Kafka: Die Verwandlung, Motiv: Vater-Sohn-Konflikt

Die Absätze aller drei Kapitel werden wieder mit arabischen Ziffern gezählt, damit Leser unterschiedlicher Ausgaben diese Untersuchung nutzen können.

Vorgeschichte: Gregor hat an einem ungeliebten, anstrengenden Beruf festgehalten, um die Schuld der Eltern an seinen Chef abzubezahlen (I 4-6). Er hält durch seine Arbeit alle aus, liefert sein Verdienst fast vollständig ab (II 12); es hat sich sogar etwas Vermögen gebildet, welches der Vater verwaltet (II 12, 14). Der Vater frühstückt stundenlang (I 24), während Gregor um vier Uhr morgens aufstehen muss (I 7). Keiner aus der Familie außer Gregor arbeitet ( II 12); der Vater ist träge und fett geworden (II 15). Nur die Schwester lässt es nicht an Wärme gegen Gregor fehlen (II 12).

Eines Nachts wird Gregor in ein Ungeziefer verwandelt (I 1) und verschläft das Aufstehen (I 7). Gregor befürchtet Vorwürfe des Chefs an seine Eltern wegen des faulen Sohnes (I 7). Er sorgt sich um die Eltern, falls er die Arbeit verlöre (I 17, 25, 27), und bittet den Prokuristen um Schonung für seine Eltern (I 18). Er denkt an den Vater als Helfer beim Aufstehen (I 13).

Der Vater mahnt heftiger und ungeduldiger als die Mutter zum Aufstehen (I 7, 16); er schickt nach dem Schlosser, um Gregors Zimmertür gewaltsam öffnen zu lassen (I 20). Er ballt die Faust gegen Gregor (I 223) und scheucht ihn schließlich mit Stock und Zeitung in sein Zimmer zurück (I 27): unerbittlich, mit Zischlauten, mit einem Stock drohend. Er gibt dem in der Tür feststeckenden Gregor einen starken Stoß, wodurch Gregor ins Zimmer fliegt und verletzt wird, und schlägt die Tür zu (I 27).

In Kap. I wird also erzählt, wie Gregor nach der Verwandlung von der Sorge um die Familie erfüllt ist, während der Vater als einziger feindselig gegen ihn auftritt, ihn verjagt und verletzt; dabei ist Gregor der, der als einziger für den Unterhalt der ganzen Familie aufgekommen ist.

Während Gregor im Fortgang des Geschehens (Kap. II) auf die Familie Rücksicht nimmt (II 6) und sich schämt, dass die anderen jetzt arbeiten müssen (II 15), versorgt ihn die Schwester als einzige widerwillig und voll Abscheu (II 2 ff.); die Familie ist bedrückt (II 10, 11). Als jedoch die Mutter beim Anblick Gregors in Ohnmacht fällt, droht jene ihm mit erhobener Faust (II 27) und informiert den Vater: „Gregor ist ausgebrochen.“ (II 28) Der Vater ist gegenüber früher wie verwandelt (II 29), tritt übermächtig auf und verfolgt Gregor: Er bombardiert ihn mit Äpfeln und verletzt ihn, so dass die Mutter „in gänzlicher Vereinigung mit ihm“ um Schonung für Gregor bittet.

Die Situation hat sich gegenüber dem ersten Tag verschärft: Der Vater ist erstarkt, die Schwester ist auf seine Seite getreten, die Verfolgung und Verwundung Gregors durch den Vater sind stärker geworden.

Über einen Monat bleibt die Situation dann im Wesentlichen unverändert, so dass Gregor glaubt, er werde wegen der Verwundung geschont und gelte noch als „ein Familienmitglied“ (III 1); abends lässt man die Tür zu Gregors Zimmer ein wenig offen (III 2), der Vater schläft abends regelmäßig ein (III 3-5), seine Uniform verschmutzt, er hat seinen Schrecken verloren. Man lässt aber Gregors Zimmer verdrecken (III 7) und zur Rumpelkammer verkommen (III 9) – Gregor ist voller Wut über die schlechte Wartung (III 7). Er isst nun „fast gar nichts mehr“ und ist „zum Sterben müde und traurig“ (III 9), er geht freiwillig auf den Tod zu.

Nach dem Eklat mit den Zimmerherrn beim Violinspiel der Schwester (III 15) ergreift diese die Initiative: Sie fordert wiederholt heftig, man müsse Gregor loswerden, weil er bloß ein Tier sei (III 17, 20, 25); der Vater stimmt ihr zu (III 18), sie schließen sich zum neuen Paar zusammen (III 25, 26). Man sperrt Gregor in seinem Zimmer ein (III 28); er meint noch entschiedener als seine Schwester, verschwinden zu müssen, und stirbt (III 29). „Nun,“ sagte Herr Samsa, „jetzt können wir Gott danken.“ (III 31)

Gregors Schwester wird zu seiner offenen Feindin und verbündet sich noch inniger mit dem Vater, um Gregor zu beseitigen; er stirbt freiwillig.

Auswertung/Interpretation

  1. Der Vater-Sohn-Konflikt wird in der Erzählung „Die Verwandlung“ im Rahmen der Familie ausgetragen. Das sieht man schon daran, dass häufig die Aktionen und Reaktionen der drei anderen Mitglieder berichtet werden, vom Wecken am Unglücksmorgen (I 7) bis zum Ausflug nach Gregors Tod (III 34). Gregor selber nennt die Familie als die Größe, für die er gearbeitet hat (s.o., vor allem II 12) und in der er lebt; für ihn ist nämlich entscheidend, „daß Gregor trotz seiner gegenwärtigen und ekelhaften Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht wie einen Feind behandeln durfte, sondern demgegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden“ (III 1).
  2. Durch die Verwandlung wird seine Rolle in der Familie verändert:
  • Er verliert seine Bedeutung als Ernährer der Familie. Er hatte „der erstaunten und beglückten Familie zu Hause“ das Geld auf den Tisch legen können (II 12); niemand brauchte zu arbeiten. Mit der Verwandlung entfällt diese Rolle Gregors (I); der Vater gewinnt neue Macht über ihn (I 27) und drängt ihn gewaltsam in sein Zimmer zurück. Er erscheint Gregor sogar wie verwandelt und verletzt ihn beinahe tödlich (II 29).
  • Allerdings hatte sich das ursprüngliche Ansehen Gregors im Lauf der Zeit schon verloren. „Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe geblieben […].“ (II 12). Mit der Verwandlung verliert er auch die Zuneigung der Schwester, die ihn nur noch voller Abscheu versorgt (II).
  • Die Mutter scheint sich zwar anfangs für ihn einzusetzen (I 16 – das könnte aber auch dem Versorger der Familie gelten), kann jedoch seinen Anblick nicht ertragen und flüchtet sich wie selbstverständlich zum Vater (I 27, II 29).
  • Als sich die Schwester mit dem Vater gegen Gregor verbündet (II 28, III 25 f.), fordert sie, Gregor aus der Familie zu entfernen, weil er bloß noch ein Tier sei (III 17 ff.).
  • Gregor, schon lebensmüde (III 9), macht sich in seiner Schwäche diesen Wunsch zu eigen und stirbt (III 29). Ohne ihn lebt die Familie auf (III 30 ff.).

3. Wenn man die Verwandlung als einen „Aufstand“ Gregors gegen die Familie verstehen will, wäre dieser völlig missglückt. Wenn man sie als schicksalhaftes Ereignis versteht, wäre sie Strafe für sein verfehltes Leben: Er hat sich der schmarotzenden Familie untergeordnet, sich mit dem Bild einer schönen Frau, „das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte“ (I 2), begnügt und auf ein eigenes Leben verzichtet (I 16); dafür wird er jetzt bestraft, indem man ihn in sein Zimmer einsperrt. Wenn man die Verwandlung als Auswirkung väterlicher Macht versteht, wäre sie der entscheidende Schritt, mit dem Gregors vaterähnliche Versorgerrolle beendet wird und der Vater seine Übermacht (er verwaltet das Geld, II 12) sowohl zeigt wie festigt (II 29), und zwar im Verein mit der Schwester. – Durch die Verwandlung wird Gregors Rolle in der Familie geschwächt; er wird überflüssig und lästig. Folgerichtig verschwindet er als „Untier“ (III 17) aus diesem Verbund, in dem es für ihn Liebe und „Glanz“ nur um des Geldes willen gegeben hatte (II 12).

Es dürfte klar sein, dass der Vater-Sohn-Konflikt auch das zentrale Motiv von Kafkas Erzählungen „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ ist. Hinzu kommt der große „Brief an den Vater“ – man muss sich aber davor hüten, diesen Brief als Dokumentation des realen Lebens der Familie Kafka zu lesen; er ist ein Dokument von Franz Kafkas Erleben oder seiner Sicht des Verhältnisses – und als solches kann man es zur Interpretation der beiden Erzählungen (beide älter als der Brief) heranziehen.

Ich nenne zum Schluss der Linkliste einige mehr oder weniger oberflächliche Untersuchungen zum Vater-Sohn-Konflikt in den beiden Erzählungen. Ich erinnere noch daran, dass Kafka selber 1913 die drei Erzählungen „Der Heizer“, „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ unter der Überschrift „Söhne“ herauszugeben vorgeschlagen hat; 1915 hat er dann die Erzählungen „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ und „In der Strafkolonie“ unter dem Titel „Strafen“ zu veröffentlichen angeregt.

http://limotee.blogspot.de/2012/08/vater-sohn-konflikt.html (Vater-Sohn-Konflikt: das Motiv in der Literatur)

http://www.studentshelp.de/p/referate/02/6804.htm (Vater-Sohn-Konflikt in der Literatur)

http://www.lesekost.de/themen/HHLTH15.htm (dito: Titel, mit Sekundärliteratur)

http://www.erf.de/online/uebersicht/politik-und-gesellschaft/die-fuenf-tragischsten-vater-sohn-konflikte/2270-542-3775 (Fünf große Vater-Sohn-Konflikte)

http://www.kafkaesk.de/franz-kafka/kafka-familie-freunde/hermann-kafka/verhaeltnis-kafka-vater.html (Vater-Sohn-Konflikt als Zeitphänomen um 1900)

http://www.deutschlandfunk.de/ein-besonderer-vater-sohn-konflikt.700.de.html?dram:article_id=83592 (Vater-Sohn-Konflikt bei Thomas Mann)

http://www.huepertexte.de/cms/Joomla/index.php?option=com_content&task=view&id=545&Itemid=53 (Vater-Sohn-Konflikt: U-Ideen)

http://www.academia.edu/6082144/Der_Vater_Sohn-Konflikt_als_Hauptthema_in_Franz_Kafkas_fru_hen_Erz%C3%A4hlungen (Der Vater / Sohn-Konflikt als Hauptthema in Franz Kafkas frühen Erzählungen – Bachelorarbeit an einer katholischen Uni in Italien – oberflächlich, Niveau einer Facharbeit)

http://www.fvss.de/assets/media/jahresarbeiten/deutsch/Kafka.pdf (Vater-Sohn-Beziehung bei Kafka, Facharbeit einer Schülerin)

Vgl. auch https://norberto42.wordpress.com/2016/02/27/verwandlungen-als-kafkas-kernmotiv/ und https://norberto42.wordpress.com/2016/02/12/kafka-motiv-der-verwandlung/!

