Ian McEwan: Abbitte – gelesen

Abbitte“ von Ian Ewan (deutsch 2002) ist ein großer Roman, in dem der Leser das erzählte Geschehen aus der Sicht einzelner Personen miterlebt. An einem heißen Sommertag treffen bei der Familie Tallis in London (Mutter Emiliy, 46, gerne von Migräne geplagt; Tochter Cecila, 19, mit einem mäßigen Abschluss in Cambridge; Tochter Briony, 13, die sich für eine große Schriftstellerin hält) einmal die Kinder von Emilys Schwester ein (Lola, 15, dazu zwei Jungen im Alter von 9 Jahren), die sich nach Paris abgesetzt hat; ferner Emilys Sohn Leon, 23, zu dessen Ehren Briony ihr kitschiges Liebesdrama aufführen will, mit seinem gleichaltrigen Freund, einem Fabrikanten minderwertiger Schokoriegel. Zum Haus gehört praktisch Robbie Turner, 19, der Sohn einer ehemaligen Bediensteten, ein glänzender Student, den Vater Tallis gefördert hat und weiter Medizin studieren lassen will. Herr Tallis arbeitet im Kriegsministerium und ist de facto abwesend, ruft aber jeden Abend an.

Dadurch, dass so viele Leute in eine Familie kommen, die im Begriff ist, sich aufzulösen; dass Brionys Theaterstück nicht aufgeführt wird; dass Robbie sich der gleichaltrigen Cecilia stürmisch annähert; dass Lola abends im Park vergewaltigt wird; und vor allem dadurch, dass die ahnungslose Briony sich für klug hält und meint, sich zur Romanschriftstellerin entwickeln zu müssen und den großen Durchblick zu haben, kommt ein dramatische Geschehen in Gang, das einen Tag und eine Nacht umfasst.

Im zweiten Teil wird erzählt, wie der verwundete Infanterist Robbie 1940 den chaotischen Rückzug der Engländer nach Dünkirchen erlebt, immer in der Hoffnung, die auf ihn wartende Cecelia wieder zu treffen. Im dritten Teil geht es vor allem um Briony, die 1940 mit militärischem Drill zur Krankenschwester ausgebildet wird und sich bewähren muss, als die Verwundeten aus Frankreich in die Londoner Krankenhäuser eingeliefert werden, und die Ihr Vergehen, die auf Ihrer Phantasie beruhende Anschuldigung Robbies, wiedergutmachen will.

Im vierten Teil wird vom Geburtstag der erfolgreichen Autorin Briony 1999 erzählt, die erkrankt ist; sie erweist sich als die Autorin des bisher erzählten Geschehens, das aber nur eine letzte Version der Geschichte ist, deren vorherige Versionen teils tragisch endeten – man bleibt so im Ungewissen, was „wirklich“ 1940 geschehen ist.

Ein raffinierter Zug des Autors besteht darin, dass Briony 1940 von einer Zeitschrift ein Manuskript mit freundlicher Kritik zurückgeschickt bekommt, aus der hervorgeht, dass sie ihre eigene Geschichte bzw. eine Episode des Sommertages 1935 erzählt hat: ein Versuch, für Ihr Vergehen Abbitte zu leisten; der Verlag der Zeitschrift bescheinigt ihr künstlerische Qualität, aber ihrer Erzählung fehle die Handlung. Und so muss Briony sich aufraffen und zu Ihrer Schwester gehen, die als Krankenschwester arbeitet und sich von der Familie losgesagt hat, um Abbitte zu tun und anzubieten, ihre falsche eidliche Aussage von 1935 zu widerrufen.

Fazit: ein großartiger Roman, man nimmt am Geschehen wie ein Beteiligter aus verschiedenen Perspektiven teil. Auf keinen Fall sollte man vorab den Wikipedia-Artikel lesen; nur so kann man sein Lesevergnügen ungestört erhalten.

Hakan Nesser: Himmel über London – gelesen

Himmel über London“ (schwedisch 2011) ist ein eigenwilliger Roman. Erzählt werden die Ereignisse der letzten Tage, ehe in einem chicen Londoner Restaurant das Testament des todkranken Leonard Vernim an seinem 70. (71.) Geburtstag eröffnet wird; darauf sind alle gespannt, weil rund 50 Mio zu verteilen sind. Beteiligt sind außer Leonard seine Lebensgefährtin Maud, deren beide Kinder aus ihrer ersten Ehe, Irina und Gregorius, sowie ein Amerikaner, Mikos Skrupka. Neben den turbulenten Ereignissen der letzten Tage werden auch Leonards alte Liebesgeschichte mit der tschechischen Spionin Carla, die Liebesgeschichte Milos und seiner vor zehn Jahren nach England versetzten Freundin Leya sowie ein Unfall, den Irina vor Jahren verursacht hatte und nach deren Fahrerflucht ein Mann gestorben war, erzählt. Leonards Geschichte ist in einem gelben Notizbuch festgehalten, das später Milos als der lange unbekannte Sohn aus Leonards Liebesgeschichte bekommt.

Zu den vielen teils unnötigen Verwicklungen, zu denen auch eine Mordserie in London gehört, kommen zusätzlich ein geheimnisvolles Buch, das Irina zufällig kauft und in dem ihre eigene Geschichte vorausgreifend erzählt wird; ferner tritt der von ihr Überfahrene, obwohl tot, erneut lebendig im Roman auf – das ist zu viel des Mysteriösen. Und ihr andauerndes Duschen nervt einen beim Lesen.

In den Gedanken der Figuren tauchen philosophieähnliche Überlegungen auf: „Und wie sie schon dieses Wort hasste: eigentlich. Das war der verräterischste aller Begriffe, da er andeutete, dass es noch etwas anderes gab. Vorspiegelte, dass hinter allem, was geschah, allem, was gesagt, erlebt oder nur geradebrecht wurde, etwas Richtiges versteckt war, etwas Gediegenes. Etwas Eigentliches; eine Wirklichkeit, die tatsächlich die Wirklichkeit an sich war, die diesen vollkommen ungerechtfertigten Anspruch stellte und in die wir mit Hilfe unseres gesunden Verstandes und heilsamer Therapie unsere Füße setzen sollten, statt in unseren üblichen verlogenen Flusen von Metaphern, Konventionen und Fiktionen herumzuschwimmen. / Aber so war es nicht. Es gab keine derartige Wirklichkeit, es gab kein eigentlich, und vielleicht …“ (Gedanken Mauds, S. 458)

Insgesamt ist das Buch spannend, hängt aber in der Mitte durch; es sind zu viele Komplikationen und mysteriöse Zufälle eingebaut. Die Übersetzerin Christel Hildebrandt hat zudem einige Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. So sieht Maud eine Verfremdung von Leonard, während es doch eine Entfremdung ist; Leonard denkt, er mache letztendliche (statt letzte) Schritte vor seinem Tod; Lars Gustav hatte gelesen, dass der Begriff Zeit außerhalb unseres Bewusstseins eigentlich gar nicht existiere (der Begriff sowieso nicht, gemeint ist: die Zeit); und auch der Konjunktiv II gehört nicht zu den Stärken der Übersetzerin.

Fazit: großenteils spannende Unterhaltung, aber in den poetologischen Überlegungen zum Verhältnis von Erzähler und Geschichte reichlich hoch ambitioniert; und zu viel mystery.

https://kaffeehaussitzer.de/hakan-nesser-himmel-ueber-london/

https://www.penguin.de/Rezensionen/348309.rhd (Stimmen vieler Leser)

https://www.perlentaucher.de/buch/hakan-nesser/himmel-ueber-london.html (ich neige zur Rezension der FR)

https://www.kriminetz.de/krimis/himmel-ueber-london

J. M. Coetzee: Zeitlupe (2005) – gelesen

Ein älterer Fotograf, Paul Rayment, ca. 6o Jahre alt, wird in Australien als Radfahrer von einem Auto erfasst und durch die Luft geschleudert; ein Bein ist schwer beschädigt, es muss abgenommen werden. Erzählt wird, wie er mit seinem Schicksal (und seinem Alter sowie seiner Kinderlosigkeit) hadert, sich gegen eine Prothese wehrt, an der freundlichen Gleichgültigkeit des Arztes und des Pflegepersonals leidet, sich schließlich in eine kroatische Pflegerin verliebt: Marijana, verheiratet, drei Kinder, ca. 35 Jahre alt; wie er ihr das gesteht und sich in ihr Leben drängt, indem er für ihren Sohn die Ausbildung an einem teuren College übernehmen will, was zu Problemen zwischen ihnen, aber auch in Marijanas Familie führt. So weit, so gut – doch dann taucht Elizabeth Costello auf, eine Schriftstellerin aus einem Roman Coetzees, und mischt sich in Pauls Leben ein; sie weiß eine Menge über ihn, manches aber auch nicht, was dann der Anlass ist, dass er von sich erzählt; was sie eigentlich will, wird nicht klar – Paul vermutet, dass sie Geschichten für einen neuen Roman sucht. Sie drängt ihn zu einer Entscheidung, zum Ausbruch aus seiner Wehleidigkeit, vermittelt ihm eine Sexualpartnerin, drängt ihn schließlich zu einem Besuch bei den Kroaten zu Hause; dort lösen sich dann die Probleme, da Marijanas Sohn, den er bei sich aufgenommen hatte, ihm ein Liegendfahrrad gebaut hat, das Paul auf Marijanas Rat auch benutzen will. Elizabeth schlägt ihm noch ein gemeinsames Leben vor, was Paul aber ablehnt, worauf sie verschwindet.

Der anfangs fesselnde Roman wird mit dem Auftauchen der rätselhaften E. Costello, die teilweise wie Pauls Gewissen fungiert, zäher, und schließlich ist man froh, wenn man auf Seite 301 das Ende erreicht hat.

https://www.literarische-bilder-unserer-zeit.uni-koeln.de/index.php/J._M._Coetzee,_Zeitlupe_(von_Jutta_Rech-Garlichs) (große Inhaltsangabe und Untersuchung – ich kriege den verdammten Link nicht ans Funktionieren, weil die Schlussklammer hinter „Garlichs“ nicht im Link erfasst wird. Also zur Not: „Rech-Garlichs: Coetzee: Zeitlupe“ in der Suchmaschine eingeben, dann klappt es.)

https://literaturkritik.de/id/8623 (kritisch)

https://www.buecherwurmloch.at/2009/11/23/j-m-coetzee-zeitlupe/ (teils kritisch)

https://www.perlentaucher.de/buch/j-m-coetzee/zeitlupe.html (Übersicht über verschiedene Rezensionen)

https://www.complete-review.com/reviews/coetzeej/slowman.htm (dito)

https://de.wikipedia.org/wiki/J._M._Coetzee (der Autor)

G. Keller: Das Fähnlein der sieben Aufrechten – gelesen

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 810-870 (61 Seiten Text).

