Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 324-389 (66 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf den Aufbau der Erzählung.
Im ersten Teil der Novelle wird erzählt, wie ein erfolgreicher Geschäftsmann sich als Schriftsteller gebärdet und durch seine überspannten Ideen seine Ehe mit einer hübschen, tüchtigen Frau zerbricht; dieser Teil ist eine großartige Satire auf den Wahn vieler Leute, Schriftsteller zu sein.
Zu Beginn stellt der allwissende Erzähler die Protagonisten des ersten Teils vor, den Kaufmann Viktor Störteler, genannt Viggi, und seine schöne Ehefrau Gritli. Viktor hat eine „Liebe für Bildung und Belesenheit“ aus seiner Arbeit in einer größeren Stadt mit nach Seldwyla gebracht. Bald schreibt er selber erfolglos Abhandlungen, die er Essays nennt; Novellen bringt er als Kurt vom Walde in Sonntagsblättchen unter. Das Diminutiv „blättchen“ und die Namen seiner Schriftstellerkollegen (u.a. Gänserich von der Wiese) wie auch die offene Bewertung der jungen Comptoiristen in der Stadt (Dummheiten, verworrene Unterhaltung, schreckbare Aufsätze, S. 324) zeigen den Spott des Erzählers über die Kleinstliteraten. Als Haupterlebnis eines Tages auf der Geschäftsreise in einer fremden Stadt wird von einem Treffen solcher Literaten in einer Wirtschaft berichtet (325 ff.), wo Viktor sich als Kurt vom Walde vorstellt; dort wird die Stiftung einer „neuen Sturm- und Dranggesellschaft“ beschlossen – ein satirischer Clou. Nebenher wird ein Dr. Mewes als ahnungsloser Schriftsteller und der Kellner George d’Esan (= Georg Nase) als gewesener Schreiberling entlarvt, der sich wieder zur Arbeit als Oberkellner bekehrt hat.
In Seldwyla gibt Viktor sich ein künstlerisches Aussehen und beschließt, seine Frau „zu erhöhen und zu seiner Muse zu machen“ (332). Als sie die Bücher, die er ihr gibt, nicht versteht, beschließt er, sie mit Gewalt zu höherer Bildung zu führen, und macht einen Erziehungsplan – der eheliche Friede gerät in Gefahr. Nach einigen Wochen erfolglosen Bemühens kommt Viktor auf die Idee, „die schöne Leidenschaft“ zu Hilfe zu rufen und während einer Geschäftsreise einen Briefwechsel mit seiner Frau zu führen, um ihn später zu veröffentlichen; „kehre deine höhere Weiblichkeit hervor“, fordert er von ihr. Sie gibt ihm ein Köfferchen mit Esswaren und Getränken mit, leidet aber an seinem Auftrag, während er sich auf der Reise an den Vorräten gütlich tut (innerer Widerspruch, typisch für eine Satire); den gleichen Widerspruch gibt es zwischen dem gestelzten Liebesbrief, den er schreibt, und einem beigefügten Schreiben mit praktischen Anweisungen (337 f.).
Gritli weiß auf den Liebesbrief nicht zu antworten. In ihrer Not verfällt sie darauf, ihren Nachbarn, den schüchtern Hilfslehrer Wilhelm, einzuspannen, der gerne nach ihr schaut. Sie weist ihn ausdrücklich auf einen „Scherz“ hin (340) und fordert ihn auf, den auf einen Mann als Adressaten umfrisierten Liebesbrief zu beantworten. Wilhelm glaubt sich geliebt, Gritli spürt die Wärme in seinem Antwortbrief, den sie wieder als Antwort an Viktor umformuliert, und will den Versuch schon abbrechen, als der zweite Brief Viktors eintrifft; da lässt sie den Dingen ihren Lauf. Bald schreibt Viktor täglich, bald zweimal täglich, schließlich verlängert er die Reise um zwei Wochen, damit so prächtige Liebesbriefe entstehen – dabei vergnügt er sich in der Fremde mit anderen Frauen (innerer Widerspruch).
