Zu lernen ist schwer. Zu lehren noch schwerer. […]
In der Überschrift „Von faulen Lehrern“ fehlt der Artikel „den“, so dass immerhin die Möglichkeit offen bleibt, dass es auch andere Lehrer gibt – im letzten Satz sagt der Sprecher ausdrücklich, die meisten seien faul, also nicht alle (V. 31 f.) Aber auch das ist ein herbes Urteil, worüber sich 1930 viele Lehrer empört haben.
Es spricht ein Ich, das sich indirekt als Erich Kästner identifiziert: „Ich sollte selbst mal Lehrer werden / und weiß Bescheid.“ (V. 11 f.) Kästner hat seit 1913 nach der Volksschule das Freiherrlich von Fletchersche Lehrerseminar besucht – das war für ihn damals der einzige Weg zu einer höheren Bildung. Nach dem Militärdienst hat er dann 1919 Abitur gemacht und zu studieren begonnen.
Das Gedicht ist eine massive Anklage gegen die Faulheit der deutschen Volksschullehrer. Der Sprecher beginnt deshalb mit einem Zugeständnis an die später Angeklagten: „Zu lernen ist schwer. Zu lehren noch schwerer.“ (V. 1) Und zur Bekräftigung folgt der Doppelvers, der seine Kompetenz zu urteilen ausweist (V. 3 f., näher V. 11 f.). Das Adverbial „aus erster Hand“ lässt eventuell anklingen, dass er als Kind vom Lehrer verprügelt wurde.
Das Gedicht ist in Knittelversen abgefasst (vier Hebungen mit freier Füllung), wogegen der jeweils vierte Vers nur zwei Hebungen aufweist – das gibt ihm den Charakter eines kraftvollen Abschlusses. Der Knittelvers gibt dem Autor große Freiheit, das Gedicht bekommt eine prosaische Färbung. Die vier Verse der Strophe sind im Kreuzreim miteinander verbunden; da der Satz oft über das Versende hinausgeht, kann man von den Reimen nicht immer erwarten, dass sie semantisch passende Verse verbinden. Man muss also gelegentlich den Satzkern mit berücksichtigen, wenn man Reime untersucht: „Mir ist … bekannt. – Ich kenne … aus erster Hand.“ (V. 2/4) „Zu lehren noch schwerer – Volksschullehrer“ (V. 1/3) ist ebenfalls ein sinnvoller Reim (gleicher Inhalt). Da hiermit das Prinzip klar sein sollte, verzichte ich in Zukunft auf die detaillierte Begründung meiner Reimurteile.
In den vier folgenden Strophen entfaltet der Ich-Sprecher seine Kenntnis: Zuerst beschreibt er, wie Lehrer sich entwickeln (2. und 3. Str.), danach zählt er die vielen Steckenpferde auf, denen sie frönen (4. und 5. Str.). Es wird also eine Entwicklung des (Volksschul)Lehrers beschrieben: Auf eine Zeit idealistischen Arbeitens folgt die Zeit der Verkalkung (2. Str.). Dass er sich „mit hohen Idealen balgt“ (V. 6), deutet den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit im Beruf an; der Lehrer kann nicht immer seine Ideale verwirklichen, aber er versucht es trotz mancher Schwierigkeiten. Dass die Seele Haare lässt (wie der Kopf beim Altern), bedeutet, dass die in der „Seele“ beheimateten Ideale ihre Kraft verlieren, dass er sie aufgibt und „verkalkt“ (V. 8) – ein hartes Urteil, was ja normalerweise von Menschen gesagt wird, die geistig wegen ihrer Arterienverkalkung nicht mehr zurechnungsfähig sind. Die Reime V. 5/7 (zeitliche Abfolge) und V. 6/8 (dito) sind sinnvoll.
Nach den ersten zehn Jahren widme der Lehrer sich seinen Hobbys statt seinen Schülern, wird im Bild vom Traben auf den Steckenpferdchen („Pferd“ wieder wörtlich genommen, das Diminutiv wirkt spöttisch) behauptet. Sich Zeit lassen ist so viel wie faulenzen (V. 10). Zur Begründung des negativen Urteils verweist das Ich auf ein biografisches Faktum aus Kästners Leben (V. 11 f.), was jedoch keinen Beweiswert hat: Im Lehrerseminar lernt man keine Lehrer kennen, die mehr als zehn Jahre Dienst getan haben; allerdings sorgt der Besuch des Seminars für eine Nähe zum Berufsstand, dem man selber angehören wird. Die Reime der 3. Strophen sind reine Klangphänomene.
Nun werden fünf Steckenpferde vorgestellt (V. 13-18), welche die Lehrer mit Lust und Liebe betreiben, während sie sich im Unterricht langweilen (V. 19 f., „da gähnen sie alle“). V. 14/16 kann als sinnvoller Reim gelten (zwei Hobbys), die anderen nicht.