In dieser Novelle sind patriotische Motive, die sich an die Geschichte der sieben Männer und ihren Zug zum Bundesschießen 1849 heften, und die Liebesgeschichte von Karl (20 Jahre) und Hermine (17 Jahre), den Kindern der zwei Wortführer des Fähnleins, miteinander verbunden.

Die sieben Festen oder Aufrechten stammen noch aus dem vergangenen Jahrhundert. Zunächst wird Schneidermeister Hediger als überzeugter Republikaner vorgestellt, der sich weigert, seinem Sohn Karl sein Gewehr auszuleihen, weil dieser nicht einmal das Schloss auseinandernehmen kann (810-812); hinterrücks besorgt die Mutter aber doch das Gewehr und bringt ihm bei, wie man das Schloss wieder zusammensetzt. Am Abend trifft Karl heimlich seine Freundin Hermine Frymann wie üblich auf dem See; sie hält ihn auf Distanz und berichtet vom Widerstand ihres Vaters gegen die Verbindung. Es gelingt Karl, sie zu küssen (817). Hermine verschiebt das nächste Treffen um vier Wochen.

Danach werden sie sieben Aufrechten charakterisiert; sie haben gegen Aristokraten und Pfaffen gekämpft, stehen für die republikanische Idee und helfen einander (818 ff.). Sie planen am Abend des gleichen Tages, zum eidgenössischen Freischießen 1849 zu ziehen und mit einer eigenen Fahne aufzutreten. Für die Ehrengabe machen fünf einen Vorschlag, wobei alle ein Ding unterbringen wollen, was sie zu Hause haben und nicht loswerden (821 f.). Hediger weist das zurück, der reiche Zimmermeister Frymann schlägt einen neuen Silberbecher vor (- 826). Frymann stellt sich dann gegen eine Verschwägerung mit Hediger, der stimmt ihm zu, worüber die anderen spotten (826-828). Hediger verkündet am nächsten Tag seine Abmachung mit Frymann zu Hause, seine Frau widerspricht ihm heftig – Streitgespräch (829-833). Karl fährt am Abend vergeblich auf den See, Hermine kommt nicht.

Karl übt sich nun im Schießen und bereitet sich auf seine Militärzeit bei den Schützen vor (834 f.). Er kommt in die Kaserne und schießt gut; dort lernt er den Miethai Ruckstuhl als Kameraden kennen, der sich mit Geld alles erkaufen will und auch ein Auge auf Hermine geworfen hat (836 f.). Hermine richtet Frau Hedinger einen Gruß an Karl aus und besucht sie (zu Hause 837-839). Am Abend trifft Karl Hermine wieder auf dem See; sie planen, den vereinbarten Besuch Ruckstuhls bei Frymann zu verhindern, und streiten über das Küssen (840-843). Karl stiftet Ruckstuhl zu einem Besäufnis in der Kaserne an, der kommt dann mit seinem Gefolgsmann in den Arrest (843-846). Am nächsten Tag erscheint Ruckstuhl nicht zum festlichen Mittagessen bei Frymann, dafür kommt Frau Hedinger zu Hermine zum Kaffee und informiert deren Vater über das Vergehen Ruckstuhls, der somit erledigt ist.

Zeitsprung: Juni 1849 (849): Die Sieben brauchen einen Sprecher für das Fest, durch Los wird der widerstrebende Frymann ermittelt. Er entwirft eine Rede, die aber von Hermine verworfen wird (851 f.). Man fährt im Juli zum Fest, wo Frymann sich weigert zu sprechen (854). Karl bietet sich als Redner an, er nimmt die Fahne und geht voran (854 f.). Er hält aus dem Stegreif eine Rede:

»Liebe Eidgenossen!

Wir sind da unser acht Mannli mit einem Fahnli gekommen, sieben Grauköpfe mit einem jungen Fähndrich! Wie ihr seht, trägt jeder seine Büchse, ohne daß wir den Anspruch erheben, absonderliche Schützen zu sein (…). Und dennoch, wenn wir auch keine ausbündigen Schützen sind, hat es uns nicht hinter dem Ofen gelitten; wir sind gekommen, nicht Gaben zu holen, sondern zu bringen ein bescheidenes Becherlein, ein fast unbescheiden fröhliches Herz und ein neues Fahnli, das mir in der Hand zittert vor Begierde, auf eurer Fahnenburg zu wehen. Das Fahnli nehmen wir aber wieder mit, es soll nur seine Weihe bei euch holen! Seht, was mit goldener Schrift darauf geschrieben steht: Freundschaft in der Freiheit! (…) Schaut sie an, diese alten Sünder! Sämtlich stehen sie nicht im Geruche besonderer Heiligkeit! Spärlich sieht man einen von ihnen in der Kirche! Auf geistliche Dinge sind sie nicht wohl zu sprechen! Aber ich kann euch, liebe Eidgenossen! hier unter freiem Himmel etwas Seltsames anvertrauen sooft das Vaterland in Gefahr ist, fangen sie ganz sachte an, an Gott zu glauben; erst jeder leis für sich, dann immer lauter, bis sich einer dem andern verrät und sie dann zusammen eine wunderliche Theologie treiben, deren erster und einziger Hauptsatz lautet: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Auch an Freudentagen, wie der heutige, wo viel Volk beisammen ist und es lacht ein recht blauer Himmel darüber, verfallen sie wiederum in diese theologischen Gedanken, und sie bilden sich dann ein, der liebe Gott habe das Schweizerpanier herausgehängt am hohen Himmel und das schöne Wetter extra für uns gemacht! In beiden Fällen, in der Stunde der Gefahr und in der Stunde der Freude, sind sie dann plötzlich zufrieden mit den Anfangsworten unserer Bundesverfassung Im Namen Gottes des Allmächtigen! und eine so sanftmütige Duldsamkeit beseelt sie dann, so widerhaarig sie sonst sind, daß sie nicht einmal fragen, ob der katholische oder der reformierte Herr der Heerscharen gemeint sei! (…) Diese Alten hier haben ihre Jahre in Arbeit und Mühe hingebracht; sie fangen an, die Hinfälligkeit des Fleisches zu empfinden, den einen zwickt es hier, den andern dort. Aber sie reisen, wenn der Sommer gekommen ist, nicht ins Bad, sie reisen zum Feste. Der eidgenössische Festwein ist der Gesundbrunnen, der ihr Herz erfrischt; das sommerliche Bundesleben ist die Luft, die ihre alten Nerven stärkt, der Wellenschlag eines frohen Volkes ist das Seebad, welches ihre steifen Glieder wieder lebendig macht. Ihr werdet ihre weißen Köpfe alsobald untertauchen sehen in dieses Bad! So gebt uns nun, liebe Eidgenossen, den Ehrentrunk! Es lebe die Freundschaft im Vaterlande! Es lebe die Freundschaft in der Freiheit!« (855-858)

Diese Rede begeistert die Zuhörer und erst recht die sieben Aufrechten. Der Vater und Frymann geben ihm noch gute Ratschläge (858-860), ehe sie ihn ins Fähnlein aufnehmen. Beim Mittagessen werden die Sieben in der Festrede erwähnt (860-862), und sie beschließen, dass Karl Hermine bekommen soll. Karl geht mit Hermine zum Schießen, sie ermuntert ihn und er trifft mit allen 25 Kugeln (863 f.). Hermine informiert die Alten, sie holen Karl ab; der stiftet seinen Siegespokal dem Fähnlein (865).

Hermine fällt als schönstes Mädchen des Festes auf. Da kommt ein kräftiger Streithansel mit seinem alten Vater und setzt sich zu den Sieben (866 f.). Karl lässt sich auf ein Fingerhakeln mit ihm ein und siegt (867 f.). Die Väter geben den Kindern die Ehe frei, die Verlobung findet statt (868 f.). Die beiden küssen sich abseits und regeln ihr künftiges Verhältnis: Hermine will Karl unter den Pantoffel kriegen: „Es wird sich indessen schon ein Recht und eine Verfassung zwischen uns ausbilden, und sie wird gut sein, wie sie ist!“ (869) Ein Kamerad Karls, der hinzutritt, will die Verfassung garantieren und bittet sich die Patenschaft beim ersten Kind aus. Die Verlobten kehren dann zur Gesellschaft zurück.

Persönlich darf ich noch anmerken, dass der Anfang der Novelle mich an meine frühe Zeit als Lehrer am NGM erinnert: Die Charakterisierung Hedingers stand in Band 9 oder 10 unseres Lesebuchs LDB als Beispiel für eine Charakterisierung:

Der Schneidermeister Hediger in Zürich war in dem Alter, wo der fleißige Handwerksmann schon anfängt, sich nach Tisch ein Stündchen Ruhe zu gönnen. So saß er denn an einem schönen Märztage nicht in seiner leiblichen Werkstatt, sondern in seiner geistigen, einem kleinen Sonderstübchen, welches er sich seit Jahren zugeteilt hatte. Er freute sich, dasselbe ungeheizt wieder behaupten zu können; denn weder seine alten Handwerkssitten noch seine Einkünfte erlaubten ihm, während des Winters sich ein besonderes Zimmer erwärmen zu lassen, nur um darin zu lesen. Und das zu einer Zeit, wo es schon Schneider gab, welche auf die Jagd gehen und täglich zu Pferde sitzen, so eng verzahnen sich die Übergänge der Kultur ineinander.

Meister Hediger durfte sich aber sehen lassen in seinem wohlaufgeräumten Hinterstübchen. Er sah fast eher einem amerikanischen Squatter als einem Schneider ähnlich; ein kräftiges und verständiges Gesicht mit starkem Backenbart, von einem mächtigen kahlen Schädel überwölbt, neigte sich über die Zeitung »Der schweizerische Republikaner« und las mit kritischem Ausdrucke den Hauptartikel. Von diesem »Republikaner« standen wenigstens fünfundzwanzig Foliobände, wohl gebunden, in einem kleinen Glasschranke von Nußbaum, und sie enthielten fast nichts, das Hediger seit fünfundzwanzig Jahren nicht mit erlebt und durchgekämpft hatte. (…)“ (810)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Z%C3%BCricher+Novellen/Zweiter+Band/Das+F%C3%A4hnlein+der+sieben+Aufrechten (Text, daraus ist hier zitiert)

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/zuercher/aufrecht.html (Text)

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_F%C3%A4hnlein_der_sieben_Aufrechten

https://www.gottfriedkeller.ch/schule/faehnlein.php (zur Novelle)

https://literarischermonat.ch/eine-expedition-durch-gottfried-kellers-zuericher-novellen/ (Eva Seck über die Züricher Novellen)

https://www.tagblatt.ch/kultur/buch-buehne-kunst/gottfried-kellers-romane-lehren-uns-scheitern-mit-erfolg-ld.1135303 (über das Scheitern bei Keller)

https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=smh-002:1959:39::1626 (Gottfried Kellers Namensgebung)

https://dewiki.de/Lexikon/Gottfried_Keller (Gottfried Keller)

https://literaturkritik.de/gottfried-keller-geburtstag-200-jubilaeum,25834.html (dito)

https://www.ds.uzh.ch/_files/uploads/presse/319.pdf (dito, mit Bild: Schreibunterlage)

https://literarischermonat.ch/vom-freischaerler-zum-nationaldichter/ (der politische Keller)

G. Keller: Hadlaub – gelesen

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 624-697 (knapp 74 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf den Aufbau der Erzählung und die Entwicklung der Liebe zwischen Johannes und Fides.

