G. Keller: Das Fähnlein der sieben Aufrechten – gelesen

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 810-870 (61 Seiten Text).

In dieser Novelle sind patriotische Motive, die sich an die Geschichte der sieben Männer und ihren Zug zum Bundesschießen 1849 heften, und die Liebesgeschichte von Karl (20 Jahre) und Hermine (17 Jahre), den Kindern der zwei Wortführer des Fähnleins, miteinander verbunden.

Die sieben Festen oder Aufrechten stammen noch aus dem vergangenen Jahrhundert. Zunächst wird Schneidermeister Hediger als überzeugter Republikaner vorgestellt, der sich weigert, seinem Sohn Karl sein Gewehr auszuleihen, weil dieser nicht einmal das Schloss auseinandernehmen kann (810-812); hinterrücks besorgt die Mutter aber doch das Gewehr und bringt ihm bei, wie man das Schloss wieder zusammensetzt. Am Abend trifft Karl heimlich seine Freundin Hermine Frymann wie üblich auf dem See; sie hält ihn auf Distanz und berichtet vom Widerstand ihres Vaters gegen die Verbindung. Es gelingt Karl, sie zu küssen (817). Hermine verschiebt das nächste Treffen um vier Wochen.

Danach werden sie sieben Aufrechten charakterisiert; sie haben gegen Aristokraten und Pfaffen gekämpft, stehen für die republikanische Idee und helfen einander (818 ff.). Sie planen am Abend des gleichen Tages, zum eidgenössischen Freischießen 1849 zu ziehen und mit einer eigenen Fahne aufzutreten. Für die Ehrengabe machen fünf einen Vorschlag, wobei alle ein Ding unterbringen wollen, was sie zu Hause haben und nicht loswerden (821 f.). Hediger weist das zurück, der reiche Zimmermeister Frymann schlägt einen neuen Silberbecher vor (- 826). Frymann stellt sich dann gegen eine Verschwägerung mit Hediger, der stimmt ihm zu, worüber die anderen spotten (826-828). Hediger verkündet am nächsten Tag seine Abmachung mit Frymann zu Hause, seine Frau widerspricht ihm heftig – Streitgespräch (829-833). Karl fährt am Abend vergeblich auf den See, Hermine kommt nicht.

Karl übt sich nun im Schießen und bereitet sich auf seine Militärzeit bei den Schützen vor (834 f.). Er kommt in die Kaserne und schießt gut; dort lernt er den Miethai Ruckstuhl als Kameraden kennen, der sich mit Geld alles erkaufen will und auch ein Auge auf Hermine geworfen hat (836 f.). Hermine richtet Frau Hedinger einen Gruß an Karl aus und besucht sie (zu Hause 837-839). Am Abend trifft Karl Hermine wieder auf dem See; sie planen, den vereinbarten Besuch Ruckstuhls bei Frymann zu verhindern, und streiten über das Küssen (840-843). Karl stiftet Ruckstuhl zu einem Besäufnis in der Kaserne an, der kommt dann mit seinem Gefolgsmann in den Arrest (843-846). Am nächsten Tag erscheint Ruckstuhl nicht zum festlichen Mittagessen bei Frymann, dafür kommt Frau Hedinger zu Hermine zum Kaffee und informiert deren Vater über das Vergehen Ruckstuhls, der somit erledigt ist.

Zeitsprung: Juni 1849 (849): Die Sieben brauchen einen Sprecher für das Fest, durch Los wird der widerstrebende Frymann ermittelt. Er entwirft eine Rede, die aber von Hermine verworfen wird (851 f.). Man fährt im Juli zum Fest, wo Frymann sich weigert zu sprechen (854). Karl bietet sich als Redner an, er nimmt die Fahne und geht voran (854 f.). Er hält aus dem Stegreif eine Rede:

»Liebe Eidgenossen!

