zur Herrschaft gelangt ist, sich ausgebreitet hat und seine Erfüllung nicht mehr mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft ist, durchschreitet das Verhältnis zwischen Forderung und Verbot mit Notwendigkeit einen entscheidenden Zustand, wo nun die Pflicht nicht mehr jeden Tag neu und lebendig geboren wird, sondern, ausgelaugt und in Wenn und Aber zerlegt, zu mannigfaltigem Gebrauch bereitgehalten werden muß; und es beginnt damit ein Vorgang, in dessen weiterem Verlauf Tugend und Laster durch die Herkunft aus den gleichen Regeln, Gesetzen, Ausnahmen und Einschränkungen einander immer ähnlicher werden, bis schließlich jener wunderliche, aber im Grunde unerträgliche Selbstwiderspruch entsteht, von dem Ulrich ausgegangen war, daß der Unterschied zwischen Gut und Böse alle Bedeutung verliert gegenüber dem Wohlgefallen an einer reinen, tiefen und ursprünglichen Handlungsweise, das wie ein Funke ebensowohl aus erlaubten wie aus unerlaubten Geschehnissen hervorschlagen kann. Ja, wer sich unbefangen danach fragt, wird wahrscheinlich erkennen, daß der verbietende Teil der Moral stärker mit dieser Spannung geladen ist als der fordernde: Während es verhältnismäßig natürlich erscheint, daß bestimmte, als »böse« bezeichnete Handlungen nicht begangen werden dürfen oder, wenn man sie trotzdem begeht, wenigstens nicht begangen werden sollten, wie etwa die Aneignung fremden Eigentums oder die Schrankenlosigkeit im Genuß, sind die ihnen entsprechenden bejahenden Überlieferungen der Moral – in diesem Fall wäre das also die volle Hingabe des Schenkens oder die Lust, das Irdische abzutöten – fast schon verlorengegangen, und wo sie noch ausgeübt werden, sind sie das Geschäft von Narren und Grillenfängern oder bleichhäutigen Tugendbolden. Und in einem solchen Zustand, wo die Tugend bresthaft ist und das moralische Verhalten hauptsächlich in der Einschränkung des unmoralischen besteht, kann es wohl leicht so kommen, daß dieses nicht nur ursprünglicher und kraftvoller erscheint als jenes, sondern geradezu moralischer, sofern es erlaubt ist, dieses Wort nicht im Sinn von Recht und Gesetz, sondern als Maß aller Leidenschaft zu gebrauchen, die überhaupt noch durch Gewissensfragen erregt wird. Aber kann es wohl auch etwas Widerspruchvolleres geben, als das Böse innerlich zu begünstigen, weil man mit dem Rest an Seele, den man noch hat, das Gute sucht?!

Diesen Widerspruch hatte Ulrich noch nie so stark empfunden wie in dem Augenblick, wo ihn der ansteigende Bogen, den seine Überlegung durchmessen hatte, wieder auf Agathe zurückführte. (Kap. 18)

3. Als neues Stichwort taucht, auch in Verbindung mit der Moral, das Gefühl auf: Tuzzi suchte einen von ihnen mit den Worten zu überzeugen: »Was geredet wird, bedeutet gar nichts. Das bedeutet nie etwas!« Der andere glaubte es ihm. Es war ein Parlamentarier. Aber er änderte nicht die Meinung, die er schon mitgebracht hatte, daß trotzdem hier Böses vor sich gehe.

Se. Erlaucht verteidigte dagegen im Gespräch mit einem anderen Frager die Bedeutung des Abends mit den Worten: »Mein Verehrter, sogar Revolutionen werden seit Achtzehnhundertachtundvierzig nur noch durch vieles Reden gemacht!«

Es wäre falsch, in solchen Unterschieden nichts als die erlaubte Abweichung von der Eintönigkeit zu sehen, die das Leben sonst hätte; und doch wird dieser folgenschwere Irrtum beinahe ebensooft begangen, wie von dem Satz: »Das ist Gefühlssache!« Gebrauch gemacht wird, ohne den die Einrichtung unseres Geistes gar nicht zu denken ist. Dieser unentbehrliche Satz trennt das, was im Leben sein muß, von dem, was sein kann. »Er trennt« sagte Ulrich zu Agathe »die gesetzte Ordnung von einem eingeräumten persönlichen Spielraum. Er trennt das, was rationalisiert ist, von dem, was für irrational gilt. Er bedeutet, in der üblichen Art gebraucht, das Eingeständnis, daß die Menschlichkeit in den Hauptsachen ein Zwang sei, in den Nebensachen aber eine verdächtige Willkür. Man meint, das Leben wäre ein Zuchthaus, stünde es nicht in unserem Belieben, ob wir Wein oder Wasser vorziehn, Atheisten oder Frömmler sein wollen, und man meint nicht im geringsten damit, daß nun das, was Gefühlssache sei, wirklich dem Belieben überlassen bleibe; vielmehr gibt es ja, ohne daß die Grenze eindeutig wäre, erlaubte und unerlaubte Gefühlssachen.«

Die zwischen Ulrich und Agathe war eine unerlaubte, obwohl die beiden, die sich Arm in Arm vergeblich nach einem Versteck umsahen, bloß über die Versammlung sprachen und dabei in einer wilden und verschwiegenen Weise die Freude empfanden, nach ihrer Entzweiung wieder vereint zu sein. Dagegen war die Wahl, ob man seine Mitmenschen alle lieben oder vorher einen Teil von ihnen vernichten solle, offenbar Gefühlssache von zweifacher Erlaubtheit, denn sonst wäre sie nicht in Diotimas Haus und in Gegenwart Sr. Erlaucht so eifrig abgehandelt worden, obwohl sie noch dazu die Gesellschaft in zwei gehässige Parteien trennte. Ulrich behauptete, die Erfindung der »Gefühlssache« habe der Sache des Gefühls den schlechtesten Dienst erwiesen, der ihr je geleistet worden sei, und als er es unternahm, seiner Schwester den abenteuerlichen Eindruck zu erklären, den dieser Abend in ihm weckte, kam er darauf in einer Weise zu sprechen, die ohne seinen Willen das am Morgen abgebrochene Gespräch fortsetzte und es wahrscheinlich rechtfertigen sollte. »Ich weiß freilich nicht,« sagte er »womit ich anfangen soll, ohne dich zu langweilen. Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?«

»Bitte« erwiderte Agathe.

»Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken.«

»Das ist ein großer Fortschritt in wenigen Stunden!« entgegnete Agathe lachend. »Heute morgen hast du noch gesagt, du wissest nicht, was Moral sei!«

»Natürlich weiß ich es nicht. Trotzdem kann ich dir ja ein Dutzend Erklärungen geben. Die älteste ist, daß Gott uns die Ordnung des Lebens in allen ihren Einzelheiten geoffenbart hat –«

»Das wäre die schönste!« sagte Agathe.

»Die wahrscheinlichste ist aber,« betonte Ulrich »daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht! Eine zur Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vorschriften und Grundsätze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hängt sie aber an denen, die sie selbst groß gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch Rückwirkungen verändert: das ist natürlich verwickelter als man es in Kürze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis, ergibt es schließlich ein unübersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhängig wie Gottes Himmel über allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit andern Worten: alles ist moralisch, aber die Moral selbst ist nicht moralisch! –« (Kap. 38)

Von den Eingebungen der ungewöhnlichen Menschen bis zum völkerverbindenden Kitsch bildet das, was Ulrich die moralische Phantasie nannte, oder einfacher das Gefühl, eine einzige, jahrhundertealte Gärung ohne Ausgärung. Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben. Du meinst, beinahe im Gegenteil, sie sei der Zustand, wenn ein Gefühl übermächtig stark sei, ein einziges, das – Hingerissensein! – die anderen zu sich hinreißt? Nein, du hast darüber gar nichts sagen wollen? Immerhin, es ist so. Es ist auch so. Aber die Stärke einer solchen Begeisterung ist ohne Halt. Dauer gewinnen die Gefühle und Gedanken nur an einander, in ihrem Ganzen, sie müssen irgendwie gleichgerichtet sein und sich gegenseitig mitreißen. Und mit allen Mitteln, mit Rauschmitteln, Einbildungen, Suggestion, Glauben, Überzeugung, oft auch nur mit Hilfe der vereinfachenden Wirkung der Dummheit, trachtet ja der Mensch, einen Zustand zu schaffen, der dem ähnlich ist. Er glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muß. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muß. Weil er durch eine Täuschung das Loch zwischen seinen Lebenswänden verstopfen muß, durch das seine Gefühle sonst in alle vier Winde gingen. Das richtige wäre wohl, statt sich vergänglichen Scheinzuständen hinzugeben, die Bedingungen der echten Begeisterung wenigstens zu suchen. Aber obwohl alles in allem die Zahl der Entscheidungen, die vom Gefühl abhängen, unendlich viel größer ist als die jener, die sich mit der blanken Vernunft treffen lassen, und alle die Menschheit bewegenden Ereignisse aus der Phantasie entstehen, erweisen sich nur die Verstandesfragen überpersönlich geordnet, und für das andere ist nichts geschehn, was den Namen einer gemeinsamen Anstrengung verdiente oder auch nur die Einsicht in ihre verzweifelte Notwendigkeit andeutete:

Ungefähr so sprach Ulrich, unter begreiflichen Protesten des Generals. (Kap. 38)

4. Im Zusammenhang der Gespräche über Sinn und Ziel der vaterländischen Aktion während der letzten Sitzung kommt auch die Satire nicht zu kurz (wobei man den Kontext beachten sollte): »Und was wird geschehn?« fragte Tuzzi.

»Ich glaube, nichts« erwiderte Stumm. »Wir haben schon viele Strömungen in der Aktion gehabt.«

»Aber zwischen diesen beiden besteht doch ein unerträglicher Widerspruch!« wandte Professor Schwung ein, der als Jurist eine solche Unklarheit nicht ertragen konnte.

»Genau genommen nicht« – widerlegte ihn Stumm. – »Auch die andere Strömung will natürlich den Menschen lieben; nur meint sie, daß man ihn dazu vorher mit Gewalt umbilden muß: es ist das sozusagen bloß ein technischer Unterschied.«

5. In den Ausführungen des Erzählers über das „Und“ verbinden sich verschiedene Themen und gewinnt auch der Besuch bei den Irren eine Bedeutung: Solche Gespräche wie die geschilderten gab es zu Dutzenden, und alle hatten etwas gemeinsam, das sich nicht ohne weiteres beschreiben läßt, aber auch nicht verschwiegen werden kann, wenn man es nicht wie Regierungsrat Meseritscher versteht, eine blendende Gesellschaftsschilderung bloß dadurch zu geben, daß man aufzählt: der und die waren da, hatten dies und das an und äußerten das und jenes; worauf allerdings gerade das hinausläuft, was von vielen für die echteste erzählerische Kunst gehalten wird. Friedel Feuermaul war also kein elender Schmeichler, und das war er nie, sondern hatte nur zeitgemäße Einfälle am rechten Platz, wenn er von Meseritscher vor Meseritscher sagte: »Er ist eigentlich der Homer unserer Zeit! Nein, ganz im Ernst,« fügte er hinzu, denn Meseritscher deutete eine unwillige Bewegung an »das episch unerschütterliche ›Und‹, mit dem Sie alle Menschen und Ereignisse aneinanderreihen, hat in meinen Augen etwas ganz Großes!« Er war des Chefs der Parlaments- und Gesellschaftskorrespondenz habhaft geworden, da dieser das Haus nicht hatte verlassen wollen, ohne Arnheim seine Aufwartung gemacht zu haben; aber Meseritscher versetzte ihn trotzdem nicht unter die mit Namen angeführten Gäste.

Ohne auf die feinere Unterscheidung zwischen Idioten und Kretins einzugehen, darf nun daran erinnert werden, daß es einem Idioten gewissen Grades nicht mehr gelingt, den Begriff »Eltern« zu bilden, während ihm die Vorstellung »Vater und Mutter« noch ganz geläufig ist. Dieses schlichte, aneinanderreihende »Und« war es aber auch, durch das Meseritscher die Erscheinungen der Gesellschaft verband. Ferner ist daran zu erinnern, daß Idioten in der schlichten Dinglichkeit ihres Denkens etwas besitzen, das nach der Erfahrung aller Beobachter in geheimnisvoller Weise das Gemüt anspricht; und daß Dichter auch vornehmlich das Gemüt ansprechen, ja sogar auf eine soweit gleiche Weise, als sie sich durch eine möglichst handgreifliche Geistesart auszeichnen sollen. Wenn Friedel Feuermaul also Meseritscher als Dichter ansprach, hätte er ihn ebensogut – das heißt, aus den gleichen Empfindungen, die ihm dunkel, und das hieß bei ihm wieder in einer plötzlichen Erleuchtung, vorschwebten – auch als einen Idioten ansprechen können, und zwar auf eine auch für die Menschheit bedeutsame Weise. Denn das Gemeinsame, um das es sich da handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung, wie er sich am anschaulichsten eben in der Beschränkung auf das einfachste Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende »Und« ausdrückt, das dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen ersetzt; und es darf behauptet werden, daß sich auch die Welt, unerachtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der Imbezillität verwandten Zustand befindet, ja es läßt sich das gar nicht vermeiden, wenn man die Geschehnisse, die sich in ihr abspielen, aus dem Ganzen verstehen will. (Kap. 37)

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. I – das Wesentliche

Derzeit lese ich „Der Mann ohne Eigenschaften“ zum dritten Mal (die zweite Lektüre war 2001) und bin erneut restlos begeistert. Nach der Lektüre von Band I versuche ich mir zu vergegenwärtigen, wodurch das Buch aus der Masse der Romane herausragt: Das ist ist nicht die erzählte Handlung, sondern es sind die in Gesprächen und Reflexionen entwickelten Gedanken zur Situation bzw. zur Lebensführung des modernen Menschen. Was mich davon beeindruckt hat und was ich im Blick behalten möchte, ist Folgendes:

Jugend (Ulrichs Erinnerung an sein Leben mit Walter, Kap. 16)

Walters mit Zeichnungen, Notizen und Notenblättern bedeckten Schreibtisch, der den Glanz der Zukunft eines berühmten Mannes vorausstrahlte, und das schmale Büchergestell gegenüber, an dem Walter zuweilen im Eifer wie Sebastian am Pfahle stand, Lampenlicht auf dem schönen Haar, das Ulrich immer heimlich bewundert hatte. Nietzsche, Altenberg, Dostojewski oder wen immer sie gerade gelesen hatten, mußten sich bescheiden, auf der Erde oder dem Bett liegen zu bleiben, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden und der Strom des Gesprächs die kleinliche Störung, sie ordentlich zurückzustellen, nicht duldete. Die Überhebung der Jugend, der die größten Geister gerade gut genug sind, um sich ihrer nach Belieben zu bedienen, kam ihm in diesem Augenblick wunderlich hold vor.

Er suchte sich an die Gespräche zu erinnern. Sie waren wie Traum, wenn man im Erwachen noch die letzten Gedanken des Schlafs erwischt. Und er dachte mit einem leichten Staunen: wenn wir damals Behauptungen aufstellten, so hatten sie auch noch einen anderen Zweck als den, richtig zu sein; eben den, uns zu behaupten! – So viel stärker war in der Jugend der Trieb, selbst zu leuchten, als der, im Lichte zu sehen; er fühlte die Erinnerung an dieses wie auf Strahlen schwebende Gefühl der Jugend als einen schmerzlichen Verlust.

Geist (Ulrichs Gedanken, Kap. 40)

Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müßten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. Daß das Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und daß die Leiter und die Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte auf ein anderes Blatt. Man konnte ja wohl sagen, daß er selbst so etwas wie ein Fürst und Herr des Geistes hätte werden wollen: Wer allerdings nicht?! Es ist so natürlich, daß der Geist als das Höchste und über allem Herrschende gilt. Es wird gelehrt. Was kann, schmückt sich mit Geist, verbrämt sich. Geist ist, in Verbindung mit irgendetwas, das Verbreitetste, das es gibt. Der Geist der Treue, der Geist der Liebe, ein männlicher Geist, ein gebildeter Geist, der größte Geist der Gegenwart, wir wollen den Geist dieser und jener Sache hochhalten, und wir wollen im Geiste unserer Bewegung handeln: wie fest und unanstößig klingt das bis in die untersten Stufen. Alles übrige, das alltägliche Verbrechen oder die emsige Erwerbsgier, erscheint daneben als das Uneingestandene, der Schmutz, den Gott aus seinen Zehennägeln entfernt.

Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, – wie ist es dann? Man kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und läßt nur ein wenig Erschütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? Er wird auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astronomischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt, wird ebenso unablässig unter riesenhaftem Verbrauch von nervöser Energie aufgenommen und genossen: Aber was geschieht dann mit ihm? Verschwindet er wie ein Trugbild? Löst er sich in Partikel auf? Entzieht er sich dem irdischen Gesetz der Erhaltung? Die Staubteilchen, die in uns hinabsinken und langsam zur Ruhe kommen, stehen in keinem Verhältnis zu dem Aufwand. Wohin, wo, was ist er? Vielleicht würde es, wenn man mehr davon wüßte, beklommen still werden um dieses Hauptwort Geist?! (…)

Der Geist hat erfahren, daß Schönheit gut, schlecht, dumm oder bezaubernd macht. Er zerlegt ein Schaf und einen Büßer und findet in beiden Demut und Geduld. Er untersucht einen Stoff und erkennt, daß er in großen Mengen ein Gift, in kleineren ein Genußmittel sei. Er weiß, daß die Schleimhaut der Lippen mit der Schleimhaut des Darms verwandt ist, weiß aber auch, daß die Demut dieser Lippen mit der Demut alles Heiligen verwandt ist. Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden. Er hat es den Jahrhunderten abgelernt, daß Laster zu Tugenden und Tugenden zu Lastern werden können, und hält es im Grunde bloß für eine Ungeschicklichkeit, wenn man es noch nicht fertigbringt, in der Zeit eines Lebens aus einem Verbrecher einen nützlichen Menschen zu machen. Er anerkennt nichts Unerlaubtes und nichts Erlaubtes, denn alles kann eine Eigenschaft haben, durch die es eines Tages teil hat an einem großen, neuen Zusammenhang. Er haßt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinten Abdruck, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung; weil unsre Kenntnisse sich mit jedem Tag ändern können, glaubt er an keine Bindung, und alles besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nächsten Akt der Schöpfung, wie ein Gesicht, zu dem man spricht, während es sich mit den Worten verändert.

So ist der Geist der große Jenachdem-Macher, aber er selbst ist nirgends zu fassen, und fast könnte man glauben, daß von seiner Wirkung nichts als Zerfall übrigbleibe. Jeder Fortschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist das ein Zuwachs an Macht, der in einen fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen. 

Seele (Erzählerkommentare, Kap. 45 und 46)

Von allen Eigentümlichkeiten dieses Wortes Seele ist aber die merkwürdigste, daß junge Menschen es nicht aussprechen können, ohne zu lachen. Selbst Diotima und Arnheim scheuten sich, es ohne Verbindung zu gebrauchen; denn eine große, edle, feige, kühne, niedrige Seele zu haben, das läßt sich noch behaupten, aber schlechtweg zu sagen, meine Seele, das bringt man nicht über sich. Es ist ein ausgeprägtes Wort für ältere Leute, und das ist nur so zu verstehen, daß man annimmt, es müsse sich im Laufe des Lebens irgend etwas immer fühlbarer machen, für das man dringend einen Namen braucht, ohne ihn zu finden, bis man schließlich den ursprünglich verschmähten dafür widerstrebend in Gebrauch nimmt.

Wie soll man es also beschreiben? Man kann stehn oder gehn, wie man will, das Wesentliche ist nicht, was man vor sich hat, sieht, hört, will, angreift, bewältigt. Es liegt als Horizont, als Halbkreis voraus; aber die Enden dieses Halbkreises verbindet eine Sehne, und die Ebene dieser Sehne geht mitten durch die Welt hindurch. Vorn sehen das Gesicht und die Hände aus ihr heraus, laufen die Empfindungen und Bestrebungen vor ihr her, und niemand bezweifelt: was man da tut, ist immer vernünftig oder wenigstens leidenschaftlich; das heißt, die Verhältnisse außen verlangen in einer Weise unsere Handlungen, die jedermann begreiflich ist, oder wenn wir, von Leidenschaft befangen, Unbegreifliches tun, so hat schließlich auch das seine Weise und Art. Aber so vollständig dabei alles verständlich und in sich geschlossen erscheint, wird es doch von einem dunklen Gefühl begleitet, daß es bloß etwas Halbes sei. Es fehlt etwas am Gleichgewicht, und der Mensch dringt vor, um nicht zu wanken, wie es ein Seilläufer tut. Und da er durchs Leben dringt und Gelebtes hinter sich läßt, bilden das noch zu Lebende und das Gelebte eine Wand, und sein Weg gleicht schließlich dem eines Wurms im Holz, der sich beliebig winden, ja auch zurückwenden kann, aber immer den leeren Raum hinter sich läßt. Und an diesem entsetzlichen Gefühl eines blinden, abgeschnittenen Raums hinter allem Ausgefüllten, an dieser Hälfte, die immer noch fehlt, wenn auch alles schon ein Ganzes ist, bemerkt man schließlich das, was man die Seele nennt. (…)

Ein solches Mittel, das die Seele zwar tötet, aber dann gleichsam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch aufbewahrt, ist seit je ihre Verbindung mit der Vernunft, den Überzeugungen und dem praktischen Handeln gewesen, wie sie alle Moralen, Philosophien und Religionen erfolgreich durchgeführt haben. Weiß Gott, wie gesagt, was überhaupt eine Seele ist! Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß der glühende Wunsch, nur auf sie zu hören, einen unermeßlichen Spielraum, eine wahre Anarchie übrig läßt, und man hat Beispiele dafür, daß sozusagen chemisch reine Seelen geradezu Verbrechen begehn. Sobald dagegen eine Seele Moral hat oder Religion, Philosophie, vertiefte bürgerliche Bildung und Ideale auf den Gebieten der Pflicht und des Schönen, ist ihr ein System von Vorschriften, Bedingungen und Durchführungsbestimmungen geschenkt, das sie auszufüllen hat, ehe sie daran denken darf, eine beachtenswerte Seele zu sein, und ihre Glut wird wie die eines Hochofens in schöne Sandrechtecke geleitet. Es bleiben dann im Grunde nur noch logische Fragen der Auslegung übrig, von der Art, ob eine Handlung unter dieses oder jenes Gebot fällt, und es hat die Seele die ruhige Übersichtlichkeit eines Feldes nach geschlagener Schlacht, wo die Toten still liegen und man sofort bemerken kann, wo ein Stückchen Leben sich noch erhebt oder stöhnt. Darum vollzieht der Mensch, so rasch er kann, diesen Übergang. Wenn ihn Glaubenssorgen quälen, wie es zuweilen in der Jugend vorkommt, geht er alsbald zu Verfolgung Ungläubiger über; wenn ihn die Liebe verstört, macht er aus ihr die Ehe; und wenn ihn irgendeine andere Begeisterung überwältigt, entzieht er sich der Unmöglichkeit, dauernd in ihrem Feuer zu leben, dadurch, daß er für dieses Feuer zu leben beginnt. Das heißt, er füllt die vielen Augenblicke seines Tags, von denen jeder einen Inhalt und Antrieb braucht, an Stelle seines Idealzustands mit der Tätigkeit für seinen Idealzustand, das heißt mit den vielen Mitteln zum Zweck, Hindernissen und Zwischenfällen aus, die ihm sicher verbürgen, daß er ihn niemals zu erreichen braucht. Denn dauernd vermögen bloß Narren, Geistesgestörte und Menschen mit fixen Ideen, im Feuer der Beseeltheit auszuharren; der gesunde Mensch muß sich damit begnügen, die Erklärung abzugeben, daß ihm ohne eine Flocke dieses geheimnisvollen Feuers das Leben nicht lebenswert vorkäme.