Der Sinn der Erzählung aus Sicht des allwissenden Erzählers ergibt sich aus der Einleitung „(Herr Jacques)“: Rüdiger von Manesse als einen tüchtigen Mann vorführen. Erzählt wird einmal, wie der Codex Manesse entstanden ist, und damit verbunden die Entwicklung von Johannes Hadlaub und Fides, die schließlich heiraten. In der Novelle ist also die Sammlung der Minnelieder kunstvoll mit der Geschichte einer realen Minne und Liebe verflochten.

Das erzählte Geschehen spielt zur Zeit des Königs Rudolf von Habsburg (1273-1291) und seines Sohnes Albrecht (1298-1308). Fides ist die uneheliche Tochter der Kunigunde von Schwarz-Wasserstelz und des königlichen Kanzlers Heinrich von Klingenberg, der später Bischof wird. Nach 7, 8 Jahren geht die Mutter ins Kloster; sie wird Fürstäbtissin, ihre Tochter bei Rüdiger von Manesse erzogen. Mit ihrem Lehrer Konrad von Mure kommt Fides zum Bauern Ruoff am Hadelaub; dort trifft sie erstmals dessen Sohn Johannes, der mit den Kühen heimkommt, und sagt „Du dummer Bub!“ (630) zu ihm. Er muss sie am Bach durchs Wasser tragen. Konrad will den aufgeweckten Johannes mitnehmen und erziehen; erst Jahre später gibt der Vater das nach Geburt eines zweiten kräftigen Jungen zu. So kommt Johannes nach Zürich und lernt lesen und schreiben, zudem Latein.

Nach acht Jahren schreibt Johannes die alten und neuen Minnelieder und Rittergedichte ab. Einige Jahre nach dem Tod Konrads von Mure – Johannes ist als Schreiber tätig – wird er zu Rüdiger von Manesse eingeladen, wo er Minnelieder singen soll: „Dir klag ich, Mai, ich klag dirs, Sommerwonne“ und „Voll Schönheit wie der Morgenstern“; Bischof Heinrich singt mit Blick auf Kunigunde „Rosenblühend ist das Lachen“ (638); Johannes singt dann Lieder Walthers. Er soll den Schwabenspiegel abschreiben; er begegnet der 16-jährigen Fides (642), die ihn wiedererkennt. Rüdiger hat die Idee, alle Minnelieder zu sammeln, und bekommt Zuspruch von allen Seiten mit Hinweis auf bereits vorliegende Sammlungen; Johannes soll der Schreiber sein. Nach acht Tagen reitet er zum Bischof, der ihn in die Minnelieder einweist. Er bringt einen Brief des Bischofs zu Kunigunde, die einander entsagen, da Fides unter ihrer unehelichen Geburt leidet (648 f.). Johannes tritt im Kloster auf und nennt sich Erzkanzler des Minnesanges, worüber Fides kurz lacht; Johannes versteht den Vorgang nicht. Er sammelt eifrig Lieder, erfährt die Geschichte der Fides und beginnt Fides zu lieben, die ihn aber kaum beachtet (653). Er dichtet sein erstes Minnelied und heftet es Fides heimlich an den Mantel: „Ich wär so gerne froh“. Als der Winter vorbei ist, singt er im Wald seine Lieder; es kommen Frauen, er spielt ihnen zum Tanz auf, sie verschwinden rasch. Auf dem Heimweg begegnet er Fides, beide gehen schüchtern weiter. Johannes dichtet dann weitere Lieder und schickt sie ihr; „es begann eine zärtliche Wärme ihr Herz zu beschleichen“ (659), aber sie hält sich zurück und liefert auf Rüdigers Rat die Briefe ihm ab, der sie dann sammelt und ebenso wie der Bischof meint, sie bezeugten bloß das Spiel der Minne, aber keine Liebe. Hadlaubs Minnelieder werden öffentlich bekannt gemacht, samt Fides als Adressatin.

So vergehen einige Jahre. Johannes sammelt fleißig weitere Lieder. Bei einem Fest kehrt die Jagdgesellschaft auf Burg Manegg ein, wo auch Johannes und Fides sich errötend begegnen; die Bücher der Minnesänger werden vorgezeigt, Johannes’ Leistung gewürdigt; manche Ritter auf den Bildern tragen das Gesicht der Fides (669). Fides lacht über einige misslungene Bilder (670 f.); da wird „Meister Johannes Hadlaub“ als Dichter aufgerufen (672) – Fides muss ihm den Kranz aufsetzen (673 f.), Johannes schaut sie verklärt an; sie gibt ihm eine Nadelbüchse aus Elfenbein und entflieht.

Fides bleibt ihm verborgen, gibt seine Minnebriefe aber nicht mehr ab. Er muss verreisen, bis nach Wien, sammelt Lieder und schließt sich an einen alten Spielmann an, der ihm seine Liedersammlung vermacht, darunter auch Gedichte des von Kürenberg. Nach einem Jahr kehrt er heim; Fides ist jetzt Freiin von Wasserstelz. Es taucht Graf Wernher von Homberg auf, der ebenfalls Fides anminnt; nur wenige halten noch zu Johannes. Da erreicht ihn ein Brief von Fides, die ihn zu einem abendlichen Treffen am 2. Mai bestellt. Ein Kahn bringt ihn zu einer geheimen Pforte – auf der Burg sind noch der Bischof und Wernher. Am nächsten Tag muss Johannes sich vor Fides wegen seiner Minnedichtung rechtfertigen: „Ei, (…) so habe ich immer nur das dabei gedacht, was in den Liedern eben steht, das heißt in denen, die Euch allein angehen…“ (690); wegen einiger grober Verse entschuldigt er sich. Er muss, als er vom Spielmann erzählt, eines von dessen Liedern singen: „Ich zog mir einen Falken“. Graf Wernher unterbricht das Beisammensein, indem er aus Eifersucht Fides abholen will, und muss von Fides auf dem Fluss abgewiesen werden (692 f.); als sie zurückkommt, küssen sie und Johannes sich, versprechen sich einander und planen die Hochzeit. Fides lädt Bekannte und Verwandte auf ihre Burg und gibt die Verlobung bekannt. Gegen den Bischof treten Rüdiger und der alte Hadlaub für das Paar ein. Fides zieht als Bürgersfrau mit Johannes in die Stadt. Die Vollendung des Codex erleben die Alten alle nicht mehr; Johannes hat die Lieder von 138 Sängern gesammelt.

Bei der Lektüre der Novelle müsste man eigentlich die Bilder des Codex Manesse betrachten können, damit man weiß, wovon die Rede ist.

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/zuercher/hadlaub.html (Text)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Z%C3%BCricher+Novellen/Erster+Band/Hadlaub (Text)

https://literarischermonat.ch/eine-expedition-durch-gottfried-kellers-zuericher-novellen/ (Eva Seck über die Züricher Novellen)

https://de.wikipedia.org/wiki/Hadlaub_(Gottfried_Keller) (dürftig)

https://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/3304-gottfried-keller-hadlaub (Eckhard Ullrich zur Novelle)

http://www.amorphe-welt.de/germanistik/hadlaub.pdf (Seminararbeit zu „Hadlaub“)

https://books.ub.uni-heidelberg.de/heibooks/reader/download/154/154-4-7606-1-10-20160818.pdf (Der Codex Manesse: Entstehung und Wirkung)

https://www.journal21.ch/artikel/manegg-ueber-ritter-narren-und-liebende (Burg Manegg heute)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz25095.html (Johannes Hadlaub)

https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=smh-002:1959:39::1626 (Gottfried Kellers Namensgebung)

https://dewiki.de/Lexikon/Gottfried_Keller (Gottfried Keller)

https://literaturkritik.de/gottfried-keller-geburtstag-200-jubilaeum,25834.html (dito)

https://www.ds.uzh.ch/_files/uploads/presse/319.pdf (dito, mit Bild: Schreibunterlage)

Codex Manesse:

https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848

https://de.wikisource.org/wiki/Codex_Manesse

https://www.ub.uni-heidelberg.de/allg/benutzung/bereiche/handschriften/codexmanesse.html

https://www.heraldik-wiki.de/wiki/Codex_Manesse

https://de.wikipedia.org/wiki/Codex_Manesse

G. Keller: Die missbrauchten Liebesbriefe – gelesen, kurze Analyse

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 324-389 (66 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf den Aufbau der Erzählung.

Im ersten Teil der Novelle wird erzählt, wie ein erfolgreicher Geschäftsmann sich als Schriftsteller gebärdet und durch seine überspannten Ideen seine Ehe mit einer hübschen, tüchtigen Frau zerbricht; dieser Teil ist eine großartige Satire auf den Wahn vieler Leute, Schriftsteller zu sein.

Zu Beginn stellt der allwissende Erzähler die Protagonisten des ersten Teils vor, den Kaufmann Viktor Störteler, genannt Viggi, und seine schöne Ehefrau Gritli. Viktor hat eine „Liebe für Bildung und Belesenheit“ aus seiner Arbeit in einer größeren Stadt mit nach Seldwyla gebracht. Bald schreibt er selber erfolglos Abhandlungen, die er Essays nennt; Novellen bringt er als Kurt vom Walde in Sonntagsblättchen unter. Das Diminutiv „blättchen“ und die Namen seiner Schriftstellerkollegen (u.a. Gänserich von der Wiese) wie auch die offene Bewertung der jungen Comptoiristen in der Stadt (Dummheiten, verworrene Unterhaltung, schreckbare Aufsätze, S. 324) zeigen den Spott des Erzählers über die Kleinstliteraten. Als Haupterlebnis eines Tages auf der Geschäftsreise in einer fremden Stadt wird von einem Treffen solcher Literaten in einer Wirtschaft berichtet (325 ff.), wo Viktor sich als Kurt vom Walde vorstellt; dort wird die Stiftung einer „neuen Sturm- und Dranggesellschaft“ beschlossen – ein satirischer Clou. Nebenher wird ein Dr. Mewes als ahnungsloser Schriftsteller und der Kellner George d’Esan (= Georg Nase) als gewesener Schreiberling entlarvt, der sich wieder zur Arbeit als Oberkellner bekehrt hat.

