Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (1777 ff.)

Lohnt es sich heute noch, Johann Heinrich Jung-Stillings „Lebensgeschichte“ zu lesen? Sie ist in mehreren Teilen ab 1777 erschienen; der erste Teil wurde von seinem Freund Goethe herausgegeben. Bei zeno.org stehen nur die ersten drei Teile: Heinrich Stillings Jugend, Heinrich Stillings Jünglings-Jahre, Heinrich Stillings Wanderschaft (http://www.zeno.org/Literatur/M/Jung-Stilling,+Johann+Heinrich/Autobiographische+Schriften); Gutenberg-Spiegel bietet auch noch einen Teil des vierten Bandes – das alles zeigt, dass heute doch größere Reserven gegenüber den Schriften Jung-Stillings bestehen.

Bereits sein Charakter gefällt mir nicht ganz, „jede Ironie, und jede Satyre, war ihm ein Gräuel, alle anderen Schwachheiten konnte er entschuldigen“. Erschwerend kommt hinzu, dass er fortwährend fromme Gedanken hegt und sein Leben unter der Idee erzählt, er sei von Gott auf seinem Weg geführt worden:

So angenehm verflossen dreyzehn Wochen, und ich kann sagen: daß Stilling während der Zeit sich weder seines Handwerks schämte, noch sonsten großes Verlangen trug, davon abzukommen. Um das Ende dieser Zeit, etwa mitten im Julius, gieng er an einem Sonntag Nachmittag durch eine Gasse der Stadt Schauberg; die Sonne schien angenehm, und der Himmel war hier und da mit einzelnen Wolken bedeckt; er hatte weder tiefe Betrachtungen, noch sonst etwas sonderliches in den Gedanken; von ohngefähr blickte er in die Höhe und sah eine lichte Wolke über seinem Haupte hinziehen; mit diesem Anblick durchdrung eine unbekannte Kraft seine Seele, ihm wurde so innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe, und konnte sich kaum enthalten, daß er nicht darnieder sunk; von dem Augenblick an fühlte er eine unüberwindliche Neigung, ganz für die Ehre Gottes, und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben; seine Liebe zum Vater der Menschen, und zum göttlichen Erlöser, desgleichen zu allen Menschen, war in dem Augenblick so groß, daß er willig sein Leben aufgeopfert hätte, wenn’s nöthig gewesen wäre. Dabey fühlte er einen unwiderstehlichen Trieb, über seine Gedanken, Worte und Werke zu wachen, damit sie alle Gottgeziemend, angenehm, und nützlich seyn möchten. Auf der Stelle machte er einen vesten und unwiderruflichen Bund mit Gott, sich hinführo lediglich Seiner Führung zu überlassen, und keine eitle Wünsche mehr zu hegen, sondern wenn es Gott gefallen würde, daß er Lebenslang ein Handwerksmann bleiben sollte, willig und mit Freuden damit zufrieden zu seyn.

Er kehrte alsofort um, gieng nach Haus, und sagte niemand von diesem Vorfall etwas, sondern er blieb wie er vorhin war, nur daß er weniger und behutsamer redete, welches ihn noch beliebter machte.

Diese Geschichte ist eine gewisse Wahrheit. Ich überlasse Schöngeistern, Philosophen und Psychologen, daraus zu machen, was ihnen beliebt; ich weiß wohl, was es ist, das den Menschen umkehrt, und so ganz verändert.“

Was soll man von einem Menschen halten, der eine lichte Wolke sieht und daraufhin einen unwiderruflichen Bund mit Gott schließt – ohne zu fragen, ob Gott den Bund auch mit ihm schließt – und sich Gottes Führung überlassen will? Und der später selber erkennt, dass die Sache mit der göttlichen Vorsehung eine schwierige Sache ist, und dann doch keine Konsequenzen aus dieser Einsicht zieht? (Vgl. https://also42.wordpress.com/wp-admin/post.php?action=edit&post=2713) Ich kann die Lektüre Jung-Stillings heute nur noch aus Gründen historischer Erkenntnis (Aufstieg armer Leute im späten 18. Jh., Probleme des westdeutschen Pietismus, Bekanntschaft mit Goethe) empfehlen.

Text: http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/jung_lebensgeschichte_1835

Forschung: http://www.jung-stilling-forschung.de/index.php/de/

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2 thoughts on “Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (1777 ff.)

  1. >> Die angezeigte Download-Version der „Lebensgeschichte“ von Jung-Stilling ist *nicht* die Original-Ausgabe, sondern eine sprachlich veränderte spätere Fassung! <<
    Allein die von Gustav Adolf Benrath (1931-2014) edierte, bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt erschienene Ausgabe ist authentisch.
    .
    Zur (sehr einseitigen, ja schon untergriffigen) Be=Urteilung bitte
    Gerhard Merk:
    Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens, 5.Aufl. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft)
    zur Kenntnis nehmen!
    .
    Immerhin war Jung-Stilling 25 Jahre Hindurch Hochschullehrer für Ökonomik.
    Zudem befreite er zeitlebens über 2 000 durch Operation aus der Blindheit.
    .
    Das "Forschungsvorhaben Jung-Stilling" der Universität bietet auch viele Downloads an:
    https://www.wiwi.uni-siegen.de/merk/stilling/

    • Den Text der von Benrath edierten Ausgabe gibt es im Internet leider nur für die ersten drei Bände, siehe zeno.org – das ist nicht meine Schuld.
      Ich bezweifle nicht, dass Jung-Stilling als Mensch etwas geleistet und viel Gutes getan hat. Es geht mir um die rührselige, irrationale Innerlichkeit, in der er sein Leben erzählt und deutet; diese religiös-egozentrische Sicht (als ob Gott und die Welt nur um sein Ich kreisten und Gott ihm etwa eine Frau besorgen wollte) stößt mich ab. Das habe ich zum Ausdruck gebracht; ich bin nicht verpflichtet, bei der Heiligenverehrung Jung-Stillngs mitzumachen.
      Vielen Dank für den Hinweis auf die Seite der Uni Siegen – ich habe den Link korrigiert und aktiviert, so dass er jetzt funktioniert.

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