Große Ideen (Erzähler, Kap. 57; vgl. Kap. 90: Die Entthronug der Ideokratie)

In den Beratungen des großen, nach den Gesichtspunkten der Religion, der Gerechtigkeit, der Landwirtschaft, des Unterrichts und so weiter aufgebauten Zentralausschusses begegneten alle höheren Anregungen jener eisigen und ängstlichen Zurückhaltung, welche Diotima gar wohl von ihrem Mann kannte, als er noch nicht so aufmerksam geworden war; und sie fühlte sich manchmal ganz mutlos vor Ungeduld und konnte sich nicht verhehlen, daß dieser Widerstand der trägen Welt schwer zu brechen sein werde. So klar für sie selbst das österreichische Jahr als weltösterreichisches Jahr dastand und die österreichischen Nationen als das Vorbild der Nationen der Welt darstellen sollte, wozu eigentlich nichts anderes nötig war, wie zu beweisen, daß der Geist in Österreich seine wahre Heimat habe, so deutlich zeigte es sich, daß dies für die Köpfe der Schwerfälligen noch eines besonderen Inhalts bedurfte und durch einen Einfall ergänzt werden mußte, der durch seine mehr sinnfällige als allgemeine Natur dem Verständnis entgegenkam. Und Diotima studierte stundenlang in vielen Büchern, um eine Idee zu finden, die das leiste, und natürlich sollte es in besonderer Weise auch eine symbolisch österreichische Idee sein; aber Diotima machte sonderbare Erfahrungen mit dem Wesen großer Ideen.

Es zeigte sich, daß sie in einer großen Zeit lebte, denn die Zeit war voll von großen Ideen; aber man sollte nicht glauben, wie schwierig es ist, das Größte und Wichtigste davon zu verwirklichen, sobald alle Bedingungen dafür gegeben sind, bis auf die eine, was man dafür halten soll! Jedesmal, wenn Diotima sich beinahe schon für eine solche Idee entschieden hatte, mußte sie bemerken, daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen. So ist es nun einmal, und sie konnte nichts dafür. Ideale haben merkwürdige Eigenschaften und darunter auch die, daß sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will. Da waren zum Beispiel Tolstoi und die Berta Suttner – zwei Schriftsteller, von deren Ideen man damals ungefähr gleichviel hörte –, aber wie kann sich, dachte Diotima, die Menschheit ohne Gewalt auch nur Brathühner verschaffen? Und was fängt man mit den Soldaten an, wenn man, wie jene es verlangten, nicht töten soll? Sie werden erwerbslos, die Armen, und die Verbrecher haben goldene Zeiten. Solche Anträge lagen aber vor, und man hörte, daß schon Unterschriften gesammelt würden. Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt. Darum hat der vernünftige Mensch, und das war in diesem Fall Sektionschef Tuzzi, der dadurch sogar eine gewisse Ehrenrettung erfuhr, ein tief eingewurzeltes Mißtrauen gegen ewige Wahrheiten; er wird zwar niemals bestreiten, daß sie unentbehrlich seien, aber er ist überzeugt, daß Menschen, die sie wörtlich nehmen, verrückt sind. Nach seiner Einsicht – die er seiner Gattin hilfreich darbot –, enthalten die menschlichen Ideale ein Unmaß der Forderung, das ins Verderben führen muß, wenn man es nicht schon von vornherein nicht ganz ernst nimmt. Als den besten Beweis dafür führte Tuzzi an, daß solche Worte wie Ideal und ewige Wahrheit in Büros, wo es sich um ernste Dinge handelt, überhaupt nicht vorkommen; einem Referenten, der es sich einfallen ließe, sie in einem Akt anzuwenden, würde augenblicklich nahegelegt werden, sich zur Erlangung eines Erholungsurlaubes amtsärztlich untersuchen zu lassen.

Hypothetisch leben, Essayismus (Erzähler, Kap. 62, im Anschluss an Kap. 61)

Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Erfolg, und die andere an Umfang und Würde. Es ist klar, daß ein Pessimist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen seien nichts wert und die der anderen nicht wahr. Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!

Zwischen den beiden Polen dieses Weder-Noch pendelte die Entwicklung, als es rund länger als achtzehn und noch keine zwanzig Jahrhunderte her war, seit die Menschheit zum erstenmal erfuhr, daß es am Ende aller Tage ein solches geistiges Gericht geben werde. Es entspricht der Erfahrung, daß dabei auf eine Richtung immer die entgegengesetzte folgt. Und obgleich es denkbar und wünschbar wäre, daß eine solche Umkehr sich wie ein Schraubengang vollzöge, der bei jedem Richtungswechsel höher steigt, gewinnt aus unbekannten Gründen die Entwicklung dabei selten mehr, als sie durch Umweg und Zerstörung verliert. (…)

Ulrich konnte sich noch gut erinnern, wie das Unsichere wieder zu Ansehen gekommen war. Immer mehr hatten sich Äußerungen gehäuft, wo Menschen, die ein etwas unsicheres Metier betrieben, Dichter, Kritiker, Frauen und die den Beruf einer neuen Generation Ausübenden, Klage erhoben, daß das pure Wissen einem unseligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreiße, ohne es je wieder zusammensetzen zu können, und sie verlangten einen neuen Menschheitsglauben, Rückkehr zu den inneren Urtümern, geistigen Aufschwung und allerlei von solcher Art. Er hatte anfangs naiver Weise angenommen, das seien Leute, die sich aufgeritten haben und hinkend vom Pferd steigen, schreiend, daß man sie mit Seele einschmiere; aber er mußte allmählich erkennen, daß der sich wiederholende Ruf, der ihm anfangs so komisch erschienen war, einen breiten Widerhall fand; das Wissen fing an, unzeitgemäß zu werden, der unscharfe Typus Mensch, der die Gegenwart beherrscht, hatte sich durchzusetzen begonnen.

Ulrich hatte sich dagegen aufgelehnt, das ernst zu nehmen, und bildete nun seine geistigen Neigungen auf eigene Art weiter.

Aus der frühesten Zeit des ersten Selbstbewußtseins der Jugend, die später wieder anzublicken oft so rührend und erschütternd ist, waren heute noch allerhand einst geliebte Vorstellungen in seiner Erinnerung vorhanden, und darunter das Wort »hypothetisch leben«. Es drückte noch immer den Mut und die unfreiwillige Unkenntnis des Lebens aus, wo jeder Schritt ein Wagnis ohne Erfahrung ist, und den Wunsch nach großen Zusammenhängen und den Hauch der Widerruflichkeit, den ein junger Mensch fühlt, wenn er zögernd ins Leben tritt. Ulrich dachte, daß davon eigentlich nichts zurückzunehmen sei. Ein spannendes Gefühl, zu irgendetwas ausersehen zu sein, ist das Schöne und einzig Gewisse in dem, dessen Blick zum erstenmal die Welt mustert. Er kann, wenn er seine Empfindungen überwacht, zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen; er sucht die mögliche Geliebte, aber weiß nicht, ob es die richtige ist; er ist imstande zu töten, ohne sicher zu sein, daß er es tun muß. Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln, verbietet ihm, an das Vollendete zu glauben; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist. Was sollte er da Besseres tun können, als sich von der Welt freizuhalten, in jenem guten Sinn, den ein Forscher Tatsachen gegenüber bewahrt, die ihn verführen wollen, voreilig an sie zu glauben! Darum zögert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, eine feste Wesensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll. Er sucht sich anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell verboten, fühlt er sich wie einen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt. Und meint er einmal, den echten Einfall zu haben, so nimmt er wahr, daß ein Tropfen unsagbarer Glut in die Welt gefallen ist, deren Leuchten die Erde anders aussehen macht.

In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen, daraus eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband. Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. Das ist übrigens nur die einfache Beschreibung der Tatsache, daß uns ein Mord als ein Verbrechen oder als eine heroische Tat erscheinen kann und die Stunde der Liebe als die Feder, die aus dem Flügel eines Engels oder einer Gans gefallen ist. Aber Ulrich verallgemeinerte sie.

Wissenschaft (Kapitel 72, https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/chap072.html)

Satire: Zeitungswesen (Kapitel 77, https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/chap077.html)

Satire: Juristerei und Recht (Kapitel 60, 74, 111 vor dem Hintergrund des Falls Moosbrugger, eines debilen Mörders https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/chap060.html, https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/chap074.html, https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/chap111.html)

Gesetz der großen Zahlen (Gespräch Ulrichs mit Gerda, Kap. 103)

»Und nun gibt es« fuhr er fort »Beobachtungen, die aufs Haar so aussehen wie ein Naturgesetz, doch ohne daß ihnen etwas zugrundeläge, was wir als ein solches ansehen könnten. Die Regelmäßigkeit statistischer Zahlenfolgen ist bisweilen ebenso groß wie die von Gesetzen. Sie kennen sicher diese Beispiele aus irgendeiner Vorlesung über Gesellschaftslehre. Etwa die Statistik der Ehescheidungen in Amerika. Oder das Verhältnis zwischen Knaben- und Mädchengeburten, das ja eine der konstantesten Verhältniszahlen ist. Und dann wissen Sie, daß sich jedes Jahr eine ziemlich gleichbleibende Zahl von Stellungspflichtigen durch Selbstverstümmelung dem Militärdienst zu entziehen sucht. Oder daß jedes Jahr ungefähr der gleiche Bruchteil der europäischen Menschheit Selbstmord begeht. Auch Diebstahl, Notzucht und, soviel ich weiß, Bankerott haben alljährlich ungefähr die gleiche Häufigkeit . . .«

Hier machte Gerdas Widerstand einen Durchbruchsversuch. »Wollen Sie mir etwa den Fortschritt erklären?!« rief sie aus und bemühte sich, in diese Ahnung recht viel Hohn zu legen.

»Aber natürlich ja!« erwiderte Ulrich, ohne sich unterbrechen zu lassen. »Man nennt das etwas schleierhaft das Gesetz der großen Zahlen. Meint ungefähr, der eine bringt sich aus diesem, der andere aus jenem Grunde um, aber bei einer sehr großen Anzahl hebt sich das Zufällige und Persönliche dieser Gründe auf, und es bleibt – ja, aber was bleibt übrig? Das ist es, was ich Sie fragen will. Denn es bleibt, wie Sie sehen, das übrig, was jeder von uns als Laie ganz glatt den Durchschnitt nennt und wovon man also durchaus nicht recht weiß, was es ist. Lassen Sie mich hinzufügen, daß man dieses Gesetz der großen Zahlen logisch und formal zu erklären versucht hat, sozusagen als eine Selbstverständlichkeit; man hat im Gegensatz dazu auch behauptet, daß solche Regelmäßigkeit von Erscheinungen, die untereinander nicht ursächlich verknüpft seien, auf die gewöhnliche Weise des Denkens überhaupt nicht erklärt werden könne; und man hat, noch neben vielen anderen Analysen des Phänomens, die Behauptung aufgestellt, daß es sich dabei nicht nur um einzelne Ereignisse handle, sondern auch um unbekannte Gesetze der Gesamtheit. Ich will Ihnen mit den Einzelheiten nicht zusetzen, habe sie auch selbst nicht mehr gegenwärtig, aber ohne Zweifel wäre es mir persönlich sehr wichtig, zu wissen, ob dahinter unverstandene Gesetze der Gemeinschaft stecken oder ob einfach durch Ironie der Natur das Besondere daraus entsteht, daß nichts Besonderes geschieht, und der höchste Sinn sich als etwas erweist, das durch den Durchschnitt der tiefsten Sinnlosigkeit erreichbar ist. Es müßte das eine wie das andere Wissen auf unser Lebensgefühl doch einen entscheidenden Einfluß haben! Denn wie dem auch sei, jedenfalls ruht auf diesem Gesetz der großen Zahl die ganze Möglichkeit eines geordneten Lebens; und gäbe es dieses Ausgleichsgesetz nicht, so würde in einem Jahr nichts geschehen, während im nächsten nichts sicher wäre, Hungersnöte würden mit Überfluß wechseln, Kinder würden fehlen oder zu viele sein, und die Menschheit würde zwischen ihren himmlischen und höllischen Möglichkeiten von einer Seite zur andern flattern wie kleine Vögel, wenn man sich ihrem Käfig nähert.«

Moral und Geld (Arnheims Gedanken, Kap. 106)

Arnheim befand sich in einem eigenartigen Zwiespalt. Der sittliche Reichtum ist nah verschwistert mit dem geldlichen; das war ihm wohlbekannt, und es läßt sich leicht erkennen, warum es so ist. Denn Moral ersetzt die Seele durch Logik; wenn eine Seele Moral hat, dann gibt es für sie eigentlich keine moralischen Fragen mehr, sondern nur noch logische; sie fragt sich, ob das, was sie tun will, unter dieses oder jenes Gebot fällt, ob ihre Absicht so oder anders auszulegen sei, und ähnliches mehr, was alles so ist, wie wenn ein wild daherstürmender Menschenhaufen turnerisch diszipliniert wird und auf einen Wink Ausfall rechts, Arme Seitstoßen und tiefe Kniebeuge macht. Logik setzt aber wiederholbare Erlebnisse voraus; es ist klar, wo die Geschehnisse wechseln würden wie ein Wirbel, in dem nichts wiederkehrt, könnten wir niemals die tiefe Erkenntnis aussprechen, daß A gleich A sei, oder daß größer nicht kleiner sei, sondern wir würden einfach träumen; ein Zustand, den jeder Denker verabscheut. Und so gilt das gleiche von der Moral, und wenn es nichts gäbe, das sich wiederholen ließe, dann ließe sich uns auch nichts vorschreiben, und ohne den Menschen etwas vorschreiben zu dürfen, würde die Moral gar kein Vergnügen bereiten. Diese Eigenschaft der Wiederholbarkeit, die der Moral und dem Verstande eignet, haftet aber am Geld im allerhöchsten Maße; es besteht geradezu aus dieser Eigenschaft und zerlegt, solange es wertbeständig ist, alle Genüsse der Welt in jene kleinen Bauklötze der Kaufkraft, aus denen man sich zusammenfügen kann, was man will. Darum ist das Geld moralisch und vernünftig; und da bekanntlich nicht auch umgekehrt jeder moralische und vernünftige Mensch Geld hat, läßt sich schließen, daß diese Eigenschaften ursprünglich beim Geld liegen, oder wenigstens, daß Geld die Krönung eines moralischen und vernünftigen Daseins ist.

Nun gewiß, Arnheim dachte nicht genau auf diese Weise, daß etwa Bildung und Religion die natürliche Folge des Besitzes seien, sondern er nahm an, daß der Besitz zu ihnen verpflichte … (,,,)

Dieses Bedürfnis nach Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und Festigkeit, das die Voraussetzung für den Erfolg des Denkens und Planens bildet, – so dachte Arnheim, auf die Straße hinunterblickend, weiter – wird nun auf seelischem Gebiet immer durch eine Form der Gewalt befriedigt. Wer auf Stein bauen will im Menschen, darf sich nur der niedrigen Eigenschaften und Leidenschaften bedienen, denn bloß was aufs engste mit der Ichsucht zusammenhängt, hat Bestand und kann überall in Rechnung gestellt werden; die höheren Absichten sind unverläßlich, widerspruchsvoll und flüchtig wie der Wind. Der Mann, der wußte, daß man Reiche über kurz oder lang ebenso werde regieren müssen wie Fabriken, sah auf das Gewimmel von Uniformen, stolzen und lauseigroßen Gesichtern unter sich mit einem Lächeln, worin sich Überlegenheit und Wehmut mischten. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen: Wenn Gott heute zurückkehrte, um das Tausendjährige Reich unter uns aufzurichten, es würde kein einziger praktischer und erfahrener Mann dem Vertrauen entgegenbringen, solange nicht neben dem Jüngsten Gericht auch für einen Strafvollzug mit festen Gefängnissen Vorsorge getroffen wäre, für Polizei, Gendarmerie, Militär, Hochverratsparagraphen, Regierungsstellen und was sonst noch dazu gehört, um die unberechenbaren Leistungen der Seele auf die zwei Grundtatsachen einzuschränken, daß der zukünftige Himmelsbewohner nur durch Einschüchterung und Anziehen der Schrauben oder durch Bestechung seines Begehrens, mit einem Wort, nur durch die »starke Methode« verläßlich zu allem zu bringen ist, was man von ihm haben will.

Jugendbewegung und Expressionismus (Erzähler, Kap. 113, die beiden großen Absätze „Ulrich kannte…“ und „Ein skurriles Teilchen…“, die in der Ausgabe im Projekt Gutenberg nur einen Absatz bilden, https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/chap113.html)

Ulrichs Entwicklung und Zustand (Ulrichs Gedanken und Erzähler, ab dem Absatz „Er nahm aber auch an…“, mit der Einsicht Ulrichs in die beiden „Grundverhaltensweisen der Eindeutigkeit und des Gleichnisses“, Kap. 116, https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/chap116.html):

Nun erkannte Ulrich, in der Erinnerung daran, daß sich ihm ihre unmögliche Verbindung zuletzt in dem gespannten Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, Gleichnis und Wahrheit dargestellt hatte, mit einemmal, daß alles das bei weitem mehr bedeutete als nur eine zufällige Eingebung in einem der wie ziellose Wege verschlungenen Gespräche, die er in der letzten Zeit mit den unpassendsten Personen geführt hatte. Denn so weit die menschliche Geschichte zurückreicht, lassen sich diese beiden Grundverhaltensweisen des Gleichnisses und der Eindeutigkeit unterscheiden. Eindeutigkeit ist das Gesetz des wachen Denkens und Handelns, das ebenso in einem zwingenden Schluß der Logik wie in dem Gehirn eines Erpressers waltet, der sein Opfer Schritt um Schritt vor sich her drängt, und sie entspringt der Notdurft des Lebens, die zum Untergang führen würde, wenn sich die Verhältnisse nicht eindeutig gestalten ließen. Das Gleichnis dagegen ist die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum herrscht, es ist die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der Dinge in den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht; aber auch was es an gewöhnlicher Neigung und Abneigung, Übereinstimmung und Ablehnung, Bewunderung, Unterordnung, Führerschaft, Nachahmung und ihren Gegenerscheinungen im Leben gibt, diese vielfältigen Beziehungen des Menschen zu sich und der Natur, die noch nicht rein sachlich sind und es vielleicht auch nie sein werden, lassen sich nicht anders begreifen als in Gleichnissen. Ohne Zweifel ist das, was man die höhere Humanität nennt, nichts als ein Versuch, diese beiden großen Lebenshälften des Gleichnisses und der Wahrheit miteinander zu verschmelzen, indem man sie zuvor vorsichtig trennt. Hat man aber an einem Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von dem getrennt, was nur Schaum ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit gewonnen und den ganzen Wert des Gleichnisses zerstört; diese Trennung mag darum in der geistigen Entwicklung unvermeidlich gewesen sein, doch hatte sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste Kräfte und Geister sich während dieses Vorgangs als Dampfwolke davonmachen. Es läßt sich heute manchmal nicht der Eindruck abweisen, daß die Begriffe und Regeln des moralischen Lebens nur ausgekochte Gleichnisse sind, um die ein unerträglich fetter Küchendampf von Humanität wallt, und wenn hier eine Abschweifung erlaubt ist, so kann es nur die sein, daß dieser undeutlich über alles ausgebreitete Eindruck auch das zur Folge hatte, was die Gegenwart ehrlich ihre Verehrung des Gemeinen nennen sollte. Denn man lügt heute weniger aus Schwäche als aus der Überzeugung, daß ein Mann, der das Leben meistert, lügen können muß. Man ist gewalttätig, weil die Eindeutigkeit der Gewalt nach langem ergebnislosen Reden wie eine Erlösung wirkt. Man vereinigt sich zu Gruppen, weil Gehorsam alles das zu tun erlaubt, was man aus eigener Überzeugung längst nicht mehr vermöchte, und die Feindseligkeit dieser Gruppen schenkt den Menschen die nimmer ruhende Gegenseitigkeit der Blutrache, während die Liebe sehr bald zum Einschlafen käme. Das hat mit der Frage, ob die Menschen gut oder böse seien, weit weniger zu tun als damit, daß sie die Verbindung von Höhe und Niederung verloren haben. Und nur eine widerspruchsvolle andere Folge dieses Auseinanderfallens ist auch der überladene geistige Schmuck, mit dem sich das Mißtrauen gegen den Geist heute behängt. Die Kuppelung von Weltanschauung mit Tätigkeiten, die nur wenig von ihr vertragen, wie die Politik; die allgemeine Sucht, aus jedem Gesichtspunkt gleich einen Standpunkt zu machen und jeden Standpunkt für einen Gesichtspunkt zu halten; das Bedürfnis von Eiferern jeder Abschattung, die eine Erkenntnis, die ihnen zuteil geworden ist, rundum wie in einem Spiegelkabinett zu wiederholen: alle diese so landläufigen Erscheinungen bedeuten nicht, was sie sein möchten, ein Streben nach Humanität, sondern deren Ausfall. Im ganzen entsteht so der Eindruck, daß aus allen menschlichen Beziehungen erst wieder die falsch darin sitzende Seele völlig entfernt werden müßte; und in dem Augenblick, wo Ulrich dies dachte, fühlte er, daß sein Leben, wenn es überhaupt Sinn besaß, keinen anderen hatte als diesen, daß sich die beiden Grundsphären der Menschlichkeit darin selbst zerlegt zeigten und einander in der Wirkung entgegenstanden. Solche Menschen werden offenbar heute geboren, aber sie bleiben noch allein, und allein war er nicht imstande, das Auseinandergefallene von neuem zusammenzubringen. Er gab sich keiner Täuschung über den Wert seiner Gedankenexperimente hin; wohl mochten sie niemals ohne Folgerichtigkeit Gedanke an Gedanke fügen, aber es geschah doch so, als würde Leiter auf Leiter gestellt, und die Spitze schwankte schließlich, in einer Höhe, die weit entfernt vom natürlichen Leben war. Er empfand tiefe Abneigung dagegen.