In Seldwyla gibt Viktor sich ein künstlerisches Aussehen und beschließt, seine Frau „zu erhöhen und zu seiner Muse zu machen“ (332). Als sie die Bücher, die er ihr gibt, nicht versteht, beschließt er, sie mit Gewalt zu höherer Bildung zu führen, und macht einen Erziehungsplan – der eheliche Friede gerät in Gefahr. Nach einigen Wochen erfolglosen Bemühens kommt Viktor auf die Idee, „die schöne Leidenschaft“ zu Hilfe zu rufen und während einer Geschäftsreise einen Briefwechsel mit seiner Frau zu führen, um ihn später zu veröffentlichen; „kehre deine höhere Weiblichkeit hervor“, fordert er von ihr. Sie gibt ihm ein Köfferchen mit Esswaren und Getränken mit, leidet aber an seinem Auftrag, während er sich auf der Reise an den Vorräten gütlich tut (innerer Widerspruch, typisch für eine Satire); den gleichen Widerspruch gibt es zwischen dem gestelzten Liebesbrief, den er schreibt, und einem beigefügten Schreiben mit praktischen Anweisungen (337 f.).

Gritli weiß auf den Liebesbrief nicht zu antworten. In ihrer Not verfällt sie darauf, ihren Nachbarn, den schüchtern Hilfslehrer Wilhelm, einzuspannen, der gerne nach ihr schaut. Sie weist ihn ausdrücklich auf einen „Scherz“ hin (340) und fordert ihn auf, den auf einen Mann als Adressaten umfrisierten Liebesbrief zu beantworten. Wilhelm glaubt sich geliebt, Gritli spürt die Wärme in seinem Antwortbrief, den sie wieder als Antwort an Viktor umformuliert, und will den Versuch schon abbrechen, als der zweite Brief Viktors eintrifft; da lässt sie den Dingen ihren Lauf. Bald schreibt Viktor täglich, bald zweimal täglich, schließlich verlängert er die Reise um zwei Wochen, damit so prächtige Liebesbriefe entstehen – dabei vergnügt er sich in der Fremde mit anderen Frauen (innerer Widerspruch).

Auf der Heimreise erfindet er schon den Titel „Kurtalwine, Briefe zweier Zeitgenossen“; da findet er zufällig Gritlis Briefe an Wilhelm. Er findet dann alle Briefe und sperrt seine Frau in den Keller, „fahr wohl, du schöner Traum“; er räsoniert in verletzter Eitelkeit, betrinkt sich und wirft seine Frau am nächsten Tag aus dem Haus. Sie flieht zu einer älteren Base in Seldwyla. Er geht nach zwei Tagen zum Pfarrer, „um die Scheidung anhängig zu machen“, hofft aber noch im Stillen auf eine Versöhnung. Doch Gritli war schon vor ihm beim Pfarrer. Da trifft ein Brief der Kätter Ambach, einer hässlichen, aber fürs Geistige schwärmenden arbeitsscheuen Frau bei ihm ein, in dem sie ihre Hilfe anbietet; als Kätter selber kommt und ihn anhimmelt, nimmt ihn das für seine Verehrerin ein. Ein Seldwyler kommentiert das neue Paar: „Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Leut!“ (356) Es kommt zur Gerichtsverhandlung, beide Eheleute legen ihre Sicht der Dinge dar, Wilhelm sagt als Zeuge aus; sie werden bei Gütertrennung geschieden, Viktor muss den ansehnlichen Betrag herausrücken, den Gritli mit in die Ehe gebracht hat. Tätter tröstet ihn, die beiden beschließen zu heiraten und feiern groß ihre Verlobung. Nach der Hochzeit zieht der neue Lebensstil ein: Tätter isst für zwei und geht gern aus, Viktor treibt eine wilde und schülerhafte Literatur. Über Jahr und Tag sind sie verarmt.

Mit dem Wechsel des Erzählfadens beginnt der zweite Teil der Novelle, in dem die Veränderung (Reifung) Wilhelms und seine Annäherung an Gritli (bzw. umgekehrt) erzählt wird: die Geschichte von Hindernissen und ihrer Überwindung auf dem Weg zur Liebe. Der zweite Teil ist eher konventionell erzählt, er fällt gegen den ersten Teil ab; er steht aber mit der Geschichte einer zurückhaltend angebahnten Liebe (und natürlich mit den Hauptpersonen) im Kontrast zu den verrückten Liebesbriefen des ersten Teils und rundet so auch den ersten Teil ab.

Gritli hält sich im Städtchen zurück; der 23-jährige Wilhelm wendet sich, in Seldwyla verachtet, den Schulkindern zu. Der Pfarrer betreibt, dass sein Vertrag nicht verlängert wird. Er geht weg. An einem trüben Märzmorgen kommt er bei Regen in einem Rebhäuschen unter, das einem Tuchscherer gehört. Er erweist sich als tüchtiger Landwirt, worauf er in dem Häuschen bleiben darf und vom Besitzer angestellt wird. Wilhelm sucht „seinen Frieden in rastloser Bewegung“ (368) und Arbeit, verschönert das Häuschen, liebt die Natur und sammelt Steine und Rinden. Er erfährt, „wie das grüne Erdreich Trost und Kurzweil hat für die Verlassenen und die Einsamkeit eine gesegnete Schule ist für jeden, der nicht ganz roh und leer ist“ (Kommentar, 369). Er wird ein hübscher Kerl.

Im Herbst taucht Gritlis Gestalt immer deutlicher in seinem Geist auf; er glaubt, sie in einer Besucherin zu erkennen, hält sich aber fern. Im Winter bekommt er einen Ofen und Besuch von Bauern, die seinen Rat suchen, von Frauen und von Kindern, die in der Schule Probleme haben. Gritli nimmt an seinem Geschick Anteil und geht verkleidet mit einer Freundin ihn besuchen; Haus und Mann gefallen ihr, die Freundin richtet zum Schluss einen Gruß Gritlis aus. Sie beschließen danach, ihn auf die Probe zu stellen. Im Frühling geht die Freundin, der er auch gefällt, verkleidet zweimal zu ihm und „gesteht“ ihm, sie sei als Witwe in ihn verliebt. Als sie ihn küssen will, schwankt er, denkt an Gritli und hält sich zurück.

Nach einer schlaflosen Nacht will er erneut aufbrechen, als Gritli zu ihm kommt; sie gehen hilflos ein Stück miteinander. Bei einer Rast bemerkt Wilhelm: „Diese Frau war in ihren Kleidern und bei sich selbst zu Hause, und wer da einkehrte, befand sich in keiner Marktbude.“ (387) Sie nähern sich zögernd und ungeschickt einander, bis sie sich umarmen und küssen. Im Mai wird Hochzeit gefeiert, nach der Reise kaufen sie ein Landgut und bewirtschaften es erfolgreich. Es folgt als Abschluss ein Ausblick in die ferne Zukunft der beiden tüchtigen Leute und ihrer Kinder.

So hat der Möchtegern-Schriftsteller eine schlampige Verehrerin gefunden, die ihn zugrunde richtet, während seine ehemalige Ehefrau an einen tüchtigen Mann gekommen ist, der gern und verständig arbeitet und mit dem sie eine solide Familie gründet.

https://annotext.dartmouth.edu/texts/10200 (Text)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Die+Leute+von+Seldwyla/Zweiter+Band/Die+mi%C3%9Fbrauchten+Liebesbriefe (Text)

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/lbbrief/lbbrief.html (Text)

https://www.phlu.ch/_Resources/Persistent/8/7/4/0/8740536a4e5de5cfff074b4065d9b6cd4e08d94b/Missbrauchten%20Liebesbriefe_ER_Aebli.pdf (Nacherzählung, vereinfacht)

https://www.einladung-zur-literaturwissenschaft.de/indexa25a.html?option=com_content&view=article&id=211%3A5-6-die-leute-von-seldwyla&catid=40%3Akapitel-5&Itemid=55 (Sautermeister über „Die Leute von Seldwyla“)

https://www.academia.edu/14756594/Strukturuntersuchung_an_Gottfried_Kellers_Die_mi%C3%9Fbrauchten_Liebesbriefe_aus_dem_zweiten_Band_des_Zyklus_Die_Leute_von_Seldwyla_ (Hans-Michael Dolle: Strukturuntersuchung an Gottfried Kellers „Die missbrauchten Liebesbriefe“)

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_mi%C3%9Fbrauchten_Liebesbriefe (schwach)

Jung’ und Alte, Groß’ und Klein’,

Gräßliches Gelichter!

Niemand will ein Schuster sein,

Jedermann ein Dichter. (Goethe)

Zur Veranschaulichung und Erheiterung hier der erste Brief Viktors an seine Frau:

»Teuerste Freundin meiner Seele!

Wenn sich zwei Sterne küssen, so gehen zwei Welten unter! Vier rosige Lippen erstarren, zwischen deren Kuß ein Gifttropfen fällt! Aber dieses Erstarren und jener Untergang sind Seligkeit, und ihr Augenblick wiegt Ewigkeiten auf! Wohl hab ich’s bedacht und hab es bedacht und finde meines Denkens kein Ende – Warum ist Trennung? – ? – Nur eines weiß ich dieser furchtbaren Frage entgegenzusetzen und schleudere das Wort in die Waagschale: Die Glut meines Liebeswillens ist stärker[387] als Trennung, und wäre diese die Urverneinung selbst – – solange dies Herz schlägt, ist das Universum noch nicht um die Urbejahung gekommen!! Geliebte! fern von Dir umfängt mich Dunkelheit – ich bin herzlich müde! Einsam such ich mein Lager – – schlaf wohl! – –«

Bei diesem Briefe lag noch ein Zettel des Inhalts:

»P.S. Ich habe absichtlich, liebe Frau! diesen ersten Brief kurz gehalten, daß der Anfang Dir nicht zu schwierig erscheinen möge! Du siehst, daß es sich in diesen Zeilen nur um ein einziges Motiv handelt, um den Begriff der Trennung. Äußere nun hierüber Deine Gefühle und füge eine neue Anregung hinzu, welche zu finden nun eben die Sache Deines Herzens und Deines guten Willens sein wird. Heute schlaf ich zum ersten Mal in einem Bette seit meiner Abreise; wenn’s nur keine Wanzen hat! Der junge Müller an der Burggasse, welchen ich angetroffen, hat mich um 40 Francs angepumpt in Gegenwart von andern Reisenden und ganz en passant, so daß ich es in der Eile nicht abschlagen konnte. Da ich weiß, daß seine Eltern noch eine Partie Ölsamen haben, so soll unser Kommis gleich hingehen und den Ölsamen kaufen und auf Rechnung setzen. Es muß aber gleich geschehen, ehe sie wissen, daß der Junge mir Geld schuldig ist, sonst bekommen wir weder Ölsamen noch Geld.

NB. Wir wollen die geschäftlichen und häuslichen Angelegenheiten auf solche Extrazettel setzen, damit man sie nachher absondern kann. In Erwartung Deiner baldigen Antwort, Dein Gatte und Freund Viktor.«

G. Keller: Pankraz der Schmoller – Analyse

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 13-60 (48 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf das Schmollen.