Verwandlungen als Kafkas Kernmotiv

Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung, Innsbruck 2008, schreibt über Kafkas Verwandlungsgeschichten: „Verwandlungen sind Kafkas Kernmotiv und zugleich das prägende Gestaltungsprinzip seiner Texte…“ (S. 160)

Diese und weitere Analysen zu Kafka: Die Verwandlung, findet man auf dem Lehrermarktplatz (https://lehrermarktplatz.de/material/806/franz-kafka-die-verwandlung-analysen).

 

Kafka: Die Verwandlung // Brief an den Vater

Ich möchte einige Stellen aus Kafkas „Brief an den Vater“ (1919, erst postum veröffentlicht) zitieren, die zu Passagen in „Die Verwandlung“ in Beziehung gesetzt werden können. Ich habe also den Text des Briefs vorsortiert – arbeiten damit muss jeder selber. Ich greife auf die Ausgabe von 1994 (wikisource) zurück, weil dort die Abschnitte benennbar und relativ klein sind; die Ausgabe bei zeno.org hat immerhin eine Seitenzählung (Ausgabe 1950).

1. Der Vater wertet alle(s) ab:

„Nun behieltest Du ja mir gegenüber tatsächlich erstaunlich oft recht, im Gespräch war das selbstverständlich, denn zum Gespräch kam es kaum, aber auch in Wirklichkeit. Doch war auch das nichts besonders Unbegreifliches. Ich stand ja in allem meinem Denken unter Deinem schweren Druck, auch in dem Denken, das nicht mit dem Deinen übereinstimmte und besonders in diesem. Alle diese von Dir scheinbar unabhängigen Gedanken waren von Anfang an belastet mit Deinem absprechenden Urteil; bis zur vollständigen und dauernden Ausführung des Gedankens das zu ertragen, war [5c] fast unmöglich. Ich rede hier nicht von irgendwelchen hohen Gedanken, sondern von jedem kleinen Unternehmen der Kinderzeit. Man musste nur über irgendeine Sache glücklich sein, von ihr erfüllt sein, nach Hause kommen und es aussprechen und die Antwort war ein ironisches Seufzen, ein Kopfschütteln, ein Fingerklopfen auf den Tisch: „Hab auch schon etwas Schöneres gesehn“ oder „Mir gesagt, Deine Sorgen“ oder „ich hab keinen so geruhten Kopf“ oder oder „kein Ereignis!“ oder „Kauf Dir was dafür!“. Natürlich konnte man nicht für jede Kinderkleinigkeit Begeisterung von Dir verlangen, wenn Du in Sorge und Plage lebtest. Darum handelte es sich auch nicht. Es handelte sich vielmehr darum, dass Du solche Enttäuschungen dem Kinde immer und grundsätzlich bereiten musstest kraft Deines gegensätzlichen Wesens, weiter dass dieser Gegensatz durch Aufhäufung des Materials sich unaufhörlich verstärkte, so dass er sich schliesslich auch gewohnheitsmäßig [5d] geltend machte, wenn Du einmal der gleichen Meinung warst wie ich und dass endlich diese Enttäuschungen des Kindes nicht Enttäuschungen des gewöhnlichen Lebens waren, sondern, da es ja um Deine für alles massgebende Person ging, im Kern trafen. Der Mut, die Entschlossenheit, die Zuversicht, die Freude an dem und jenem hielten nicht bis zum Ende aus, wenn Du dagegen warst oder schon wenn Deine Gegnerschaft bloss angenommen werden konnte; und angenommen konnte sie wohl bei fast allem werden, was ich tat.

Das bezog sich auf Gedanken so gut wie auf Menschen. Es genügte, dass ich an einem Menschen ein wenig Interesse hatte – es geschah ja infolge meines Wesens nicht sehr oft – dass Du schon ohne jede Rücksicht auf mein Gefühl und ohne Achtung vor meinem Urteil mit Beschimpfung, Verleumdung, Entwürdigung dreinfuhrst. [6a] Unschuldige, kindliche Menschen wie z. B. der jiddische Schauspieler Löwy mussten das büssen. Ohne ihn zu kennen, verglichst Du ihn in einer schrecklichen Weise, die ich schon vergessen habe, mit Ungeziefer, und wie so oft für Leute, die mir lieb waren, hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der Hand. An den Schauspieler erinnere ich mich hier besonders, weil ich Deine Aussprüche über ihn damals mir mit der Bemerkung notierte: „So spricht mein Vater über meinen Freund (den er gar nicht kennt) nur deshalb, weil er mein Freund ist. Das werde ich ihm immer entgegenhalten können, wenn er mir Mangel an kindlicher Liebe und Dankbarkeit vorwerfen wird.“ Unverständlich war mir immer Deine vollständige Empfindungslosigkeit dafür, was für Leid und Schande Du mit Deinen Worten und mir [6b] zufügen konntest, es war, als hättest Du keine Ahnung von Deiner Macht. Auch ich habe Dich sicher oft mit Worten gekränkt, aber dann wusste ich es immer, es schmerzte mich, aber ich konnte mich nicht beherrschen, das Wort nicht zurückhalten, ich bereute es schon, während ich es sagte. Du aber schlugst mit Deinen Worten ohne weiters los, niemand tat Dir leid, nicht währenddessen, nicht nachher, man war gegen Dich vollständig wehrlos.“

2. Die Güte der Mutter:

„Es ist wahr, dass die Mutter grenzenlos gut zu mir war, aber alles das stand für mich in Beziehung zu Dir, also in keiner guten Beziehung. Die Mutter hatte unbewusst die Rolle eines Treibers in der Jagd. Wenn schon Deine Erziehung in irgendeinem unwahrscheinlichen Fall mich durch Erzeugung von Trotz, Abneigung oder gar Hass auf eigene Füsse hätte stellen können, so glich das die Mutter durch Gut-sein, durch vernünftige Rede (sie war im Wirrwarr der Kindheit das Urbild der Vernunft), durch Fürbitte wieder aus und ich war wieder in Deinen Kreis zurückgetrieben, aus dem ich sonst vielleicht, Dir und [11c]mir zum Vorteil ausgebrochen wäre. Oder es war so, dass es zu keiner eigentlichen Versöhnung kam, dass die Mutter mich vor Dir bloss im Geheimen schützte, mir im Geheimen etwas gab, etwas erlaubte, dann war ich wieder vor Dir das lichtscheue Wesen, der Betrüger, der Schuldbewusste, der wegen seiner Nichtigkeit selbst zu dem, was er für sein Recht hielt, nur auf Schleichwegen kommen konnte. Natürlich gewöhnte ich mich dann auf diesen Wegen auch das zu suchen, worauf ich, selbst meiner Meinung nach kein Recht hatte. Das war wieder Vergrösserung des Schuldbewusstseins.“

3. „Mein Schreiben“:

„Richtiger trafst Du mit Deiner Abneigung mein Schreiben und was, Dir unbekannt, damit zusammenhing. Hier war ich tatsächlich ein Stück selbständig von Dir weggekommen, wenn es auch ein wenig an den Wurm erinnerte, der, hinten von einem Fuss niedergetreten, sich mit dem Vorderteil losreisst und zur Seite schleppt. Einigermassen in Sicherheit war ich, es gab ein Aufatmen; die [19a] Abneigung, die Du natürlich gleich auch gegen mein Schreiben hattest, war mir hier ausnahmsweise willkommen. Meine Eitelkeit, mein Ehrgeiz litten zwar unter Deiner für uns berühmt gewordenen Begrüssung meiner Bücher: „Leg’s auf den Nachttisch!“ (meistens spieltest Du ja Karten, wenn ein Buch kam), aber im Grunde war mir dabei doch wohl, nicht nur aus aufbegehrender Bosheit, nicht nur aus Freude über eine neue Bestätigung meiner Auffassung unseres Verhältnisses, sondern ganz ursprünglich, weil jene Formel mir klang wie etwa: „Jetzt bist Du frei!“ Natürlich war es eine Täuschung, ich war nicht oder allergünstigsten Falles noch nicht frei. Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur dass er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief.“

4. Misslingen des Heiratens:

„Zunächst stellst du das Misslingen der Heiraten in die Reihe meiner sonstigen Misserfolge; dagegen hätte ich an sich nichts, vorausgesetzt, dass Du meine bisherige Erklärung des Misserfolgs annimmst. Es steht tatsächlich in dieser Reihe, nur die Bedeutung der Sache unterschätzt Du und unterschätzt sie derartig, dass wir, wenn wir miteinander davon reden, eigentlich von ganz verschiedenem sprechen. Ich wage zu sagen, daß Dir in Deinem ganzen Leben nichts geschehen ist, was für Dich eine solche Bedeutung gehabt hätte, wie für mich [21b] die Heiratsversuche. Damit meine ich nicht, dass Du an sich nichts so Bedeutendes erlebt hättest, im Gegenteil, Dein Leben war viel reicher und sorgenvoller und gedrängter als meines, aber eben deshalb ist Dir nichts derartiges geschehn. Es ist so wie wenn einer fünf niedrige Treppenstufen hinaufzusteigen hat und ein zweiter nur eine Treppenstufe, die aber so hoch ist, wie jene fünf zusammen; der Erste wird nicht nur die fünf bewältigen, sondern noch hunderte und tausende weitere, er wird ein grosses und sehr anstrengendes Leben geführt haben, aber keine der Stufen, die er erstiegen hat, wird für ihn eine solche Bedeutung gehabt haben, wie für den Zweiten jene eine, erste, hohe, für alle seine Kräfte unmöglich zu ersteigende Stufe, zu der er nicht hinauf und über die er natürlich auch nicht hinauskommt.

Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder, welche kommen wollen, hinnehmen, in dieser unsicheren Welt erhalten und gar noch ein wenig führen ist meiner Überzeugung nach das Äusserste, das einem Menschen überhaupt gelingen kann. Dass es scheinbar so vielen leicht gelingt, ist kein Gegenbeweis, denn erstens gelingt es tatsächlich nicht vielen und zweitens „tun“ es diese [21c] Nicht vielen meistens nicht, sondern es geschieht bloss mit ihnen; das ist zwar nicht jenes Äusserste, aber doch noch sehr gross und sehr ehrenvoll (besonders da sich „tun“ und „geschehn“ nicht rein von einander scheiden lassen). Und schliesslich handelt es sich auch gar nicht um dieses Äusserste, sondern nur um irgendeine ferne, aber anständige Annäherung; es ist doch nicht notwendig mitten in die Sonne hineinzufliegen, aber doch bis zu einem reinen Plätzchen auf der Erde hinzukriechen, wo manchmal die Sonne hinscheint und man sich ein wenig wärmen kann. […]

Ich will es näher zu erklären versuchen: Hier beim Heiratsversuch trifft in meinen Beziehungen zu Dir zweierlei scheinbar Entgegengesetztes so stark wie nirgends sonst zusammen. Die Heirat ist gewiss die Bürgschaft für die schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit. Ich hätte eine Familie, das Höchste, was man meiner Meinung nach erreichen kann, also auch das Höchste, was [24a] Du erreicht hast, ich wäre Dir ebenbürtig, alle alte und ewig neue Schande und Tyrannei wäre bloss noch Geschichte. Das wäre allerdings märchenhaft, aber darin liegt eben schon das Fragwürdige. Es ist zu viel, so viel kann nicht erreicht werden. Es ist so, wie wenn einer gefangen wäre und er hätte nicht nur die Absicht zu fliehen, was vielleicht erreichbar wäre, sondern auch noch undzwar gleichzeitig die Absicht, das Gefängnis in ein Lustschloss für sich umzubauen. Wenn er aber flieht, kann er nicht umbauen und wenn er umbaut kann er nicht fliehn. Wenn ich in dem besonderen Unglücksverhältnis, in welchem ich zu Dir stehe, selbständig werden will, muss ich etwas tun, was möglichst gar keine Beziehung zu Dir hat; das Heiraten ist zwar das Grösste und gibt die ehrenvollste Selbständigkeit, aber es ist auch gleichzeitig in engster Beziehung zu Dir. Hier hinauskommen zu wollen, hat deshalb etwas von Wahnsinn und jeder Versuch wird fast damit gestraft.

Gerade diese enge Beziehung lockt mich ja teilweise auch zum Heiraten. Ich denke mir diese Ebenbürtigkeit, die dann zwischen uns entstehen würde und die Du verstehen könntest wie keine andere, eben deshalb so schön, weil ich dann ein [24b] freier, dankbarer, schuldloser, aufrechter Sohn sein Du ein unbedrückter, untyrannischer, mitfühlender, zufriedener Vater sein könntest. Aber zu dem Zweck müsste eben alles Geschehene ungeschehen gemacht, d. h. wir selbst ausgestrichen werden.

So wie wir aber sind, ist mir das Heiraten dadurch verschlossen, dass es gerade Dein eigenstes Gebiet ist. Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Grösse habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.“

Erläuterung: Die Ziffern im Text markieren den Anfang einer neuen Seite bzw. Spalte.

Zum Verständnis des Briefs:

http://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_aut/kaf/kaf_bri0.htm

http://www.kafka.uni-bonn.de/cgi-bin/kafka5caa.html?Rubrik=vater&Punkt=brief

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/Maennergeschichte/rollen/opfer_01.htm

https://de.wikipedia.org/wiki/Brief_an_den_Vater

https://hans-joerggrosse.de/erlesenes/franz-kafka/brief-vater/brief-vater/

http://de.slideshare.net/schoolmeester/das-verhltnis-kafkas-zu-seinem-vater-ergebnisse-der-stunde (Tafelbild)

https://de.wikisource.org/wiki/Brief_an_den_Vater (Text)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Kafka,+Franz/Erzählungen+und+andere+Prosa/Prosa+aus+dem+Nachlaß/Brief+an+den+Vater (Text)

https://hans-joerggrosse.de/erlesenes/franz-kafka/brief-vater/ (Text und Vortrag)

https://www.youtube.com/watch?v=7Po22fzW7jU (der gleiche Vortrag: 2:16)

http://bildungsserver.hamburg.de/brief-an-den-vater/ (Links)

http://www.classicistranieri.com/wp-content/uploads/2014/05/concvater.pdf (Konkordanz zu allen Wörtern des Briefs)

Kafka: Die Verwandlung – Bilder

„Man erfährt bis zuletzt nicht genau, wie er aussieht; von der Verwandlung des Helden kontaminiert, verweigert der Text jede objektivierende Stillstellung. Man soll sich vom ‚ungeheuren Ungeziefer’ kein Bild machen können. Dass Kafka es ablehnt, einen Käfer oder ein ähnliches Tier auf dem Titelblatt seiner ‚Verwandlung’ abbilden zu lassen, ist bekannt. Er bat seinen Verleger Kurt Wolff am 25. 10. 1915 nachdrücklich, von einer etwa geplanten Käferzeichnung abzusehen.“ (Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung, Innsbruck 2008, S. 165 f.) Trotzdem ist es natürlich reizvoll zu sehen, wie verschiedene Leute sich das Samsa-Ungeziefer vorgestellt haben resp. uns vorstellen. Vgl. auch https://norberto42.wordpress.com/2016/02/19/kafka-die-verwandlung-warum-gregor-ein-ungeziefer-wurde/!

Alle Bilder aus google-Bilder:

http://orig00.deviantart.net/33e6/f/2010/292/8/7/die_verwandlung_by_nachan-d313lmo.jpg

http://img-fotki.yandex.ru/get/9758/194810717.1e/0_d0661_82ba65fe_L.jpg

http://img05.deviantart.net/a554/i/2010/311/6/8/kafka___die_verwandlung_14_by_bjornbarends-d32ea3s.jpg

http://bbarends.deviantart.com/art/Kafka-Die-Verwandlung-02-185425756

http://blog.beetlebum.de/wp-content/uploads/2007/08/kafka.jpg

http://images.sofatutor.com/videos/pictures/11656/normal/vorschau.BMP?1371049452

http://ais.badische-zeitung.de/piece/02/26/27/b6/36054966.jpg

https://i.ytimg.com/vi/9t1gTV543JM/maxresdefault.jpg

http://www.artists.de/pictures/user_images/full/90090_typometamorphose-kafka-die-verwandlung.jpg

http://www.oocities.org/athens/olympus/2404/bugout.gif

http://www.fr-online.de/image/view/2010/8/6/4621716,2751008,mobileXhtml,Kafka_1.jpg

http://img07.deviantart.net/f565/i/2010/311/8/1/kafka___die_verwandlung_12_by_bjornbarends-d32eads.jpg

https://daslesenmitjames.files.wordpress.com/2009/05/dieverwandlung.jpg

http://img1.seite3.ch/news/309/236148-DieVerwandlung.jpg

http://img01.deviantart.net/3c3c/i/2010/145/7/2/die_verwandlung_by_hollowwings.png

https://cdn.goconqr.com/uploads/image_clipping/image/38260/UnsignedIllustrationFromFamousFantasticMysteriesB565.png

http://img10.deviantart.net/3870/i/2010/311/7/a/kafka___die_verwandlung_11_by_bjornbarends-d32eajw.jpg

The Metamorphosis:

https://anthonyhummel.files.wordpress.com/2013/12/metamorphosis.jpg

http://img14.deviantart.net/cbaf/i/2007/166/9/e/the_metamorphosis_by_blackphoenix87.jpg

https://thedrunkenodyssey.files.wordpress.com/2013/12/metamorphosis-detail.gif?w=529&h=277

http://amyscott.com/Images/metamorphosis.jpg

http://images.fineartamerica.com/images-medium-large-5/the-metamorphosis-john-ashton-golden.jpg

als Karikatur:

http://ais.badische-zeitung.de/piece/04/5e/3c/7a/73284730.jpg

Kafka: Die Verwandlung – Reaktion der anderen (in III)

Das Kap. III ist anders erzählt als die beiden vorherigen (viele Wahrnehmungen Gregors). Gregor wird vernachlässigt und gibt sich auf. Im Kampf gegen ihn verbünden sich Vater und Tochter (Schwester); dem kann Gregor nicht standhalten.

  • Gregor ist verwundet, III 1 – die Zimmertür steht stundenweise offen, III 2; die Frauen arbeiten noch am Abend, III 3; der Vater lässt sich gehen, III 4 f.
  • Gregor wird vernachlässig und ist von Wut erfüllt, III 6 f. – es gibt Streit um die Reinigung von Gregors Zimmer, III 7; die neue Bedienerin sieht ihn ohne Abscheu und nennt ihn einen Mistkäfer, III 8.
  • Gregor isst fast nichts mehr, sein Zimmer wird Abstellkammer, er resigniert, III 9.
  • Die Schwester wird den Zimmerherren als Musikerin präsentiert, III 10 ff.; Gregor will zur Schwester vordringen und sie für sich gewinnen, III 13 f., er löst damit einen Eklat aus, III 15 – die Schwester nennt ihn „Untier“ und will ihn loswerden, III 17; der Vater stimmt ihr zu, III 18. Es gibt ein Gespräch Vater-Tochter, III 20 ff.; sie bestreitet, dass „es“ Gregor ist, fühlt sich von diesem Tier „verfolgt“, III 25, und bildet eine Allianz mit dem Vater, III 25 f.
  • Gregor zieht sich in sein Zimmer zurück, III 27 – die Tür wird verschlossen, „Endlich!“ rufen die Eltern, III 28.
  • Seine Schmerzen lassen nach; er meint, er müsse verschwinden, und stirbt, III 29 – die Bedienerin entsorgt ihn, III 30.34; der Vater dankt Gott, III 31, und kündigt den Zimmerherren, III 33. Die Familie macht sich einen schönen Tag, III 34 ff.