Die Ordnung des Erzählens (Ulrichs Gedanken, Kap. 122)

»Es wird alles so einfach! (…) Ein alter Mann verliert seinen letzten Zahn: und dieses kleine Ereignis bedeutet einen Einschnitt im Leben aller seiner Nachbarn, woran sie ihre Erinnerungen knüpfen können! Und so singen die Vögel alle Abende um das Dorf und immer in der gleichen Weise, wenn hinter der sinkenden Sonne die Stille kommt, aber es ist jedesmal ein neues Ereignis, als wäre die Welt noch keine sieben Tage alt! Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen,« dachte er »man ist jemand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens.«

Aber indem er das dachte, wußte er auch, daß es die Macht des Menschen tausendfach ausdehnt, und wenn es selbst im einzelnen ihn zehnfach verdünnt, ihn im ganzen noch hundertfach vergrößert, und ein Rücktausch kam für ihn nicht ernsthaft in Frage. Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: »Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!« Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten »Faden der Erzählung«, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann »als«, »ehe« und »nachdem«! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen. Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste »perspektivische Verkürzung des Verstandes« nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig »weil« und »damit« hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem »Faden« mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.

Text:

https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/titlepage.html (Frisé, nur Buch 1-3) und

http://musilonline.at/musiltext/ (vollständig)

https://archive.org/details/MusilDerMannOhneEigenschaften/page/n11/mode/2up?view=theater (A. Frisé, 1952)

Figurenlexikon: http://literaturlexikon.uni-saarland.de/lexika/figurenlexikon-zu-robert-musils-der-mann-ohne-eigenschaften-1930/32/lexikon

Untersuchungen (im Netz):

Claus Hoheisel: Physik und verwandte Wissenschaften… (Dissertation)

Judith Burckhardt: „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil (Diss.)

Ulrike Holst: Auf dem Weg zum Anderen (Diss.)

Hans-Georg Pott: Geist und Macht im essayistischen Werk Robert Musils

Neele Illner: Aktiver Passivismus. Eine Form des Lebens und Schreibens…

Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten – gelesen

Schon oft habe ich in Musils „Nachlass zu Lebzeiten“ (1936) gestöbert; einige der „Bilder“ gehörten bei mir zum festen Bestand des Unterrichts in Kl. 13 (Reihe: Parabeln, etwa „Das Fliegenpapier“, „Die Affeninsel“, „Hasenkatastrophe“). Heute habe ich, nachdem ich den „Nachlass“ 1963 für zwei Mark zwanzig gekauft hatte (rororo 500), ihn endlich ganz zu Ende gelesen und bin begeistert. Da gibt es noch eine Reihe kleiner Prosastücke, die man auch in der Sek II lesen kann (und die tausendmal besser sind als „moderne“ Produkte wie die von B. Schlink und Konsorten). Ich nenne beispielhaft „Schwarze Magie“ (über Kunst und Kitsch), „Denkmale“ (brillant!), „Wer hat dich, du schöner Wald…?“ (als Kontrast zu Eichendorff), „Der Riese Agoag“ und „Ein Mensch ohne Charakter“ (vielleicht etwas zu lang für die Schule?); dazu „Unter lauter Dichtern und Denkern“ (Literatur, Genie, das Feuilleton und der Kulturbetrieb) und natürlich „Die Amsel“, die ich gestern hier vorgestellt habe. Das alles sind Texte voller Klarheit und teilweise recht böse – und wenn man sie schon nicht Schülern vorsetzen will oder kann, sollte man sie unbedingt selber lesen!

Text: https://www.projekt-gutenberg.org/musil/nachlass/chap001.html

Robert Musil: Die Amsel – Inhalt, Bedeutung

Kann man sich als schlichter Leser, der die Forschungsliteratur zu „Die Amsel“ nicht kennt, vernünftig zur Erzählung äußern? Ich versuche es einfach: Ein Ich-Erzähler berichtet von einer Begegnung zweier Jugendfreunde, bei der einer dem anderen drei Geschichten erzählt, von der Begegnung mit einer Amsel und dem Ausbruch aus der Routine des Lebens, von dessen Erfüllung in Todesnähe und von der Rückkehr in die eigene Kindheit nach dem Tod der Mutter. – Über drei Jahre hat Musil an der Erzählung gearbeitet, bevor sie 1928 in einer Zeitschrift erschien. Er hat sie 1936 in seinen „Nachlass zu Lebzeiten“ aufgenommen, was für ihre Bedeutung spricht.

Die beiden Freunde werden Aeins und Azwei genannt. Der Erzähler analysiert zunächst das Phänomen Jugendfreundschaft und berichtet von ihrer Jugend in einem vermeintlich religiösen Internat, wo Azwei sich durch ausgesprochene Sportlichkeit und Wagemut auszeichnete. In ihrer Studienzeit schwärmten die beiden „für eine materialistische Lebenserklärung“. Azwei wurde später von der russischen Revolution enttäuscht, Aeins gab eine unternehmerfreundliche Zeitung heraus. Als sie sich dann noch einmal treffen, erzählt Azwei seine Geschichten; der Erzähler legt großen Wert auf dessen Aussehen („erinnerte an eine scharfe, nervige, schlanke Reitgerte“).

Azwei schildert in seiner ersten Erzählung das Leben in Berliner Hinterhäusern („in diesem Geist der Massenhaftigkeit und Öde“ gleich geschnittener Wohnungen), wo ihm auf einmal ein Satz über seine Eltern einfiel: „Sie haben dir das Leben geschenkt“, worüber er sich wunderte, weil dieser Satz „einen Schatz von Unregelmäßigkeit und Unberechenbarkeit“ in sein von ihm gemeistertes Leben hineintrug. „Und dann“ ereignete es sich, dass in einer schlaflosen Nacht ein singender Vogel zu ihm kam – „Ein Himmelsvogel!“ Es war vermeintlich eine Nachtigall, in Wahrheit eine Amsel; er beschloss, sich von seiner Frau zu trennen, die ihm auf einmal fremd geworden war, „als ob ein Gefühl ein Herz durchbohren könnte wie einen Berg“, auf dessen Rückseite eine andere Welt liegt. „Es hatte mich von irgendwo ein Signal getroffen – das war mein Eindruck davon.“ Er brach auf und ging fort.

Azwei beruft sich auf die eigene Aufgeklärtheit und erzählt dann die zweite Geschichte: Zwei Jahre später war er Soldat in Südtirol, wo er in ständiger Todesnähe „eine sonderbare innere Freiheit“ gewann. Als ein Fliegerpfeil von einem Flugzeug abgeworfen wurde, hatte er das Gefühl: er trifft. Er hörte als einziger den feinen Gesang des Pfeils. „Und dieser Laut war auf mich gerichtet (…), ich war sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in meinem Körper zu fühlen.“ Als sein Körper von einer fremden Kraft zur Seite gerissen wurde, erwachte er wie aus einem Rausch; der Pfeil hatte ihn verfehlt, ein Dankgefühl durchströmte ihn.

Als dritte Geschichte erzählt Azwei, wie seine von ihm kaum geliebte Mutter nach seiner Rückkehr aus Russland indirekt anbot, ihm zu helfen, dann erkrankte und gegen ihren Willen starb, als ob ihr Körper das habe erzwingen wollen. Die Nachricht von ihrer Erkrankung versetzte ihn in einen Zustand ähnlich dem, als er in der Nacht mit dem Vogel erwachte, und dem, als ihn der Pfeil beinahe getroffen hätte. Er traf sie nicht mehr lebend an, auch sein Vater starb bald darauf. Im Elternhaus begegnete er in seinem Zimmer und in seinen Kinderbüchern sich selbst als Kind wieder. Und dann weckte ihn eines Nacht der Gesang einer Nachtigall. Der Vogel saß im offenen Fenster und sagte: „Ich bin deine Amsel, kennst du mich nicht?“ Und dann: „Ich bin deine Mutter“, was er vielleicht nur geträumt habe. Seitdem versorgt er die Amsel; wie diese „Geschichte enden wird, weiß ich nicht“.

Auf Frage des Aeins nach dem Sinn der Erzählungen winkt Azwei ab; „wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!“

Der Erzähler wehrt im Bericht von der Jugend der beiden den Einwand ab, es könne sich in den folgenden Erzählungen um religiöse Gefühle handeln: Das Institut war zwar angeblich religiös geprägt, aber das Leben der Burschen ausgesprochen religionsfeindlich; in die gleiche Richtung zielt der Bericht von ihrem späteren (vordergründigen) Materialismus und die Betonung Azweis von der eigenen Aufgeklärtheit. Auch ist Azwei nicht der Typ eines meditierenden Mystikers, sondern ein ganzer Mann.

Was den drei Erzählungen gemeinsam ist, ist die Erfahrung, dass den erzählenden Azwei mitten im normalen Leben etwas wie aus einer anderen Welt getroffen hat, etwas wie ein Ruf an ihn ergangen ist. Diese Erfahrung ist einmal durch den Satz „Sie haben dir das Leben geschenkt“ und einmal durch den seltsamen Tod der Mutter vorbereitet worden; Azwei erwähnt zudem für den dritten Fall, dass man an der Front weniger Todesfurcht als sonst habe, aber „allerhand Erregungen zugänglicher“ sei. Was Azwei erfahren hat, lässt sich jedoch nur andeuten, nicht aussprechen, es ist etwas zwischen Flüstern und Rauschen, was er vernommen hat, etwas jenseits des normalen Alltags und seiner Routinen. [Vielleicht kommt man im Verständnis Musils weiter, wenn man Hans Vaihingers Philosophie des Als-Ob heranzieht: https://also42.wordpress.com/2021/08/08/hans-vaihinger-philosophie-des-als-ob/]

Ich denke, es liegt nahe, hier an die Erlebnisse des Zöglings Törleß zu erinnern mitsamt den vier Sätzen Maeterlinks, die dem Roman als Motto vorangestellt sind (siehe meine Analysen https://norberto42.wordpress.com/2012/01/30/musil-die-verwirrungen-des-zoglings-torles-analysen/), und das, was Ulrich im Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ sucht. Über seinen Roman, an dem er parallel zur Amsel-Erzählung arbeitete, sagte Musil selber im Interview mit Oskar Maurus Fontana 1926 unter anderem:

Musil: Ich setze voraus: Das Jahr 1918 hätte das 70jährige Regierungsjubiläum Franz Josefs I. und das 35jährige Wilhelms II. gebracht. Aus diesem künftigen Zusammentreffen entwickelt sich ein Wettlauf der beiderseitigen Patrioten, die einander schlagen wollen und die Welt, und im Kladderadatsch von 1914 enden. »Ich habe es nicht gewollt!« Kurz und gut: es entwickelt sich das, was ich »die Parallelaktion« nenne. Die Schwarzgelben haben die »österreichische Idee«, wie Sie sie aus den Kriegserinnerungen kennen: Erlösung Österreichs von Preußen – es soll ein Weltösterreich entstehen nach dem Muster des Zusammenlebens der Völker in der Monarchie – der »Friedenskaiser« an der Spitze. Krönung des Ganzen soll eben das imposante Jubeljahr 1918 bringen. Die Preußen wieder haben die Idee der Macht auf Grund der technischen Vollkommenheit – auch ihr Schlag der Parallelaktion ist für 1918 geplant.

Der Interviewer: Also eine sehr ironisch durchsetzte Materie. Aber ich möchte Sie zuvor nicht danach fragen, sondern lieber: Wie setzen Sie diese Umwelt resp. Umwelten in Bewegung?

Musil: Zuerst, indem ich einen jungen Menschen einführe, der am besten Wissen seiner Zeit, an Mathematik, Physik, Technik geschult ist. Dieser tritt in das Leben von heute – denn nochmals, mein »historischer« Roman soll nichts geben, was nicht auch heute Geltung hätte. Der also sieht zu seinem Erstaunen, daß die Wirklichkeit um mindestens 100 Jahre zurück ist hinter dem, was gedacht wird. Aus diesem Phasenunterschied, der notwendig ist und den ich auch zu begreifen suche, ergibt sich ein Hauptthema: Wie soll sich ein geistiger Mensch zur Realität verhalten? Dem stelle ich eine Gegenfigur gegenüber: den Typus des Mannes größten Formats und oberster Welt. Er verbindet wirtschaftliches Talent und ästhetische Brillanz zu einer sehr merkwürdigen und bezeichnenden Einheit. Nach Österreich kommt er aus Berlin, um sich zu erholen – in Wahrheit aber, um in aller Stille seinem Konzern die bosnischen Erzlager und Holzschlagungen zu sichern. Im Salon der »zweiten Diotima«, der Gattin eines Präsidialisten, des Repräsentanten der altösterreichischen Weltbeglückung stößt er auf diese Frau. Zwischen beiden entwickelt sich nun ein »Seelenroman«, der im Leeren enden muß. Zugleich trifft der junge Mensch anläßlich eines Sterbefalles im Haus seiner toten Eltern seine Zwillingsschwester, die er bisher nicht kannte. Die Zwillingsschwester ist biologisch etwas sehr Seltenes, aber sie lebt in uns allen als geistige Utopie, als manifestierte Idee unserer selbst. Was den meisten nur Sehnsucht bleibt, wird meiner Figur Erfüllung. Und bald leben die beiden ein Leben, das der guten Gemeinschaft einer alten Ehe entspricht. Ich stelle die beiden mitten hinein in den Komplex der »Schmerzen von heute«: Kein Genie, keine Religion, statt »in etwas leben« – »für etwas leben« – lauter Zustände, in denen ich unsere Idealität äonisiere. Aber Bruder und Zwillingsschwester: das Ich und das Nicht-Ich fühlen den inneren Zwiespalt ihrer Gemeinsamkeit, sie zerfallen mit der Welt, fliehen. Aber dieser Versuch, das Erlebnis zu halten, zu fixieren, schlägt fehl. Die Absolutheit ist nicht zu bewahren. Ich schließe daran, die Welt kann nicht ohne das Böse bestehen, es bringt Bewegung in die Welt. Das Gute allein bewirkt Starre. Ich gebe dazu die Parallele mit dem Paar: Diotima und Wirtschaftsheld. Würde er keine Geschäfte machen, könnte er keine Seele haben; nicht wegen des Geldes, das man braucht, um sich eine leisten zu können, sondern weil das Heilige ohne das Unheilige ein regloser Brei ist. Auch diese Zweiheit ist bedingt und notwendig. Die Erzählung läuft dann weiter, indem ich den Kernkomplex: Liebe und Ekstase von der Wahnsinnsseite her aufrolle durch eine von der Erlösungsidee Besessene. Die Geschehnisse spitzen sich zu einem Kampf zwischen dem Alumnen eines neuen Geistes und dem Wirtschaftsästheten zu. Ich schildere da eine große Sitzung, aber keiner von beiden erhält das Geld, das zu vergeben ist, sondern ein General, Vertreter des Kriegsministeriums, das ohne Einladung einen Delegierten entsandte. Das Geld wird für Rüstungen aufgewandt. Was gar nicht so dumm ist, wie man gewöhnlich glaubt, weil alles Gescheite sich gegenseitig aufhebt. Aus Opposition gegen eine Ordnung, in der der Ungeistigste die größten Chancen hat, wird mein junger »Held« Spion. Sein spielerisches Interesse ist daran beteiligt und auch sein Lebensinhalt. Denn das Mittel seiner Spionage ist die Zwillingsschwester. Sie reisen durch Galizien. Er sieht, wie ihr Leben sich verliert und auch seines. Der junge Mensch kommt darauf, daß er zufällig ist, daß er seine Wesentlichkeit erschauen, aber nicht erreichen kann. Der Mensch ist nicht komplett und kann es nicht sein. Gallertartig nimmt er alle Formen an, ohne das Gefühl der Zufälligkeit seiner Existenz zu verlieren. Auch ihn, wie alle Personen meines Romans, enthebt die Mobilisierung der Entscheidung. Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige. (https://www.projekt-gutenberg.org/musil/essays/chap006.html)

https://www.grin.com/document/431383

https://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/berichte3/hoffmann.htm

https://www.youtube.com/watch?v=lvObg-tdqqA

https://slideplayer.org/slide/14334998/

Robert Musil: Kleine Lebensreise (Text)

Ich lese gerade Rilkes Gedicht „Das Karussell“, um es für diese Seite zu analysieren; dabei fiel mir eine thematische Ähnlichkeit mit Robert Musils Erzählung „Kleine Lebensreise“ auf. Ich habe dann vergeblich versucht, diesen Text im Netz zu finden – ich wollte auf ihn bei der Analyse von Rilkes Gedicht verweisen. Daraufhin habe ich mich entschlossen, den Text zu kopieren und als Datei ins Netz zu stellen; denn diese kleine Erzählung schätze ich ungemein – ich habe sie regelmäßig im Deutschunterricht der Sek. II gelesen, immer im Zusammenhang einer Unterrichtsreihe über Parabeln (mit Texten von G. Anders, B. Brecht, M. Frisch, J. P. Hebel, G. Kunert, J. H. Pestalozzi u.a.) in Klasse 13. Musil war ein fester Bestandteil dieser Reihe, zusammen mit seiner Theorie der „Bilder“. Ich habe diese U-Reihe geliebt, weil man dort immer mit abgeschlossenen Texten statt mit Auszügen arbeiten konnte und weil die Schüler bei der Analyse nicht irgendwelche auswendig gelernten „Inhaltsangaben“ oder Ähnliches abspulen konnten, sondern aus dem Stand antreten und zeigen mussten, dass sie einen fremden Text lesen können, indem sie die im Unterricht erworbene Fähigkeit, mit Parabeln umzugehen, anwenden.

Doch die Zeiten solchen Deutschunterrichts sind vorbei…

Gleichwohl möchte ich Robert Musil ein kleines Denkmal setzen, weil ich ihn für einen der ganz großen Schriftsteller halte, weil diese Erzählung zu seinen schönsten gehört und weil ich viel mit ihr gearbeitet habe – hier die Datei mit der Erzählung „Kleine Lebensreise“: Musil

P.S. zehn Minuten später: Idiotisch, gerade habe ich die Datei hochgeladen, da finde ich im Netz doch noch Musils Erzählung, als Teil der Sämtlichen Werke: hier (bitte ein wenig blättern!).

Droste-Hülshoff: Das Spiegelbild – Analyse

Schaust du mich an aus dem Kristall…

Text

https://gedichte.xbib.de/Droste-H%FClshoff_gedicht_Das+Spiegelbild.htm

„Eine Phase höchster poetischer Inspiration erlebte die Autorin im Winter 1841/42, den sie zu Besuch bei ihrer Schwester Jenny von Laßberg auf der Meersburg am Bodensee verbrachte. Angespornt durch ihren ‚Seelenfreund’ Levin Schücking, gelang es ihr, fast täglich ein neues Gedicht zu verfassen. Es entstand damals der Grundstock ihrer zweiten Gedichtsammlung, die 1844 erschien und viele ihrer be­kannten Texte enthält, so Das Spiegelbild, Am Thurme oder die heimatbezogenen Haidebilder mit ihrer Einsicht in die Doppelbödigkeit der Natur.“ (http://www.droste-gesellschaft.de/cms/?navi=2)

Das lyrische Ich erblickt sich im Spiegel; es spricht zu seinem Spiegelbild, um die eigentümliche Erfahrung der Begegnung mit dem eigenen Bild im Spiegel zu verarbeiten. Das ist für mich ungewöhnlich, da ich in solchen Fällen der Spiegelbetrachtung mit mir selbst spreche, nicht zu meinem Spiegelbild. Das Ich erlebt sein Bild als ein ihm Fremdes und setzt sich damit auseinander. Eine  ähnliche Erfahrung finden wir in den Gedichten von Hugo Salus (1866 – 1929, „Das Spiegelbild“: http://gedichte.xbib.de/Salus_gedicht_Das+Spiegelbild.htm: „ein wesenloses Ich“) und Rochus Otto Manderup Heinrich zu Lynar (1793 – 1860, „Das Spiegelbild“: http://gedichte.xbib.de/Lynar_gedicht_061.+Das+Spiegelbild.htm: „Was ist’s, daß mich mein Spiegelbild
/ Unheimlich oft mit Grau’n erfüllt?“); möglicherweise ist Salus‘ Text vom Gedicht der Droste angeregt [Lynars Gedichte sind bereits 1843 bei Brockhaus erschienen].

Das lyrische Ich spricht also sein Spiegelbild mit „du“ an (V. 1), als wäre diese seine Doppelung ein selbständiges Wesen; dies tut es, weil ihm das Bild fremd vorkommt. Zu dieser Fremden (ich nehme an, dass das lyrische Ich für die Droste spricht, was aber nicht zwingend notwendig ist) steht das Ich in einer ambivalenten Beziehung – diese ist das Thema das Gedichts.