Ein allwissender Erzähler berichtet von Pankraz, dem Schmoller, indem er punktuell dessen bisherige Lebensgeschichte erzählt, die „Geschichte von Pankraz’ Leben und Bekehrung“ (S. 60). In der Kindheit und Jugend ist Pankraz ein von der Mutter verwöhnter Nichtsnutz, der sich durch sein Schmollen auszeichnet und der eines Tages einfach verschwindet (17), als er von anderen Burschen verprügelt wird und seine Schwester ihm einen Teil seines Essens stiebitzt. Nach etwa 15 Jahren kehrt er als französischer Offizier völlig verändert heim (18 f.), wird herzlich aufgenommen und von den Seldwylern bestaunt; er erzählt der Mutter und der Schwester am Abend das, was er während seiner Abwesenheit erlebt hat, in einer Kurzfassung (S. 24 ff.). Diese Erzählung wird unterbrochen (56) und am nächsten Morgen fortgesetzt (bis S. 60); es folgt ein summarischer Bericht vom neuen Leben der Familie im Hauptort des Kantons (60). Pankraz nennt als die Moral seiner Geschichte, „daß er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei“ (60). – Damit ergibt sich die Fragestellung: 1. Wie sah die Unart des Schmollens bei ihm aus? 2. Wie ist er von dieser Unart geheilt worden?

Pankraz wächst in Seldwyla in kümmerlichen Verhältnissen als Sohn einer Witwe zusammen mit seiner jüngeren Schwester Esther auf (13 f.). Er ist ein eigenartiger Junge von 14 Jahren, der kaum Kontakt mit anderen hat (14 f.). „Im übrigen war es ein eigensinniger und zum Schmollen geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte.“ (14) Mutter und Schwester arbeiten in Heimarbeit, um etwas Geld zu verdienen; Esther ärgert ihren Bruder gelegentlich beim Essen, worauf Pankraz den Löffel wegwarf, „lamentierte und schmollte“ (15) und die Mutter von ihrem Essen den Kindern abgab. Pankraz lernt nichts als ein „künstliche Art zu schmollen, mit welcher er seine Mutter, seine Schwester und sich selbst quälte“ (16); über Esthers Fröhlichkeit nach einem Streit ärgert er sich, schmollt „immer länger Zeiträume hindurch“ und weint heimlich „aus selbstgeschaffenem Ärger“ (16). Er beginnt bald, in der Gegend umherzustreifen, „um zu sehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben und erleiden könne“ (16). Darüber erstarkt er, wird aber einmal selber verprügelt und am gleichen Tag von der Schwester um einen Teil seines Essens gebracht (17), wie bereits erwähnt. Er verschwindet in der Nacht und bleibt 15 Jahre weg. „Das war ein langes und gründliches Schmollen…“ (17); dabei war er vorher schon „unzählige Male schmollend zu Bett gegangen“ (21) und Esther hatte „den Schmollenden tausendmal ausgelacht“ (21).

Da war einst ein heller schöner Sommernachmittag“ (18), so beginnt der Erzähler den Bericht von der Heimkehr Pankraz’; drei kleine Sensationen beleben Seldwyla an diesem Tag und Esther ahnt, dass ihr Bruder heimkehrt, als ein feiner Herr im offenen Reisewagen erscheint und sich als der völlig veränderte Sohn und Bruder vorstellt (20 f.): Er ist höflich und freundlich, umarmt die Mutter, hat für ein gutes Essen und Trinken gesorgt und bekennt von dem Löwen, dessen Fell er mitgebracht hat, der sei sein „Lehrer und Bekehrer“ gewesen und habe ihm stundenlang „so eindringlich gepredigt, dass ich armer Kerl endlich von allem Schmollen und Bössein für immer geheilt wurde“ (22). Die aufdringlichen Leute von Seldwyla schickt er nach einiger Zeit freundlich fort, um dann beim Kerzenschein seine Geschichte zu erzählen (24). Er knüpft dabei an seine Flucht aus dem Elternhaus an und erklärt, dass sein früherer Groll sich „nicht gegen euch, sondern gegen mich selbst, gegen diese Gegend hier, diese unnütze Stadt, gegen meine ganze Jugend“ (25) richtete; der geheime Grund seines häuslichen Schmollens sei gewesen „das nagende Gefühl, dass ich mein Essen nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts tat, ja weil mich gar nichts reizte zu irgend einer Beschäftigung“ (25). Der Erzähler erwähnt am Rande „die herbe und bittere Gemütsart“ Pankraz’ (24), die sein Wesen in der Fremde konserviert habe.

Sein Leben ist, kurz skizziert, nach der Flucht so verlaufen (25 ff.): Er hat sich durch Gelegenheitsarbeit beim Wandern nach Hamburg durchgeschlagen, ist nach Amerika und zurück gefahren, hat sich als englischer Soldat verdingt und in Indien lange dient, hat wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte seinen Abschied genommen und in Paris sich entschieden, in die französisch-afrikanische Armee einzutreten; bei einer Löwenjagd wäre er fast umgekommen und hat im Angesicht des Löwen beschlossen, sein Leben zu ändern und heimzukehren.

Als Soldat war er ordentlich und zuverlässig, wobei ihm sein Schmollwesen zustatten kam, „indem es mir eine vortreffliche lautlose Pünktlichkeit und Aufmerksamkeit erleichterte“ (29). Er wird befördert und zum Kommandeur als dessen Bursche delegiert, wo er dessen schöne Tochter Lydia kennenlernt; sie scheint anders als alle Frauen zu sein (32 f.); er ändert sein Frauenbild (33-35), erfreut sich an ihrem Anblick und schweigt lange, bis er sich eines Tages in sie verliebt, als sie sich ihm nähert (37); er hält sich weiterhin zurück und sucht unsicher sein Heil „in meiner alten wohlhergestellten Schmollkunst“ (39). Dass Lydia offensichtlich leidet, macht ihn unsicher. Da gibt sie ihm Skakespeares Werke zu lesen, der für ihn zum Verführer wird (40 f.), indem er ihn scheinbar erleuchtet: Er sieht Lydia im Licht der Skakespeareschen Gestalten, hält sich aber ein halbes Jahr zurück und beschließt, wieder zur Kompanie zurückzukehren. Am Abend seiner Abreise macht Lydia ihm eine Leidensszene (45 ff.); er gesteht ihr seine Liebe und wird zurückgewiesen – sie hat es endlich erreicht, dass sie auch bei ihm gesiegt hat. Nach einer Auseinandersetzung mit ihr geht er enttäuscht fort und wirft sich vor, durch sein eigenes Schmollwesen zu spät bemerkt zu haben, was für eine hohle Nuss Lydia trotz ihr Schönheit ist (51); dennoch hat er oft noch Sehnsucht nach ihr. Er erlebt sie noch einmal, wie sie sich mit „Hausnarren“ umgeben hat, die ihr den Hof machen (54 f.), nimmt dann endgültig Abschied von der Armee und tritt in Paris in französische Dienste. Seinen beiden Zuhörerinnen erklärt er am nächsten Morgen, dass er wegen seiner Schmollerei die von ihm geliebte Frau nicht eher durchschaut hat „und als ein neugestählter Schmoller aus Indien nach Afrika ging zu den Franzosen“ (56). Dort trifft er bei der Jagd auf den großen Löwen, den er erlegen will, aber zunächst nicht findet, und der mit ihm „ein ähnlich schmollendes Spiel trieb“ wie umgekehrt (57). In Gedanken an Lydia hat er sein Gewehr abgelegt, um an einer Quelle zu trinken, als der Löwe auftaucht und sie stundenlang einander gegenüberstehen. „Das war die bitterste Schmollerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieser Gefahr entränne, so wollte ich umgänglich und freundlich werden, nach Hause gehen und mir und andern das Leben so angenehm als möglich machen“ (58 f.). Zwei Soldaten retten ihn dann.

Seine Erzählung wird zweimal kurz unterbrochen, einmal von der Bemerkung des Erzählers, dass die beiden Frauen eingeschlafen sind (33), und dann von der anderen, dass Pankraz sie weckt (56), um am nächsten Morgen die Geschichte zu Ende zu erzählen – die Liebesgeschichte haben sie zu ihrem Bedauern nicht gehört und er weigert sich, sie zu wiederholen. Er wird ein geachteter, tüchtiger Bürger und nimmt das Wort Lydia nie mehr in den Mund.

Aus einer höheren Warte bedenkt Pankraz – ganz im Sinne des Erzählers, denke ich – nach seiner Rückkehr angesichts seiner Mutter und seiner Schwester „die menschliche Art und das menschliche Leben, und wie gerade unsere kleineren Eigenschaften, eine freundliche oder herbe Gemütsart, nicht nur unser Schicksal und Glück ausmachen, sondern auch dasjenige der uns Umgebenden und uns zu diesen in ein strenges Schuldverhältnis zu bringen vermögen, ohne dass wir wissen, wie es zugegangen, da wir uns unser Gemüt ja nicht selbst gegeben“ (23). Das ist denn auch das endgültige Wort zur Bedeutung der Novelle.

Die Zeitangaben des Erzählers und seines Helden sind insgesamt sehr unbestimmt: „einst“ (18), fünf Jahre (31), „ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber“ (35), ein halbes Jahr (42), „eines Tages“ (57). Auch wird weder die Geschichte der Familie noch die Flucht Pankraz’ datiert, ferner hat die Mutter keinen Namen – die Novelle hat den Charakter einer Parabel, die zeigt, wie unsere Gemütsart unser Geschick und das der uns Verbundenen bestimmt (s. die Gedanken Pankraz’, 23). Die Liebesgeschichte als Geschichte einer Täuschung und Enttäuschung, der scheuen Zurückhaltung und einer schamlosen Verführung zum Liebesbekenntnis verdient eine eigene Analyse.

Charles Dickens: Zwei Städte (1859) – gelesen

Boz (Ch. Dickens): Zwei Städte. Eine Erzählung in drei Büchern. Aus dem Englischen von Julius Heybt. Leipzig 1859

Die beiden Städte, die im Titel genannt werden, sind London und Paris. In London wird Charles Darnay von einem geschickten Anwalt und seinem Gehilfen Sydney Carton, der Darnay zum Verwechseln ähnlich sieht, davor bewahrt, in einem Hochverratsprozess aufgrund zweifelhafter Zeugenaussagen zum Tode verurteilt zu werden – in dem Zusammenhang hagelt es Kritik an der englischen Justiz und ihrer Neigung, fix Menschen vom Leben zum Tod zu befördern. Außerdem ist in London Tellsons Bank, bei der Lorry, ein älterer Herr, angestellt ist. Mit Lucie Manette fährt er nach Paris, um dort deren Vater, der sechzehn Jahre in der Bastille unschuldig gefangen war, in Empfang zu nehmen. Sie reisen mit ihm nach England; der geistig verwirrte Vater kommt nach und nach wieder zu sich und kann als Arzt arbeiten.