Kafka: Die Verwandlung – die Reaktion der anderen (in II)

In Kapitel II denkt und agiert Gregor viel, was zu beachten für das Verständnis seines Käfer-Daseins wichtig ist. Im Gegensatz zu Kap. I steht jetzt überwiegend Gregors Schwester im Blickpunkt, bis am Ende der erstarkte Vater hervortritt:

  • Essen (Milch) ist für Gregor bereitgestellt (II 2, vermutlich von der Schwester, die als einzige Gregor nahe war, II 12) – die Familie ist meistens still, II 3-5.
  • Gregor kriecht unters Kanapee, fühlt sich dort behaglich, II 5 – die Schwester entdeckt ihn dort, erschrickt, II 7; sie bringt Essensreste für ihn (behandelt ihn wie ein Tier), fegt die Reste zusammen, II 7.
  • Später, II 8 – gewöhnt sie sich an alles, „natürlich“ nie vollständig, II 9. Die Familie berät, wie man sich jetzt verhalten solle, II 10; das Dienstmädchen wird entlassen, II 10; die Familie hat wenig Appetit zum Essen, II 11.
  • Gregors Kopf schlägt gelegentlich gegen die Tür, II 13 – die Familie verstummt sofort, II 13; man spricht öfter über die finanzielle Situation und die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, II 14 f.
  • Er liebt es, sich ans Fenster zu lehnen, II 16 – die Schwester rückt ihm den Sessel immer ans Fenster zurück, II 16; sie lüftet, wenn sie im Zimmer arbeitet, II 17.
  • Er steht einmal am Fenster – sie erschrickt über seinen Anblick, II 18.
  • Er verbirgt sich hinter dem Leintuch – sie begrüßt das, II 18. Sie muss der Familie berichten, wie es ihm geht, II 19. Die Mutter will ihn besuchen, wird jedoch zurückgehalten, II 19.
  • Gregor gewöhnt sich ans Herumkriechen – die Schwester will ihm das Zimmer dafür ausräumen, II 20; die Mutter hat dagegen Bedenken, II 21, doch die Schwester setzt sich durch, II 21; die Mutter weicht dem Anblick Gregors aus, II 23.
  • Gregor will nicht, dass ihm alle Möbel genommen werden; er bricht hervor, um sein Bild zu retten, II 25 – die Mutter erblickt ihn und fällt in Ohnmacht, II 27. Die Schwester droht ihm mit erhobener Faust, verletzt ihn mit einem Glassplitter, schlägt die Tür zu, II 27.
  • Der Vater kommt hinzu und wird informiert, dass Gregor „ausgebrochen“ ist, II 28 – der gegenüber früher veränderte Vater verfolgt Gregor, bewirft ihn mit Äpfeln und verletzt ihn schwer, II 29; die weithin entkleidete Mutter eilt auf den Vater zu und bittet „in gänzlicher Vereinigung mit ihm“ um Gregors Leben, II 29.

Kafka: Die Verwandlung – Reaktion der anderen (in I)

Wie Gregor seine Verwandlung erlebt, ist für Kap. I bereits untersucht worden. Wenn jetzt dargestellt wird, wie die anderen auf seine Verwandlung reagieren, ist dies ein methodischer Zugriff, der trennt, was zusammengehört: Gregor reagiert im Umgang mit seiner Verwandlung ja weithin auf die Reaktionen der anderen. Mit dieser Einschränkung kann man folgendes Schema entwerfen:

  • 6.45 Uhr: Gregor ist nicht aufgestanden – die Mutter klopft vorsichtig und fragt sanft; der Vater klopft mit der Faust und mahnt; die Schwester fragt besorgt und beschwört ihn aufzustehen (I 7).
  • 7.10 Uhr: Der Prokurist kommt (I 14) – die Schwester informiert Gregor flüsternd (I 15). Der Vater klopft ungeduldig und drängt, die Tür zu öffnen; die Mutter setzt sich beim Prokuristen für Gregor ein; der Vater klopft erneut; die Schwester schluchzt (I 16). Der Prokurist ermahnt Gregor und droht ihm (I 18).
  • Gregors Antwort versteht man offensichtlich nicht (I 20) – die Mutter schickt nach einem Arzt; der Prokurist spricht von einer „Tierstimme“; der Vater schickt nach dem Schlosser (Tür mit Gewalt öffnen) (I 20).
  • Gregor öffnet die Tür (I 22) – der Prokurist sagt „Oh!“; die Mutter fällt nieder; der Vater ballt die Faust und weint (I 23).
  • Gregor lehnt sich an die Tür und redet (I 24 f.) – der Prokurist wendet sich ab und entfernt sich (I 26).
  • Gregor fällt hin (I 27) – die Mutter springt auf, ruft „Hilfe“, stößt Kaffeekanne um (I 27).
  • Gregor schnappt mit den Kiefern (I 27) – die Mutter flüchtet und fällt dem Vater in die Arme; der Prokurist verschwindet und ruft noch „Hu!“; der Vater scheucht Gregor ins Zimmer zurück; die Mutter braucht frische Luft und verbirgt ihr Gesicht; der Vater ist unerbittlich, er stößt den eingeklemmten Gregor gewaltsam ins Zimmer zurück und schlägt die Tür zu (I 27).

Zuerst reagiert die Familie besorgt auf Gregors Verschlafen, der Prokurist droht ihm jedoch und der Vater will gewaltsam die Tür öffnen lassen. Als man die Verwandlung wahrnimmt, flieht der Prokurist entsetzt; die Mutter wendet sich ebenfalls erschrocken von Gregor ab und sucht beim Vater Zuflucht. Der Vater scheucht ihn wie ein Tier gewaltsam ins Zimmer zurück und sperrt Gregor ein. – Es fällt auf, wie wenig die Schwester in Erscheinung tritt. Gegner in der Familie ist der Vater, während der Prokurist sich vom Ungeziefer Samsa absetzt.

 

Kafka: Die Verwandlung – warum Gregor ein Ungeziefer wurde

Ich habe wieder die Kapitel und die Absätze (diese mit arabischen Ziffern) gezählt, damit Leser unterschiedlicher Ausgaben mit meiner Untersuchung arbeiten können.

In Kafkas1912 entstandener, 1915 veröffentlichter Erzählung „fand“ Gregor sich „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ (I 1), ohne dass er oder der Erzähler dafür einen Grund angäben. Die Frage ist jedoch, ob der Leser dahin geführt wird, so etwas wie einen Grund dieser scheinbar grundlosen Verwandlung zu sehen oder zumindest zu ahnen.

Dafür muss der Leser das Leben Gregor Samsas bedenken, das er vor seiner Verwandlung geführt hat. In diesem Leben hat es zwei Sphären gegeben, die des Berufs und die seiner Familie. Gregor war Reisender (I 2), der morgens um vier Uhr aufstehen muss (I 7), um seinen Zug zu erreichen. Er sieht, dass er „einen anstrengenden Beruf“ (I 4) hat, voller Plagen: das Reisen, das schlechte Essen, die flüchtigen Bekanntschaften (I 4). Sein Chef hat die üble Angewohnheit, von oben herab („vom Pult“) mit seinen Angestellten zu verkehren (I 6). Gregor hat intensiv gearbeitet, ist schon bald gut verdienender Reisender geworden (II 12), war in fünf Jahren nicht einmal krank (I 7, vgl. I 16 die Erwartung des Prokuristen); vor kurzem wurde ihm sogar das Inkasso anvertraut (I 18). Möglicherweise waren seine Leistungen in letzter Zeit unbefriedigend (I 18) – vielleicht ist diese Bemerkung des Prokuristen aber auch nur eines der üblichen Mittel, Druck auf Gregor auszuüben, wie ja auch seine Abfahrt mit dem Fünfuhrzug durch einen Geschäftsdiener kontrolliert wird (I 7). Gregor selber beklagt, er sei als häufig abwesender Reisender vom Klatsch bedroht (I 25); das ist vielleicht jedoch nur eine taktische Antwort zu seiner augenblicklichen Verteidigung. Jedenfalls denkt er daran, langfristig seine Anstellung zu kündigen (I 6).

Diese Strapazen hat Gregor auf sich genommen, um die Schuld der Eltern beim Chef abbezahlen zu können (I 6); er hat seiner Familie ein schönes Leben verschafft (II 3, vgl. II 12) und beinahe alles Geld zu Hause abgeliefert (II 14) – jedenfalls mehr Geld, als zum Lebensunterhalt der Familie nötig war. So hat der Vater Rücklagen bilden können (II 12) – seine Schwester wollte er zwecks musikalischer Ausbildung aufs Konservatorium schicken (II 12), was ihm sehr viel bedeutete (vgl. III 14). Sogar wenn er unterwegs im Hotel war, hat er an die lebhaften häuslichen Unterhaltungen gedacht (III 3). Hier zeigt sich eine überaus enge, ja zu starke Bindung an die Familie, die ihn offenbar unmündig gehalten hat. Gregor kannte schließlich als Hauptverdiener die Vermögensverhältnisse nicht (II 12) – dass er nachts die Türen abschließt (I 7), bezeugt jedoch weniger Vorsicht als untergründiges Misstrauen gegen diese Familie. Die Rücksichtnahme auf die anderen ist früher „sein Stolz gewesen“ (III 13), sein Lebensprinzip – er hatte sich selber aufgegeben.

Im Dienst der Familie war Gregor unter der Last des Berufs verkümmert: Er bleibt des Abends zu Hause, liest Zeitung und studiert Fahrpläne; er beschäftigt sich wie ein Kind mit Laubsägearbeiten (I 16), findet im Beruf immer nur wechselnden, nie herzlicher werdenden menschlichen Verkehr (I 4); er hat nur wenige flüchtige Damenbekanntschaften (III 6). Dabei war er in seiner Militärzeit ein fescher und selbstbewusster Leutnant (I 24) – er hätte also durchaus mehr aus sich machen können. Doch das Bild einer Dame, „die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß“ (I 2), ist das einzige Objekt seines Begehrens; selbst als Käfer drückt er sich noch mit heißem Bauch dagegen (II 25). Ob man auch die Käferphantasie von dem erotischen Verhältnis zur eigenen Schwester (III 14) dem noch nicht verwandelten Gregor zurechnen darf?

Sein in Beruf und Familie verfehltes Leben lässt ihn nicht zum Mann, sondern zum Ungeziefer werden – zu dieser Erwägung wird der Leser geführt, wenn er im Lauf der Erzählung erfährt, wie Gregor vor seiner Verwandlung gelebt hat. Mit der Verwandlung werden die Verhältnisse umgekehrt: Während früher der Vater und die Schwester ein nutzloses Leben geführt haben (II 15), kommt dieses jetzt dem Gregor-Käfer zu (Ralf Sudau); er könne außerdem jetzt seine diktatorischen Vorgesetzten erschrecken und sich von seiner ungeliebten Arbeit befreien. Diese Interpretation ist aber fragwürdig, weil m.E. die Verwandlung im Rahmen des Vater-Sohn-Konflikts verstanden werden muss und der sich in dieser Erzählung im Rahmen der Familie abspielt.

Der Erzähler schweigt eisern über den Grund oder den Urheber der Verwandlung; vermutlich kennt er selber nicht den Grund.