Den Aufbau des Gedichts erfasse ich als eine Dreiteilung: In den ersten beiden Strophen stellt das lyrische Ich die elementare Fremdheit des Spiegelbildes fest (V. 7), relativiert diese aber, indem es die Möglichkeit, das Bild zu lieben oder zu hassen, einräumt, falls dieses als Person aus dem Spiegel herausträte (V. 11 ff. „Und dennoch…“). In der 3./4. Strophe setzt es die Beschreibung seiner möglichen ambivalenten Reaktionen auf diese selbständige Bildperson fort. Die beiden Strophen 5 und 6 gleichen im Aufbau den Strophen 1 und 2: Zuerst wird wieder die Nichtidentität (Fremdheit) beklagt, darauf folgt eine Relativierung mit „Und dennoch…“ (V. 36 ff., vgl. V. 11 ff., wiederum an das [un]mögliche Heraustreten der Person aus dem Spiegel gebunden).

Zunächst (1. Str.) spricht das lyrische Ich über den Beginn einer Begegnung mit seinem Spiegelbild, die es schon öfter erlebt hat (konditional „Schaust du mich an…“, V. 1, mit dem Hauptsatz „dann flüstre ich“, V. 6 f.). Dabei fallen ihm die Augen als bleich (Nebel, V. 2; verbleichen, V. 3), die Gesichtszüge als „wunderlich“ (V. 4 – die „zwei Seelen“ mit dem Spionenvergleich müssen wohl für eine Ambivalenz stehen; sie bezeugen hier Fremdheit, während die zwei Seelen in der eigenen Brust jedem aufmerksamen Selbstbeobachter bekannt sein dürften) auf. Das Bild wird als „Phantom“ erlebt und bezeichnet (V. 7); das ist „ein Blendwerk, eine Erscheinung, ein Gespenst“ (Krünitz), ein „Trug- oder Schreckbild, Luftgesicht“ (Damen Conversations Lexikon, 1834/38): Davon grenzt das Ich sich erschrocken, entsetzt ab: „du bist nicht meinesgleichen“ (V. 7), obwohl der Spiegel ja gerade ein identisches Bild der Person, nur seitenverkehrt, liefert. Worin diese Spiegel-Erfahrung begründet ist, soll zum Schluss bedacht werden.

Die ganze erste Strophe ist ein einziger Satz, wobei hinter V. 3 und V. 6 jeweils eine kleine Pause gemacht wird. Das Tempo des Sprechens ist entsprechend der Erregung des Ichs recht hoch, wozu auch der vierhebige Jambus beiträgt, durchweg mit männlicher Kadenz, nur in V. 3 und 7 mit weiblicher. Das Reimschema ist so eigenwillig wie der Aufbau der Strophe aus 7 Versen: a – a – b – c – c – c – b. Dieser schwungvolle Aufbau hält sich durch; in allen Strophen (bis auf die 5.) wird nach Vers 3 eine Pause gemacht, nur in der 5. nach V. 5. In der 1. Strophe kommt noch eine Pause in V. 6 hinzu (Ende des Nebensatzes hinter „Umschleichen“), ähnlich in der 6. Strophe in V. 7 (hinter dem Einschub: Gedankenstrich). Die einzelnen Verse sind wegen der Satzlänge keine selbständigen Gedanken, daher braucht man prinzipiell nicht nach der Semantik der Reime zu suchen; nur in „Kristall/Nebenball“ (V. 1 f.) liegt vielleicht ein Kontrast vor.

Mit der 2. Strophe wird syntaktisch V. 7 fortgesetzt: Das Subjekt „Du“ ist ausgelassen; diese Ellipse beschleunigt das Sprechen und setzt die anklagende Beschreibung des Phantoms fort: wie es als Traumgestalt das Ich zu Tode erschreckt („eisen“ und „blassen“ als Neologismen). Es folgt in der Rede des Ichs die erste Kehrtwendung „Und dennoch…“ (V. 11); mit der Anrede „dämmerndes Gesicht“ (V. 11) wird die anfängliche Beschreibung (V. 2 f.) aufgenommen, mit dem „Doppellicht“ (V. 12) die anfänglich genannte Ambivalenz (V. 4-6). Das Doppellicht (Neologismus für „Zwielicht“, enthält „die vorstellungen ‘halb, gespalten, geteilt’ oder ‘zweifelhaft, schwankend‘“, Deutsches Wörterbuch) ist wiederum sachlich nicht zu erklären – wie das Bild der zwei Seelen in den Gesichtszügen (solches kann man nicht im Spiegel sehen!) – sondern als beschriebene Erfahrung festzuhalten. Es folgt ein eigentümlicher Gedanke: „Trätest du vor“ (V. 13) – was natürlich unmöglich ist, also ein Gedankenexperiment einleitet, welches den Ernstfall realer Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild eröffnet: Was geschähe dann? „ich weiß es nicht“ (V. 13), bekennt das Ich, das Bild zu lieben und zu hassen wäre möglich: Ambivalenz gegenüber dem eigenen Bild. Die hier noch nicht zu klärende Sachfrage ist, ob damit auch eine Ambivalenz gegenüber dem eigenen Ich ausgedrückt wird, welches man nach allgemeinem Verständnis (wenn auch nicht zwingend!) doch liebt – möglich ist es, aber nicht zwingend erforderlich; denn die Erfahrung mit dem eigenen Spiegelbild ist recht eigentümlich, wie zum Schluss noch erklärt werden soll.

Die Sprache des lyrischen Ichs ist gehoben („der Träume Hut“, V. 8; Neologismen sind die Verben „eisen“ und „blassen“, eine Locke blassen, V. 10). Die Reime „dämmerndes Gesicht / Doppellicht“ (V. 11 f.) verbinden Ähnliches, „hassen“ (V. 14) könnte als Reaktion auf „blassen“ (V. 10) verstanden werden. Auf der gleichen Sprachebene bewegt sich das lyrische Ich in der 3. Strophe (Gedanken leisten Fron, V. 16; des Auges Glast, V. 18 – „Glast“ ist so viel wie „Glanz“: „Im Oberdeutschen ist statt dessen von alten Zeiten her auch Glaß, Glast, Glest, Glis, Gliz üblich gewesen. Der tag mit siner glesten, König Wenzel. Din spilnder ougen glast, der von Gliers. Der lichten Sonnen glast, S. Sachs. Aus welchem Worte es durch die sonst nicht ungewöhnliche Einschaltung des n entstanden ist, wo es nicht unmittelbar von beyder gemeinschaftlichem Stammworte Glo, Lo, Licht, gloa, leuchten, herkommt.“ (Adelung, 1811)

Wie gesagt, wird in den Strophen 3 und 4 konsequent die Ambivalenz des Ichs gegenüber dem potenziell eigenständigen Spielbild durchgespielt: Verehrung der tiefen Gedanken (der Stirn), aber große Distanz gegenüber dem kalten Blick (3. Str.); liebevolle Zuwendung zu des Mundes weichen Zügen, aber Abscheu vor seinen höhnenden Worten (4. Str.) – das zielt schon eindeutig auf eine Stellungnahme gegenüber dem eigenen Ich, nicht bloß gegenüber dem Bild; die großen Gedanken und der Spott sind nämlich dem Bild nicht anzusehen, die kennt das Ich von sich selbst, auch wenn es dafür leicht verzerrte Gesichtszüge bemüht (V. 27).

Bei den Reimen fallen „Thron / Fron“ (V. 15 f.), „schüchtern blicken / weit rücken“ (V. 17/21), „kalter Glast  / gebrochen fast“ (V. 18 f.), „lind / Kind“ (V. 22 f.), „bergen / fliehen wie vor Schergen“ (V. 24/28) und die drei Reime V. 25-27 als semantisch korrespondierend auf. Auch in der 4. Strophe liegt das Ich wieder deutlich über dem Niveau der Umgangssprache (Fron leisten, kalter Glast, ein scheuer Gast, Schergen). In V. 18-20 fällt auf, dass dem Gesicht des Bildes eine Todeskälte zu entströmen scheint (Adjektive: kalt, tot, gespenstig); die Wirkung dieser Kälte hat das Ich gleich zu Beginn seiner Begegnung mit dem Bild bereits verspürt (V. 9 f.).

In den Strophen 5 und 6 wird die gleiche Bewegung wie in den Strophen 1 und 2 vollzogen. Der Beginn „du bist nicht ich“ (V. 29) und die Bestürzung über die Fremdheit des Bildes entsprechen fast wörtlich V. 7; darauf folgt erneut die ambivalente Zuwendung zum Bild, eingeleitet mit der Partikel „dennoch“ (V. 36, vgl. V. 11). Der Schluss ist jedoch keine platte Wiederholung, sondern weist gegenüber der gleichen Figur zu Beginn auch Neues auf. In Str. 5 wird der Gedanke mehr als angedeutet, dass die Seele des als fremd erkannten Bildes (dreimal „fremd“, V. 30, 33) im Inneren des lyrischen Ichs schlummert. Dieser Gedanke wird zwar rhetorisch abgewehrt („Gnade mir Gott“, V. 34, plus Konjunktiv II in V. 35 – „ruhet“ ist die vom Reim geforderte Umwandlung des Konjunktivs „ruhte“), aber indem er ausgesprochen und abgewehrt wird, wird er schon als wahr anerkannt. Der Vergleich mit dem Zögern des Moses vor dem brennenden Dornbusch (Ex 3) ist nicht nur Ausdruck gehobener Frömmigkeit, sondern auch ein wenig verfehlt: Moses ging ganz unbeschwert auf den Dornbusch zu, weshalb der HERR ihm Zurückhaltung gebieten musste („Komm nicht näher heran!“ Ex 3,5).

Auch die Reaktion auf das aus dem Rahmen heraustretende Spiegelbild fällt ein wenig anders als bisher aus; das Ich bekennt nämlich, sich „Zu deinen Schauern wie gebannt“ zu fühlen (V. 37), was es im Vergleich als Verwandtschaft erkennt (V. 36). Schauer: „Eine schnell vorüber gehende Erschütterung der Haut, dergleichen man bey einem plötzlichen Anfalle der Kälte, bey einem hohen Grade des Schreckens, des Abscheues, der Angst u. s. f. empfindet.“ (Adelung, 1811) Die Schauer des Bildes sind also diejenigen, welche es beim Ich auslöst, und mit dem Schrecken verbindet sich die Faszination („gebannt“, V. 37) – diese Verbindung ist von Rudolf Otto als typisch für die Begegnung mit dem Göttlichen (Numinosen) beschrieben worden. Wenn Liebe sich mit der Furcht verbindet (V. 38), ist das die entsprechende Antwort auf die Erfahrung des numinos Fremden.

Das erwartete leise Zittern (V. 41, statt der Flucht, vgl. V. 21 f., und des Hasses, V. 14, der der bloßen Furcht gewichen ist, V. 38) drückt die erfahrene Ambivalenz aus. Durch „Mich dünkt“ (V. 42) ein wenig relativiert, bleibt als negative Reaktion nur „um dich weinen“ (V. 42) übrig. Dieses Weinen muss man nach Hass (V. 14), Flucht (V. 21), Furcht (V. 38) als Abschwächung der bisherigen Ablehnung begreifen; sachlich ist die Bedeutung von „weinen um dich“ nicht ganz klar – so wird am ehesten ein Verlust ausgedrückt (http://www.myvideo.de/watch/7797687/Zarah_Leander_Ein_paar_Traenen_werd_ich_weinen_um_dich; vgl. „Du hattest schon einen Platz, kleine Maus, doch wir haben Dich verloren und wir weinen um Dich!“ oder „Aber wir, die wir zurück geblieben sind, sind voller Trauer, wir weinen um dich Bernie, weil du nicht mehr hier bist.“ u.ä. Wendungen im Internet!). In diesem Verständnis wäre „um dich weinen“ m.E. nicht ganz geeignet, die volle Ambivalenz von Fremdheit und Verwandtschaft, von Liebe und Furcht auszudrücken. Das Weinen müsste so sein, dass im Verlust auch ein Gewinn gespürt wird – dann wäre es der angemessene Schluss des Gedichts. Vielleicht kann man den Schluss „retten“, wenn man ihn so versteht, dass das lyrische Ich das Phantom als Phantom verloren und als Verwandte bewahrt hat – aber das wäre kein Grund zum Weinen!?

Von den Reimen sind die in V. 32-34 als besonders sinnvoll zu erwähnen, auch V. 36 f. und V. 37/42 passen gut zueinander. Die Sprache ist wieder erhaben („aus des Kristalles Rund“, der Mosesvergleich und V. 35 als Beispiele). Das Tempo ist ein wenig niedriger als zu Beginn, weil gelegentlich nach einzelnen Versen eine kleine Pause zusätzlich gemacht wird (V. 29, 31, 32, 37, 39, 40 zusätzlich zu den großen Pausen).

Wir haben ein Gedicht vor uns, in dem aus dem Erleben der Fremdheit des Spiegelbildes Erleben und Anerkennung der Fremdheit des eigenen Ichs werden (6. und Beginn der 7. Strophe); dieser Übergang, in den ambivalenten Wahrnehmungen der ersten vier Strophen vorbereitet, wird in dem verunglückten Schluss V. 42 nicht durchgehalten.

Seit 2014 gibt es file:///Users/norbert/Desktop/Cardarelli%20Laura.pdf (Arbeit über Spiegelbild-Gedichte, mit multimodaler Herangehensweise, dort S. 56 ff. und S. 103 ff.)

Exkurs: Warum mutet das eigene Spiegelbild fremd an? Ein Versuch

So wie die eigene Stimme auf Band fremd klingt, mutet auch das eigene Spiegelbild fremd an. Ich nehme an, dass dies damit zu tun hat, dass dem Spiegelbild jede eigene Aktivität fehlt: Mit ihm ist keine Kommunikation möglich, es äußert sich nicht – und deshalb (oder umgekehrt) hat es auch kein Innen. Es ist bloße Fassade ohne jede Tiefe, auch wenn man ihm in die Augen schaut – man sieht nichts. Darüber erschrickt man, ich jedenfalls. Vgl. auch: „Er hatte damals […] einen Blick in den Spiegel geworfen, aus dem ihm seine schmalen, tief liegenden Augen angeschaut hatten, als betrachteten sie jemanden, den sie nicht kannten. Zwischen den buschigen Augenbrauen hatten sich zwei steile Falten eingekerbt, unter denen eine große Nase mit einer kleinen runden Geschwulst im Nasenwinkel das Gesicht beherrschte. Der Mund war unauffällig, aber nicht ganz verschlossen, irgendwie zögernd. Ich bin es, hatte er gedacht, aber ich weiß nicht, was ich von mir halten soll. Das Gesicht war leicht verzogen von unterdrückter Spannung. Er hatte es so lange angeschaut, bis es ihm wie ein erstarrtes Brodeln erschien.“ (Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort, Köln 2009, S. 109) – Übrigens: Wenn man in Worten und Taten zeigt, wer man ist (so Hannah Arendt: Vita activa, § 24 f.), kann man in einem Spiegelbild nichts davon sehen; man kann einen Körper sehen, aber nicht das Ich, das über seinen Körper verfügt, sich in ihm betätigt… Ich ist eine Kompetenz, aber kein Ding, keine Substanz.

Theorie: Hans Lipps, 1941 in Russland gefallen, schreibt in seinem Buch „Die menschliche Natur“ (1941, S. 28): „Sich selbst erblicken hieße: sich selbst ins Gesicht, d. i. ins Auge sehen. Was irgendwie unmöglich ist. Man kommt sich merkwürdig fremd vor im Spiegel. Optik zwingt hier den Blick, gleichsam ins Leere vorzustoßen, sofern der – formal – andere nur seine gleichsinnige Verdoppelung ist, dem Blick mit dem Gegenstand auch der Gegen‚stand‘ versagt bleibt. Fremd wirkt das eigene Gesicht im Spiegel. Nicht weil man sich anders sich vorgestellt hätte. Es bleibt wesentlich unerkannt, sofern es überhaupt nicht als Physiognomie gesehen werden kann. Denn es liegt im Begriff einer Physiognomie, daß man interpretierend auf etwas hierin Standhaltendes zukommen kann.

Entsprechend fremd klingt aber auch die eigene Stimme aus dem Grammophon. In der Stimme ist man da für die anderen. Man erkennt jemanden darin. Man vernimmt ihn dabei, nämlich ihn selbst. Aber nur in der Richtung von meinesgleichen kann man jemand vernehmen. Ich kann nicht mich selbst vernehmen. Daß ich mit mir selbst ‚sprechen‘ kann, darf hier nicht irre machen.“

P.S. Ronald David Laing spricht von einem ursprünglichen Gesicht des Menschen, das nicht mit dem identisch ist, was man im Spiegel sieht: „Doch wie sieht das ursprüngliche Gesicht eines Menschen aus, bevor er geboren wird? Dieses Gesicht, das wir für unser Gesicht halten, ist weit von unserem ursprünglichen Gesicht entfernt, und wenn wir uns mit diesem Gesicht identifizieren, sind wir in gewissem Sinne bereits entwurzelt, aus unserem Ursprung herausgerissen, eingefangen vom Zauber der Spiegelbilder, die sich selbst spiegeln (…). Es ist unmöglich, das eigene ursprüngliche Gesicht zu beschreiben. Man kann nur indirekt darauf Bezug nehmen. Manche gehen so weit, daß sie versuchen, ihr ursprüngliches Gesicht zu charakterisieren, aber das ist für diejenigen zu weitreichend, die selber noch weiter gegangen sind.“ (Die Tatsachen des Lebens, rororo 7402, S. 109 f.)

2. P.S. Eine wichtige Rolle spielt das Spiegelbild in Döblins Roman „November 1918“, Band 3: „Heimkehr der Fronttruppen“. Dort wird erzählt, wie der Dramatiker Stauffer seine Skrupel, sich auf seine neue Liebe einzulassen (Lucie, die quasi 20 Jahre auf ihn gewartet hat), durch einen Blick in den Spiegel überwindet: „Und da blickte ihm aus dem Spiegel ein bekümmerter älterer Herr zu. Der Herr schien bestürzt zu sein.“ (dtv 1389, München 1978, S. 159) Als er das Bild fragt, wie dieses sich entscheiden würde, „blickte ihn das Spiegelbild wehmütig an, und Stauffer begriff“ (S. 159). Das Spiegelbild sagt ihm dann, dass auch er sich verändert hat, ohne dass Lucie ihm deswegen Vorwürfe machte – er müsse daher  akzeptieren, dass auch Lucie sich verändert habe. „Und wie das Spiegelbild ihm das aufrichtig und überzeugend mitteilte, legte Stauffer seine Stirn an das freundliche Glas und stimmte ihm zu.“ (S. 160, im Kapitel „Erwin und Lucie“) – Natürlich ist die Begegnung mit dem sprechenden Spiegelbild surreal, aber eben doch realistisch erzählt: Das Spiegelbild hat einem etwas zu sagen. – Vielleicht hilft auch weiter: https://bollnow-gesellschaft.de/getmedia.php/_media/ofbg/201411/65v0-orig.pdf (Bollnow: Das Symbol des Spiegels bei Rilke, dort S. 250 ff.)

3. P.S. Kristina Kuhns Artikel „Spiegel“ im Wörterbuch philosophischer Metaphern (3. Aufl. 2011) verdanke ich den Hinweis auf Herders Fragment „Selbst“ (https://de.wikisource.org/wiki/Selbst; vgl. auch das vorhergehende Fragment https://de.wikisource.org/wiki/Das_Ich): „Vergiß dein Ich: Dich selbst verliere nie.“ Mit diesem zunächst rätselhaften Satz beginnt das Fragment. Ich zitiere die Verse 76 ff., um die Problematik der Droste’schen Selbstbespiegelung zu verstehen:

„Wer sich verlohr, was hätt’ er ohne Sich?
Was in dem Herzen andrer von Uns lebt,
Ist unser wahrestes und tiefstes Selbst.“

Und in der nächsten Strophe wird dem Selbst die Kraft zugeschrieben, uns mit der weiten Welt zu einen und inneren Frieden zu schaffen. Dieses gepriesene Selbst kann man natürlich im Spiegel nicht sehen – was die Droste sehen kann, ist nur die Hülle der Person, gesehen mit den Augen der anderen, dazu noch seitenverkehrt. Kein Wunder, dass sie an diesem Bild verzweifelt! Herder hat in der 3. Strophe seines Gedichts genau dieses Problem behandelt (V. 12 ff.):

„Nicht was du siehest; […] die innre Seherinn,
Die aus der Vorwelt sich die Nachwelt schafft;
Die Ordnerinn, die aus Verwirrungen
Entwirrend webt den Knäuel der Natur […];
Das bist du selbst; die Gottheit ists, wie Du.“

Man kann an diesem Gedicht Herders manches problematisch finden, das sei zugegeben; aber Herder hat 1797 klar gesehen, dass das bloße Spiegelbild nicht dich selbst zeigt. Kristina Kuhn hat selber zwei Gedanken ausgeführt, die die Problematik dieser Selbstbespiegelung vertiefen: 1. Da Frauen für Männer Objekte sein können, kann der Spiegel ihnen nicht zur Selbstvergewisserung dienen. Wo die eigene Autonomie nicht gegeben sei, könne sich weibliche Identität nicht ausbilden (S. 388). – Angesichts der beengten Möglichkeiten des adeligen „Fräuleins“ von Droste-Hülshoff (Konvention und Finanzen) erklärt Kuhns Hinweis, wieso seine Selbstbespiegelung scheitern muss. 2. Kuhn weist ferner darauf hin, dass überhaupt ein „Bild“ nicht der Dynamik der Verhältnisse zwischen Welt und Subjekt etc. gerecht werden kann. „Dynamisiert wäre das Spiegelbild lediglich durch die Bewegungsfolge, die vor dem Spiegel statt hat.“ (S. 389) Das bloße Betrachten des Abbildes könne zu nichts führen.

Als Parallele unbedingt zu beachten: Kurt Tucholsky: Der Mann am Spiegel, 1928. Auch das Gedicht „Tiefer Blick“ (1911) von Anton Wildgans (1881-1932) berührt sich mit dem Gedicht der Droste: http://www.antonwildgans.at/page75.html

4. P.S. Zwei Bücher für die Vertiefung der Spiegelbild- und Gesichtsproblematik: Peter von Matt: … fertig ist das Angesicht (Hanser 1983, suhrkamp taschenbuch 1989); Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts (C. H. Beck 2013, Paperback 2019). Für die Spiegel-Problematik sind (nach Belting) noch zu beachten: das Selbstporträt des Johannes Gumpp https://en.wikipedia.org/wiki/Johannes_Gumpp und Jorge Molders Studien „Points of No return“.