Wir sind da unser acht Mannli mit einem Fahnli gekommen, sieben Grauköpfe mit einem jungen Fähndrich! Wie ihr seht, trägt jeder seine Büchse, ohne daß wir den Anspruch erheben, absonderliche Schützen zu sein (…). Und dennoch, wenn wir auch keine ausbündigen Schützen sind, hat es uns nicht hinter dem Ofen gelitten; wir sind gekommen, nicht Gaben zu holen, sondern zu bringen ein bescheidenes Becherlein, ein fast unbescheiden fröhliches Herz und ein neues Fahnli, das mir in der Hand zittert vor Begierde, auf eurer Fahnenburg zu wehen. Das Fahnli nehmen wir aber wieder mit, es soll nur seine Weihe bei euch holen! Seht, was mit goldener Schrift darauf geschrieben steht: Freundschaft in der Freiheit! (…) Schaut sie an, diese alten Sünder! Sämtlich stehen sie nicht im Geruche besonderer Heiligkeit! Spärlich sieht man einen von ihnen in der Kirche! Auf geistliche Dinge sind sie nicht wohl zu sprechen! Aber ich kann euch, liebe Eidgenossen! hier unter freiem Himmel etwas Seltsames anvertrauen sooft das Vaterland in Gefahr ist, fangen sie ganz sachte an, an Gott zu glauben; erst jeder leis für sich, dann immer lauter, bis sich einer dem andern verrät und sie dann zusammen eine wunderliche Theologie treiben, deren erster und einziger Hauptsatz lautet: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Auch an Freudentagen, wie der heutige, wo viel Volk beisammen ist und es lacht ein recht blauer Himmel darüber, verfallen sie wiederum in diese theologischen Gedanken, und sie bilden sich dann ein, der liebe Gott habe das Schweizerpanier herausgehängt am hohen Himmel und das schöne Wetter extra für uns gemacht! In beiden Fällen, in der Stunde der Gefahr und in der Stunde der Freude, sind sie dann plötzlich zufrieden mit den Anfangsworten unserer Bundesverfassung Im Namen Gottes des Allmächtigen! und eine so sanftmütige Duldsamkeit beseelt sie dann, so widerhaarig sie sonst sind, daß sie nicht einmal fragen, ob der katholische oder der reformierte Herr der Heerscharen gemeint sei! (…) Diese Alten hier haben ihre Jahre in Arbeit und Mühe hingebracht; sie fangen an, die Hinfälligkeit des Fleisches zu empfinden, den einen zwickt es hier, den andern dort. Aber sie reisen, wenn der Sommer gekommen ist, nicht ins Bad, sie reisen zum Feste. Der eidgenössische Festwein ist der Gesundbrunnen, der ihr Herz erfrischt; das sommerliche Bundesleben ist die Luft, die ihre alten Nerven stärkt, der Wellenschlag eines frohen Volkes ist das Seebad, welches ihre steifen Glieder wieder lebendig macht. Ihr werdet ihre weißen Köpfe alsobald untertauchen sehen in dieses Bad! So gebt uns nun, liebe Eidgenossen, den Ehrentrunk! Es lebe die Freundschaft im Vaterlande! Es lebe die Freundschaft in der Freiheit!« (855-858)

Diese Rede begeistert die Zuhörer und erst recht die sieben Aufrechten. Der Vater und Frymann geben ihm noch gute Ratschläge (858-860), ehe sie ihn ins Fähnlein aufnehmen. Beim Mittagessen werden die Sieben in der Festrede erwähnt (860-862), und sie beschließen, dass Karl Hermine bekommen soll. Karl geht mit Hermine zum Schießen, sie ermuntert ihn und er trifft mit allen 25 Kugeln (863 f.). Hermine informiert die Alten, sie holen Karl ab; der stiftet seinen Siegespokal dem Fähnlein (865).

Hermine fällt als schönstes Mädchen des Festes auf. Da kommt ein kräftiger Streithansel mit seinem alten Vater und setzt sich zu den Sieben (866 f.). Karl lässt sich auf ein Fingerhakeln mit ihm ein und siegt (867 f.). Die Väter geben den Kindern die Ehe frei, die Verlobung findet statt (868 f.). Die beiden küssen sich abseits und regeln ihr künftiges Verhältnis: Hermine will Karl unter den Pantoffel kriegen: „Es wird sich indessen schon ein Recht und eine Verfassung zwischen uns ausbilden, und sie wird gut sein, wie sie ist!“ (869) Ein Kamerad Karls, der hinzutritt, will die Verfassung garantieren und bittet sich die Patenschaft beim ersten Kind aus. Die Verlobten kehren dann zur Gesellschaft zurück.