Die letzten Strophen nutzt der Sprecher, diese Entwicklung der Lehrer zu bewerten. Dazu stellt er in der 6. und 7. Strophe das Einst dem Jetzt gegenüber (ausdrücklich in der 7., sachlich auch in der 6. Strophe). Mit dem ersten Einst-Jetzt verbindet der Sprecher den Kontrast von Berufung (V. 21) und Praxis (V. 22-24): Berufung, das Volk zu erziehen – herumstehen und auf der Stelle treten; die Kritik an der Faulheit wird in einem Wortspiel-Kontrast geleistet: herumstehen – auf der Gehaltsleiter „fortschreiten“ (Spiel zwischen Metapher und wörtlicher Verwendung; sachlich ist die Gehaltserhöhung nach Dienstaltersstufen gemeint). In der 7. Strophe wird das Bild der Ernährung zur Kritik verwendet: nach geistiger Nahrung hungern (V. 25) – verstopft sein (V. 27 f.). „Pauker-“ (V. 27) ist hier wie ein Schimpfwort gebraucht, obwohl Paukererfahrung zu haben an sich etwas Gutes ist; hier klingt jedoch an, dass damit die negativen Erfahrungen und Einstellungen eines enttäuschten Berufslebens gemeint sind. Ob übrigens alle Lehramtsstudenten zu Kästners Zeit (oder heute) „Freunde gepflegten Lateins“ (V. 26) waren, darf bezweifelt werden – auch Kästner wurde vermutlich von der Mutter ins Lehrerseminar geschickt, damit aus ihm „etwas Besseres“ werde. Der Reim V. 22/24 stellt einen Kontrast schön dar, die Reime V. 25/27 und V. 26/28 enthalten ebenso Kontraste.
Es folgt das Fazit in der letzten Strophe. Hier bemüht der Sprecher zur Kritik wieder einen Kontrast, den zwischen „könnten/sollten“ (Möglichkeit, Pflicht) und der Realität; sie könnten also „Größeres leisten / als Leute mit Namen und großem Maul“ (V. 29 f.) – hier wird der schlichte ehrliche tägliche Dienst höher als die Leistungen namhafter Politiker oder Stars gewertet: ein bemerkenswertes Urteil, dem man zustimmen kann. Dagegen steht dann die Realität: „Aber die meisten / von ihnen sind faul.“ (V. 31 f.) Um einen Sinn im Reim V. 30/32 zu finden, muss man den Akzent auf V. 29 legen; dann hätte man den Kontrast zwischen Möglichkeit und Realität – aber das ist eine sehr wohlwollende Lesart.
Das Gedicht ist 1930 in der Zeitschrift „Jugend“ erschienen; es hat heftige Proteste von Lehrern ausgelöst, so dass Kästner zu seiner Verteidigung ein Gedicht „An die beleidigten Lehrer“ verfasst hat, welches die Redaktion der „Jugend“ jedoch nicht angenommen hat und das erst 1998, also nach Kästners Tod veröffentlicht wurde. [Um es im Netz zu finden, muss man bei google in Anführungszeichen Text eingeben, z.B. „Das Volk hat nichts gelernt. Und ihr wart des Volkes Lehrer!“]
Zustimmung hat Kästner von Lotte Kühn in ihrem „Lehrerhasserbuch“ bekommen; in Schulbüchern sucht man das Gedicht vergebens, Interpretationen dazu gibt es nicht. Ich hielte es für ein Zeichen von Mut, es (etwa ab Klasse 10) in der Schule zur Diskussion zu stellen: wenn die Schüler sich also nicht bloß über die Lehrerschmähung freuen, sondern selber urteilen können, ob Kästner recht hat.
Ich habe in einem alten Buch, das Kästner hätte kennen können, da es 1927 erschienen ist, eine Passage über Bürokratisierung gefunden, welche das Phänomen der faulen Lehrer strukturell verständlich macht. Ich hänge einen Exkurs an – als Lehrer kann man auch Schüler mit dem Phänomen bekannt machen (wobei L. Mises‘ Urteil über die Effizienz des Betriebes und das Vorankommen der Tüchtigen dort auch mit etwas Skepsis zu lesen ist).
Exkurs über Bürokratisierung (im Anschluss an Ludwig Mises: Liberalismus, 1927 = 2010, S. 85 ff.)
Im Gegensatz zu einem normalen Wirtschaftsbetrieb ist die öffentliche Verwaltung nicht darauf aus, Gewinn zu erzielen; im Betrieb dagegen können die einzelnen Abteilungen durch eine Kosten-Nutzen-Rechnung überprüft werden, ob sie wirtschaftlich arbeiten, also erfolgreich sind. Die Orientierung am Erfolg wirkt sich auf die Freiheit des Abteilungsleiters und die Einstellung des Personals aus: Er ist bemüht, gute Leute zu finden und zu behalten und so zu wirtschaften, dass Gewinn erzielt wird. In der Verwaltung gibt es dagegen keine Kriterien, um objektiv festzustellen, ob ein Ressort gut verwaltet wird.