Darnay verliebt sich (neben anderen) in Lucie, heiratet sie und wird Vater zweier Kinder, von denen der Sohn stirbt. Darnay ist ein emigrierter französischer Adliger (Evrémonde), dessen Familie sich durch ihre Brutalität einen schlechten Namen gemacht hat. In diesem Zusammenhang wird das nutzlose luxuriöse Leben des französischen Königs und seines Adels gebrandmarkt. Darnay hat sich von seiner Familie losgesagt und auf sein Erbe verzichtet. Als ihn ein Hilferuf aus Frankreich erreicht, fährt er heimlich trotz mancher Bedenken in das von der Revolution erschütterte Paris; das Wüten der Revolutionäre und ihr unersättlicher Blutdurst wird ausführlich beschrieben.

Dort wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Sein Schwiegervater kommt mit Lucie, Lorry und zwei Angestellten nach Paris. Als ehemaliger Bastillengefangener, der von seinem früheren Angestellten Defarge 1789 befreit und versteckt worden war, kann er seinen Schwiegersohn frei bekommen; doch aufgrund einer zweiten Anzeige der Frau Defarge, deren Familie von der Familie Evrémonde aufs schlimmste geschändet worden war, wird er erneut verhaftet. Am Tag seiner Hinrichtung kommt Carton in seine Zelle, tauscht mit ihm die Kleider und geht aus Liebe zu Lucie für deren Mann gefasst in den Tod. Manette, seine Familie und die Angestellten können entkommen.

Ich habe den spannenden Roman mit Freude gelesen, weil sich die Zustände in England und Frankreich im späten 18. Jahrhundert anschaulich im Schicksal der Figuren spiegeln. Eine gewisse Melodramatik und die Tatsache, dass das Selbstopfer Cartons frühzeitig angekündigt wird, legen sich wie ein leichter Schleier über das großartige Bild zweier Städte im 18. Jahrhundert.

https://archive.org/details/bub_gb_a7YOAAAAQAAJ/page/n9/mode/2up?view=theater (Text)

https://www.projekt-gutenberg.org/dickens/2staedte/chap001.html (Text)

https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/eine-geschichte-aus-zwei-staedten/16241 (große Übersicht)

https://at.inbel.org/1513-a-tale-of-two-cities.html (kürzer)

https://www.meineleselampe.de/eine-geschichte-aus-zwei-staedten/ (etwas breiter)

https://www.lostinfactsandfiction.de/a-tale-of-two-cities/ (kurze Besprechung)

 

Fontane: Frau Jenny Treibel (1892) – gelesen

Jahrelang hatte ich „Frau Jenny Treibel“ im Bücherregal stehen; doch als ich kürzlich bei Ludwig Thoma oder Fritz Mauthner den Roman außerordentlich gelobt fand, habe ich mich entschlossen, ihn zu lesen – und habe es nicht bereut. In ihm wird die aus kleinen Verhältnissen emporgeheiratete Jenny Treibel, die von Gefühl und höheren Werten schwärmt, aber deren Sinn nur nach Geld und gesellschaftlichem Glanz steht, derart bloßgestellt, dass es eine wahre Pracht ist.

Es geht darum, wen Corinna, dynamische Tochter des Studienrats bzw. Gymnasialprofessors Schmidt, heiraten soll und darf. Ihr tüchtiger Vetter Marcell Wedderkopp liebt sie, aber sie hat sich in den Kopf gesetzt, den reichen Langweiler Leopold Treibel, Sohn einer Jugendfreundin ihres Vaters, als Mann zu gewinnen. Sie schafft es, dass Leopld Treibel sich mit ihr verlobt; aber er kann sich gegen seine Mutter nicht durchsetzen. Er schreibt seiner Verlobten nur täglich ein Briefchen und versichert sie seiner Treue, unternimmt aber nichts, so dass Corinna die Briefchen nicht einmal mehr liest: der Wendepunkt. Danach kommt sie im Gespräch mit der klugen verwitweten Haushälterin Schmolke und ihrem Vater zur Einsicht, dass ein aufrechter und tüchtiger Mann, eben ihr Vetter, besser ist als ein reicher Schlappschwanz. Es folgen die rasche Verlobung und Hochzeit, und am Ende sind alle zufrieden, auch die Schwiegertochter der Treibels, Helene, die unbedingt ihre Schwester Hildegard an den Mann (Leopold) bringen wollte.

Die Spannungen innerhalb der beiden Treibelfamilien sind eine Delikatesse für sich, die blende ich jetzt aus, ebenso die Herrenrunde der Gymnasiallehrer, die sich einigermaßen regelmäßig trifft, obgleich die meisten einander nicht leiden können und sich gegenseitig für beschränkt halten. Das große Essen zu Beginn erinnert mich an das Eingangsfest bei Buddenbrooks, obwohl es chronologisch umgekehrt sein müsste; aber ich kenne „Buddenbrooks“ schon lange und Fontanes Roman erst seit gestern. Thomas Mann erzählt vom Zerfall einer großen bürgerlichen Familie, Fontane kritisiert die aufgeblasene und hohle Bourgeoisie.

Eines verdient noch einen Hinweis, ein Wort Marcells, das er im Gespräch mit seinem Onkel und künftigen Schwiegervater äußert, als es darum geht, dass er Corinna eine Entschuldigung und ein „Sündenbekenntnis“ ersparen will; da erinnert er an einen jüdischen Spruch, „wonach es als ganz besonders strafwürdig gilt, ‚einen Mitmenschen zu beschämen’“. Das deckt sich mit einem Spruch Nietzsches: Was ist dir das Menschlichste? — Jemandem Scham ersparen.“ (Die fröhliche Wissenschaft, 274.)

Fazit: unbedingt lesenswert, große Literatur, phantastische Charakterisierung der Menschen! Die feine Ironie des allwissenden Erzählers zeigt sich im Untertitel „Wo sich Herz zum Herzen find’t“. Das ist der letzte Vers eines Gedichtes, das der junge Schmidt für die von ihm verehrte Jenny Bürstenbinder verfasst hatte – seines einzigen Gedichts – und das Jenny Treibel immer noch liebt und als Lied bei Festessen vortragen lässt, obwohl sie in Heiratsfragen keinen Deut dafür gibt, was das Herz ihres Sohnes Leopold sagt; und im Gespräch mit Willibald Schmidt tönt sie, sie wäre wahrscheinlich „als Gattin eines in der Welt der Ideen und vor allem auch des Idealen stehenden Mannes wahrscheinlich glücklicher geworden“, worauf Schmidt „Ach, Jenny…“ mit dem Ausdruck des ganzen Schmerzes eines verfehlten Lebens haucht und sich dann im Stillen freut, „daß er sein Spiel so gut gespielt habe“ – einfach großartig.

https://de.wikipedia.org/wiki/Frau_Jenny_Treibel

http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=6662

https://www.ndr.de/kultur/buch/Theodor-Fontane-Frau-Jenny-Treibel,weltliteratur138.html

Jenny Erpenbeck: Kairos (2021) – gelesen

In Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ wird die Geschichte einer großen Liebe in Ostberlin erzählt: Katharina ist 19 und Hans ihre erste große Liebe; Hans ist 53, ein Kulturschaffender, verheiratet, hat schon mehrere Liebschaften hinter sich und könnte wissen, dass die Verliebtheit der großen Liebe nicht von Dauer sein kann. Trotzdem rennt er sich in der Illusion der totalen Vertrautheit fest und erniedrigt schließlich Katharina, spielt sich zum Herrn ihrer Gefühle und Gedanken auf, als besäße er sie wie einen Gegenstand – es tut einem in der Seele weh, wenn man das liest. Das Verhältnis dauert mehrere Jahre, übersteht zwei große Trennungen, das Ende der DDR und eine Abtreibung und endet schließlich irgendwie. Nachgeschoben wird die Einsicht in die Akte des 1988 abgeschalteten IM Galilei, der Hans war; vorausgeschickt ist die Nachricht von seinem Tod – sie konnte an seinem Begräbnis nicht teilnehmen, weil sie gerade in Pittsburgh war, hat seiner aber mit ihrer Lieblingsmusik gedacht. Und sie hat aus zwei Kartons und ihrem Koffer die Geschichte ihrer Liebe rekonstruiert und erzählt, wobei die Erzählstimme sie immer nur Katharina und „sie“ nennt.

Neben der persönlichen gibt es zwei politische Ebenen, die aktuelle vom Ende der DDR, die nach meinem Empfinden die Sicht eines möchtegernsozialistischen Jammerossis zeigt, und – mit Hans’ Kindheit und seinem Umzug in die DDR verbunden – einige Impressionen des Dritten Reiches, darunter natürlich die berüchtigten Himmlerworte von den SS-Leuten, die auch beim Anblick von Leichenbergen anständig geblieben seien. Was diese Reminiszenzen im Roman zu suchen haben, verstehe ich nicht wirklich – vermutlich dienen sie dazu, die angebliche Aufarbeitung der NS-Zeit in der DDR und die Gesinnungskontrolle dort zu rechtfertigen, obwohl aktenkundig ist, dass auch in der DDR Biografien nach 1945 offiziell geschönt wurden.

Fazit: Die Geschichte einer jungen Frau, deren Liebe ausgebeutet wird, und eines alternden Mannes, hinter dessen Liebespathos Herrschsucht steht und die Sorge, wohin er wohl gehen könnte, wenn seine Frau ihn rausschmeißt – gelesen habe ich sie in Ahrenshoop, wo zufällig einige Liebesszenen des Paares gespielt werden, als Hans mit seiner Familie dort Urlaub macht und Katharina sich in der Nähe eingemietet hat. Für eine Einzelkritik hätte ich mir Notizen machen müssen; das habe ich nicht getan, ich war schließlich in Ahrenshoop im Urlaub.

https://www.perlentaucher.de/buch/jenny-erpenbeck/kairos.html (erste Übersicht)

https://www.swr.de/swr2/literatur/jenny-erpenbeck-kairos-100.html (informativ)

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/jenny-erpenbecks-roman-kairos-liaison-in-der-untergehenden-ddr-17512346.html (voll des Lobes)

https://www.sueddeutsche.de/kultur/jenny-erpenbeck-ddr-kairos-roman-1.5396827 (sehr klug, auch mit kritischen Tönen)

Ludwig Tieck: Glosse – ein Beispiel für Intertextualität, Analyse

Ludwig Tieck: Glosse

Liebe denkt in süßen Tönen,
Denn Gedanken stehn zu fern,
Nur in Tönen mag sie gern
Alles, was sie will, verschönen.

Wenn im tiefen Schmerz verloren
Alle Geister in mir klagen,
Und gerührt die Freunde fragen:
»Welch ein Leid ist Dir geboren?«
Kann ich keine Antwort sagen,
Ob sich Freuden wollen finden,
Leiden in mein Herz gewöhnen,
Geister, die sich liebend binden
Kann kein Wort niemals verkünden,
Liebe denkt in süßen Tönen.