Persönlich darf ich noch anmerken, dass der Anfang der Novelle mich an meine frühe Zeit als Lehrer am NGM erinnert: Die Charakterisierung Hedingers stand in Band 9 oder 10 unseres Lesebuchs LDB als Beispiel für eine Charakterisierung:

Der Schneidermeister Hediger in Zürich war in dem Alter, wo der fleißige Handwerksmann schon anfängt, sich nach Tisch ein Stündchen Ruhe zu gönnen. So saß er denn an einem schönen Märztage nicht in seiner leiblichen Werkstatt, sondern in seiner geistigen, einem kleinen Sonderstübchen, welches er sich seit Jahren zugeteilt hatte. Er freute sich, dasselbe ungeheizt wieder behaupten zu können; denn weder seine alten Handwerkssitten noch seine Einkünfte erlaubten ihm, während des Winters sich ein besonderes Zimmer erwärmen zu lassen, nur um darin zu lesen. Und das zu einer Zeit, wo es schon Schneider gab, welche auf die Jagd gehen und täglich zu Pferde sitzen, so eng verzahnen sich die Übergänge der Kultur ineinander.

Meister Hediger durfte sich aber sehen lassen in seinem wohlaufgeräumten Hinterstübchen. Er sah fast eher einem amerikanischen Squatter als einem Schneider ähnlich; ein kräftiges und verständiges Gesicht mit starkem Backenbart, von einem mächtigen kahlen Schädel überwölbt, neigte sich über die Zeitung »Der schweizerische Republikaner« und las mit kritischem Ausdrucke den Hauptartikel. Von diesem »Republikaner« standen wenigstens fünfundzwanzig Foliobände, wohl gebunden, in einem kleinen Glasschranke von Nußbaum, und sie enthielten fast nichts, das Hediger seit fünfundzwanzig Jahren nicht mit erlebt und durchgekämpft hatte. (…)“ (810)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Z%C3%BCricher+Novellen/Zweiter+Band/Das+F%C3%A4hnlein+der+sieben+Aufrechten (Text, daraus ist hier zitiert)

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/zuercher/aufrecht.html (Text)

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_F%C3%A4hnlein_der_sieben_Aufrechten

https://www.gottfriedkeller.ch/schule/faehnlein.php (zur Novelle)

https://literarischermonat.ch/eine-expedition-durch-gottfried-kellers-zuericher-novellen/ (Eva Seck über die Züricher Novellen)

https://www.tagblatt.ch/kultur/buch-buehne-kunst/gottfried-kellers-romane-lehren-uns-scheitern-mit-erfolg-ld.1135303 (über das Scheitern bei Keller)

https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=smh-002:1959:39::1626 (Gottfried Kellers Namensgebung)

https://dewiki.de/Lexikon/Gottfried_Keller (Gottfried Keller)

https://literaturkritik.de/gottfried-keller-geburtstag-200-jubilaeum,25834.html (dito)

https://www.ds.uzh.ch/_files/uploads/presse/319.pdf (dito, mit Bild: Schreibunterlage)

https://literarischermonat.ch/vom-freischaerler-zum-nationaldichter/ (der politische Keller)

G. Keller: Der Landvogt von Greifensee – gelesen und bedacht

unter dem Aspekt: Wie kann man eine (diese) Novelle angemessen beschreiben?

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 719-801 (83 Seiten Text). Ich überlege, wie man eine Novelle angemessen beschreiben kann – hier im Blick auf den Wikipediaartikel in der Fassung vom 9. Oktober 2022, den ich ein wenig korrigiert und erweitert habe (mal sehen, was der Administrator daraus macht).

Die erste Frage ist, ob man auf den Schluss der vorhergehenden Novelle „Der Narr von Manegg“ eingehen muss; dort wird am Ende der Rahmenerzählung erklärt, woher der Text unserer Novelle angeblich stammt (716 ff.). Vorher noch die Frage: Muss man auf die Züricher Novellen Bezug nehmen?

In der Wikipedia wird das Manöver der Scharfschützen, das Salomon Landolt leitet, nicht erwähnt – das ist ein grober Fehler, weil hier der Mann in seinem besten Alter (41 Jahre) vorgestellt wird; das Datum des Manövers sollte man nennen, wobei sich der Heumonat wegen der späteren Datierung des Festes als Mai, nicht wie üblich als Juli erweist. Wohlgefällig hingen aller Augen an dem Landvogt, als er nun zu seinen Herren und Mitbürgern trat und allen Freunden kordial die Hand schüttelte. Er trug ein dunkelgrünes Kleid ohne alles Tressenwerk…“ (720) Muss man die Art, wie er auftritt, nicht beschreiben, um sein Handeln später zu verstehen?