Kafka: Die Verwandlung – wie Gregor sie in I erlebt

Zugleich eine Anleitung, wie man einen literarischen Aufsatz schreibt

Aufgabenstellung: Untersuchen Sie in Kap. I,

a) wie Gregors Verwandlung vor sich geht (Liste der Fundstellen genügt),

b) wie Gregor sie erlebt und damit umgeht.

Wie Gregor die Verwandlung erlebt (in I)

  1. Die Verwandlung wird von Gregor „eines Morgens“ festgestellt (I 1), er findet sich zu einem Ungeziefer verwandelt (Rücken panzerartig, Bauch gewölbt, I 1); „finden“ bedeutet „erstrebend oder unabsichtlich gewahr werden, auf etwas […] kommen“ (Weigand, 1909). Dass er mit Pünktchen gezeichnet (I 4) und die Stimme verändert ist (I 7), gehört vermutlich zur nächtlichen Verwandlung und wird erst später von Gregor bemerkt. Ob die „unruhigen Träume“ (I 1) mit der Verwandlung zusammenhängen, bleibt offen; ein Grund der Verwandlung wird – anders als in vielen Märchen – nicht genannt.
  2. Manchmal ist es problematisch, ob eine Fundstelle zu berücksichtigen ist (z.B. ist unklar, ob die Gedanken über das frühe Aufstehen tatsächlich in Zusammenhang mit der Verwandlung stehen, I 5; oder ob die in einem irrealen Vergleich ausgesprochene Erwartung als faktische Erwartung gewertet werden darf, I 11). Mit dieser Einschränkung kann man folgende Stellen nennen:

Er ist hilflos (dünne Beine), I 1

denkt über das Geschehen nach, I 2

möchte weiterschlafen und „alle Narrheit“ vergessen, I 3

kann sich nicht auf die gewohnte rechte Seite legen, I 3

bekommt Schmerzen bei seinem Versuch, dies zu tun, I 3

denkt über seinen anstrengenden Beruf nach, I 4 (?)

empfindet leichtes Jucken, I 4

versteht die Pünktchen nicht zu beurteilen, I 4

erlebt Kälteschauer bei Berührung, I 4

schiebt das frühe Aufstehen als Erklärung vor, I 5 (?)

hat sich gegen alle Gewohnheit verschlafen, kann sich das Verschlafen nicht erklären, I 7

fühlt sich wohl, ist schläfrig, hat Hunger, I 7

erschrickt über seine Stimme, I 7

schränkt seine Mitteilung an die Mutter ein, I 7

spricht zur Kompensation langsamer, mit Pausen, I 7

widersetzt sich der Bitte, die Tür zu öffnen (= will nicht gesehen werden), I 7

erklärt sich die Veränderung der Stimme ‚vernünftig‘, I 8

will nicht im Bett bleiben, I 8 (vs. I 10)

kann Beinchen nicht kontrollieren, I 8, I 11

will sich dem Urteil der anderen stellen (I 9)

kann sich kaum bewegen, I 9

kann sich seinen Körper nicht vorstellen, I 9

stößt bei Bewegung an, was Schmerzen verursacht, und erlebt den unteren Teil seines Körpers als empfindlich, I 9

hat Angst vor Verletzung, I 10

will im Bett bleiben, I 10 (vs. I 8: Zwiespalt)

ist im Zwiespalt, was er tun soll, I 11

erwartet die Wiederkehr „der wirklichen und selbstverständlichen Verhältnisse“, I 11 (? im irrealen Vergleich!)

denkt über seine Lage nach, I 12

erwartet Hilfe, will aber nicht um Hilfe bitten, I 13

hegt unsinnige Hoffnung, I 14

steht auf, als er den Prokuristen hört, und verletzt sich dabei am Kopf, I 14

spricht vorsichtig (leise) mit der Schwester, I 15

lehnt Begegnung mit dem Prokuristen ab, I 16

hält „Sorgen“ der Schwester für unnötig, I 17

denkt, er könne sich herausreden, I 17

bittet den Prokuristen um Verständnis, I 18

will wissen, wie die anderen auf seinen Anblick reagieren, I 19

steht entschlossen auf, achtet nicht auf seine Schmerzen, erlangt „Herrschaft über sich“, I 19

wird ruhiger, fühlt sich „wieder einbezogen in den menschlichen Kreis“, I 21

bemüht sich um eine klare Stimme, I 21

öffnet die Tür mit dem Mund, I 22

hält sich für den einzigen, der Ruhe bewahrt, I 25

verhandelt mit dem Prokuristen um Nachsicht, I 25

hält sich für klüger als die Familie, I 27

er denkt im Eifer zu wenig, fällt auf die Beinchen und empfindet danach körperliches Wohlbehagen, I 27

fühlt sich vom Vater bedroht und wie ein Tier vertrieben, I 27

er will einlenken, I 27

er wird getreten, I 27

Fasst man die Fundstellen zusammen, so ergibt sich folgende Antwort auf die Frage, wie Gregor die Verwandlung erlebt und damit umgeht:

  • Er nimmt sich als körperlich verändert wahr,
  • er erschrickt,
  • er versteht nicht, was mit ihm vorgegangen ist,
  • er ist bzw. fühlt sich beeinträchtigt,
  • er ist unsicher, in einem Zwiespalt,
  • er weicht den Tatsachen aus, flieht in Pseudoerklärungen,
  • er überschätzt sich, schätzt seine Lage falsch ein,
  • er erwartet Hilfe von anderen,
  • er denkt über das Geschehen nach, stellt sich ihm also,
  • er kompensiert sein Manko, stellt sich ihm also,
  • er fühlt sich wohl.

Reflexion: Wie schreibt man einen literarischen Aufsatz?

1. Wir haben den Text nach den thematisch relevanten Stellen durchsucht und diese notiert (d.h. eine Liste angelegt, mit Fundstellen, s.o.).

2. Wir haben im Blick auf die Textstellen Kategorien (allgemeine Begriffe: abstrahiert, verallgemeinert) gebildet, um die Textstellen auch zu verstehen.

3. Diesen Kategorien haben wir die einzelnen Fundstellen zugeordnet, der Einfachheit halber im Manuskript mit Buchstaben abgekürzt (b = beeinträchtigt, d = er denkt nach, w = er weicht den Tatsachen aus, usw. – den gleichen Buchstaben nicht zweimal verwenden!).

4. Die verschiedenen Aspekte haben wir geordnet – das ist die Gliederung, die oben zu sehen ist.

5. Jetzt müsste der Aufsatz geschrieben werden, indem die verschiedenen Aspekte mittels der zugehörigen Belegstellen entfaltet werden, inklusive Einleitung und Schluss. – Es handelt sich dann um eine Darstellung des verstandenen Geschehens, die von der zeitlichen Abfolge der Ereignisse wie auch des Erzählens abgelöst ist.

Ich habe wieder die Absätze des Kap. I mit arabischen Ziffern gezählt, damit auch Leser unterschiedlicher Ausgaben mit meiner Untersuchung arbeiten können. Ich empfehle, für das Verständnis Kafkas mit zeitgenössischen Wörterbüchern (hier: Weigand, 1909) zu arbeiten, die man im Netz leicht findet.

Kafka: Die Verwandlung – Gregor Samsas Irrtümer

(Der Einfachheit halber zähle ich die Kapitel römisch und die Absätze darin arabisch, um für die Arbeit mit verschiedenen Ausgaben vergleichbare Ergebnisse zu belegen. I besteht aus 27, II aus 29, III aus 36 Absätzen.)

Bei einer ruhigen Lektüre fällt auf, wie oft Gregor sich in der Einschätzung seiner Situation irrt. Das beginnt schon, als er im Bett über seine Lage nachdenkt und die von ihm wahrgenommene Verwandlung zu den „Narrheiten“ zählt, die man besser vergisst (I 3); dementsprechend meint er, die Veränderung seiner Stimme als „Vorbote einer tüchtigen Verkühlung, einer Berufskrankheit der Reisenden,“ (I 8) verstehen zu können. In einer größeren Reflexion (I 17) zeigt sich, dass er seine Situation völlig falsch einschätzt: Seine Schwester mache sich „doch vorläufig wohl unnötige Sorgen“ um den Verlust seines Arbeitsplatzes; er werde „leicht eine passende Ausrede finden“, dass er den Prokuristen nicht vorgelassen habe. Diesen Irrtum spinnt er in einer Überlegung darüber fort, wie die anderen reagieren werden, wenn sie ihn sehen: Entweder erschrecken sie oder erschrecken nicht (I 19) – er sei in jedem Fall aus dem Schneider, indem er sich ihrem Urteil unterstellt. Als man nach einem Arzt und einem Schlosser schickt, glaubt er, man sei bereit, ihm zu helfen (I 21) – er fühlt sich „wieder einbezogen in den menschlichen Kreis“. Auch als die anderen ihn voller Entsetzen gesehen haben (I 23), glaubt er noch, er habe als einziger die Ruhe bewahrt und könne gleich mit seiner Kollektion wegfahren (I 25).

Dass er selber einen Widerspruch in sich trägt, offenbaren seine Überlegungen, wie er sich aus seiner hilflosen Lage befreien soll: Einerseits hält er es für das Vernünftigste, „alles zu opfern“ – anderseits weiß er, dass „besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste Überlegung“ ist (I 11; ähnlich ist der Widerspruch: unbedingt aufstehen wollen, I 8 – im Bett bleiben wollen, I 10). Vielleicht kann man diesen Widerspruch als „Grund“ seiner zahlreichen Irrtümer ansehen, aber auch als Grund dafür, dass er von anderen Hilfe erwartet („wie einfach alles wäre, wenn man ihm zu Hilfe käme“, I 12) und dass er „in irgendeiner unsinnigen Hoffnung“ befangen ist (I 14).

Auch in der Einschätzung der Lage der Familie (Verschuldung, die er erst in fünf oder sechs Jahren abtragen kann, I 6), irrte er sich, wie der Vater später darlegt (II 12). Er bescheinigt sich selber „Voraussicht“, die den Eltern abhanden gekommen sei (I 27), die Zukunft der Familie hänge von ihm ab – ein Irrtum, wie man in Kap. III sieht. In dieser Situation zeigt der Erzähler erneut Gregors Zwiespalt auf: Er agiert, ohne an seine realen Möglichkeiten zu denken (I 27); doch er fühlt „zum ersten Mal an diesem Morgen ein körperliches Wohlbehagen“, als er sich wie ein Käfer bewegen kann (I 27): Mit dem Denken verfehlt Gregor seine Verwandlung, mit seinem Fühlen stellt er sich ihr.