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=Nb63Bpnq_TA (Doris Wolters, gut)

Sonstiges

http://www.zeno.org/Literatur/M/Droste-H%C3%BClshoff,+Annette+von (Leben und Werke der Droste)

http://www.grupello.de/dateien/C091.pdf („Zu früh, zu früh geboren“ Die Modernität der Droste)

Spiegel(bild)

http://www.symbolonline.de/index.php?title=Spiegel

http://www.ureda.de/php/spider/anzeige.php3?id=256

http://www.internetloge.de/symhandb/symb09.htm

https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegel

http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/Esselborn-spiegel.pdf (Spiegelsymbol bei Hesse)

http://abgedichtet.org/files/pdf/spiegelmetapher.pdf (Spiegelmetapher und -literatur)
https://www.youtube.com/watch?v=B-1j-blr_ug (Vortrag: Spiegelmetaphorik)

(Max Klinger: Der Philosoph, 1910: ) – dito schärfer: Klinger, Der Philosoph (1910): https://www.deviantart.com/in2ni/art/Carnet-de-croquis-Max-Klinger-Der-Philosoph-335488848

https://www.thinglink.com/scene/974799956692959233 (M. Pistoletto: L’Etrusco, 1976) oder

https://myfavoriteart.blogspot.com/2012/03/modern-art-museum-of-fort-worth.html (dito)

Das Gedicht der Droste wird inzwischen häufig gelesen; ich habe deshalb einmal versucht, die darin ausgearbeitete Spiegelbild-Erfahrung in den Kontext des Erlebens anderer zu stellen, und zwar unter den Stichworten „Spiegelbild“ und „Spiegelbild Augen“:

http://www.sueddeutsche.de/karriere/lebenskunst-ist-sich-morgens-im-spiegel-anzulaecheln-1.591239 (Spiegelbild)

http://www.bernhard-sandkuehler.de/Selbst.html (dito)

http://www.felten.name/marga/spiegelbuch.html (dito)

http://mymonk.de/nackt-vorm-spiegel/ (dito)

http://undermyskyyy.blogspot.de/2011/09/spiegelbild.html (dito)

http://www.gutefrage.net/frage/ich-habe-angst-meinem-spiegelbild-in-die-augen-zu-kucken (Angst vor dem Spiegelbild)

P.S. Von E. T. A. Hoffmann gibt es die Erzählung „Das verlorene Spiegelbild“, die ersichtlich nach dem Vorbild von Chamissos Novelle geschrieben ist: https://www.projekt-gutenberg.org/etahoff/spiegel/spiegel.html.

Von einem völlig anderen Blick in den Spiegel ist in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften, 2. Buch, die Rede, wo von Agathe erzählt wird: Schon am Morgen, nachdem ihr Bruder abgereist war, hatte sich Agathe sorgfältig betrachtet: es hatte mit dem Gesicht durch einen Zufall angefangen, denn ihr Blick war darauf gefallen und nicht mehr aus dem Spiegel zurückgekommen. Sie wurde so festgehalten, wie man manchmal gar nicht gehen möchte, aber doch immer neue hundert Schritte weiter geht bis zu einem zuletzt erst sichtbar gewordenen Ding, wo man dann endgültig umzukehren vorhat und es wieder unterläßt. In dieser Weise wurde sie ohne Eitelkeit von der Landschaft ihres Ich festgehalten, die ihr unter einem Hauch von Glas vor Augen lag. Sie kam zum Haar, das noch immer wie heller Samt war; sie öffnete ihrem Spiegelbild den Kragen und streifte ihm das Kleid von den Schultern; sie zog es schließlich ganz aus und musterte es bis zu den rosigen Decken der Nägel, wo an Händen und Füßen der Körper endigt und kaum noch sich selbst gehört. Noch war alles wie der blinkende Tag, der sich seinem Zenith nähert: aufsteigend, rein, genau und von jenem Werden durchflossen, das Vor-Mittag ist und sich an einem Menschen oder jungen Tier in der gleichen unbeschreiblichen Weise ausdrückt wie an einem Ball, der seinen höchsten Punkt noch nicht erreicht hat, aber nur wenig darunter ist. »Vielleicht durchschreitet er ihn gerade in diesem Augenblick« dachte Agathe. Dieser Gedanke erschreckte sie. Immerhin konnte es aber auch noch einige Zeit dauern: sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt. Ihr Körper, unbeeinflußt von Sportlehrern und Masseuren wie von Gebären und Muttergeschäft, war von nichts geformt worden als von seinem eigenen Wachstum. Hätte man ihn nackt in eine jener großen und einsamen Landschaften versetzen können, welche die dem Himmel zugekehrte Seite hoher Bergzüge bilden, so wäre er von dem weiten und unfruchtbaren Wogenschlag solcher Höhe wie eine heidnische Göttin getragen worden. In einer Natur dieser Art gießt der Mittag keine Schwaden von Licht und Hitze herab, er scheint bloß noch eine Weile über seinen Höhepunkt anzusteigen und geht unmerklich in die sinkend schwebende Schönheit des Nachmittags über. Aus dem Spiegel kam das etwas unheimliche Gefühl der unbestimmbaren Stunde zurück. (Zweites Buch, Kap. 21 https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohn2/chap021.html)

Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß – Analysen

Als Text des Romans „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ wird hier die Ausgabe rororo 10300 benutzt (55. Aufl., 2006, mit Seiten/Zeilen-Zählung). Falls der Roman abschnittweise gelesen werden soll, kann man bei S. 49, S. 93, S. 153 einen Einschnitt machen.

1. Das Motto
Die vier dem Roman als Motto vorangestellten Sätze stammen von Maurice Maeterlinck, der als Repräsentant der literarischen Strömung des Symbolismus gilt.
Als für das Motto verantwortlich sehe ich den Autor Musil, nicht den Ich-Erzähler an. In welchem Sinn das Motto mit dem Roman zusammenhängt, ist durch das bloße Zitieren nicht erwiesen; es könnte das erzählte Geschehen in seiner Bedeutung erschließen, es könnte aber auch als Zitat des Zeitgeistes ein Verständnis des Sprechens darstellen, welches im Geschehen überwunden wird. Am Ende der Erzählung kann man noch einmal fragen, was das Motto wohl leisten soll.

Im ersten Nebensatz des Mottos („Wenn wir etwas aussprechen“) wird die Handlung benannt, die anschließend direkt und dann bildhaft bewertet wird: „entwerten wir es seltsam“. Was dieses „etwas“ ist, wird jedoch nicht gesagt, sodass sich die Frage ergibt: Was ist dieses „etwas“, welches durch Aussprechen entwertet wird? Damit wird ja nicht die Tatsache gemeint sein, dass ich im Augenblick am Schreibtisch sitze; die brauche ich auch gar nicht auszusprechen, wenn mich niemand fragt. Es muss also etwas anderes sein, das durch Aussprechen (angeblich) entwertet wird: vielleicht das Innere, vielleicht das in der Seele Geahnte oder Gefühlte?
Man könnte diese Frage offen lassen, man könnte auch versuchen, sie durch ein Studium der Werke Maeterlincks vor 1906 (Erscheinungsjahr des „Törleß“) oder des Symbolismus andeutungsweise zu beantworten

Links zu Maeterlinck:

http://www.theatrehistory.com/misc/maeterlinck002.html(M. und der Symbolismus)

https://en.wikipedia.org/wiki/Maurice_Maeterlinck (Es gibt kaum vernünftige deutsche Texte zu Maeterlink im Netz.)

http://www.gleichsatz.de/b-u-t/221149/esch2d.html (zur Überwindung der Sprachkrise)

http://www.textlog.de/18960.html (Mauthner über Maeterlink)

Links zum Symbolismus:
http://de.wikipedia.org/wiki/Symbolismus_%28Literatur%29

http://www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_8836.html (Malerei)
http://www.nthuleen.com/papers/940Breferat.html (Aufsatz über Symbol und Symbolismus)
http://www.ned.univie.ac.at/ (eine große Seite: LIC, Literatur im Kontext, zur Jahrhundertwende – viele Aspekte! – jetzt nur noch über Anmeldung)

https://de.wikipedia.org/wiki/Symbolismus_(Bildende_Kunst) (Bildende Kunst)

http://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1892_2bahr.html (H. Bahr über Symbolismus, 1892)
Hintergrundwissen bietet auch Spörls Aufsatz über den Weg von Nietzsche zum Symbolismus (über Sprachnot und Poesie): http://www.erlangerliste.de/ede/skepsis.pdf

Die im Aussprechen erfolgende Entwertung des Auszusprechenden (oder des Unaussprechlichen?) wird von Maeterlinck in drei Bildern umschrieben: in der Differenz von Tiefe (der Abgründe) und Oberfläche, von Meer und Tropfen (am bleichen Finger), von wunderbaren Schätzen einer Schatzgrube und falschen Steinen oder Glasscherben; „und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“
Das Aussprechen ist mit einem Irrtum verbunden, der mit den Verben „glauben“ (mit folgender Sicht eines anderen) und „wähnen“ bezeichnet wird. Aber das, was sich im Tageslicht zeigt, ist nicht das Letzte, was zu sehen ist; Maeterlinck verweist von dem in Worten festgehaltenen Schatz zurück auf den Schatz, der auch jetzt noch „im Finstern unverändert“ schimmert. – Der Schatz in der Tiefe kann also nicht angemessen in Worten festgehalten werden; das ist die Botschaft des Mottos. Wo allerdings „die Tiefe“ ist, bleibt offen.

Links zu „das Unsagbare / das Unaussprechliche“:

http://www.text-und-zeit.de/lit/litku001.html (U. Greiner)
http://www.textlog.de/37900.html (Definitionen)
http://www.text-pool.de/WebCK212.htm (zu Levinas)
http://www.engeler.de/offeneraeume.html (J. Theobaldy über Dichtung und das Aussagbare)
http://www.die-grenze.com/foucault_sade.html (Sex, Gewalt, Verlangen; weitere Links!)
http://www.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/mythisches-mystisches04-11.htm (das Mystische bei Platon)

http://www2.hu-berlin.de/sexology/BIB/herzer02.htm (über Hirschfeld)

http://www.tu-harburg.de/rzt/rzt/it/witt/section3_1.html (über Wittgenstein)

http://sammelpunkt.philo.at:8080/archive/00000387/01/07-1-94.TXT (zu L. Wittgenstein: Über Gewissheit)
http://norberto42-1.blog.de/?tag=unaussprechliches

http://www.erich-fromm.de/data/pdf/1978b-d.pdf (Fromms Ideologie)

http://www.unibe.ch/unipressarchiv/heft118/beitrag04.html (religiöse Ideologie)

Aufgabe: das Ende der Erzählung „Hasenkatastrophe“ mit dem Motto vergleichen

2. Übersicht über die ersten 8 Abschnitte

[Der Roman ist in Abschnitte eingeteilt, die jetzt durch eine Leerzeile markiert werden; in der Ausgabe rororo 300 waren sie durch eine gestrichelte Linie (—) abgetrennt – das war insofern klarer, als dann keine Leerzeilen bei Beginn einer neuen Seite (wie jetzt S. 15 oben) verloren gehen konnten.]
1. Der Erzähler beschreibt die eher trostlose Situation auf dem Bahnhof (in W.) und erklärt die Bedeutung des Konvikts, S. 7 – S. 9, Z. 7 („S. 9, Z. 7“ wird von jetzt an 9/7 abgekürzt).
2. Der Erzähler berichtet den ersten Teil der Vorgeschichte, die vier Jahre zuvor begonnen hat: Im Schreiben an die Eltern hat sich eine tiefe Sehnsucht des Zöglings Törleß gezeigt, die jedoch wieder versiegt ist; der Ich-Erzähler, der sich als allwissend präsentiert (10/12 ff.), erklärt diese Sehnsucht und ihr Versiegen als Symptom einer bestimmten seelischen Entwicklung (12/8) und bewertet sie als einen misslungenen Versuch, die Kräfte des eigenen Inneren zu entfalten (12/11 ff.). / Ende des 1. Abschnitts
3. Der Erzähler berichtet von einer darauf folgenden Übergangszeit, in der Törleß vergeblich versucht, eine Stütze zu finden; er greift andeutungsweise auf die spätere Entwicklung Törleß‘ vor (12/19-21). Als eine charakteristische Episode dieser Zeit berichtet er, wie Törleß durch den Fürsten H. fasziniert wurde und wie diese Beziehung endete (12/ 19 ff.). / 2. und 3. Abschnitt
4. Es wird berichtet, wie Törleß neue Freundschaften mit wilden, üblen Jungen schließt (mit Beineberg u.a.); die Burschen sind Gegenfiguren zum Fürsten H. (17/7-15); der Erzähler erklärt, dass die Geschlechtsreife sich so bei Törleß ankündigt (15/1 ff.). Er erklärt die Bedeutung der Literatur, jungen Menschen „über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre“ hinwegzuhelfen (15/33 f.), und berichtet dann vom „kleinen“ Törleß als Leser und Schreiber (16/16 ff.). – In dieser Situation, zwischen Literatur und seinen wilden Freunden, erhält Törleß‘ Wesen „etwas Unbestimmtes“, so erklärt der Erzähler, „eine innere Weichheit, die ihn nicht zu sich selber finden ließ“ (17/25 f.). / 4. Abschnitt
5. Es wird (im Anschluss an S. 7 f.) berichtet, wie Törleß‘ Eltern sich verabschieden und ihren Sohn Beineberg anvertrauen (18/25 ff.). / 5. Abschnitt
6. Es wird erzählt, wie die jungen Leute den Weg zum Konvikt antreten und wie Törleß dem ereignislosen Leben im Konvikt entgegensieht (19/33 ff.). / 6. Abschnitt
7. Der Erzähler berichtet, wie die Burschen auf dem Heimweg Bauernweiber betatschen und wie Törleß dabei nicht mitmacht, aber doch „auf irgend etwas von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit“ (22/34 f.) wartet (21/21 ff.); „die Worte sagten es nicht“ (23/8). / 7. Abschnitt
8. Der Erzähler berichtet, wie Reiting auf Törleß‘ Aussehen spöttisch reagiert und Törleß nur mit Beineberg in der Stadt bleibt (23/17-29). / 8. Abschnitt
In einen Zeitraum von vielleicht ein bis zwei Stunden (Abschied der Eltern, Heimkehr der Zöglinge) ist die Vorgeschichte des Geschehens, von dem nun berichtet wird, eingeschoben und sind vom Erzähler einige Marken gesetzt, welche das künftige Geschehen als krisenhafte Reifung des Zöglings Törleß verstehen lassen.
Dass der Ich-Erzähler (10/16) Törleß‘ Werdegang überblickt und einzelne Ereignisse in diesen erklärend und wertend einordnen kann, wurde bereits festgehalten. Er schiebt aber auch Wertungen in seine Beschreibungen ein (verdurstete, erdrosselte Blätter 7/25 f.), bewertet die Fröhlichkeit der Gruppe mit einem Vergleich (8/16 f.) als unecht (8/15); er kennt Frau Törleß‘ Stimmung (8/21 ff.) und die Motive der Eltern Törleß (9/8-16), kennt vor allem des Zöglings Törleß Innenleben genau (9/12 ff.), besser als dieser selbst (10/12 ff.), und seine Ambivalenzen (17/32 – 18/2; 18/3 ff.). Der Erzähler spricht oft bildhaft, sei es in Vergleichen (10/21 f.; 10/33 f. und 14/2), sei es in Metaphern (7/26; 10/27 f.).
Vielleicht sollte man noch auf eine Stelle hinweisen, in der das Motto anzuklingen scheint (13/13 ff.): Im Umgang mit dem Fürsten H. beginnt Törleß zu begreifen, was einen Menschen im Unterschied zum bloß Greif- und Besprechbaren ausmacht, das bewegte und kaum greifbare Seelisch-Menschliche.

Aufgaben:
1. Untersuchen, als was für ein Mensch Törleß zu Beginn des erzählten Geschehens erscheint (S. 15 – 23);
2. wegen der thematischen Bedeutung sollte der 7. Abschnitt genau analysiert werden (21/21 – 23/16).

3. Mit Beineberg unterwegs
Die nächsten Stunden des Tages, an dem Törleß‘ Eltern abgefahren sind, verbringt dieser mit Beineberg, zunächst in der Konditorei, dann bei Bozena (S. 23 – 49); den ersten Teil nutzt der Erzähler, um Törleß gegen Beineberg abzugrenzen.
Damit hat er schon vorher begonnen, als er die Begegnung mit dem Fürsten H. der neuen Freundschaft mit den wilden Burschen gegenübergestellt hat (S. 12 ff., vgl. 17/7-15); besonders in seinen Erklärungen und und Kommentaren zu den Schreibversuchen des Zöglings Törleß (16/24 ff.) wird eine erste deutliche Abgrenzung der Charaktere vorgenommen (17/7 ff.): Törleß ist „zu geistig angelegt“ (17/20), um ganz zu den animalisch wilden Kerlen gehören zu können; anderseits macht ihn das Leben unter den Bedingungen des Konvikts kritisch gegen „die Lächerlichkeit solcher erborgter Sentiments“ der Literatur (17/21 ff.).
In der Erzählung vom Besuch der Konditorei wendet sich der Erzähler dem Verhältnis Törleß‘ speziell zu Beineberg zu (S. 23 ff.). Zunächst berichtet er kurz von Beinebergs Erzählungen von Indien (24/24 ff.), welche im Wesentlichen durch die Geschichte seines Vaters in ihrer Eigenart erklärt werden – bei Beineberg ist davon nur der Glaube geblieben, „sich mittels ungewöhnlicher seelischer Kräfte eine Herrschaft sichern zu können“ (26/24 f.). Törleß wird von Beinebergs Indien-Erzählungen nicht berührt (26/26 f.), sondern empfindet zunehmend Widerwillen gegen diesen.
Als Törleß dann Beineberg betrachtet, wird er von einer homoerotischen Anwandlung beunruhigt (27/6 ff.), welche Törleß selbst als zweiten Anfall sexueller Begierde an diesem Tag wahrnimmt (28/8 ff., vgl. 22/21 ff.). Trotz dieser Anwandlung steigt der Widerwille Törleß‘ gegen Beineberg an (28/17 ff.).
Das folgende Gespräch läuft auf Törleß‘ Erfahrung hinaus, dass in seinem Mund die Worte eine eigentümliche Kraft gewinnen (29/27 ff.), sodass er manchmal selber nicht weiß, „ob man lügt oder ob das, was man erfunden hat, wahrer ist als man selber“ (29/34 ff.). Diese Erfahrung des Intellekts ist Beineberg völlig fremd; ebenso unterscheiden sich die beiden in der Einschätzung des leeren Schulbetriebs (S. 29 f.).
Das letzte Thema ist dann Törleß‘ Erfahrung der Dunkelheit (31/6 ff.): Formen und Farben scheinen ihm „für Sekunden still zu stehen, den Atem anzuhalten“ (31/12 f.); Törleß berichtet dann eine Erinnerung an ein Kindheitserlebnis ähnlicher Art, das Schweigen der Bäume (31/16 ff.), was Beineberg mit seinen indischen Spekulationen aber nicht verstehen kann. Dann leitet der Erzähler mit einer großen Erklärung dazu über, dass Törleß die Spannung nicht aushält und in die Erfahrung der Einsamkeit fällt (32/13 ff.). Zuvor hat der Erzähler jedoch Törleß‘ Anspannung erklärt, die aus dem Versuch stamme, „mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens zu blicken“; der Erzähler berichtet, dass Törleß fühlt, dass da etwas ist, was noch zu schwer für ihn ist – er ist noch seiner Entwicklung, ist in Verwirrungen befangen.
In der Erklärung der von Törleß im Dunkel erfahrenen Einsamkeit berichtet der Erzähler von dessen ambivalenter Einstellung dazu: Einmal habe sie den Reiz eines Weibes, aber er fürchte solche Vorstellungen auch (33/12 ff.). Der Erzähler schiebt dann einen Teil seiner Theorie der Entwicklung junger Menschen ein (33/25 ff.) und blickt anschließend auf Törleß‘ spätere seelische Entwicklung voraus (33/34 ff.), wo sich ein Talent des Staunens aus der Gleichzeitigkeit von Verstehen und Fremdheit ergeben wird; „vorläufig“ bleibe Törleß jedoch in seiner Einsamkeit (34/26 ff.).
Als Törleß und Beineberg aus der Konditorei aufbrechen, empfindet jener noch einmal Widerwillen gegen diesen; „er fühlte sich durch die Gemeinschaft mit ihm geschändet“ (35/11 f.).
Der Erzähler hat also von Törleß‘ Einschätzung seines Verhältnisses, und das heißt wesentlich von den Differenzen zu Beineberg berichtet, hat außerdem Törleß‘ Entwicklung selber kommentiert und den derzeitigen Zustand des Zöglings als einen Übergang deutlich gemacht (9. und 10. Abschnitt). Anschließend wird er vom Besuch der beiden Burschen bei der Dorfhure Bozena berichten (S. 35 ff.).