Zum Haushalt des Junggesellen Landolt gehört die Haushälterin Marianne: Die Frau Marianne war aber die seltsamste Käuzin von der Welt, wie man um ein Königreich keine zweite aufgetrieben hätte. Sie war die Tochter des Stadtzimmermeisters Kleißner von Hall in Tirol und mit einer Schar Geschwister unter der Botmäßigkeit einer bösen Stiefmutter gewesen. Diese steckte sie als Novize in ein Kloster…“ (723) Charakterisiert sie nicht auch Landolt als ihren Chef indirekt? Muss man ihre Geschichte berücksichtigen?

Den „Distelfink“, seine erste Liebe, will er auf die Probe zu stellen durch „eine mysteriös bedenkliche Schilderung seiner Abkunft und Aussichten“: Seine Mutter, Anna Margaretha, war eine Tochter des holländischen Generals der Infanterie Salomon Hirzel, Herrn zu Wülflingen, der mit seinen drei Söhnen große niederländische Pensionsgelder bezog und damit die bekannte wunderliche Wirtschaft auf der genannten Gerichtsherrschaft in der Nähe von Winterthur führte. Ein am Hoftor statt eines Kettenhundes angebundener Wolf, der wachsam heulte und boll, konnte gleich als Wahrzeichen des absonderlichen Wesens gelten. Nach frühem Tode der Hausfrau und bei der häufigen Abwesenheit des Vaters tat jeder, was er wollte, und die Söhne sowie drei Töchter erzogen sich selbst, und zwar so wild als möglich…“ (731 f.) Gehört die Geschichte seiner Mutter nicht auch zu den Faktoren, die den Landvogt geprägt haben? Müsste man sie nicht zumindest erwähnen?

Zu den liebenswerten Feinheiten der Novelle, die eigentlich jenseits der Handlung ihren Reiz ausmachen, gehört zum Beispiel die Charakterisierung der Gesellschaft für vaterländische Geschichte, der Figuras Bruder angehört und in die Landolt eintritt, um eben diesen Bruder und über ihn Figura („Hanswurstel“) kennenzulernen: Es waren die Strebsamen und Feuerköpfe aus der Jugend der herrschenden Klassen, die unter diesem Titel eine bessere Zukunft und aus dem dunkeln Kerkerhause der sogenannten beiden Stände, d.h. des geistlichen und weltlichen Regiments, zu entrinnen suchten.“ (738) Diese Gesellschaft und ihr Treiben sowie die Erlebnisse Landolts in diesem Zusammenhang werden beschrieben bzw. erzählt – eine reizende Einlage jenseits der Liebesthematik, die das Lesen zum Genuss macht. Ist das unwesentlich? Hierhin gehört auch das Auftreten Salomon Geßners, des Dichters (746 ff.).

Das Fest mit den fünf Frauen gehört unbedingt – wenn man schon die Begrüßung der Damen auf Greifensee (790 ff.) nicht beachtet – zu den Ereignissen, die man berücksichtigen muss; es ist im Wikipediaartikel geschlabbert, ich habe es nachgetragen (793 ff.).

Die von Salon erzählte Geschichte der Burg Greifensee (793 f.) ist wohl nicht wesentlich – aber gilt das auch für seine Rede, in der er die fünf Damen preist (794 ff.), und seinen Scherz, dass er angeblich heiraten soll und vor der Wahl steht, eine ganz Alte oder ganz Junge zu heiraten: eine Frage, welche nun die fünf Damen entscheiden sollen (794 ff.)? Ich meine, diese Rede müsste erwähnt werden, da sie wesentlich den Landvogt charakterisiert.

Man sieht, dass es gar nicht so einfach ist, zu entscheiden, was in die angemessene Beschreibung einer Novelle gehört, dass aber die simple Reduktion (und auch die am Ende noch zu knapp!) auf eine sogenannte Handlung das Wesen einer Novelle verfehlt, die dazu dient, den Landvogt von Greifensee als einen originalen Charakter vorzustellen (s. den Kontext und das Verhältnis Jacques‘ zu seinem Paten).