Gregors Irrtümer setzen sich fort, als er die Hilfsbereitschaft seiner Schwester einschätzt: Sie handle „aus Zartgefühl“ (II 7), wo sie doch offenbar Gregor mit den Essensresten wie ein Tier füttert und seinen Napf nicht mit den Händen, „sondern mit einem Fetzen“ anfasst (II 7); oder sie wolle den Eltern eine kleine Trauer ersparen (II 8), wo doch der Vater ihn wie ein Tier gescheucht hat (I 27). In diesem Irrtum bleibt er befangen (II 17, das Fenster öffnen). Unklar ist eine Bemerkung des Erzählers, als er über die Gründe spekuliert, warum Grete auf der Entfernung sämtlicher Möbel aus Gregors Zimmer besteht (II 22): „Vielleicht aber spielte auch der schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit…“ – falls diesen Satz der auktoriale Erzähler spricht, kann er nicht dem irrenden Gregor zugerechnet werden. In der Einschätzung der Aktion irrt Gregor sich jedoch (II 24): Es geschehe nichts Außergewöhnliches, die beiden Frauen handelten aus guten Absichten – dabei nehmen sie ihm „alles, was ihm lieb war“. Als die Mutter ihn Ohnmacht fällt, meint er, er könne helfen (II 27) und den bald informierten Vater besänftigen (II 28) – dabei hat Grete ihn längst als Tier qualifiziert („Gregor ist ausgebrochen.“).

Unklar sind die beiden nächsten Stellen: dass die Verfolgung nicht den Anschein einer Verfolgung hat (II 29) und dass Gregor noch ein Familienmitglied ist (III 1) – je nachdem wen man dafür als Sprecher annimmt, handelt es sich um Irrtümer Gregors oder Einschätzungen des Erzählers. Bei der oft gebrauchten erlebten Rede ist nämlich nicht immer klar zu entscheiden, wo die Sicht des Erzählers endet und Gregors Sicht die Erzählrede bestimmt. Keinen Zweifel gibt es dagegen bei der nächsten Stelle: „Manchmal dachte er daran, beim nächsten Öffnen der Tür die Angelegenheiten der Familie ganz so wie früher in die Hand zu nehmen“ (III 7) – daran ist natürlich nicht zu denken; bei dieser Gelegenheit erscheinen auch die Figuren seiner Berufswelt und zwei junge Frauen in seinen Gedanken – doch sie helfen ihm und der Familie nicht und entschwinden wieder, ohne dass Gregor ihnen nachtrauerte: Die Episode stellt ein kurzes Aufbäumen in der Geschichte seines großen Niedergangs (s. Ende von I und von II) dar.

Der letzte große Irrtum unterläuft ihm, als er seine Schwester Violine spielen hört und die Zimmerherren davon bald nicht mehr angetan sind, während Gregor von der Musik ergriffen ist: „War er ein Tier, da ihn die Musik so ergriff?“ (III 14) Diesen Satz denkt Gregor. Der Satz ist doppeldeutig, er kann auf die Antworten Ja und Nein hinauslaufen; m.E. passt zur Logik des Gedankens („von Musik ergriffen sein“) nur die Antwort, dass er dann ja wohl kein Tier sein könne. Er ist entschlossen, zur Schwester vorzudringen und sie ganz für sich allein zu gewinnen, er will sie zu Tränen rühren und schließlich „ihren Hals küssen“ (III 14) – dabei lässt man ihn längst verkommen (III 7), sein Leben geht schon zu Ende („Gregor aß nun fast gar nichts mehr“, III 9); und als der verkümmerte Käfer gestorben ist, dehnt die aufblühende Tochter „ihren jungen Körper“ (III 36).

Wir haben von Gregors Irrtümern gesprochen, von der falschen Einschätzung seiner Lage und seiner Stellung in der Familie; ich habe auch auf Gregors inneren Widerspruch hingewiesen und darauf, dass er Hilfe von anderen erwartet, was offenbar verfehlt ist. Man müsste nun untersuchen, wie diese Phänomene zusammenhängen.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf zwei Paradoxa hinweisen: Das erste ist die Tatsache, dass der Erzähler den verwandelten Gregor immer noch Gregor nennt, weil(?) er trotz seines Käferkörpers und -lebens noch denkt. Das zweite ist ein ungeheuerlicher Satz Gretes: „Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen.“ (III 25) Hier liegt eine Art negativer double bind der Geschwister vor: Wenn es ein Tier ist, sollte es entfernt werden, und wenn er mein Bruder ist, sollte er gehen, das Tier: Er sollte in jedem Fall gehen. Wie weit mit dieser Ambivalenz die Situation der Familie Samsa zu verstehen ist, wäre eine neue Frage, welche die Psychologen beantworten müssten.

Kafka: Das literarische Motiv der Verwandlung

verwandeln, tr.: das Obj. in etwas anderes übergehen oder dazu werden lassen; rbez.: in etwas anderes übergehen oder dazu werden“ (Sanders: Handwörterbuch der deutschen Sprache, 1911 – die Abkürzungen stehen für transitiv und rückbezüglich)

verwandeln: „etwas in einen anderen Zustand versetzen, so daß es nicht mehr das ist, was es war, und ist daher verschieden von verändern und umgestalten“ (Hoffmann: Vollständiges Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 6, 1861)

In mehreren Wörterbüchern der deutschen Sprache (Weigand, 1910; Paul, 1908) fehlt das Lemma „verwandeln“.

verwandeln: etw., jmdn. v. ♦ einer Sache, jmdm. eine andere Gestalt, ein anderes Aussehen geben, etw., jmdn. (völlig) ändern [dwds]

Die Verwandlung ist ein Wandel des Wesens durch Veränderung seines Äußeren oder Inneren, in der Mythologie zumeist durch Magie. [Wikipedia: Verwandlung]

Metamorphose in der Mythologie bezeichnet den Gestaltenwechsel oder die Verwandlung einer Gottheit, eines mythischen Wesens oder eines Menschen, seltener von Tieren oder Objekten.

Die Kategorie der Identität verknüpft mehrere separat wahrnehmbare Phänomene zu dem Eindruck, dass es sich bei ihnen um ein und dasselbe handelt und dass daher alle Assoziationen, die mit dem Wesenskern des einen verbunden sind, auf das andere übertragen werden können.

Auf die Frage, warum Kafka Märchenmotive (wie die Verwandlung) verwendet, hat in einem Forum ein „booster1965“ geantwortet:

Das Groteske entwickelt sich in Kafkas Umformungen zu dem eigentlichen Pendant des Märchenhaften. […]

Kafkas märchenhaft anmutende Erzählungen rücken jedoch von der etablierten und nach Jolles benannten einfachen Form des Märchens ab. Sie stimmen ausnahmslos nicht mit der naiven Moral des Märchens überein. Denn in den Kafkaschen Märchen wird der Protagonist am Ende nicht erlöst. Es findet keine Rückverwandlung statt. Nach Jolles werden demnach die Erwartungen und Anforderungen, die der Leser an eine gerechte Welt gemäß dem Märchen stellt, nicht erfüllt. […]

‚Die Verwandlung’, die zu den berühmtesten übernatürlichen Erzählungen des 20. Jahrhunderts zu zählen ist, in Bezug zum Märchen zu setzen liegt nahe, wenn man die groben Handlungspunkte dieser Erzählung betrachtet. Eine einzelne Person wird von einem schweren Schicksal getroffen und muss versuchen, sich so gut wie es nur geht, mit dieser Situation zu arrangieren. Aber im Sinne der Märchenstruktur wird Gregor Samsa nicht von seiner Metamorphose erlöst, weshalb man die Verwandlung auch als Antimärchen betrachtet hat. Aber der Begriff ‚Antimärchen’ ist nur in Bezug auf die bekannten Grimmschen Märchen sinnvoll, denn viele außereuropäischen Volksmärchen, wie etwa die auch Kafka bekannte chinesischen, kennen auch das tragische Ende des Helden.“ (http://www.gutefrage.net/frage/warum-maerchen-motive-in-die-verwandlung-) – Vgl. auch meine Untersuchungen: https://norberto42.wordpress.com/2016/02/19/kafka-die-verwandlung-wie-gregor-sie-in-i-erlebt/ und https://norberto42.wordpress.com/2016/02/19/kafka-die-verwandlung-warum-gregor-ein-ungeziefer-wird/ und https://norberto42.wordpress.com/2016/02/27/verwandlungen-als-kafkas-kernmotiv/!

In seinem „Kommentar zu sämtlichen Erzählungen“ Kafkas (1977, 2. Aufl.) äußert sich Hartmut Binder über mögliche literarische Vorlagen zur „Verwandlung“: Es bestehe kein direkter Zusammenhang mit Ovids Metamorphosen oder vergleichbaren Verwandlungsvorgängen im Märchen – gegen C. Heselhaus, 1952 – sondern mit Dostojewskijs Roman „Der Doppelgänger“ (so M. Spilka, 1959), aus dem Kafka viele Einzelmotive übernommen habe (S. 156). 1983 hat H. Binder auf Johannes Vilhelm Jensens Mythen und Jagden und Exotische Novellen, in denen Verwandlungen in Tiere und von Tieren eine zentrale Rolle spielen, hingewiesen man sieht, dass sich die „Quellen“ Kafkas fix ändern können.

Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung, Innsbruck 2008, untersucht das Motiv der Verwandlung als ein in der europäischen Literatur verbreitetes Motiv. Nicht nur Ovids „Metamorphosen“, sondern auch der Apuleius Roman „Der goldene Esel“ (170) seien seit der Antike bekannt: S. http://www.heinrich-tischner.de/50-ku/marchen/marchen/eselsrom.htm oder https://de.wikipedia.org/wiki/Apuleius; http://www.symbolon.de/downtxt/esel.htm (Text) oder http://www.zeno.org/Literatur/M/Apuleius/Roman/Der+goldene+Esel (Text)

Auch in der deutschen Literatur habe es lange vor Kafka Verwandlung gegeben, so etwa im 17. Jh. die Figur des „Baldanders“ bei Grimmelshausen (Der abenteuerliche Simplicissimus. Continuatio des abenteuerlichen Simplicissimi oder Der Schluß desselben), 9. Kapitel). Ein großer Repräsentant des Motivs sei E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza (1814); Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/21); Meister Floh (1822) Sie nennt auch Wilhelm Busch; aber das zählt nur eingeschränkt: Wilhelm Busch: Die Verwandlung (1868, märchenartig, erinnert an „Hänsel und Gretel“). Sie verweist auf die großen Namen Darwin – Nietzsche – Freud, die stehen r Verzeitlichung und Dissoziation des Menschen, dessen Wesen sich aufzulösen scheint (S. 45 ff.)