Das hat Rückwirkungen auf den inneren Betrieb des bürokratischen Apparats: Man arbeitet nach Anweisungen, die zu befolgen Pflicht ist; für alle außerordentlichen Fälle muss die Weisung der vorgesetzten Behörde eingeholt werden. Dadurch werden oft unnötige Ausgaben gemacht, während erforderliche unterbleiben.
Die Bürokratisierung wirkt sich auch auf den Bürokraten aus: Da Erfolgskriterien fehlen, sind bei Einstellung und Bezahlung (Beförderung) der Gunst und Missgunst Tür und Tor geöffnet. Um die Willkür dabei zu begrenzen, werden dafür formale Kriterien wie Schulbesuch, Prüfungen und Dienstalter vorgegeben. Dadurch wird ausgeschlossen, dass kraftvolle und tüchtige Persönlichkeiten an die Stellen kommen, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen.
Das entscheidende Merkmal des bürokratischen Betriebs ist also, „daß ihm die Richtschnur der Rentabilitätsrechnung zur Beurteilung des Geschäftserfolges in seinem Verhältnis zum Aufwand fehlt“ und dass er „die Abwicklung der Geschäfte und die Einstellung des Personals an formale Vorschriften“ bindet.
Nachtrag meinerseits: Für die Arbeit der Bürokraten hat das zur Folge, dass sie weithin mit der Zeit „Dienst nach Vorschrift“ machen und wenig Lust verspüren, sich übermäßig zu engagieren.
Zwei Anekdoten zum Schluss, in denen die Bürokratisierung beleuchtet wird:
- Ich weiß sicher, dass ein Dezernent in Düsseldorf über einen völlig inkompetenten Lehrer wörtlich gesagt hat: „Unfähigkeit ist kein Dienstvergehen.“ Damit lehnte er ein Einschreiten seinerseits ab.
- Als ich mich einmal in Grevenbroich bei einer Schulleiterin wegen einer Beförderungsstelle vorgestellt habe, fragte sie mich: „Wer hat sie geschickt?“ Damit wurde mir klargemacht, dass die Stelle nach Beziehungen, nicht nach Befähigung vergeben wurde.
http://www.erich-kaestner-museum.de/erich-kaestner/biographie/ (Kästners Biografie)
http://www.daswirtschaftslexikon.com/d/b%C3%BCrokratie/b%C3%BCrokratie.htm (Bürokratie – Bürokratisierung)
Parallel zum Gedicht „An die beleidigten Lehrer“ kann man Tucholskys Gedicht „Die Schule“ (1919) lesen:
Die Schule
Wer die Schule hat, hat das Land.
Aber wer hat die bei uns in der Hand!
Du hörst schon von weitem die Schüler schnarchen.
Da sitzen noch immer die alten Scholarchen,
die alten Pauker mit blinden Brillen,
sie bändigen und töten den Schülerwillen.
Und lesen noch immer die alte Fibel
und lehren noch immer den alten Stiebel:
Wie in den alten Zeiten die wichtigen Schlachten
die großen Völkerentscheidungen brachten,
wie die Fürsten und die Söldnerlanzen
den großen blutigen Contre tanzen,
und ohne die heilige Monarchie
sei die Hölle auf Erden – und schließlich,
wie die Völker nur eigentlich Statisten seien.
Man müßte ihnen die Dumpfheit verzeihen.
Könnten eben nichts weiter dafür …
Und sie lernen vom Kupfercyanür.
Und von den braven Kohlehydraten.
Und von den beiden Koordinaten.
Und von der Verbindung mit dem Chrome.
Lernen auch allerhand fremde Idiome.
Ut regiert den Konjunktiv.
Polichinelle ist ein Diminutiv.
Und was so dergleichen an Stoff und an Wissen.
Himmelherrgott! ist die Schule beschmissen!
Seelenmord und Seelenraub!
Unter die Kruste von grauem Staub
drang auch kein Luftzug der neuen Zeit.
Der alte Schulrat im alten Kleid.
Wundert euch nicht! Was kommt aus dem Haus
schließlich nach Oberprima heraus?
Ein nationalistischer langer Lümmel.
Gut genug für den Ämterschimmel.
Gut genug für die alten Karrieren –
als ob die heute noch notwendig wären!
Türen auf und Fenster auf!
Lege deine Hand darauf,
lieber Herr Haenisch, und zeige den Jungen,
wie die alten Griechen sungen –
aber ohne die Philologie
und ohne die Kriegervereinsmelodie!
Wer die Jugend hat, hat das Land.
Unsre Kinder wachsen uns aus der Hand.
Und eh wir uns recht umgesehn,
im Handumdrehn,
sind durch die Schulen im Süden und Norden
aus ihnen rechte Spießbürger geworden.
Kaspar Hauser
Die Weltbühne, 24.07.1919, Nr. 31, S. 110.