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Landvogt_von_Greifensee (Wikipedia)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Z%C3%BCricher+Novellen/Erster+Band/Der+Landvogt+von+Greifensee (Text)

https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/17286/1/9783110209327.2.63.pdf (Todesfiguren: zur Begründung des Realismus bei Gottfried Keller)

https://eprints.lib.hokudai.ac.jp/dspace/bitstream/2115/33323/1/16(2)_PL31-85.pdf (zu Landvogt: Ein Versuch über Sein, Schein und Entsagung)

https://literarischermonat.ch/eine-expedition-durch-gottfried-kellers-zuericher-novellen/ (Eva Seck über die Züricher Novellen)

https://www.tagblatt.ch/kultur/buch-buehne-kunst/gottfried-kellers-romane-lehren-uns-scheitern-mit-erfolg-ld.1135303 (über das Scheitern bei Keller)

https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=smh-002:1959:39::1626 (Gottfried Kellers Namensgebung)

https://dewiki.de/Lexikon/Gottfried_Keller (Gottfried Keller)

https://literaturkritik.de/gottfried-keller-geburtstag-200-jubilaeum,25834.html (dito)

https://www.ds.uzh.ch/_files/uploads/presse/319.pdf (dito, mit Bild: Schreibunterlage)

G. Keller: Der Narr auf Manegg – gelesen

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 698-718 (knapp 21 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren.

Die Erzählung vom Narren auf Manegg wird durch die Fortsetzung der Rahmenerzählung von Herrn Jacques eingeleitet (698-701) und abgeschlossen (716-718). Mit dem Narren, der zum Schluss auf Schloss Manegg aus, endet das Geschlecht Manesse und auch die Burg Manegg, der Codex Manesse kommt in den Besitz einer anderen Familie. Es wird also von einem unbedeutenden Mann erzählt, der mehr scheinen wollte, als er war; damit wird „Hadlaub“ abgerundet.

Der Pate besucht Jacques, um zu sehen, wie weit dieser mit seiner Sucht nach Originalität gekommen ist. Der Neffe malt gerade und will einen neuen Codex schaffen (700); er schwärmt von der Größe Zürichs, was den Patenonkel zum Widerspruch reizt: „Da wird allerdings eine gewisse naßkalte, frostige Bescheidenheit getrieben; jeder sieht dem andern auf die Finger, ob er sich nicht zuviel einbilde; dafür wird aber in der Gesamteinbildung geschwelgt, daß die Mäuler triefen, und kein Gleichnis ist zu stark, um die Vortrefflichkeit aller zu bestätigen! Darum sieht man auch so manche schwächliche Gesellen herumlaufen, die am Gesamtdünkel fast zugrunde gehen, eben weil die Persönlichkeit unzulänglich ist, ein so Ungeheures mitzutragen!“ (701) Man bricht zur Burg auf, Jacques fragt nach dem weiteren Geschick des Geschlechts Manesse. Der Onkel erzählt:

Der letzte bedeutende Manesse war Rüdigers Urenkel Rüdiger, ein Held in der Schlacht, der bis 1380 lebte. Sein Sohn Ital, ein Versager, verscherzte die Gunst einer reichen Frau, die an ihm interessiert war; die Burg kam in den Besitz von Nonnen und brannte schließlich 1409 ab durch Schuld des Buz Falötscher, eines komischen Großmauls, ein illegitimer Manessespross. Der heiratete übereilt einfach eine recht praktische Frau, die er würgte, als sie ihm seine großen Reden nicht mehr abnahm. Sie ging weg, Buz lebte vom Wild und zog in die verlassene Burg; bei einer Feier stahl er den Codex und wollte selber Minnesänger sein. Eine Reihe Burschen wollte den Codex dem Buz wieder abjagen; dabei wurde die Burg versehentlich angezündet, als das Tor verriegelt war. Buz und das Buch wurden gerettet, Buz überlebte den Tag nicht. Ital schenkte das Buch dem tüchtigen Bürger Sax, in dessen Familie der Codex 200 Jahre blieb (716).