Allgemein sagt Monika Schmitz-Emans über die Literatur des 19. Jahrhunderts: „Zum Grundprinzip ästhetischer Darstellung wird damit die Verfremdung des Vertrauten. Anders gesagt: Ästhetische Darstellung stellt sich nicht mehr in den Dienst der Identifikation dessen, was schon gewusst und bekannt ist, sondern sie betont die Abhängigkeit aller Gegenstände der Erfahrung vom Blick und von Prozessen der interpretierenden Darstellung. Sie macht die Wandelbarkeit aller so genannten Gegenstände des Wissens und der Erfahrung deutlich – und damit die Kontingenz dessen, was in einem bestimmten Moment als ‚Welt‘ erfahren wird.“ (S. 23) Bekannt sei auch Lewis Carrolls Buch „Alice im Wunderland“ (1865). – Kafka stehe also mit „Die Verwandlung“ in einer großen Tradition, die auch nach seinem Tod weitergeführt wird: Italo Calvino, Christoph Ransmayr, Yoko Tawada u.a.

Märchenartige Verwandlungen scheint es in der expressionistischen Literatur öfter gegeben zu haben. Ich bin auf Döblins Märchen „Vom Hinzel und dem wilden Lenchen“ (vor 1915) gestoßen: „Im schlichten Gang der Handlung ereignet sich eine Metamorphose: Hinzel wird zu einem Molch. Diese Verwandlung ist Sinnbild der Rückführung eines Menschen in kreatürliche Natur; unter dem Schwarzwaldboden sind Sand und Wasser, ein Reich des Zaubers, der sich von der rationalistischen Oberwelt und von der bürgerlichen Nützlichkeit Lenchens absetzt.“ (Wilfried F. Schoeller: Alfred Döblin. Eine Biographie, München 2011, S. 133)

Das Motiv des Käfers taucht bereits in Kafkas Erzählung „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ ( 1907/09, postum veröffentlicht) auf:

„Da schien es Raban, er werde auch noch die lange schlimme Zeit der nächsten vierzehn Tage überstehn. Denn es sind nur vierzehn Tage, also eine begrenzte Zeit, und wenn auch die Ärgernisse immer größer werden, so vermindert sich doch die Zeit, während welcher man sie ertragen muß. Daher wächst der Mut ohne Zweifel. ›Alle, die mich quälen wollen und die jetzt den ganzen Raum um mich besetzt haben, werden ganz allmählich durch den gütigen Ablauf dieser Tage zurückgedrängt, ohne daß ich ihnen auch nur im geringsten helfen müßte. Und ich kann, wie es sich als natürlich ergeben wird, schwach und still sein und alles mit mir ausführen lassen und doch muß alles gut werden, nur durch die verfließenden Tage.

Und überdies kann ich es nicht machen, wie ich es immer als Kind bei gefährlichen Geschäften machte? Ich brauche nicht einmal selbst aufs Land fahren, das ist nicht nötig. Ich schicke meinen angekleideten Körper. Wankt er zur Tür meines Zimmers hinaus, so zeigt das Wanken nicht Furcht, sondern seine Nichtigkeit. Es ist auch nicht Aufregung, wenn er über die Treppe stolpert, wenn er schluchzend aufs Land fährt und weinend dort sein Nachtmahl ißt. Denn ich, ich liege inzwischen in meinem Bett, glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke, ausgesetzt der Luft, die durch das wenig geöffnete Zimmer weht. Die Wagen und Leute auf der Gasse fahren und gehen zögernd auf blankem Boden, denn ich träume noch. Kutscher und Spaziergänger sind schüchtern und jeden Schritt, den sie vorwärts wollen, erbitten sie von mir, indem sie mich ansehn. Ich ermuntere sie, sie finden kein Hindernis. Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers, glaube ich.‹

Vor einer Auslage, in der hinter einer nassen gläsernen Scheibe auf Stäbchen kleine Herrenhüte hingen, blieb er stehn und schaute, die Lippen gespitzt, in sie. ›Nun, mein Hut wird für die Ferien noch reichen‹, dachte er und ging weiter, ›und wenn mich niemand meines Hutes halber leiden kann, dann ist es desto besser. Eines Käfers große Gestalt, ja. Ich stellte es dann so an, als handle es sich um einen Winterschlaf, und ich preßte meine Beinchen an meinen gebauchten Leib. Und ich lisple eine kleine Zahl Worte, das sind Anordnungen an meinen traurigen Körper, der knapp bei mir steht und gebeugt ist. Bald bin ich fertig – er verbeugt sich, er geht flüchtig und alles wird er aufs beste vollführen, während ich ruhe.‹“ (http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-erz-161/3)

Vgl. auch die Käferbilder:

https://turmsegler.net/img/2007/Luis_Scafati-Kafka.gif

http://www.goldini.com/muestras/kafka.jpg

Motiv (Verwandlung OR Metamorphose OR Gestaltwandel):

http://de.academic.ru/dic.nsf/pierer/5725/Metamorphose (Begriff der Metamorphose)

http://www.kallerkunst.de/atelier/text/metamorphose/ (Prinzip der Metamorphose, M. in der Kunst)

http://www.jugendliteratur.net/download/gasperi.pdf Die immer mögliche Verwandlung (im Märchen)

http://www.brg-schoren.ac.at/wiki/5i/index.php/Verwandlung_als_Symbol

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=3205&ausgabe=200012 (Besprechung einer Diss.)

http://www.maerchenlexikon.de/texte/archiv/derungs01.htm (Märchen und Totemismus)

http://www.cornelsen.de/bgd/97/83/06/06/02/08/7/9783060602087_x1SE_005.pdf (Motiv Verwandlung in der Literatur)

https://de.wikipedia.org/wiki/Metamorphosen_%28Ovid%29 (ein Klassiker der Literatur)

http://www.perikopen.de/Lesejahr_A/2Fast_A_Mt17_1-9_Wussow.pdf (Zur Verklärung = Verwandlung Jesu)

https://www.historicum.net/themen/hexenforschung/lexikon/alphabetisch/p-z/artikel/Zauber_und_Hexentiere/ (Verwandlung in Tiere, in Zusammenhang mit dem Hexenglauben)

http://www.judith-sixel.de/reviews/ (Judith Sixel: Roman: Verwandlung einer Frau in eine Ratte)

Kafka: Die Verwandlung – personales Erzählen; Inhalt, Analyse: kommentierte Links

Um Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ zu verstehen, muss man begreifen, was „personales Erzählen“ bzw. erlebte Rede ist. Ich nenne einige Links dazu und paraphrasiere den Beginn der Erzählung.

http://de.wikipedia.org/wiki/Typologisches_Modell_der_Erz%C3%A4hlsituationen (personale Erzählsituation)

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/personales-erzahlen-zu-stanzel/

http://www.lehrerfreund.de/medien/deutschunterricht/erzaehlperspektive/AB_erzaehlperspektiven.pdf

http://www.fernuni-hagen.de/EUROL/termini/welcome.html?page=/EUROL/termini/9000.htm

http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/e-learning/erzaehlsituationen/Einfuehrung_start.htm

http://www.li-go.de/definitionsansicht/prosa/erzaehltextanalyse.html

http://www.berlinerzimmer.de/heins_erzaehl.htm

https://norberto68.wordpress.com/2016/02/23/merkmale-und-zweck-der-erlebten-rede/

I.

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer (Anapher un- hebt das Fremdartige hervor!) verwandelt. Bedeutsam ist das Verb „fand sich“ (statt „er war“): Es bindet die Verwandlung an die Perspektive Gregor Samsas. Aus Träumen zu erwachen ist sein Menschliches, das Ungeziefersein sein Tierisch-Fremdes. Die Verwandlung bricht unerklärt herein und bleibt bis zum Schluss dem Leser als Rätsel erhalten. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. Hier wird scheinbar ganz neutral erzählt, wie ein Beobachter „von außen“ Gregor sieht; aber der Erzähler weiß und sagt, was Gregor sieht; im Satzadjektiv „hilflos“ wird Gregors Empfinden ausgedrückt.

»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Der Erzähler kennt Gregors Gedanken. Es war kein Traum. Das ist wahrscheinlich kein Erzählerkommentar, sondern Gregors Gedanke, personal erzählt. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer (Käferspektive!), lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden (menschliche Erfahrung/Erinnerung). Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender – (Erzählerkommentar), hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte (Gregors Wahrnehmung/Erinnerung, wie sich aus dem Beginn des nächsten Absatzes ergibt). Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.

Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. (Blick von außen auf Gregor) »Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße«, dachte er (Erzähler weiß alles – Gregor rechnet noch mit „Narrheiten“, vgl. „kein Traum“), aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen (Gregors Gedanke, personal erzählt; möglicherweise Außenperspektive), konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück (zwischen Innen- und Außenperspektive; in der Sache wird die Narrheiten-Möglichkeit ausgeschlossen). Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann. (Der Erzähler kennt Gregors Absichten und Gefühle.)

Ach Gott‹, dachte er, ›was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!‹ (Durch Gregors Gedanken wird seine Vorgeschichte deutlich.) Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer (zwischen Innen- und Außenperspektive).

Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. ›Dies frühzeitige Aufstehen‹, dachte er, ›macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muß seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hingetreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern -, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.‹ (Durch Gregors Gedanken wird seine Situation vorgestellt; er schwankt zwischen gedrückt-dienstbarem Leben und einem Wunsch nach Aufruhr. Zugleich wird die im nächsten Absatz sichtbare „Verspätung“ vorbereitet.)

Und er sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte. ›Himmlischer Vater!‹ dachte er. Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber, es näherte sich schon drei Viertel. Sollte der Wecker nicht geläutet haben? (Frage als Merkmal personalen Erzählens) Man sah vom Bett aus, daß er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiß hatte er auch geläutet. Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu verschlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. Was aber sollte er jetzt tun? Der nächste Zug ging um sieben Uhr; um den einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen müssen, und die Kollektion war noch nicht eingepackt, und er selbst fühlte sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. Und selbst wenn er den Zug einholte, ein Donnerwetter des Chefs war nicht zu vermeiden, denn der Geschäftsdiener hatte beim Fünfuhrzug gewartet und die Meldung von seiner Versäumnis längst erstattet. Er war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand. Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst peinlich und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. Gewiß würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue Menschen gibt. Und hätte er übrigens in diesem Falle so ganz unrecht? Gregor fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger. (Hier wird Gregors Not erlebt, die sich unabhängig von seiner Verwandlung rein aus der Verspätung ergibt; es sind Gregors Gedanken, die sich indirekt an das Verb „dachte“ im ersten Satz des Absatzes anschließen.)