Aufgaben:
1. Des Erzählers Theorie von der Entwicklung Törleß‘ bzw. der Entwicklung junger Menschen darstellen; dazu seine Kommentare wie auch explizite Erklärungen berücksichtigen (zum Beispiel 10/13 ff.; 12/13-15; 15/22 ff.; 17/7 ff.; 17/20 ff.; 33/25 ff.; 33/34 ff.; 41/18 ff.; 46/34 ff.);
2. spätere Abgrenzungen Törleß‘ gegen Beineberg zum Vergleich heranziehen;
3. die Gleichung „Beineberg = Esoterik“ überprüfen, vgl. auch
http://www.esoteriksektor.de/

4. Das Motto des Romans und das Problem des Zöglings Törleß
Nach den ersten Andeutungen wird das Problem des Zöglings Törleß sichtbar, als er wieder im Konvikt ist und mit Basinis Vergehen konfrontiert wird (S. 49 ff.).
Nachdem Reiting den beiden Heimkehrern seine Entdeckung von Basinis Vergehen berichtet hat, macht man sich auf den Weg zum geheimnisvollen Raum (S. 51 ff.). Die Beschreibung des Raumes und der „politischen“ Ambitionen der Freunde dient dem Erzähler dazu, Törleß gegen diese abzugrenzen (54/9-16; 56/20 ff.): „Er fühlte, daß ihm alles, was er tat, nur ein Spiel war. Nur etwas, das ihm half, über die Zeit dieser Larvenexistenz im Institute hinwegzukommen.“ (57/13 ff.) „Er fühlte sich gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: Einer solid bürgerlichen, in der schließlich doch alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause her gewohnt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut und ungeahnter Überraschungen.“ (57/24 ff.) – Das ist insgesamt der Zustand, in dem Törleß sich zur Zeit der Basini-Episode befindet.
Als Reiting dann erzählt hat, wie er hinter Basinis Vergehen gekommen ist (58/10 ff.), wird Törleß deutlich, was diese Entdeckung für ihn selbst bedeutet: Was sich ihm bei Bozena kurz als Selbstaufgabe aufgedrängt hatte (48/34 ff.), das ist Basini nun wirklich geschehen (64/17-24; ebenso 85/32 f., nachdem zuvor die anderen Erlebnisse diesem einen Schlüsselerlebnis zugeordnet worden sind). Es stellt sich ihm die Frage, wie der Übergang von der einen hellen zur dumpfen Welt möglich ist (64/31 ff. – vgl. das Bild von der Tür 33/3.6; 47/11 f. u.ö.): „Was geschieht in solchem Augenblicke? Was schießt da schreiend in die Höhe und was verlischt plötzlich?“ (65/10 ff.)
In einem Kommentar des Erzählers und in einem Fühlen des Zöglings Törleß wird nun diese Frage nach dem Übergang von der einen zur anderen Welt mit dem Motto des Romans verbunden. Der Erzähler kommentiert Törleß‘ Verwirrung und bringt sie mit der Verwirrung der ersten Liebesbegegnung in Beziehung (63/14 ff.): „Keinesfalls ist zu sagen, was in diesem Augenblicke geschieht. Es ist gleichsam der Schatten, den die Leidenschaft vorauswirft. Ein organischer Schatten; eine Lockerung aller früheren Spannung en und zugleich ein Zustand plötzlicher, neuer Gebundenheit…“ (63/21 ff.) Törleß sagt, Basini sei ein Dieb; doch dabei empfindet er, „daß er nur Uneigentliches vorzubringen habe, daß seine Worte ohne inneren Rückhalt seien und gar nicht seine wirkliche Meinung…“ (65/25 ff.). Der Übergang von der einen Welt zur anderen, die Beurteilung einer „Untat“ ist also gemäß dem Motto des Romans nicht in Worten zu fassen, wobei der Erzähler sich jedoch zweimal hinter dem, was man so sagt, verschanzt hat (63/14 ff.).
Kurz darauf empfindet Törleß noch einmal, dass er mit dem Wort „Dieb“ sich zwar Erleichterung verschafft, die ihn aufwühlenden Dinge vorerst von sich geschoben habe. „Aber die Fragen, die gleich darauf wieder auftauchten, vermochte dieses einfache Wort nicht zu lösen.“ (68/27 ff.) Die Begegnung mit Basinis Diebstahl hat etwas unumkehrbar gemacht und eine Frage aufgeworfen, die sich nur ihm allein stellt (69/12 ff.) – die Kameraden gehören anderen Welten an, auch Beineberg mit seinen indisch-mystischen Spekulationen (vgl. S. 82 ff.). Sogar der Brief der Eltern kann ihm nicht weiterhelfen (S. 72 f.).
Ein weiteres Erlebnis Törleß‘ zeigt die Bedeutung des Mottos, die Erfahrung des unendlichen Himmels im Park (S. 87 ff.). Als Törleß über das Wort „unendlich“ nachdenkt, kommt ihm dieses vor „wie ein gezähmter Begriff, mit dem er täglich seine kleinen Kunststückchen gemacht hatte und der nun plötzlich entfesselt war“ (88/28 ff.) Das Wort beunruhigt ihn; als etwas Vernichtendes „stand es nun lebendig über ihm und drohte und höhnte“ (89/1 f.). Auch an diese Schreckenserfahrung werden die früheren Erfahrungen angeschlossen (89/8 ff., vgl. 85/21 ff.); nun aber gewinnt der Schrecken eine neue Qualität (90/3 ff.). Das Doppelsinnige der Vorgänge und der Menschen erscheint ihm nun „als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen droht.“ (90/14 ff.). Törleß legt diese Differenz dann noch in dem Bild von äußerer Hülle und verborgenem Inneren aus (90/20 ff.). „Es war ein Versagen der Worte, das ihn da quälte, ein halbes Bewußtsein, daß die Worte nur zufällige Ausflüchte für das Empfundene waren.“ (92/2-4) Törleß fühlt sich bedroht – „das lebendige Schweigen umstand Törleß von allen Seiten“ (93/18 f.; vgl. die Erinnerung 31/17 ff.).
Deutlicher als an den gerade zitierten Stellen kann man nicht mehr sagen, dass im Motto des Romans das Problem des jungen Törleß formuliert ist, wie es sich ihm in dieser Phase des Geschehens (nach der Entdeckung von Basinis Diebstahl) stellt. Der Erzähler deutet in einem Kommentar jedoch schon eine Lösung des Problems an: „Und es gibt auch sonst Dinge, wo zwischen Erleben und Erfassen diese Unvergleichlichkeit herrscht. […] Und was groß und menschenfremd aussieht, solange unsere Worte von ferne danach langen, wird einfach und verliert das Beunruhigende, sobald es in den Tatkreis unseres Lebens eintritt.“ (91/16 ff.)

Aufgabe:
Untersuche, wie Törleß diese Erkenntnis des Erzählers selber nach mehreren scheiternden Anläufen findet:
– das Quälen Basinis (S. 93 ff.);
– die Entdeckung im Mathematikunterricht (S. 103 ff.);
– die Lektüre Kants (S. 113 ff.);
– die Träume und die Selbsterfahrung in der Sinnlichkeit (S. 119 ff.; 123/6 ff.);
– der Versuch einer schriftlichen Reflexion (S. 124 ff.);
– Törleß‘ Begegnung mit Basini (S. 134 ff.)
Nachdem Basini ihm mehrfach erklärt hat, dass dieser Übergang von der einen zur anderen Welt eigentlich nichts Besonderes ist (145/12 ff.;146/22 ff.; 148/17 ff.), wird dann die Erkenntnis des Erzählers von Törleß als sein eigener Gedanke formuliert (151/1 ff.) und dadurch, dass er dem Werben Basinis nachgibt (S. 152 f.), auch im Tun ratifiziert.

Peter Horn: Die Erzeugung der Fremde in der Stringenz der Logik (bereits genannt: http://prghorn.kilu2.de/books/Ivg%20Toerless.htm)
http://www.xs4all.nl/~jikje/Essay/Sileitsch.html (Wortproblematik bei Musil)
http://unendliches.net/ (Kompaktes Wörterbuch des Unendlichen)
www1.uni-hamburg.de/aww/segeberg_alles_relativ.pdf (Harro Segeberg: Die neue Physik und die Literatur des 20. Jahrhunderts)
http://www.thurnhofer.cc/index.php?option=com_content&task=view&id=224 (Törleß – ein Fall für die Psychoanalyse?)

Aufgabe: die Verwirrungen des Zöglings Törleß gegen die Probleme des Lord Chandos (Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, 1902) abgrenzen
http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1247&kapitel=1 (Text)
http://home.cc.umanitoba.ca/~divay/psg/hvh.html (erkenntnistheoret. Aspekte)
Idee: Nach der Heimfahrt schreibt Törleß einen Brief an Lord Chandos (Vorbild: http://www.litart.ch/chandos_klein.htm)

Aufgabe
: die Bedeutung der Motive des Schweigens, des Schattens und der Tür (Tor, Pforte) für das im Motto formulierte Problem und dessen Lösung untersuchen

Musils „Törleß“ ist zwischen 1902 und 1905 entstanden (nach dem Kommentar Adolf Frisés in Gesammelte Werke II, 1978, S. 1737), „Die Amsel“ im Januar 1928 veröffentlicht worden; die ersten, später verwendeten Skizzen dazu datieren ins Jahr 1914 (a.a.O., S. 1744). Insofern ist es nicht unproblematisch, ein Motiv der Erzählung beim „Törleß“ zum Vergleich heranzuziehen.
In „Die Amsel“ (in: Nachlass zu Lebzeiten, 1936) gibt es drei Geschichten ungewöhnlicher, das Übernatürliche streifender Erlebnisse: Eine Nachtigall, die in Wahrheit eine Amsel ist, ruft als Botin einer anderen Welt einen jungen Mann aus seinem bisherigen Leben heraus; ein Fliegerpfeil, also ein im 1. Weltkrieg aus einem Flugzeug als Waffe abgeworfener Metallstab, hätte beinahe den Erzähler getroffen – sein Klingen hat ihn jedenfalls persönlich angesprochen; die verstorbene Mutter kehrt als Amsel zurück und bleibt bei ihm.
Das Motiv der Sprache taucht in der Reflexion eines banalen Satzes über die Eltern auf: „Sie haben dir das Leben geschenkt.“ Im Kontrast zu den Erfahrungen, dass man sonst als Erwachsener alles kauft oder selbst schafft, geht dem Erzähler dieser Satz plötzlich nahe: „Ich glaube, dieser Satz barg einen Schatz von Unregelmäßigkeit und Unberechenbarkeit, den ich vergraben hatte.“
Am interessantesten ist vielleicht die Konstruktion der Erzählsituation: Ein Ich-Erzähler berichtet von zwei (ehemaligen) keineswegs religiösen Jugendfreunden, Aeins und Azwei; der letzte erzählt die drei Geschichten und erklärt dem Aeins: „Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind;“ aber wie soll Aeins das wissen? Zum Schluss betont Azwei, es habe sich alles so, wie er erzählt, ereignet; „und wenn ich den Sinn wüßte, so bräuchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können.“

Aufgabe: das Motiv „Sprechen/Sprache“ in „Die Amsel“ mit Törleß‘ Frage vergleichen

Thomas Pekar
: Robert Musil zur Einführung (1997),
stellt den Roman unter die Problematik des Blicks (Augen, Blicke, das Sehen). Freud (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie) unterscheide zwei Arten des Blicks, den vom Trieb geleiteten Blick auf einzelne Teile (Beine, Busen), welcher die Einheit des Subjekts gefährde, und den gezähmten Spiegel- oder Liebesblick, der das Ich konstituiere und narzisstisch bestätige (S. 36 f.). Pekar verweist auf
– den Blick in die Bauernküchen (22/17 ff.);
– den Blick in den Garten (24/11 ff.; 31/6);
– den Blick auf Beineberg (27/15 ff.);
– das Angeblicktwerden durch die Bäume (31/24);
– die geschlossenen Augen (63/11, mit dem Vergleich vom Anblick des Weibes 63/15);
– den Blick zum Himmel (92/25 ff.);
– die Erfahrung der Schönheit des nackten Körpers (139/31 ff.);
– die Lösung: doppelter Blick, Wechsel der Persepektive (196/17 ff.)
Die Verbindung dieser Blick-Problematik mit der vorher aufgezeigten Wort-Problematik findet man in der Situation, als Törleß in den Himmel blickt (S. 92 f.):
„Er hatte das Bedürfnis rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand.“ (92/12-14) Die Worte versagen (92/2), er richtet die Augen auf den Himmel (92/25), er ist allein (92/30 ff.), das Schweigen umsteht ihn (93/10 ff.).

Aufgabe: Belege für das Motiv des Sehens (der Augen) suchen, seine Bedeutung für das Geschehen prüfen

Törleß – ein Entwicklungsroman
Dass „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ Verwirrungen in der Entwicklung eines ungewöhnlichen Jugendlichen sind, macht der Erzähler deutlich, ehe er von den dramatischen Ereignissen im Konvikt im Konvikt berichtet (ab S. 49).
Die Beschreibung der Abschiedssituation (S. 7 f.) unterbricht der Erzähler mit seiner Erklärung, warum Törleß in jenem Konvikt in W. erzogen wird (8/24 ff.); dann erzählt er, wie Törleß in dieses Konvikt gekommen ist (9, Zeile 8 ff. = 9/8 ff.). Törleß hat im Konvikt zunächst an fürchterlichem Heimweh gelitten (9/11 ff.); als diese Zeit des Heimwehs vorbei war, erkannte Törleß, dass sich da „unter dem Vorwand des Schmerzes“ etwas anderes gezeigt hatte (11/3 ff.). Der Erzähler erklärt uns, was vor sich gegangen ist: Die im Erwachen gewesene Seele hat sich in Törleß’ „Heimweh“ gezeigt (11/16 ff.). Damit ist das Thema des Romans von Anfang an klar bestimmt – wie auch klar ist, dass Törleß seine Entwicklung nicht versteht („Er hielt es für Heimweh…“, 10/12 ff.). Der Erzähler bewertet abschließend Törleß’ Heimweh-Erleben: der erste missglückte Versuch des jungen Menschen, „die Kräfte des Inneren zu entfalten“ (12/11 ff.), was auch seine Eltern nicht verstehen. – Törleß’ Schreibversuche (16/24 ff.) sind dagegen Aktionen des Gehirns; seine Seele ist zu dieser Zeit verloren gegangen (17/7 ff.).
Bald darauf, nach der Episode mit dem jungen Fürsten H. (12 – 14), wird die andere Komponente dieser Entwicklung benannt: die beginnende Geschlechtsreife (15/2 f.). Diese Komponente nimmt viel Platz in der Erzählung ein: Wiewohl Törleß sich an den sexuellen Pöbeleien seiner Kameraden auf dem Heimweg ins Konvikt nicht beteiligt (22/5 ff.), ist seine Seele „von wirklicher Schamlosigkeit gepeitscht“ (22/16). Als er später mit Beineberg allein im Café sitzt, stellt er sich seinen Kameraden nackt vor (27/18 ff.). Später gehen die beiden noch zur Dorfhure Bozena; der Erzähler berichtet, dass solche Besuche „in der letzten Zeit“ (40/16) für Törleß die einzige Freude geworden sind; die beizenden Reize der Frau locken ihn (41/6). In ihm steigt eine Kette hässlicher Gedanken auf (44/22 f.); er sättigt sich mit den Augen an der Bozena im Unterrock (45/17 ff.) und wird wohl auch gegen seinen Willen von ihr geküsst (49/10 ff.).
Zur Bedeutung der Bozena für Törleß sagt der Erzähler noch, dass sie zur Reifung des Jungen beiträgt (Keime frühzeitig an die Oberfläche gerissen, 42/4 ff.). Bozena erscheint ihm als Gegenbild seiner Mutter (44/26 ff.). Die Erinnerung an seine Eltern, die sich dann einstellt (46/13 ff.), lässt ihn „Liebe“ nur für junge einsame Menschen reklamieren, nicht für erwachsene wie seine Eltern bestimmt. Der Erzähler kommentiert diese Fehleinschätzung als einen der jugendlichen Irrtümer (46/34 ff.) und bringt ihn mit dem Zeiterleben Törleß’ zusammen (vgl. auch 18/19-21).
Das Gefühl oder die Stimmung, welche den heranreifenden Törleß bestimmen, sind die Einsamkeit (32/6 ff.) und Melancholie oder Gleichgültigkeit (20/8 ff.; 30/20; 32/10 ff.; vgl. 7/28 ff.). Dementsprechend sucht er eine Stütze (12/15-17), die er auch im Umgang mit dem Prinzen zeitweise findet (13/13 ff.).
Der Erzähler erklärt auch Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung: dass junge Menschen in der Zeit des Übergangs in der schönen Literatur in illusorische Hilfe finden (15/21 ff.), welche im Konvikt aber fehlt. Törleß ahnt empfindsame Erkenntnisse, die seinem Alter noch nicht entsprechen (33/23 ff. im Kontext); seine Vorliebe für gewissen Stimmungen deutet seine spätere bedeutsame Entwicklung an (33/34 ff.).
Seine besondere Situation gegenüber den robusten Kameraden ist dadurch gekennzeichnet, dass ihm die Wildheit der Freunde nichts gibt (17/27 ff.), ihn vielmehr als einen geistig angelegten Menschen in einen Zustand innerer Hilflosigkeit versetzt (17/20 ff.).
Mehrfach wird indirekt eine Beziehung seiner Entwicklung zum Motto des Romans angedeutet: In seinem Heimweh „fühlte er etwas Auszeichnendes, Exklusives in sich“ (9/27 f.), als trüge er einen goldenen Schlüssel für ein Tor zu wunderbaren Gärten in sich (9/34 ff.). Auch das Bild vom Aufenthalt in einer besonderen Kapelle (10/33 ff. und 14/1 ff.) gehört in diesen Zusammenhang; das Versagen der Worte erlebt er, als sie an den Bauernhäusern vorbeigehen (23/8 ff.) und als er mit Beineberg über Religion spricht (29/25 ff.). Der Erzähler deutet an, dass diese Erfahrung in Törleß’ später sich zeigendem Talent des Staunens voll ausgebildet sein wird (34/1 ff.).

5. Skizze zur Zeitstruktur
Der Bericht von den Ereignissen des ersten Tages geht bis S. 69; in diesen Bericht sind auch die Vorgeschichte von vier Jahren und ein Vorgriff eingeschoben; dann wird der nächste Tag datiert (69/32). Es folgen die nächsten Tage (70/21), wobei Törleß einmal „heute“ den Brief liest (73/14). Es wird auch erzählt, was einmal während der Nacht geschieht (74/17). Wieder werden die nächsten Tage erwähnt (86/22), in denen sich auch Törleß‘ Erlebnis im Park abspielt (S. 87 ff.); am nächsten Tag kommen Beineberg und Reiting und vereinbaren mit ihm die erste Quälerei Basinis (93/30). Bis zu diesem Zeitpunkt mögen rund zwei Wochen vergangen sein.
Der Erzähler setzt dann unvermittelt ein, vom Einfall während des Mathematikunterrichts zu berichten (102/26). Er greift aber mit dem Hinweis auf die Aufmerksamkeit „während der letzten Tage“ (102/28) auf das Gespräch am ersten Tag zurück (30/31 f.); psychologisch könnte man eine Nähe zum Parkerlebnis (S. 93 ff.) für wahrscheinlich halten: einige Tage später. Am nächsten Tag besucht Törleß seinen Lehrer (105/19), am nächsten Tag beginnt er Kant zu lesen (113/5); am Abend hat er mehrere Träume (118/21). Am nächsten Tag macht er seinen Notizen (124/14 und 124/25).
Es folgt dann ein summarischer Bericht (bei Tage – in den Nächten, 131/16 und 132/13); diese Zeit mag eine Woche gedauert haben. Danach werden die vier freien Tage erwähnt, an denen die meisten wegfahren (133/25 ff.) und die mit dem Samstag beginnen; in der ersten Nacht trifft Törleß sich mit Basini in der Geheimkammer. Am Dienstagabend kommen dann die Zöglinge heim (153/27). Bis zu diesem Zeitpunkt sind rund vier Wochen vergangen; der Erzähler berichtet einmal, dass Törleß während „der wenigen Wochen“ (169/7 f.) fester und energischer geworden ist – und bis dahin vergeht noch eine nicht genau bestimmte Zeit bis zu einem Gespräch der drei Freunde, das nach Angabe des Erzählers „einige Tage später“ (163/1) vermutlich oder möglicherweise als der genannte Dienstagabend stattfindet – ein Zeitraum, der vorher summarisch gefüllt worden ist (häufig 154/1; des öfteren 154/7 – das kann innerhalb einer knappen Woche geschehen sein).
Von hier aus kann man die Ereignisse bis zum Verhör Törleß‘ durch die Konferenz genau datieren: In der zweitnächsten Nacht (169/14) wird Basini erneut gequält; am vierten Tag danach (174/34) bittet Basini Törleß um Hilfe. Am zweiten Tag danach lehnt Törleß es ab, an der weiteren Unterjochung Basinis teilzunehmen (179/29); in der Nacht steckt er Basini den Zettel mit dem Rat zu, sich dem Direktor zu stellen (184/1 ff.). Am nächsten Tag wird Basini von der Klasse gequält (184/17), am nächsten Morgen greift der Direktor ein (186/8 f.). Am nächsten Tag werden die Zöglinge einzeln verhört (188/18).
Das Ergebnis der Verhöre ist, dass Basini entlassen wird und dass der Direktor ebenso wie Törleß einen Brief an dessen Eltern schreibt (197/25); vermutlich wird er einige Tage später von seiner Mutter abgeholt, womit das erzählte Geschehen schließt (S. 199 f.).
Nach den Feiertagen vergehen also etwa zwei Wochen bis zum Ende des Geschehens. Einmal greift der Erzähler allerdings weit in die Zukunft vor, wie Törleß als junger Mann ist (158/16 ff.) und wie er „einmal“ seine Jugenderlebnisse selber beurteilt (160/7 ff.).