Warum hat Gesangessüße
Immer sich von mir geschieden?
Zornig hat sie mich vermieden,
Wie ich auch die Holde grüße.
So geschieht es, daß ich büße,
Schweigen ist mir vorgeschrieben,
Und ich sagte doch so gern
Was dem Herzen sei sein Lieben,
Aber stumm bin ich geblieben,
Denn Gedanken stehn zu fern.

Ach, wo kann ich doch ein Zeichen,
Meiner Liebe ew‘ges Leben
Mir nur selber kund zu geben,
Wie ein Lebenswort erreichen?
Wenn dann alles will entweichen
Muß ich oft in Trauer wähnen
Liebe sei dem Herzen fern.
Dann weckt sie das tiefste Sehnen,
Sprechen mag sie nur in Thränen,
Nur in Tönen mag sie gern.

Will die Liebe in mir weinen,
Bringt sie Jammer, bringt sie Wonne,
Will sie Nacht seyn, oder Sonne,
Sollen Glückessterne scheinen?
Tausend Wunder sich vereinen,
Ihr Gedanken schweiget stille,
Denn die Liebe will mich krönen,
Und was sich an mir erfülle,
Weiß ich das, es wird ihr Wille
Alles, was sie will, verschönen.

Zur Form: Laut den „Epochen der deutschen Lyrik“, hrsg. von Walter Killy. Bd. 7 (dtv 1970) stammt das Gedicht aus Tiecks „Phantasus“ (1816) und hat dort die ersten vier Verse (das Motto) nicht gesondert, sondern nur in den vier Dezimen die Schlussverse kursiv gesetzt. Ich habe also einen Kompromiss gewählt, da es zur Form der Glosse gehört, dass die vier Schlussverse als kleines Gedicht den vier Strophen vorangestellt werden. In dieser Form steht es in Tiecks „Gedichte“, 1821/23, wie Paul Gerhard Klussmann es auch wiedergibt (Bewegliche Imagination oder Die Kunst der Töne. In: Gedichte und Interpretationen, Band 3: Klassik und Romantik. Hrsg. von Wulf Segebrecht. Reclam 1984 = 1998, S. 342 ff.).

Die „Glosse“ steht in einem Geflecht von Texten, das man ohne fremde Hilfe nicht durchschaut; ich verlasse mich auf die Hinweise Klussmanns. Ausgangspunkt ist folgendes Gedicht Tiecks (1799), das in seinem Essay „Die Töne“ steht (s. den Link unten!):

Weht ein Ton vom Feld herüber
Grüßt mich immerdar ein Freund,
Spricht zu mir: was weinst du Lieber?
Sieh, wie Sonne Liebe scheint:
Herz am Herzen stets vereint
Gehn die bösen Stunden über.

Liebe denkt in süßen Tönen,
Denn Gedanken stehn zu fern,
Nur in Tönen mag sie gern
Alles, was sie will, verschönen.
Drum ist ewig uns zugegen,
Wenn Musik mit Klängen spricht,
Ihr die Sprache nicht gebricht
Holde Lieb‘ auf allen Wegen,
Liebe kann sich nicht bewegen
Leihet sie [die Musik, N.T.] den Othem [Odem, N.T.] nicht.

Die ersten vier Verse der zweiten Strophe haben Friedrich Schlegel und Tiecks Schwester Sophie Bernhardi-Tieck jeweils zum Thema einer Glosse gemacht, die 1803 unter der Überschrift "Variationen“ in der Zeitschrift "Europa“ erschienen sind (s. Link unten!). Schlegel sei es gewesen, der die programmatische Bedeutung der vier Verse erkannt habe. Es folgen dort zwei weitere Glossen, von denen zumindest eine August Wilhelm Schlegel geschrieben hat. Tieck hat seine Glosse "Töne“ vermutlich bald nach den "Variationen“ geschrieben, dann im "Phantasus“ 1816 mit vier kursiv markierten Schlussversen veröffentlicht; in der Ausgabe seiner Gedichte 1821/23 hat er die vier Verse als Motto vorangestellt, wie bereits Schlegel in den "Variationen“. Ludwig Uhland hat, wobei er den ersten Vers des Mottos leicht verändert hat, die gefühlvolle Dichtung der Variationen“ 1815 in der Parodie "Der Rezensent“ auf die Schippe genommen:

Liebtet ihr nicht, stolze Schönen!
Selbst die Logik zu verhöhnen,
Würd ich zu beweisen wagen,
Daß es Unsinn ist zu sagen:
Süße Liebe denkt in Tönen.

Wir haben ein großes Beispiel für Intertextualität vor uns, die hier natürlich nicht in den Feinheiten entfaltet werden kann; dazu muss man mindestens Klussmanns Aufsatz lesen.
Das Motto, die ersten vier Verse, sind das romantische "Programm der Musikalisierung, das in Dichtung, Malerei und Musik den romantischen Weg nach Innen noch entschiedener vorantreiben sollte“ (Klussmann, S. 346); Schlegel hat mit seiner literarischen Partnerin die Form der Glosse in die deutsche Literatur eingeführt. Tieck hat, anders als Schlegel und seine Schwester, auf konkrete Bilder in seiner Glosse verzichtet und auf die Musikalität der Sprache gesetzt und durch das Spiel der Reime und die Elemente des Wortklangs die Verbindung zwischen den Sätzen hergestellt (Klussmann, S. 350).
Im Motto werden die süßen Töne der Musik den Gedanken gegenübergestellt: In Tönen denke die Musik, Gedanken als solche ständen ihr fern; mit Tönen verschöne sie "alles, was sie will“ (V. 4). Der etymologische Rückgriff auf „denken“ verbindet trotzdem die Gegensätze, die Laute "-önen“ beherrschen das Motto und seinen Kreuzreim.
Die vier Dezimen, die ich mit lateinischen Ziffern bezeichne, stehen unter dem Strukturprinzip von Frage und Antwort; dabei fällt auf, dass es keine Antwort auf die Fragen gibt: Kein Wort kann vom Inneren des Ichs künden (I 9), ihm ist Schweigen vorgeschrieben (II 6); ein Lebenswort hört das sprachlose Ich nur in Tränen und Tönen (III 9 f.). Die Gedanken haben zu schweigen, wenn die Liebe ihr Werk "krönen / verschönen“ vollbringt (IV 6 ff.). Gesangessüße und Lebenswort, zwei Neologismen, sind nach Klussmann die zentralen Begriffe, mit denen das Wirken des Liebesmusik umschrieben wird. 
Man sollte nicht versuchen, sachlich-logische Beziehungen zwischen den verschiedenen Aussagen herzustellen. Solche Versuche scheitern: Warum hat sich die Gesangessüße etwa vom Ich "geschieden“ (II 2), während gleichzeitig die Gedanken fernstehen (II 10)? Woher weiß das Ich, dass es von der Liebe gekrönt werden soll (IV 7)? Solche Fragen darf man an dieses Gedicht nicht stellen, man muss einfach dem Strom der Laute zuhören, die Abfolge der unanschaulichen Topoi hinnehmen – oder eben wie Uhland die Glossen über die Liebesmusik parodieren.
Die Dezimen bestehen aus vierfüßigen Trochäen. Das Reimschema ist a – b – b – a – b – c – d – c – c – d; in der Mitte der Dezime ist also bei der Lautung ein Einschnitt, während für die Fragen vier bzw. zwei Verse (so nur in II) vorgesehen sind. Die "Glosse“ ist eines der Programmgedichte der Romantik, vielleicht sogar das entscheidende.

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6847.html (Ludwig Tieck)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Tieck (dito)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/lebensgeschichte-und-literarisches-schaffen-3 (dito)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Wackenroder,+Wilhelm+Heinrich/Schriften+und+Dichtungen/Phantasien+%C3%BCber+die+Kunst+f%C3%BCr+Freunde+der+Kunst/Zweiter+Abschnitt/8.+Die+T%C3%B6ne (Tieck: Die Töne, in Wackenroder: Phantasien über die Kunst…, 1799)

http://homepage.univie.ac.at/konstanze.fliedl/VO_Gedichte_WS_2013/Gedichte-04.ppt (Präsentation zu Tiecks „Glosse“)

https://archive.org/details/bub_gb_pRJGAAAAcAAJ/page/n81/mode/2up („Variationen“, in: Europa. Eine Zeitschrift, 1803, S. 78 ff.)

https://www.babelmatrix.org/works/de/Schlegel%2C_Friedrich_von-1772/S%C3%BCsse_Liebe_denkt Schlegels Glosse

https://gedichte.xbib.de/Uhland_gedicht_1.+Der+Rezensent.htm (Uhland: Der Rezensent)

https://de.wikipedia.org/wiki/Glosa_(Kunst) (Gedichtform Glosse)

https://www.jewiki.net/wiki/Glosse_(Gedichtform) (dito)

https://wortwuchs.net/gedichtformen/ (Gedichtformen)

https://abi.unicum.de/abitur/abitur-lernen/romantik-epoche (Romantik)

https://www.schreiben.net/artikel/romantik-epoche-3771/ (Romantik)

Ludwig Tieck: Wunder der Liebe – Text und Analyse

Ludwig Tieck: Wunder der Liebe

Glosse.

Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält,
Wundervolle Märchenwelt,
Steig‘ auf in der alten Pracht!

Liebe läßt sich suchen, finden,
Niemals lernen, oder lehren,
Wer da will die Flamm‘ entzünden
Ohne selbst sich zu verzehren,
Muß sich reinigen der Sünden.
Alles schläft, weil er noch wacht,
Wenn der Stern der Liebe lacht,
Goldne Augen auf ihn blicken,
Schaut er trunken von Entzücken
Mondbeglänzte Zaubernacht.

Aber nie darf er erschrecken,
Wenn sich Wolken dunkel jagen,
Finsternis die Sterne decken,
Kaum der Mond es noch will wagen,
Einen Schimmer zu erwecken.
Ewig steht der Liebe Zelt,
Von dem eignen Licht erhellt,
Aber Mut nur kann zerbrechen,
Was die Furcht will ewig schwächen,
Die den Sinn gefangen hält.

Keiner Liebe hat gefunden,
Dem ein trüber Ernst beschieden,
Flüchtig sind die goldnen Stunden,
Welche immer den vermieden,
Den die bleiche Sorg‘ umwunden;
Wer die Schlange an sich hält,
Dem ist Schatten vorgestellt,
Alles, was die Dichter sangen,
Nennt der Arme, eingefangen,
Wundervolle Märchenwelt.

Herz, im Glauben auferblühend,
Fühlt alsbald die goldnen Scheine,
Die es lieblich in sich ziehend
Macht zu eigen sich und seine,
In der schönsten Flamme glühend.
Ist das Opfer angefacht,
Wird‘s dem Himmel dargebracht;
Hat dich Liebe angenommen,
Auf dem Altar hell entglommen
Steig‘ auf in der alten Pracht.