Auf der Heimreise erfindet er schon den Titel „Kurtalwine, Briefe zweier Zeitgenossen“; da findet er zufällig Gritlis Briefe an Wilhelm. Er findet dann alle Briefe und sperrt seine Frau in den Keller, „fahr wohl, du schöner Traum“; er räsoniert in verletzter Eitelkeit, betrinkt sich und wirft seine Frau am nächsten Tag aus dem Haus. Sie flieht zu einer älteren Base in Seldwyla. Er geht nach zwei Tagen zum Pfarrer, „um die Scheidung anhängig zu machen“, hofft aber noch im Stillen auf eine Versöhnung. Doch Gritli war schon vor ihm beim Pfarrer. Da trifft ein Brief der Kätter Ambach, einer hässlichen, aber fürs Geistige schwärmenden arbeitsscheuen Frau bei ihm ein, in dem sie ihre Hilfe anbietet; als Kätter selber kommt und ihn anhimmelt, nimmt ihn das für seine Verehrerin ein. Ein Seldwyler kommentiert das neue Paar: „Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Leut!“ (356) Es kommt zur Gerichtsverhandlung, beide Eheleute legen ihre Sicht der Dinge dar, Wilhelm sagt als Zeuge aus; sie werden bei Gütertrennung geschieden, Viktor muss den ansehnlichen Betrag herausrücken, den Gritli mit in die Ehe gebracht hat. Tätter tröstet ihn, die beiden beschließen zu heiraten und feiern groß ihre Verlobung. Nach der Hochzeit zieht der neue Lebensstil ein: Tätter isst für zwei und geht gern aus, Viktor treibt eine wilde und schülerhafte Literatur. Über Jahr und Tag sind sie verarmt.
Mit dem Wechsel des Erzählfadens beginnt der zweite Teil der Novelle, in dem die Veränderung (Reifung) Wilhelms und seine Annäherung an Gritli (bzw. umgekehrt) erzählt wird: die Geschichte von Hindernissen und ihrer Überwindung auf dem Weg zur Liebe. Der zweite Teil ist eher konventionell erzählt, er fällt gegen den ersten Teil ab; er steht aber mit der Geschichte einer zurückhaltend angebahnten Liebe (und natürlich mit den Hauptpersonen) im Kontrast zu den verrückten Liebesbriefen des ersten Teils und rundet so auch den ersten Teil ab.
Gritli hält sich im Städtchen zurück; der 23-jährige Wilhelm wendet sich, in Seldwyla verachtet, den Schulkindern zu. Der Pfarrer betreibt, dass sein Vertrag nicht verlängert wird. Er geht weg. An einem trüben Märzmorgen kommt er bei Regen in einem Rebhäuschen unter, das einem Tuchscherer gehört. Er erweist sich als tüchtiger Landwirt, worauf er in dem Häuschen bleiben darf und vom Besitzer angestellt wird. Wilhelm sucht „seinen Frieden in rastloser Bewegung“ (368) und Arbeit, verschönert das Häuschen, liebt die Natur und sammelt Steine und Rinden. Er erfährt, „wie das grüne Erdreich Trost und Kurzweil hat für die Verlassenen und die Einsamkeit eine gesegnete Schule ist für jeden, der nicht ganz roh und leer ist“ (Kommentar, 369). Er wird ein hübscher Kerl.
Im Herbst taucht Gritlis Gestalt immer deutlicher in seinem Geist auf; er glaubt, sie in einer Besucherin zu erkennen, hält sich aber fern. Im Winter bekommt er einen Ofen und Besuch von Bauern, die seinen Rat suchen, von Frauen und von Kindern, die in der Schule Probleme haben. Gritli nimmt an seinem Geschick Anteil und geht verkleidet mit einer Freundin ihn besuchen; Haus und Mann gefallen ihr, die Freundin richtet zum Schluss einen Gruß Gritlis aus. Sie beschließen danach, ihn auf die Probe zu stellen. Im Frühling geht die Freundin, der er auch gefällt, verkleidet zweimal zu ihm und „gesteht“ ihm, sie sei als Witwe in ihn verliebt. Als sie ihn küssen will, schwankt er, denkt an Gritli und hält sich zurück.
Nach einer schlaflosen Nacht will er erneut aufbrechen, als Gritli zu ihm kommt; sie gehen hilflos ein Stück miteinander. Bei einer Rast bemerkt Wilhelm: „Diese Frau war in ihren Kleidern und bei sich selbst zu Hause, und wer da einkehrte, befand sich in keiner Marktbude.“ (387) Sie nähern sich zögernd und ungeschickt einander, bis sie sich umarmen und küssen. Im Mai wird Hochzeit gefeiert, nach der Reise kaufen sie ein Landgut und bewirtschaften es erfolgreich. Es folgt als Abschluss ein Ausblick in die ferne Zukunft der beiden tüchtigen Leute und ihrer Kinder.