6. Überleitungen zum Ende (Berichte, Kommentare S. 154-162)
Mit Törleß‘ Erkenntnis, dass immer einfach kommt, was von fern so groß aussieht (151/1 ff.), ist eine gewisse Auflösung seiner Verwirrungen erreicht; diese werden aber dadurch noch einmal angefacht, dass er sich auf ein sexuelles Abenteuer mit Basini einlässt (S. 151 – 153).
Zunächst wird nun summarisch berichtet, dass Törleß sich häufig schämt und eine Art Zärtlichkeit für Basini empfindet; dass er diesem die Verstecke zeigt; was Beineberg und Reiting treiben und wie Törleß sich ihnen widersetzt (154/1-30); es folgt ein kurzer Kommentar zu Törleß‘ Anteilnahme an Basini (154/31-33).
Dann folgen Kommentare des Erzählers zur Eigenart von Törleß‘ Begehren (154/34 ff.): kein wirkliches Begehren, aber etwas wie Leidenschaft, jedoch nicht Liebe. In einem zweiten Kommentar wird der asexuelle Charakter dieser Faszination betont (155/12 ff.) und als die „melancholische Sinnlichkeit des Heranreifenden“ (155/24 f.) identifiziert; der Erzähler erklärt, wie es dazu gekommen ist und dass Törleß selbst das alles nicht versteht (bis 156/17); er vermeint wohl Liebe zu empfinden.
Anschließend deutet der Erzähler an, dass Törleß dieses Gefühl bald richtiger einzuschätzen lernt (156/19 ff.); der Erzähler berichtet summarisch, wie Törleß in seinen Gefühlen schwankt: zwischen Scham und vermeintlich einzigartigem Leiden (vgl. die Vergleiche 157/15f. und 17 ff.!) und anderseits namenlosen Gefühlen und einer „zu wilder verachtender Ausschweifung“ wachsender Lust (158/8 ff. – dazu passst jedoch nicht recht, dass ein paar Tage später sein Gefühl für Basini völlig erkaltet ist, 169/17 ff.). Als Zeichen der Unreife darf noch gelten, dass Törleß fragt, was die anderen wohl zu seinem Geheimnis sagen würden (157/3 ff.).
Dann greift der Erzähler auf den späteren jungen Mann Törleß vor, also den Zielpunkt der sich abspielenden Entwicklung (158/16 ff.); der ist eine schöngeistige Natur, dem schwüle und exzessive Regungen nicht schlimm, sondern Mittel des geistigen Genusses sind. Der Erzähler berichtet, was dieser Törleß später „einmal“ über diese Episode seiner Jugend gesagt hat (160/7 ff.): dass Leidenschaft und Erniedrigung etwas ist, durch das man notwendig hindurchgehen muss. Mit seiner eigenen Autorität wie mit der des gereiften Törleß zerstreut der Erzähler also mögliche moralische Bedenken seiner Zuhörer bzw. der Leser; danach braucht er die Verwirrungen nur noch zu einer vorläufigen Auflösung zu bringen.
In einigen summarischen Berichten, die mit einem Kommentar und einer Erklärung verbunden sind, leitet er dann zu letzten Phase des Geschehens über: der völligen Unterwerfung Basinis, die mit dessen Selbstanzeige und seiner Entlassung sowie Törleß Abschied endet.
Törleß‘ Situation ist also ambivalent, wie bereits oft erwähnt worden ist: Er ist noch nicht ganz von den Rätseln frei geworden, die ihn bedrängt haben (161/12); er versteht sich selbst auch noch nicht (161/13 f.). Diese letzte Bemerkung erklärt der Erzähler durch die Besonderheiten des Institus, in dem die Zöglinge leben (161/15 ff.: eingepferscht sein, „männliche“ Ideale, Mangel an Lebenskenntnis); diese Erklärung rechtfertigt das Urteil, dass Törleß „naiv in seine Vergehen hineingeraten“ ist (162/2 f.). Ferner, so erklärt der Erzähler, habe Törleß auch seine später so ausgeprägte „ethische Widerstandskraft“ gefehlt (162/4 ff.); er habe nur gewusst, dass er auf dem Wege in sein Inneres, also zum eigentlichen Ziel seiner Entwicklung, gewesen und dabei in die Sinnlichkeit hineingestolpert sei, was ihn jedoch mit Schuldbewusstsein erfüllt habe (162/12 ff.) – zu Unrecht, wie der vom Erzähler belehrte Leser weiß.
Dass Törleß stumm und etwas fester dahinlebte (162/27 ff.; vgl. „immer seltener“, 162/29), passt wiederum nicht recht zur nächsten Datierung, dass die drei Freunde sich „einige Tage später“ (163/1) treffen. Der Erzähler hat sich alle Mühe gegeben, zum nun folgenden Abschluss des Geschehens überzuleiten und die Verwirrungen des Zöglings Törleß moralisch milde beurteilen zu lassen, weil der, nichtsahnend auf seinem rechten Weg, unter dem Druck der Verhältnisse im Konvikt in allerlei Schwierigkeiten geraten ist.
Auf das Ende des Geschehens bereitet der Erzähler mehrfach dezent vor: Törleß ist fester und energischer geworden (169/8); sein Gefühl für Basini ist völlig erkaltet (169/17 ff.); er entfernt sich von der nächsten Quälerei Basinis und fühlt, dass „ein Abschluß“ (174/27) erreicht ist; mit Hilfe eines nun neu verstandenen Briefes seiner Eltern findet er die Lösung und trifft damit „die Entscheidung“: dass er Basini raten muss, sich dem Direktor zu stellen (183/9 ff.); im Gespräch mit den Lehrern fühlt Törleß als Mensch, dass er nun klar und siegesbewusst sprechen kann (193/28 ff.); die Lösung des Wechsels der seelischen Perspektive sieht er klar (198/33 ff.). Mit der sicheren Unterscheidung von Tag und Nacht (199/11 f.) hat er die einst ersehnte Sicherheit (58/1 ff.; vgl. S. 46 f.) gewonnen; er kann problemlos das Parfüm seiner Mutter riechen, also diese als Frau wahrnehmen (200/1 ff.), was ihm noch einige Wochen zuvor (S. 44 – 47) unmöglich gewesen war. Die Verwirrungen sind im Wesentlichen durchlebt und damit vorbei.

Aufgabe: die bildhafte Sprache des Erzählers exemplarisch (etwa 63/10 – 65/11; 122/4 – 123/34; 193/29 – 195/6; 198/5 – 199/28) untersuchen und auf die Problematik des Mottos beziehen; häufig kommen folgende Formen vor:
– Wie-Vergleiche („Die Nächte erschienen ihm wie dunkle Tore…“);
– Irreale Vergleiche mit Konj. II („Er empfand die Leidenschaft der Melodien wie Flügelschläge großer Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog.“);
– Genitivmetapher („Dornenkrone seiner Gewissensbisse“);
– Analysierender Genitivvergleich („Ich bin in der Aufregung eines Menschen, der einem Gelähmten die Worte von den verzerrungen des Mundes ablesen soll.“).

Aufgaben:
1. die thematisch unterschiedliche Bedeutung der Beziehungen des jungen Törleß zu Beineberg, Reiting und Basini untersuchen
http://www.reclam.de/detail/3-15-010582-X (Mobbing)
http://infos.aus-germanien.de/Mobbing_in_der_Schule
2. Welcher der Hauptfiguren kann man am ehesten in einer Rollenbiografie sich annähern?
http://209.85.135.104/search?q=cache: (ausführlich)
http://www.achimfessler.de/files_deutsch/files_d_08/rollenbio.htm (knapp)

Aufgaben:
1. die verschiedenen Umschreibungen der beiden Seiten des Lebens zusammenstellen und untersuchen (mit dem Zielpunkt in der Sicht des jungen Mannes Törles, 158/19 ff.); dazu die Erzählung „Kleine Lebensreise“ von Robert Musil heranziehen;
2. die Ergebnisse in eine Theorie der Subjektivität einordnen
http://www.staff.uni-mainz.de/metzinge/Texte/SMT-light.htm (Metzingers Theorie)
http://userpage.fu-berlin.de/~miles/Schuld.html (Schuld und Subjektivität)
http://www.copyriot.com/diskus/06-1/begehrtes_ich.htm (Identität, Begehren, Beziehungen)
Über Subjektivität und Perspektivenwechsel:
http://www.mediationsausbildung.com/papers/pdf_010207/k_perspektivwechsel.pdf
http://userpage.fu-berlin.de/~phin/phin1/p1t3.htm (zur Semantik von „fremd“)

Nach Karl Corino (Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten, 1988, S. 10) bildet der Törleß-Roman auf der pschologischen Ebene „den Zustand akuter Identitätsverwirrung“ ab, wie er für die Pubertät typisch sei.
Aufgabe: untersuchen, wie weit man den Roman mit den thematischen Stichworten „Identitätsverwirrung, Pubertät, Adoleszenz“ verstehen kann;

Aufgaben:
1. Beziehungen zu thematisch ähnlichen Romanen der Zeit nach 1900 (Hermann Hesse: Unterm Rad, 1905; Robert Walser: Jakob von Gunten, 1909) untersuchen
http://209.85.129.104/search?q=cache:Nxou-U7BTCEJ:www.germanistik.uni-freiburg.de/
von Hesses Roman könnte man am zweiten Kapitel untersuchen, wie dem gelehrigen Hans Giebenrath von unverständigen Lehrern die Kindheit gestohlen wird, woran er letztlich zerbricht; durch die Begegnung mit seinem genialisch-aufsässigen Freund Hermann Heilner (Selbstbild Hermann Hesses?) wird Hans aus der Bahn des ehrgeizigen Lernens geworfen und bricht zusammen (4. Kapitel, Anfang des 5. Kap.). Aus dem dritten Kapitel kann man noch den 2. Absatz sowie aus seinem 2. Unterkapitel den 1. Absatz („Am folgenden Tage …“) zum Vergleich heranziehen. – Die erotische Begegnung mit Emma (6. Kap.) und der folgende Liebeskummer (Anfang des 7. Kap.) sind nur eine (nicht wesentliche) Etappe auf seinem Weg in einen ungeklärten Tod. [Sein Vater Joseph wird vom Erzähler hämisch als Philister gezeichnet (1. Kapitel, die ersten drei Absätze); nur der pietistische Schuster Flaig und der genialische Jungdichter Heilner scheinen dem Erzähler ein lebenswertes Leben zu führen.]
http://de.wikipedia.org/wiki/Unterm_Rad
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/hesse/u_frame.htm
http://gabrieleweis.de/2-bldungsbits/literaturgeschichtsbits/thema%20jugend/reader-thema-jugend/15-hesse-unterm-rad.htm
Das Geschehen in Walsers leicht surrealem Roman ist nur schwer mit dem in Musils Roman zu vergleichen; man könnte des Ich-Erzählers Jakob „Lebenslauf“ (etwa am Ende des ersten Viertels des Romans) heranziehen und überlegen, ob Jakobs Weg mit dem von Törleß oder mit Hans Giebenrath vergleichbar ist. (Über Walsers Roman kann man sich kurz im KLL informieren.);(Perspektivenwechsel als Erkenntnisquelle – wie unterscheidet sich dieses Verständnis des „Perspektivenwechsels“ von dem des jungen Törleß?)(Schülerromane: Auswahlbibliografie);

2. den Adoleszenzroman vom klassischen Bildungsroman abgrenzen
http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/epik/bildungsroman.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Bildungsroman
http://www.fernuni-hagen.de/EUROL/termini/welcome.html?page=/EUROL/termini/9311.htm
Aufgabe: den Roman in die Literatur zwischen Naturalismus und Expressionismus einordnen
http://www.literaturwelt.com/ (-> Epochen -> Moderne klicken)
http://www.xlibris.de/Autoren/Klassiker/Literaturepochen.htm
http://www.lektueretipp.de/html/body_epochen_5.htmlhttp://www.ned.univie.ac.at/ (Literatur im Kontext, zur Jahrhundertwende – vgl. auch die Links oben unter 1. zum Symbolismus!)
http://web.uct.ac.za/depts/german/texts/toerless.htm („Törleß“ und Nietzsches Machtbegriff)

Aufgaben:
1. die Bedeutung des Romans für Lebensverständnis und -bewältigung heutiger Jugendlicher diskutieren; dabei den Auszug aus dem Entwurf eines Briefes Musils an M. di Gaspero (1907?) beachten:
„Um auf den T. zu kommen: das Buch ist nicht naturalistisch. Es gibt nicht Pubertätspsychologie wie viele andere, es ist symbolisch, es illustriert eine Idee. Um nicht mißverstanden zu werden, habe ich ein Wort von Maeterlinck, das ihr am nächsten kommt, vorangesetzt. Das Buch ist unmoralisch, weil diese besondere Form der Unmoral mir am geeignetsten schien, die Idee daran heraus zu arbeiten.“
http://www.nzz.ch/2005/12/24/li/articleDFCMZ.html (Pubertät)
http://www.ned.univie.ac.at/CMS/Brochueren/Von_Dik_Trom_bis_Meester_Max/Geteilte_Jugend/(Adoleszenzromane)
www.br-online.de/imperia/md/content/bayern/collegerad/ethik/127.pdf (Literaturwerkstatt: „Herzschmerz. Pubertät in Literatur, Kino und Fernsehen“)
2. untersuchen, wie die Identitätskrise in der Pubertät heute im Vergleich zur Darstellung im Roman erlebt wird;
„Identität“ und „Adoleszenz“ bei http://www.socioweb.de/lexikon/ und http://www.assoziations-blaster.de/ nachschlagen;
http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=U0O261 (Jugend in D)
http://www.kybernaut.de/literaturinferno/seiten/identitaet.html
http://www.hr-online.de/website/specials/wissen/index.jsp?rubrik=6570&key=standard_document_12627716
http://www.seelische-krise.de/
http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Kindliche_Entwicklung/s_599.html

Aufgaben (bei Interesse):
1. die Bedeutung dessen, in einer kasernierten Jungen- bzw. Männergemeinschaft zu leben, untersuchen
http://www.jungle-world.com/seiten/2005/20/5526.php (Analogie: Militär)
http://dictionaryofwar.org/de-dict/node/489 (Disziplin)
http://www.heilpaedagogischeforschung.de/ab0245.htm
2. die Auffassung diskutieren, im Roman sei erzählerisch warnend auf den Terror des Dritten Reichs vorgegriffen worden;
http://www.versalia.de/Rezension.Musil_Robert.65.html
3. Musils Erzählung „Die Affeninsel“ zum Vergleich heranziehen.

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Einen höchst ambitionierten, also eher unrealistischen Vorschlag einer Unterrichtsreihe hat Bernhard Großmann in der Reihe „Interpretationen Oldenbourg“ (3. Aufl. 1997, S. 98 ff.) vorgelegt: 14 Stunden für den Grundkurs, 22 Stunden für den Leistungskurs Deutsch.
Ich setze voraus, dass die gängigen Lektürehilfen (Königs Erläuterungen, Erläuterungen und Dokumente bei Reclam usw.) bekannt bzw. leicht zu beschaffen sind.
http://lernarchiv.bildung.hessen.de/archiv/sek_ii/deutsch/kurshalbjahre/13.1/grenzueberschreitungen_/musil_toerless/
Artikel im KLL (neu: Rolf Grimminger), von Schülern bearbeitet:
http://gabrieleweis.de/2-bldungsbits/literaturgeschichtsbits/
In der Reihe „Stationen der Literatur“ hat Heinrich Biermann 1986 „Text und Materialien“ zu Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ vorgelegt. Er verweist darin auf einzelne „Themenkreise“ in der Diskussion der Sekundärliteratur (S. 177 ff.):
* Die Krise der individuellen Entwicklung: Pubertät und Sexualität
* Die Krise der Wahrnehmung und der Erkenntnis: Sprachkrise und „anderer Zustand“
* Die Krise der Gesellschaft: Dorf und Internat als Spiegel der Gesellschaft
* Zusammenhänge zwischen individueller und gesellschaftlicher Krise
* Sprache und Struktur des „Törleß“
http://www.stauff.de/grundkursdeutsch/dateien/geheimerlehrplan/geheimerlehrplan.htm

Musil, Leben und Werk
(u.a.):
http://www.cpw-online.de/lemmata/musil_robert.htm (encarta)
http://www.spiegel.de/spiegelspecial/0,1518,274701,00.html (Besprechung zweier neuer Musil-Biografien)
http://www.zeit.de/2003/33/Sbib-Musil_33 (Besprechung „Törleß“ – problematisch!)
www.bgdv.be/gm58/Duhamel.pdf 341.pdf (Philosophische Grundlagen der österreichischen Literatur um 1900)

Weitere Verarbeitungen
(Film, Theater):
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/ („Törleß“ als Theaterstück – Vorbesprechung)
http://www.theaterkritiken-berlin.de/Regietheater/Zoegling%20Toerless.htm (Kritik dazu)
Film: Volker Schlöndorf: Der junge Törleß
http://www.kinematographie.de/HEFT50.HTM#KI (Besprechung des Schlöndorff-Films)

Zur Rezeption des Romans: https://kommunikativeslesen.com/2023/03/04/robert-musil-die-verwirrungen-des-zoeglings-toerless/

Anregungen zur Literaturdidaktik allgemein:
http://www.fachdidaktik-einecke.de/

Analysen zu Musils Erzählungen „Die Affeninsel, Das Fliegenpapier, Hasenkatastrophe“ und „Kleine Lebensreise“ findet man unter „Erzählungen“ bei http://www.bloghof.net/norberto42/

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Musil: Daten seiner Biografie bis zur Veröffentlichung des Romans
„Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Musil wurde am 6. November 1880 geboren; sein Vater war Ingenieur. Nach der Volksschule besuchte er bis 1892 die Realschule. In der Familie gab es auch mehrere Offiziere; zum Teil auch deshalb, weil er als Kind den Eltern zu eigenwillig war, wurde er 1892 auf auf die Militär-Unterrealschule Eisenstadt, 1894 bis 1897 auf die Militär-Oberrealschule Mährisch-Weißkirchen geschickt. Was er dort erlebte, bildet den Hintergrund des Romans „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. So kann man in Erzherzog Heinrich das Vorbild der Figur „Fürst H.“, in Richard von Boyneburg-Lengsfeld das Vorbild der Figur „Beineberg“ und so weiter erkennen.

Vom 1. September bis 30. Dezember 1897 war Musil auf der technischen Militärakademie; ab Januar 1898 studierte er in Brünn Maschinenbau. Ein Schock war für ihn, als er im im Sommer 1898 seine Mutter im Strandbad am Wörthersee versehentlich nackt sah. Musil schrieb Verschiedenes, was aber nicht gedruckt wurde. Am 18. Juli 1901 legte er die 2. Ingenieurprüfung ab („sehr befähigt“). Seine Lebensgefährtin war 1901 – 1907 Hermine Dietz. Vom 1. 10. 1901 – 30. 11. 1902 diente er in der Armee als Einjährig-Freiwilliger; dann ging er als Praktikant zu Prof. Carl Bach, einem Fachmann für Materialprüfung, nach Stuttgart. „Ich war 22 Jahre alt, trotz meiner Jugend schon Ingenieur und fühlte mich in meinem Beruf unzufrieden. Jeden Abend um 1/2 9 besuchte mich eine Freundin, aus dem Büro kam ich aber schon um 6 nach Hause, Stuttgart, wo sich das abspielte, war mir fremd und unfreundlich, ich wollte meinen Beruf aufgeben und Philosophie studieren (was ich bald auch tat), drückte mich von meiner Arbeit, trieb philosophische Studien in meiner Arbeitszeit u am späten Nachmittag, wenn ich mich nicht mehr aufnahmefähig fühlte, langweilte ich mich. So geschah es, daß ich etwas zu schreiben begann, u. der Stoff, der gleichsam fertig dalag, war eben der der V. d. Z. T. Durch ihn und seine, wie man sagte, amoralische Behandlung erregte das Buch Aufsehen, u ich geriet in den Ruf eines ‚Erzählers‘.“ Das schrieb Musil 1932 in einem Entwurf für ein „Vermächtnis“ (Gesammelte Werke II. Hrsg. von Adolf Frisé, 1978, S. 954)

September 1903 zog Musil nach Berlin, wo er bis zum Frühjahr 1908 Philosophie und Psychologie studierte, mit Mathematik und Physik im Nebenfach. Nebenher machte er im Juni 1904 in Brünn als Externer die Abiturprüfung. Im Frühjahr 1905 war das Manuskript des Romans „Törleß“ fertig; mehrere Verlage lehnten den Roman jedoch ab. So wandte Musil sich an den berühmten Kritiker Alfred Kerr (1867 – 1948), der vom Roman begeistert war und vermutlich den Kontakt zum „Wiener Verlag“ herstellte, wo der Roman 1906 erschien.

Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß – Unterrichtseinheit

Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß –
Vorschläge für den Unterricht

Ziele: Die Schüler sollen
– einen Überblick über das Geschehen gewinnen,
– die Bedeutung des Mottos verstehen,
– die Vielfalt der für Törleß relevanten Fragen wahrnehmen,
– die Zeitstruktur des erzählten Geschehens skizzieren,
– die Anlage der Problematik in der Vorgeschichte erfassen,
– die Beziehungen der verschiedenen Figuren zu Törleß aufzeigen,
– die Eigenart des Erzählers und der Erzählweise erfassen
– einen ersten Überblick über Hilfsmittel zum Verständnis des Romans gewinnen,
– Themen über den Verlauf des Geschehens verfolgen können,
– den Roman in seiner Stellung im Epochenumbruch um 1900 begreifen,
– die Bedeutung von Musils Roman für unsere Gegenwart reflektieren.

Konzeption der Arbeit am Roman:
Die Erarbeitung wird vom Motto des Romans bestimmt.

1. das Motto erarbeiten, Begriff der Epoche Symbolismus klären

2. das Problem Törleß’ klären:
a) erste Aspekte des Problems (bis S. 49);
b) weitere Aspekte, erste Klärung durch den Erzähler (bis S. 93);
c) weitere Aspekte, Klarheit für Törleß (bis Ende)

3. Törleß und sein Problem gegen Beinebergs Bestrebungen (Esoterik) abgrenzen

4. die Bedeutung des Motivs „Blick“ (berühren, nicht vertiefen), Motive des Schweigens, des Schattens und der Tür (Tor, Pforte)

5. Aspekte der Erzähltextanalyse
:
– die Zeitstruktur des erzählten Geschehens,
– die Beziehungen Törleß’ zu den verschiedenen Figuren
– die Orte des Geschehens
– das Internat als Lebensraum
– der Erzähler, die Erzählweise (berührt sich mit Zeitstruktur)
– des Erzählers Sicht von menschlicher Entwicklung

6. den Roman in seiner Zeit verstehen:
– in der Epoche zwischen Naturalismus und Expressionismus,
– in Relation zu „ähnlichen“ Romanen (Hesse: Unterm Rad; Walser: Jakob von Gunten),
– in Relation zu anderen Werken Musils (Hasenkatastrophe; Die Affeninsel; Die Amsel),
– in Relation zu Hofmannsthals Chandos-Brief,
– den Adoleszenzroman (Schülerroman?) in Abgrenzung zum Bildungsroman

7. die Bedeutung des Romans für die Schüler reflektieren:
– Identitätsprobleme in der Pubertät, früher und heute
– die Subjektivität, das Begehren und das Unsagbare
– Rollenzwänge in Gruppen, Freiheit des Einzelnen
– Probleme der Annahme, in der Literatur würden vorab spätere historische Ereignisse gespiegelt

8. Hilfsmittel zum Verständnis des Romans suchen und finden

Anmerkung
: 4. bis 7. können arbeitsteilig von verschiedenen Gruppen oder einzelnen Schülern bearbeitet werden.

