Salomon Maimons Lebensgeschichte (1792/93) – gelesen

Salomon Maimon’s Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von K. P. Moritz, 2 Bände, Berlin 1792–1793

Wenn man dieses Buch liest, wird man in eine andere Welt versetzt: in die Welt des Ostjudentums, in die ein hochbegabtes Kind etwa 1753 hineingeboren wurde, in Polnisch-Litauen, und aus der es sich unter großen Mühen befreit hat. Mit 11 Jahren galt der kleine Salomon schon als perfekter Rabbiner. Er brachte sich selber aus Büchern wissenschaftliche Erkenntnisse und das Lesen deutscher Schrift bei, ging nach Berlin, nach Breslau, nach Hamburg, nach Holland, über Hamburg zurück nach Berlin – immer auf die Unterstützung durch wohlwollende Juden oder eigene Arbeit als Lehrer der Kinder reicher Leute angewiesen; er verkehrte mit Mendelssohn und schrieb an Kant über die Kritik der reinen Vernunft, er wurde von seiner Frau geschieden und trennte sich als denkender Mensch von der Religion seiner Väter; er wollte sich taufen lassen, um einen besseren Stand in Deutschland zu haben, was ihm aber verweigert wurde. Bei dieser Gelegenheit fasste er seinen Lebenslauf so zusammen:

Ich bin aus Polen gebürtig, von der jüdischen Nation, nach meiner Erziehung und meinem Studium zum Rabbiner bestimmt, habe aber in der dicksten Finsternis einiges Licht erblickt. Dieses bewog mich, nach Licht und Wahrheit weiter zu forschen und mich aus der Finsternis des Aberglaubens und der Unwissenheit völlig loszumachen; zu diesem Zwecke ging ich (da mir dieses in meinem Geburtsort zu erreichen unmöglich war) nach Berlin, wo ich durch Unterstützung einiger aufgeklärter Männer unserer Nation einige Jahre studierte, nicht zwar planmäßig, sondern bloß zur Befriedigung meiner Wißbegierde. Da aber unsre Nation nicht nur von einem solchen unplanmäßigen, sondern auch von einem planmäßigen Studium keinen Gebrauch machen kann, so kann man es ihr nicht verdenken, wenn sie zuletzt müde wird und die Unterstützung desselben für unnütz erklärt. Ich bin daher entschlossen, um meine zeitliche sowohl, als ewige Glückseligkeit, welche von der Erlangung der Vollkommenheit abhängt, zu erreichen, und um sowohl mir selbst, als andern nützlich zu werden, die christliche Religion anzunehmen. Die jüdische Religion kommt zwar, in Ansehung ihrer Glaubensartikel, der Vernunft näher als die christliche. Da aber diese in Ansehung des praktischen Gebrauchs einen Vorzug vor jener hat, und die Moral, die nicht in Meinungen, sondern in Handlungen besteht, der Zweck aller Religion überhaupt ist, so kommt die letztere offenbar diesem Zwecke näher als die erstere. Ich halte übrigens die Geheimnisse der christlichen Religion für das was sie sind, für Geheimnisse, d.h. allegorische Vorstellungen der für den Menschen wichtigsten Wahrheiten, wodurch ich meinen Glauben an dieselben mit der Vernunft übereinstimmend mache; ich kann sie aber unmöglich ihrem gemeinen Sinne nach glauben. Ich bitte also gehorsamst, mir die Frage zu beantworten: ob ich nach diesem Bekenntnisse der christlichen Religion würdig bin oder nicht? Im erstern Falle bin ich bereit, mein Vorhaben ins Werk zu setzen. Im zweiten aber muß ich allen Anspruch auf eine Religion aufgeben, die mir zu lügen befiehlt, d.h. mit Worten ein Glaubensbekenntnis abzulegen, das meiner Vernunft widerspricht.

Ein im wörtlichen Sinn phantastisches Buch, das den eigenen Horizont erweitert!

Text: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Maimon,+Salomon/Salomon+Maimons+Lebensgeschichte

https://archive.org/details/salomonmaimonsle00maim/page/n7/mode/2up (hrsg. von Jakob Fromer, 1911)

Links:

https://www.deutsche-biographie.de/pnd11857647X.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Salomon_Maimon

http://salomon-maimon.de/maimon/leben.html

https://de.wikisource.org/wiki/Salomon_Maimon