So hat der Möchtegern-Schriftsteller eine schlampige Verehrerin gefunden, die ihn zugrunde richtet, während seine ehemalige Ehefrau an einen tüchtigen Mann gekommen ist, der gern und verständig arbeitet und mit dem sie eine solide Familie gründet.
https://annotext.dartmouth.edu/texts/10200 (Text)
http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Die+Leute+von+Seldwyla/Zweiter+Band/Die+mi%C3%9Fbrauchten+Liebesbriefe (Text)
https://www.projekt-gutenberg.org/keller/lbbrief/lbbrief.html (Text)
https://www.phlu.ch/_Resources/Persistent/8/7/4/0/8740536a4e5de5cfff074b4065d9b6cd4e08d94b/Missbrauchten%20Liebesbriefe_ER_Aebli.pdf (Nacherzählung, vereinfacht)
https://www.einladung-zur-literaturwissenschaft.de/indexa25a.html?option=com_content&view=article&id=211%3A5-6-die-leute-von-seldwyla&catid=40%3Akapitel-5&Itemid=55 (Sautermeister über „Die Leute von Seldwyla“)
https://www.academia.edu/14756594/Strukturuntersuchung_an_Gottfried_Kellers_Die_mi%C3%9Fbrauchten_Liebesbriefe_aus_dem_zweiten_Band_des_Zyklus_Die_Leute_von_Seldwyla_ (Hans-Michael Dolle: Strukturuntersuchung an Gottfried Kellers „Die missbrauchten Liebesbriefe“)
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_mi%C3%9Fbrauchten_Liebesbriefe (schwach)
Jung’ und Alte, Groß’ und Klein’,
Gräßliches Gelichter!
Niemand will ein Schuster sein,
Jedermann ein Dichter. (Goethe)
Zur Veranschaulichung und Erheiterung hier der erste Brief Viktors an seine Frau:
»Teuerste Freundin meiner Seele!
Wenn sich zwei Sterne küssen, so gehen zwei Welten unter! Vier rosige Lippen erstarren, zwischen deren Kuß ein Gifttropfen fällt! Aber dieses Erstarren und jener Untergang sind Seligkeit, und ihr Augenblick wiegt Ewigkeiten auf! Wohl hab ich’s bedacht und hab es bedacht und finde meines Denkens kein Ende – Warum ist Trennung? – ? – Nur eines weiß ich dieser furchtbaren Frage entgegenzusetzen und schleudere das Wort in die Waagschale: Die Glut meines Liebeswillens ist stärker[387] als Trennung, und wäre diese die Urverneinung selbst – – solange dies Herz schlägt, ist das Universum noch nicht um die Urbejahung gekommen!! Geliebte! fern von Dir umfängt mich Dunkelheit – ich bin herzlich müde! Einsam such ich mein Lager – – schlaf wohl! – –«
Bei diesem Briefe lag noch ein Zettel des Inhalts:
»P.S. Ich habe absichtlich, liebe Frau! diesen ersten Brief kurz gehalten, daß der Anfang Dir nicht zu schwierig erscheinen möge! Du siehst, daß es sich in diesen Zeilen nur um ein einziges Motiv handelt, um den Begriff der Trennung. Äußere nun hierüber Deine Gefühle und füge eine neue Anregung hinzu, welche zu finden nun eben die Sache Deines Herzens und Deines guten Willens sein wird. Heute schlaf ich zum ersten Mal in einem Bette seit meiner Abreise; wenn’s nur keine Wanzen hat! Der junge Müller an der Burggasse, welchen ich angetroffen, hat mich um 40 Francs angepumpt in Gegenwart von andern Reisenden und ganz en passant, so daß ich es in der Eile nicht abschlagen konnte. Da ich weiß, daß seine Eltern noch eine Partie Ölsamen haben, so soll unser Kommis gleich hingehen und den Ölsamen kaufen und auf Rechnung setzen. Es muß aber gleich geschehen, ehe sie wissen, daß der Junge mir Geld schuldig ist, sonst bekommen wir weder Ölsamen noch Geld.
NB. Wir wollen die geschäftlichen und häuslichen Angelegenheiten auf solche Extrazettel setzen, damit man sie nachher absondern kann. In Erwartung Deiner baldigen Antwort, Dein Gatte und Freund Viktor.«