Als er dies alles in größter Eile überlegte, ohne sich entschließen zu können, das Bett zu verlassen – gerade schlug der Wecker drei Viertel sieben -, klopfte es vorsichtig an die Tür am Kopfende seines Bettes. Hier meldet sich die Außenwelt erstmals. »Gregor«, rief es – es war die Mutter-, »es ist drei Viertel sieben. Wolltest du nicht wegfahren?« Die sanfte Stimme! Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar seine frühere war, in die sich aber, wie von unten her, ein nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen mischte, das die Worte förmlich nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu zerstören, daß man nicht wußte, ob man recht gehört hatte. Gregors Verwandlung schreitet fort bzw. wird außer an der Gestalt auch an der Stimme von Gregor erlebt. Gregor hatte ausführlich antworten und alles erklären wollen, beschränkte sich aber bei diesen Umständen darauf, zu sagen: »Ja, ja, danke Mutter, ich stehe schon auf.« Infolge der Holztür war die Veränderung in Gregors Stimme draußen wohl nicht zu merken, denn die Mutter beruhigte sich mit dieser Erklärung und schlürfte davon. Aber durch das kleine Gespräch waren die anderen Familienmitglieder darauf aufmerksam geworden, daß Gregor wider Erwarten noch zu Hause war, und schon klopfte an der einen Seitentür der Vater, schwach, aber mit der Faust (Gegensatz zur sanften Stimme der Mutter!). »Gregor, Gregor«, rief er, »was ist denn?« Und nach einer kleinen Weile mahnte er nochmals mit tieferer Stimme: »Gregor! Gregor!« An der anderen Seitentür aber klagte leise die Schwester: »Gregor? Ist dir nicht wohl? Brauchst du etwas?« Nach beiden Seiten hin antwortete Gregor: »Bin schon fertig«, bemühte sich, durch die sorgfältigste Aussprache und durch Einschaltung von langen Pausen zwischen den einzelnen Worten seiner Stimme alles Auffallende zu nehmen. Der Vater kehrte auch zu seinem Frühstück zurück, die Schwester aber flüsterte: »Gregor, mach auf, ich beschwöre dich.« Gregor aber dachte gar nicht daran aufzumachen, sondern lobte die vom Reisen her übernommene Vorsicht, auch zu Hause alle Türen während der Nacht zu versperren (Indiz seiner Isolierung bereits vor der Verwandlung!).

Zunächst wollte er ruhig und ungestört aufstehen, sich anziehen und vor allem frühstücken, und dann erst das Weitere überlegen, denn, das merkte er wohl, im Bett würde er mit dem Nachdenken zu keinem vernünftigen Ende kommen (Innenperspektive eines vernünftigen Menschen). Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden. Daß die Veränderung der Stimme nichts anderes war als der Vorbote Einer tüchtigen Verkühlung, einer Berufskrankheit der Reisenden, daran zweifelte er nicht im geringsten. Durch die Qualifizierung „seine heutigen Vorstellungen“ wird noch einmal an die Subjektivität seiner Verwandlung erinnert, die bereits im Verb „fand sich“ angeklungen war. Gleichzeitig rationalisiert Gregor die erlebte Verwandlung der Stimme als „Berufskrankheit“, was offenkundig ein Selbstbetrug ist.

Die Decke abzuwerfen war ganz einfach; er brauchte sich nur ein wenig aufzublasen und sie fiel von selbst. Aber weiterhin wurde es schwierig, besonders weil er so ungemein breit war. (Gregors Erfahrung straft seine Rationalisierung Lügen.) Er hätte Arme und Hände gebraucht, um sich aufzurichten, statt dessen aber hatte er nur die vielen Beinchen, die ununterbrochen in der verschiedensten Bewegung waren und die er überdies nicht beherrschen konnte (zwischen Innen- und Außenperspektive). Wollte er eines einmal einknicken, so war es das erste, daß er sich streckte; und gelang es ihm endlich, mit diesem Bein das auszuführen, was er wollte, so arbeiteten inzwischen alle anderen, wie freigelassen, in höchster, schmerzlicher Aufregung. »Nur sich nicht im Bett unnütz aufhalten«, sagte sich Gregor. (Gregor überspielt seine Erfahrung der Hilflosigkeit, stellt sich seiner Situation nicht; der Erzähler berichtet ausnahmeweise Gregors Gedanken wörtlich.)

P.S. Die Erzählung wird von einem neutralen Erzähler vorgetragen, in dessen Sprechen auch Gregors erlebte Rede erscheint. Es gibt allerdings einen Absatz (II 22: „Aber die Schwester war leider anderer Meinung…“), in dem mindestens vier Modalpartikeln vorkommen, den ich aber nicht gut Gregor oder der Schwester als erlebte Rede zuordnen kann – spricht hier also ein auktorialer Erzähler? Mich würde interessieren, wie andere diesen Absatz lesen.

Kafka: „Die Verwandlung“, Inhalt und Analyse

http://www.fischer-welt.de/deutsch/literaturgeschichte/literatur_zu_beginn_des_20_jahrhunderts/die_verwandlung/ (Günter Fischer: Inhalt, knapp)

http://www.asamnet.de/~kassecch/deutung/verwandlung.htm (Inhalt nacherzählt, Interpretation)

https://radiergummi.wordpress.com/2013/04/20/franz-kafka-die-verwandlung/ (Inhalt nacherzählt, Gedanken zur Interpretation)

http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Verwandlung (Inhalt, Personen, Rezeption, Analyse)

http://www.xlibris.de/Autoren/Kafka/Werke/Die+Verwandlung?page=0%2C0 (kurz, Interpretation: Verwandlung hat vermutlich nicht stattgefunden, ist ein Akt des Bewusstwerdens)

http://www.m-falaki.com/Deutsch/Kafka-Magisterarbeit.pdf (Fremdheit in Kafkas Werken…, Magisterarbeit; dort S. 37 ff.: Interpretation „Die Verwandlung“ – gegen eine biografische Interpretation, unter der Leitidee: Erkenntnis der eigenen Entfremdung)

https://www.academia.edu/4487808/_Der_Sprache_der_Macht_entkommen_Zu_Kafka_s_Verwandlung._In_Acta_Germanica._Beiheft_3_Sprache_der_Macht_-_Macht_der_Sprache (Peter Horn: Tier werden, um der Sprache, der Macht, zu entkommen – schwierige Interpretation)

http://www.lesekost.de/deutsch/kafka/HHLK08.htm (große Interpretation H. Hubers)

http://www.sgipt.org/kunst/theater/KafkaDV.htm (Interpretation der Psychologen Sponsel: umfangreich, mit ausführlicher Analyse der Persönlichkeiten und des Familiensystems)

http://www.staff.uni-oldenburg.de/thorsten.pohl/ontogenese/PDFs/Nadine/Nadine%20HA1.pdf (Analyse von „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ – Arbeit einer Studentin: Gibt es Hoffnung in Kafkas Erzählungen?)

http://www.magistrix.de/texte/Schule/Schularbeiten/Deutsch/lektuere/Die-Verwandlung-von-Franz-Kafka.12090.html (Schülerarbeit, Schwerpunkt: Verwandlung)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/12/kafka-motiv-der-verwandlung/ (Motiv der Verwandlung)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/15/kafka-die-verwandlung-gregor-samsas-irrtuemer/ (Motiv: Gregors Irrtümer)

https://norberto42.wordpress.com/2012/09/03/kafka-die-verwandlung-zeitstruktur/ (Zeitstruktur der Erzählung)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/19/kafka-die-verwandlung-wie-gregor-sie-in-i-erlebt/ (Wie Gregor die Verwandlung erlebt und wie er damit umgeht)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/19/kafka-die-verwandlung-warum-gregor-ein-ungeziefer-wird/ (Warum Gregor zum Ungeziefer wurde)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/21/kafka-die-verwandlung-reaktion-der-anderen-in-i/ (die Reaktion der anderen in I)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/21/kafka-die-verwandlung-die-reaktion-der-anderen-in-ii/ (die Reaktion der anderen in II)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/21/kafka-die-verwandlung-reaktion-der-anderen-in-iii/ (die Reaktion der anderen in III)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/24/kafka-die-verwandlung-brief-an-den-vater/ (Die Verwandlung // Brief an den Vater)

https://norberto42.wordpress.com/2016/02/29/kafka-die-verwandlung-motiv-vater-sohn-konflikt/ (Motiv: Vater-Sohn-Konflikt)

http://www.jolifanto.de/wissenschaft/Kafka/kafka.htm (über verschiedene Ansätze zur Deutung Kafkas)

http://www.kafka.org/index.php?aid=211 (paraphrasierende Interpretation F. Thomas)

http://www.kafka.org/index.php?issue_metamorphosis (mehrere Interpretationen, englisch)

http://www.kafka.uni-bonn.de/cgi-bin/kafka?Rubrik=symbolik&Punkt=verwandlung – klappt im Moment nicht (Kafka-Seite Uni Bonn: die Symbolik; Grundseite ist http://www.kafka.uni-bonn.de/)

http://www.fischer-welt.de/deutsch/literaturgeschichte/literatur_zu_beginn_des_20_jahrhunderts/die_verwandlung/interpretationsansatz/ (eine im Netz weit verbreitete Interpretation, teilweise fehlerhaft kopiert – selber nicht fehlerfrei)

Unterricht

http://www.deutsch-ethik-geschichte.de/Dateien/deutschlit%20sek%201/Kafka/U-Konzept%20Verwandlung.pdf (Unterrichtskonzept zu „Die Verwandlung“)

http://www.lehrer-online.de/kafka-cd.php (dito)

http://www.hinzz.de/uni/Docs/Kafka%20im%20Deutschunterricht.pdf

http://www.julius-echter-gymnasium.de/jegcms/index.php?page=619 Filmprojekt

Vortrag

http://www.youtube.com/watch?annotation_id=annotation_21411&feature=iv&src_vid=n-Nl3gFSA6M&v=CKDJDbAvDFI

http://www.youtube.com/watch?v=jLHitrcus4s (dito)

Links

http://bildungsserver.hamburg.de/die-verwandlung/ (Links des Hamburger Bildungsservers)

http://www.klassikerforum.de/index.php?topic=4341.0 (einige Links)

http://www.ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren//multi_ijk/kafka.html (Kafka in der UB der FU Berlin)

Text

http://www.zeno.org/Literatur/M/Kafka,+Franz/Erz%C3%A4hlungen+und+andere+Prosa/Die+Verwandlung (Text)

http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-verwandlung-165/1 (Text)

http://digbib.org/Franz_Kafka_1883/Die_Verwandlung_.pdf (dito)