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Robert Musil: Kleine Lebensreise – Analyse

Erzählt wird, wie zwei Jungen mit einem gestohlenen Ponywagen durch Wien fahren, von einem Ich-Erzähler (Z. 7), der sich als ein erwachsener Mann vorstellt (Z. 12), jedoch nur als „ein recht erwachsener Mann“; er steht emotional noch in der Nähe der Kinder (Z. 7 f.). Auch dass er noch die Grundsatzfrage stellt, wie man leben soll (Z. 42 ff.), und dabei mit der „erwachsenen“ Position der Jugendfürsorge nicht zufrieden ist („das Dümmste“, Z. 50 f.), zeigt ihn als eigenwilligen Menschen, der selbst noch auf der „Lebensreise“ ist. Das Adverbial „richtig“ (Z. 17 f.) mag die Nähe zur Sicht oder zum Erleben der Kinder bestätigen, beinahe personal erzählt. Bedeutsam ist ihm ebenso wie den Jungen das Kleine, das Pony (Z. 6, 6 f., 9).
Erzählt wird also in starker Zeitraffung: Was mehrere Stunden dauerte, wird, von bedeutsamen Kommentaren unterbrochen, in knapp zwei Minuten erzählt. Zwei Jungen im Alter von neun oder zehn Jahren fahren mit einem gestohlenen Wagen durch Wien und werden schließlich erwischt. Die Erzählung ist „Kleine Lebensreise“ überschrieben; in einem Kommentar sagt der Erzähler, die beiden Jungen seien „von einem Ende des Lebens zum anderen gefahren“ (Z. 43). Er sagt aber nicht direkt, welches die beiden Enden sind. Dies muss man aus der Art, wie von der Fahrt erzählt wird, und aus den Kommentaren des Erzählers erschließen.
Der Text beginnt mit der Feststellung: „Das Leben ist voller Wunder.“ (Z. 3) Diese noch recht unbestimmte, optimistisch-banale wird durch eine zweite resignierende Äußerung (vielleicht die Perspektive der Erwachsenen gegenüber der der Kinder) näher bestimmt: „Bloß sind sie bezahlt und gehören immer schon irgendwem.“ (Z. 4) Hier werden gleich zu Beginn die gegensätzlichen Sphären des Wunders (vgl. später: Märchen, Z. 19; Sultan, Z. 11; prächtig, Z. 10; Indianer, Z. 28 – das Wunder als Abenteuer) und der bürgerlichen Ordnung (bezahlt, gehören; Schutzmann, Z. 37; Pflicht, Z. 38; Eltern, Jugendfürsorge, Z. 40; Geschäft, Z. 48) gegenübergestellt, und zwar so, dass die Ordnung mir oder einem selbst die Wunder vorenthält. Dieser Mangel, auch das Gefühl beim Anblick eines Ponys (Z. 7 f.) und das Adverbial „richtig“ (s.o.), scheinen aus kindlicher Perspektive gesehen zu sein, ebenso das Modalverb „konnte“ (Z. 16) – der Erzähler als Verbündeter der „Märchenbuben“ (Z. 28). Er ist eben bloß recht erwachsen (Z. 12) und erlebt die Fahrt als Märchen mit (Z. 17 ff.)
Das im dritten Satz folgende „Aber“ (Z. 4) relativiert jedoch die resignierende zweite Äußerung und leitet die Erzählung eines Geschehens ein, in dem ein Wunder für die die Wunder der Welt Entbehrenden wirklich wird – zumindest eine Zeitlang (Z. 16/33). Die Diebskerle sind für diese Zeit wirklich „Märchenbuben aus einem Indianerwigwam“ (Z. 28). Das Wunder beginnt richtig wunderbar, nämlich „plötzlich“ (Z. 13), nach dem Schulbesuch der Kinder, also nach Beendigung der Pflicht oder zu Beginn ihres freien Lebens. Möglich wird es durch die kindliche Logik: Wenn niemand bei dem Wagen ist, dem er gehören kann (Z. 15 f.), dann gehört er auch niemand und steht als Wunder offen (vgl. Z. 4).
Erzählt wird nun, wie die Fahrt in Märchenlogik, also prächtig (Z. 19, vgl. Z. 10) abläuft; schon ein kleiner Teil dieser langen Fahrt hätte genügt, um das Märchen wirklich werden zu lassen, wird im Kommentar gesagt (Z. 26-28).
Mit einer Frage (in Z. 29) wird das Ende des Märchens eingeleitet; es gab „den unvermeidlichen Streit“ (Z. 30). Mit diesem Attribut übernimmt der Erzähler die Sicht der Erwachsen, die das Leben kennen, und zählt strittige Fragen auf: Wohin fahren? Was tun mit dem Pferd? Einer der beiden beginnt geschäftlich zu denken („verkaufen“, Z. 32). „Damit war das Wunder aus.“, kommentiert der Erzähler (Z. 33).
Beinahe kindlich, nämlich so stark vereinfacht, dass es fast ironisch wirkt, erklärt er die Möglichkeit, unterschiedlich zu wählen und zu handeln, als Grund des Übels (Z. 33-37); dieses Wählenkönnen steht im Kontrast zu der Notwendigkeit, mit der das Märchengeschehen abläuft (Z. 19 ff. dreimal „müssen“); wo es individuelle Wahl, persönlichen Vorteil (Z. 34 f.) und rücksichtsloses Ausspielen von Stärke (gegenüber dem gemeinsamen Handeln, V. 36 f. vs. V. 17 ff.) gibt, ist eine bürgerliche Ordnung nötig, die das Recht auf Eigentum regelt („bezahlt“, Z. 39) und dafür Ordnungshüter einstellt (Z. 37).
Zum Schluss wird in einem Kommentar die Grundsatzfrage diskutiert, was die Jugendfürsorge den beiden Buben sagen soll: Soll sie ihnen zu einem Leben, das „aus ganzer Seele“ (Z. 45) als Abenteuer gelebt wird, raten, oder soll sie wegen der dabei unvermeidlichen Enttäuschungen (Z. 46 f., vgl. Z. 30) zu einem Leben raten, in dem seelenlos alle Dinge als Gegenstände möglicher Geschäfte angesehen werden (Z. 45 ff.)? Der Erzähler lässt die Frage offen, vermutet aber, dass die Fürsorge dieser Frage ausweicht; vielleicht kann sie als Institution der bürgerlichen Ordnung die Alternative „Abenteuer“ auch gar nicht zulassen, gar nicht ernsthaft erwägen. Wenn sie dann ausweicht, kann sie „Verständnis und Güte“ zeigen und die Jungen milde tadeln (Z. 52); doch in den Augen des Erzählers ist dies „das Dümmste“ (Z. 52), weil die entscheidende Frage übergangen, das Problem verschwiegen wird, also auch kein Verständnis für die Jungen und ihre (vom Erzähler geteilte, vgl. Z. 7 ff.) Sehnsucht vorliegt.

Was also sind die beiden Enden des Lebens? Geht man von der Reise der Jungen aus, wird man sie als Wunder/Polizist, Logik des Abenteuers/Streit, Märchen/bürgerliche Ordnung bestimmen können. Die Märchenbuben sind im Streit auseinander gegangen und zwangsläufig beim Ordnungshüter gelandet; das war ihre kleine Lebensreise durch Wien. Ihr Abenteuer ist gescheitert, zumindest zu Ende gegangen. Im Herzen des Erzählers lebt aber noch die Fähigkeit, das Abenteuer zu erhoffen.
Was soll ich als Vater meinen Kindern sagen? Das Leben „geht nicht“ ohne bürgerliche Ordnung, aber „ohne Seele“ ist es nicht lebenswert. Vielleicht erscheinen die Wunder des Lebens auch denen, die sie herbeisehnen, größer und märchenhafter, als sie tatsächlich sind: in alltägliche Vollzüge eingebettet, in einer bürgerlichen Ordnung gesichert. Das kann man in Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ nachlesen, wenn man schon nicht begriffen hat, warum der Märchenerzähler zu erzählen aufhört, wenn der Mann die Prinzessin endlich zur Frau bekommt und heiratet, also die beiden als Paar in eine Ordnung eingefügt werden.

Robert Musil: Hasenkatastrophe – Analyse (kurz)

(Ich orientiere mich am Text in Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten, rororo 500 (1962), S. 26-29. Diese Analyse soll zeigen, wie man sich vom Textverlauf lösen kann, dass man also verschiedene Elemente zu einer Gesamtgestalt des Sinns zusammenstellen (d.h. denken) muss, wenn man einen methodischen Ansatz für sein Verstehen findet.)

In dieser Parabel wird erzählt, wie Touristen auf einer Insel zufällig beobachten, dass ein Hund einen kleinen Hasen jagt und fängt. Der Ich-Erzähler, der selber zu der Touristengruppe gehört (Z. 49 f.), begleitet und unterbricht seine Erzählung mit Beschreibungen und Reflexionen. Auf eine Analyse des Aufbaus wird hier verzichtet; ich gehe von dem Kontrast zwischen „Triumph“ und „Katastrophe“ – dazwischen liegt der Wendepunkt der Erzählung (Und da erkenne ich… Ich fühle mein Herz…, Z. 64 ff.), sofern man in einer von den Metaphern des Todes bestimmten Erzählung von einem „Wendepunkt“ sprechen kann – sowie von dem Verhältnis des Ich-Erzählers zu den anderen Badegästen aus. Man könnte ebenso davon ausgehen, dass das erzählte Geschehen kommentiert (Z. 33-44, neu gefasst in Z. 50-57; 71-73; 80 f.; 88-90; 98-100) wird, oder vom Verhältnis der Menschen zur Natur (Kontrast: die Dame, Z. 1 ff., vs. Heroismus der Insel, Z. 13 f.; damit wird der Schlusskontrast vorweggenommen: das Unergründliche – der feste Boden Europas).
Was zunächst wie „der erste große Triumph der Hundewelt” (Z. 60 f.) aussieht, erweist sich als „die Hasenkatastrophe“ (Z. 69): der Hund fängt und tötet den kleinen Hasen. Den Triumph der Hundewelt erleben „wir“ (Z. 49), „zu unserem Erstaunen“ (Z. 57), „man“ (Z. 59); die Hasenkatastrophe sieht nur das erzählende Ich (Z. 64), das dem Hasen genau zuschaut und ihn als „Hasenkind” (Z. 66) erkennt, sich also aus dem anonymen Man der Gruppe löst und den personifizierten, also dem Menschen verbundenen (verwandten?) Hasen voller Mitgefühl erblickt (Z. 67).
Damit ist eine Differenz zwischen dem Ich und der wir-Gruppe, der es angehört, gesetzt, und diese Differenz macht es dem Ich möglich, den Vorgang zu erzählen und zu reflektieren; die allgemeine Reaktion ist ja ganz anders, nämlich schweigen, Unverstandenes reden und essen (Z. 93 ff.). Ohne diese Differenz wäre es dem Ich nicht möglich, aus dem Schweigen auszubrechen.
Das Ich ist der Gruppe doppelt verbunden, in der geschniegelten Kleidung und im Blutrausch (Z. 5 ff.; 49 f.; 45 f.; 57 ff.; 79 ff.). Wie das zusammen-passt, Mode und Blutrausch, ist das Geheimnis Europas (Z. 100). Die wir-Gruppe  ist also doppelt bestimmt; im Blutrausch gehört auch der Terrier dazu („der erste von uns…“, Z. 81 f.)
Die Kleidung nach der Mode verdeckt, was ein Mensch in Wahrheit ist – aus dem Gerippe der Dame macht sie ein Püppchen (Z. 1 ff.), und erst die ungebändigte Kraft des Windes, der Natur, zeigt, was die Dame, welche die Gruppe der Touristen repräsentiert, in Wahrheit ist: ein Gerippe, ein Gestell des Todes (Z. 9), klein, dumm, machtlos (Z. 9 ff.; 25 ff.). In dieser Verkleidung ist das Ich (im „man“, Z. 5) mit seiner Gruppe verbunden, ist als „Zuschauer“ (Z. 10 f.) aber bereits distanziert und stellt seine scheinbare Wahrheit nicht ohne Ironie dar („natürlich“, Z. 11).
Die Distanzierung vom Blutrausch erfolgt deutlicher – im Willen zu helfen (Z. 70 ff.) und zu strafen (Z. 90 ff.); aber sie gelingt nicht, weil das Ich selber zerrissen ist, sowohl aus „Wille“ (Z. 71, personifiziert, also verselbständigt) wie aus Bügelfalten und Sohlen besteht (Z. 72), die nicht im Ich aufgehen, sondern ein Eigenleben führen. So ist das Ich gespalten, hilflos, verstört, vielleicht ein bißchen verrückt. Verrücktheit erkennt das Ich aber nur in der vormenschlichen Natur, als „Leere der unvollendeten Schöpfung“ (Z. 38 f.), als unmenschliche Verlassenheit (Z. 52) – undeutlich erkennt es sie aber auch an den Menschen, die „Tollhausjacken“ zu tragen sich vorschreiben lassen (Z. 50), ein Hinweis auf die wahren Verhältnisse. Das Verrückte der Menschen besteht darin, dass diese teils niedlich (Z. 2 ff.), teils akkurat (Z. 6 f.) gekleideten Menschen in einen Blutrausch verfallen können (man beachte das ganze Wortfeld des Todes ab Z. 9!), ohne mit dieser Spaltung, diesem Widerspruch, dieser Ambivalenz umgehen zu können. Sie sind „bewegungslos und verlegen“ (Z. 86), als sie ihre Zugehörigkeit zur Hundewelt erkennen, und während der Hund noch (dazu als erster!) Selbsterkenntnis zu haben scheint (Z. 81 ff.), flüchten sich die Menschen in Scheinerklärungen (Z. 86 ff.) – diese täuschen erklärende Tiefe nur vor, sind in Wahrheit aber „seicht“, wie der Erzähler in einem Vergleich sagt (Z. 88-90).
Auch der Erzähler selber ist hilflos, könnte nur mit den Methoden der Hundewelt seine Herzensempörung ausdrücken, nämlich schlagen (Z. 90 ff. mit 67 ff.), und verfällt in der Erkenntnis, dass dies unangemessen ist, zunächst ins Schweigen – was er immerhin erzählen kann, aufgrund seiner Distanzierung und seines Reflektierens. Im Schweigen aller (Z. 93 f.) zeigt sich, dass niemand die Ambivalenz menschlichen Lebens versteht, niemand sie im Wort oder Begriff feststellen kann, sich ihr (und damit sich selbst) stellen kann.
Einer handelt, scheint Mitgefühl mit dem toten Hasen zu bezeugen (Z. 96) und bringt ihn fort – aber in die Küche, damit ein Braten aus ihm werde. Der Erzähler wertet in einem großen Schlußsatz, dem Höhepunkt der Erzählung, dieses Handeln: „Dieser Mann stieg als erster aus dem Unergründlichen und hatte den festen Boden Europas unter den Füßen.“ (Z. 98-100). Man beachte, dass es ein „behaglicher Herr“ (Z. 95) ist, der derart dem Blutrausch entkommt. Der feste Boden Europas, das ist die Verwertung von Leichen durch behagliche Herren und niedliche Damen, der Genuss des zu Tode gejagten Hasen. Der Herr stieg „aus dem Unergründlichen“, so muss man wohl den Schlußsatz lesen, um es schnell zu vergessen – der feste Boden Europas ist ganz unstabil, er ruht auf einem Abgrund. [1939 erschien Alfred Döblins Buch „Bürger und Soldaten 1918“, jetzt u.a. als dtv 1389 (1978) vorliegend. Darin sagt der Erzähler, dass Barrès 1914 den Kriegsbeginn in Paris erlebte: „das Aufbrechen eines Abgrundes unter dem dünnen Boden des bürgerlichen Menschseins“ (S. 341). Diese Wendung ist geeignet, den Schluss von Musils Erzählung verständlicher zu machen; vielleicht ist sie von Musils Erzählung angeregt?]
Wenn wir dieses „Bild“ Musils lesen, können wir das zwar auch nicht ändern, aber verstehen. Oder, anders gesagt: Durch Lektüre von Parabeln, durch Betrachten von „Bildern“ ändern wir (noch) nichts – das Handeln gehört einer anderen Dimension an, für die ein Schriftsteller keine Anweisungen geben kann.

(Text der „Bilder“: https://gutenberg.spiegel.de/buch/nachlass-zu-lebzeiten-6941/2)

Robert Musil: Das Fliegenpapier – Analyse

Skizze meiner Lösungserwartung für das Abitur 1995
Ein Ich-Erzähler berichtet genau und ohne innere Anteilnahme, aber einfühlsam den Todeskampf von Fliegen auf einem Fliegenpapier; auf die Beschreibung des Papiers folgt der Bericht: Etappen des Todeskampfes (Z. 4 f.; 7 f.; 15; 18; 22; 32; 42; 55 f.; 61; 64; 66?); der Erzähler nimmt sich relativ viel Zeit für ein so unwichtiges Ereignis, Zeitdehnung in Z. 32-41.
Präzision: Beschreibung des Papiers (Z. 1 ff.) u.ö.; Vielzahl der Vergleiche: Bemühen um Genauigkeit? (Z. 58 ff.);
Wiederholungen, Aufzählungen;
Vergleiche mit Menschen (Z. 8 ff.; v.a. Z. 34 u.ö.);
ausdrückliche Parallelisierung mit menschlichem Erleben (Z. 8 ff. u.ö.);
Fliegen werden personifiziert (seelische Erschöpfung, Z. 42, u.ö.);
der Erzähler fühlt sich ein (Z. 23), erzählt aber doch distanziert (Z. 5; 30 f. u.ö.);
Der „Feind“ ist ein „Nichts“ (Z. 51 f.), der Kampf damit ungleich und sinnlos; der Feind ist beinahe etwas Menschliches (Z. 10 ff.).
Musil stellt in der Vorbemerkung seines „Nachlass zu Lebzeiten“ einen indirekten Zeitbezug seiner „Bilder“ her, und so wird es erlaubt sein, diesen Zeitbezug zu formulieren. Es liegt nahe, an das sinnlose Schlachten im 1. Weltkrieg zu denken.
In gewisser Weise sind Musils „Bilder“ aber auch einfach Bilder von etwas Wirklichem (das menschliche Leben beobachtet, „wo es sich unachtsam darbietet“), und man sollte nicht allzu bemüht einen „Sinn“ oder eine „Belehrung“ suchen. Die Schüler tun sich schon schwer genug, die Wirklichkeit in ihrer nuancierten Darstellung und ihrer ganzen Weite wahrzunehmen; Suche nach „Belehrung“ verstellt da leicht den Blick auf die Abgründe der Wirklichkeit.

Weitere Überlegungen zu einer Klausur 2005
Vielleicht sollte man einzelne bedeutsame Passagen würdigen, etwa
– die von der befremdlichen Empfindung (Z. 8 ff.); das „etwas“, worauf man (im Vergleich) tritt, ist schon etwas… – worin besteht „das grauenhaft Menschliche“? Darin, dass ein belangloses Etwas sich plötzlich als menschlicher Greifer erweist?
– das Emporstemmen der Fliegen, im Vergleich als „tragischer als Arbeiter es tun, wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten Anstrengung als Laokoon“ (Z. 30 f.) beschrieben; dieser Vergleich schreit nach einer Interpretation, weil hier die Aktionen der Fliegen über das menschliche Schuften und den höchsten Ausdruck des Leidens in der Kunst (Laokoon) gestellt werden;
– die Bemerkung, dass sie in einem seltsamen Augenblick „ganz menschlich“ sind (Z.39). In welchem Augenblick? In dem, wo sie sich in seelischer Erschöpfung (Z. 42) aufgeben, „wo das Bedürfnis einer gegenwärtigen Sekunde über alle mächtigen Dauergefühle des Daseins siegt“ (Z.32-34). Was ist hier menschlich? Dass seelische Erschöpfung über Vernunft und Instinkt siegt?
– die Analyse, wie der Feind agiert (Z. 51 ff.); dieses Feind-Nichts, das bloß abwartet und Gelegenheit gibt, in ihm zu versinken – wer ist das? Dem Hineinziehen (Z. 53) des Feindes entspricht, dass die Fliegen langsam in ihren Tod hinein versinken (Z. 64); die Phasen des Versinkens sind zu beobachten, bis zur letzten, wo nur das kleine flimmernde Organ zuckt;
– die vielen Bilder von Niederlage und Schwäche, die im Untergang der Fliegen zu einem Bild von Schwäche und Untergang der Menschen gebündelt werden.
Man kann natürlich nicht alle Vergleiche und Personifizierungen im Einzelnen untersuchen; daher sollte man sich auf einige konzentrieren, sich jedenfalls nicht mit der Trivialität begnügen, dass man sich aufgrund der Vergleiche alles genau vorstellen könne – in der bildhaften Sprache wird eine Schicksalsgemeinschaft von Fliegen und Menschen herausgestellt: im Tod hilflos zu versinken.
Erst die Konstruktion eines Ich-Erzählers macht es möglich, im Fühlen und Mitleiden diese Schicksalsgemeinschaft zu erleben.

Einige methodische Fehler in Analysen der Schüler sind mir 2005 aufgefallen:
* dass man den Aufbau der Erzählung mit den Phasen des Geschehens verwechselt; die Erzählung muss man jedoch vom Erzähler und seinem Tun her analysieren;
* dass man versucht, die Rede- oder Aufsatzkategorien „Einleitung – Hauptteil – Schluss“ auf die Erzählung anzuwenden – das geht nicht gut, ebenso nicht eine willkürliche Aufteilung in „Teile“ oder „Abschnitte“ (des Geschehens), wenn man nicht die Kriterien des Teilens nennt;
* dass zwar der Erzähler als Ich (Z. 23), der zum „wir“ der Menschen gehört (Z. 8), bemerkt, dann aber als „auktorial“ (oder als lyrisches Ich) bezeichnet wird;
* dass besagtes „wir“ (Z. 8) als „wir Leser“ umgedeutet wird.
Daneben gibt es die vielen Fehler, die in der Liste der typischen Fehler aufgelistet werden.