Zum Ort des Gedichts: „Ludwig Tieck (1773-1853) stellte ans Ende des »Der Aufzug der Romanze« betitelten Prologs zu seinem Lustspiel »Kaiser Octavianus« (1804) die Verse: »Mondbeglänzte Zaubernacht, / Die den Sinn gefangen hält, / Wundervolle Märchenwelt, / Steig auf in der alten Pracht!« Mit dem von ihm geprägten Wort »Waldeinsamkeit« (im Kunstmärchen »Der blonde Eckbert«, 1797) wurde die »mondbeglänzte Zaubernacht« zum zweiten charakteristischen Begriff für die Naturauffassung und die symbolische Poetik der Romantik.“ (Universal-Lexikon) Was steht hinter dieser Karriere der mondbeglänzten Zaubernacht?

Das Gedicht ist in der Form der Glosa oder Glosse (s. die Links!) verfasst, hat also einen spielerischen Hauch an sich: Die vier Verse der ersten Strophe bilden die letzten Zeilen der vier restlichen Strophen, die Form ist vorgegeben. In der ersten Strophe wird die „[m]ondbeglänzte Zaubernacht persönlich angesprochen und gebeten, „in der alten Pracht“ (V. 4) aufzusteigen. In diesen vier Versen zeigt sich schon die Eigenart des frühromantischen Gedichts von 1804. Die Zaubernacht ist eine märchenhafte Größe, die ja auch in der Apposition „[w]undervolle Märchenwelt genannt wird; mondbeglänzt kann eine Landschaft oder ein Gebäude sein, aber nicht die Nacht selbst – eine beglänzte, eigentlich finstere Nacht ist eine paradoxe Größe, etwas Überirdisches, weshalb sie auch den Sinn, den Verstand (?) gefangen hält (V. 2). Nach Adelung ist der Sinn eigentlich „die Fähigkeit zu empfinden“, übertragen dann u.a. die Fähigkeit, zu erkennen und zu beurteilen (der Verstand) oder auch die Fähigkeit „zu wollen, sich nach Vorstellungen zu bestimmen“. Die Zaubernacht überwältigt also den Menschen; sie wird jetzt gebeten (Imperativ), „in der alten Pracht“ aufzusteigen: Es hat sie also früher schon gegeben, zwischenzeitlich lag sie darnieder, jetzt soll sie wieder aufstehen, auferstehen – das nennen wir Romantik. Die vier Verse bestehen aus vier Trochäen, deren letzter unvollständig ist (männliche Kadenz), was eine kleine Pause im Sprechen einfordert. Betont sind „Mond-, Zauber-, Sinn, gefangen-, Wunder-, Märchen-, auf, alten, Pracht“. Die Verse sind im Kreuzreim verbunden, die „Zaubernacht“ kommt „in der alten Pracht“.

Detlef Kremer hat in seinem Buch „Romantik“ (2. Aufl. 2003) Tiecks Dichtung so charakterisiert: Die Sprache bewege sich in der Nähe der Musik, Worte könnten die wahre Natur nicht benennen. „Die musikalisch-klangliche Dimension des poetischen Gedichts bekommt nichts weniger zur Aufgabe, als den Zusammenhang aller Elemente zu beschwören und die in rationaler Perspektive getrennten Sphären der Welt, oben und unten, innen und außen, Subjekt und Objekt, zu vereinigen.“ (S. 290) Die mondbeglänzte Zaubernacht beschreibe genauso wie die Waldeinsamkeit oder die blaue Blume keine Gegenstände in der Natur, sondern sie seien „als allegorische Chiffren angelegt, die jedoch nicht mit einem feststehenden, sondern mit einem vagen, immer in der Schwebe bleibenden Bedeutungswert ausgezeichnet sind“ (S. 292).

Die Überschrift „Wunder der Liebe“ mutet bisher befremdlich an und erschließt sich erst in den vier großen Strophen. Die erste beginnt mit einem Lehrsatz: „Liebe läßt sich suchen, finden, / Niemals lernen oder lehren“ (I 1 f.) Das ist eine Lebenserfahrung, vielleicht lässt sie sich sogar nicht einmal suchen; in den folgenden Versen wird eine Bedingung dafür genannt, dass der Liebeswillige „die Flamm‘ entzünden“ kann (I 3-5): von Sünden befreit, also rein sein. In den folgenden fünf Versen wird dann angedeutet, wie die Liebe erwacht. Drei Hauptsätze stehen unverbunden nebeneinander (I 6-10): 1. Alles schläft. 2. Goldne Augen blicken auf ihn. 3. Er schaut trunken… Ich schlage vor, den weil-Satz mit seinem temporalen Nebensatz „wann…“ als Begründung für den zweiten Hauptsatz zu lesen. Der Stern der Liebe wird also vom Wachenden erblickt, bzw. goldene Augen blicken auf ihn, so dass er „trunken vor Entzücken“ die mondbeglänzte Zaubernacht erblickt: das Wunder der Liebe. Man könnte hier poetisch umschrieben finden, wie ein liebevoller Blick die Liebe entzündet und Verliebtsein bewirkt: Der Angeschaute ist hin und weg, mondbeglänzte Zaubernacht. V. 4 der Eingangsstrophe passt gut in den Zusammenhang. Die Reimform ist a – b – a – b – a – c – c – d – d – c, eine wunderbare melodische Folge; die Verse bestehen (bis auf den abschließenden I 10) aus vier vollständigen Trochäen, die Reime bzw. die reimenden Verse passen semantisch zusammen (bis auf I 2 / 4).

Die nächste Strophe ist von zwei Kontrasten bestimmt: Dunkel / Licht und Mut / Furcht. Weil „der Liebe Zelt“ im eigenen Licht steht (II 6 f.), braucht Dunkelheit den Liebenden nicht zu erschrecken (II 1-5). Woher diese Dunkelheit stammt, selbst der glänzende Mond kaum Licht gibt (II 4 f.), wird nicht gesagt; es könnten äußere hinderliche Umstände sein, die jedoch dem Licht der Liebe nichts anhaben können. Der Schluss der Strophe ist dagegen rätselhaft (II 8-10): Das adversative „Aber“ leitet den Hauptsatz ein; das Objekt zu „zerbrechen“ steht im ersten Relativsatz (II 9), wobei das völlig unbestimmte „Was“ das Objekt bezeichnet, welches die Furcht schwächen will (oder ist „Was“ Subjekt und „die Furcht“ Objekt?): Das könnte vielleicht der zarte Faden der Liebe sein? Die Furcht wird dann in ihrer Wirkung in einem Relativsatz (II 10 = V. 2) bestimmt, der auch diesmal gut in den Kontext passt. Für die Form der zweiten großen Strophe gilt das Gleiche wie für die die erste, nur dass II 10 als Relativsatz von II 9 semantisch nicht zu II 6 f. passen kann.

Auch die dritte große Strophe ist von einem Kontrast bestimmt: Auf der einen stehen die, welche keine Liebe gefunden haben oder finden können (III 1-5), auf der anderen die, denen es gelingt (III 6-10). Die ersteren sind die Melancholischen (III 2) und die Besorgten (III 5); zu den anderen gehört der, „[w]er die Schlange an sich hält“ (III 6). Das ist einigermaßen rätselhaft gesprochen und bezieht sich wohl auf die märchenhafte Vorstellung von der Schlangenkönigin, wie sie in Novalis‘ Gedicht „Der Himmel war umzogen“ (s.u.) auftaucht: Das Ich sieht die Schlangenkönigin, nähert sich ihr und kann sie mit einer Zauberrute berühren: „So wunderbarerweise / Ward ich unsäglich reich.“ Dass dem, der die Schlange an sich hält, „Schatten vorgestellt“ ist (III 7), kann ich nicht schlüssig erklären (vielleicht ist steht er in der Sicht anderer im Schatten?), ebenso wenig, dass er ein Armer ist (III 9); „eingefangen“ (III 9) ist er, weil er im Bann der Schlange lebt, weshalb er auch die Dichtungen als wundervolle Märchenwelt versteht (III 8-10). Arm ist er vielleicht, weil er allein von der wundervollen Märchenwelt beschenkt werden kann. V. 3 passt wiederum gut in den Kontext der großen Strophe. Für die Form gilt das Gleiche wie für die zweite große Strophe.

In der letzten großen Strophe wird das Schicksal dessen beschrieben, der „im Glauben“ (IV 1) an die Märchenwelt (III 10) lebt: Er fühlt den von der Schlange ausgehenden goldenen Schein, macht ihn sich zu eigen und erglüht selber in der schönsten Flamme (IV 2-5). Ungewöhnlich ist der Plural „die Scheine“ (IV 2, reimbedingt), ebenso die Konstruktion um das Verb „sich zu eigen machen“, wo „seine“ im Sinn von „zu den seinen“ zu lesen ist. Mit dem Nomen „Glauben“ (IV 1) und dem Bild des Glühens (IV 5) ist die Deutung des Liebesgeschehens in religiösen Metaphern (IV 6-10) vorbereitet: Der in der Liebe Erglühende ist ein „Opfer“ (IV 6 f.), das auf dem Altar verbrennt, bis es „entglommen“ ist (IV 9, ein Neologismus, im Sinn von „verglimmen“). Die Liebe (IV 8) = der Himmel (IV 7) nimmt das Opfer an. Vers 4 passt nicht ganz in den Kontext: Richtig wäre das finite Präsens „Du steigst auf“ statt des Imperativs „Steig‘ auf“, weil das Opfer ja schon von der Liebe angenommen ist, also seinerseits nicht mehr zum Aufsteigen aufgefordert werden muss; der Zusammenhang IV 8 / 9 f. lässt sich am einfachsten konditional verstehen (wenn / dann). Die Reime in der ersten Hälfte passen außer IV 1 / 5 nicht recht zueinander, dafür passt jedoch IV 10 zu IV 6 f.

Meine analytischen Bemerkungen sollen entschleiern, was sprachlich unklar sein könnte; sie können aber natürlich nicht die Wunder der Liebe erklären oder dem sprachlichen Zauber des Gedichts gerecht werden.

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6847.html (Ludwig Tieck)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Tieck (dito)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/lebensgeschichte-und-literarisches-schaffen-3 (dito)

https://norberto42.wordpress.com/2021/01/31/novalis-der-himmel-war-umzogen-text-und-analyse/ (Novalis: Der Himmel war umzogen, zum Bild der Schlangenkönigin)

https://de.wikipedia.org/wiki/Glosa_(Kunst) (Gedichtform Glosse)

https://www.jewiki.net/wiki/Glosse_(Gedichtform) (dito)

https://wortwuchs.net/gedichtformen/ (Gedichtformen)

https://abi.unicum.de/abitur/abitur-lernen/romantik-epoche (Romantik)

https://www.schreiben.net/artikel/romantik-epoche-3771/ (Romantik)