Die beiden gehen am Abend heim. „Die nachdrückliche Art, wie der Alte die Krankheit, sein zu wollen, was man nicht ist, betont hatte, war ihm [J.] aufgefallen, so wie er auch noch ein Haar wegen des schweizerischen Athens [Zürich] auf der Zunge fühlte.“ (717) Zu Hause trennt er sich von einigen großspurigen Projekten. Der Patenonkel rühmt die wenigen tüchtigen normalen Menschen, die keine Genies sind, aber auf ihre Umgebung „eine erhellende und wohltätige Wirkung“ (718) ausüben, und nennt als Beispiel Salomon Landolt, dessen Autobiografie er selber ergänzt hat, was Jacqes nun abschreiben soll. → Der Landvogt von Greifensee

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Z%C3%BCricher+Novellen/Erster+Band/Der+Narr+auf+Manegg (Text)

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/zuercher/manegg.html (Text)

https://literarischermonat.ch/eine-expedition-durch-gottfried-kellers-zuericher-novellen/ (Eva Seck über die Züricher Novellen)

https://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/3369-gottfried-keller-der-narr-auf-manegg (Eckhard Ullrich zu „Der Narr auf Manegg“)

https://www.journal21.ch/artikel/manegg-ueber-ritter-narren-und-liebende (über die Burg heute)

https://www.tagblatt.ch/kultur/buch-buehne-kunst/gottfried-kellers-romane-lehren-uns-scheitern-mit-erfolg-ld.1135303 (über das Scheitern bei Keller)

https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=smh-002:1959:39::1626 (Gottfried Kellers Namensgebung)

https://dewiki.de/Lexikon/Gottfried_Keller (Gottfried Keller)

https://literaturkritik.de/gottfried-keller-geburtstag-200-jubilaeum,25834.html (dito)

https://www.ds.uzh.ch/_files/uploads/presse/319.pdf (dito, mit Bild: Schreibunterlage)

G. Keller: Hadlaub – gelesen

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 624-697 (knapp 74 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf den Aufbau der Erzählung und die Entwicklung der Liebe zwischen Johannes und Fides.

Der Sinn der Erzählung aus Sicht des allwissenden Erzählers ergibt sich aus der Einleitung „(Herr Jacques)“: Rüdiger von Manesse als einen tüchtigen Mann vorführen. Erzählt wird einmal, wie der Codex Manesse entstanden ist, und damit verbunden die Entwicklung von Johannes Hadlaub und Fides, die schließlich heiraten. In der Novelle ist also die Sammlung der Minnelieder kunstvoll mit der Geschichte einer realen Minne und Liebe verflochten.

Das erzählte Geschehen spielt zur Zeit des Königs Rudolf von Habsburg (1273-1291) und seines Sohnes Albrecht (1298-1308). Fides ist die uneheliche Tochter der Kunigunde von Schwarz-Wasserstelz und des königlichen Kanzlers Heinrich von Klingenberg, der später Bischof wird. Nach 7, 8 Jahren geht die Mutter ins Kloster; sie wird Fürstäbtissin, ihre Tochter bei Rüdiger von Manesse erzogen. Mit ihrem Lehrer Konrad von Mure kommt Fides zum Bauern Ruoff am Hadelaub; dort trifft sie erstmals dessen Sohn Johannes, der mit den Kühen heimkommt, und sagt „Du dummer Bub!“ (630) zu ihm. Er muss sie am Bach durchs Wasser tragen. Konrad will den aufgeweckten Johannes mitnehmen und erziehen; erst Jahre später gibt der Vater das nach Geburt eines zweiten kräftigen Jungen zu. So kommt Johannes nach Zürich und lernt lesen und schreiben, zudem Latein.

Nach acht Jahren schreibt Johannes die alten und neuen Minnelieder und Rittergedichte ab. Einige Jahre nach dem Tod Konrads von Mure – Johannes ist als Schreiber tätig – wird er zu Rüdiger von Manesse eingeladen, wo er Minnelieder singen soll: „Dir klag ich, Mai, ich klag dirs, Sommerwonne“ und „Voll Schönheit wie der Morgenstern“; Bischof Heinrich singt mit Blick auf Kunigunde „Rosenblühend ist das Lachen“ (638); Johannes singt dann Lieder Walthers. Er soll den Schwabenspiegel abschreiben; er begegnet der 16-jährigen Fides (642), die ihn wiedererkennt. Rüdiger hat die Idee, alle Minnelieder zu sammeln, und bekommt Zuspruch von allen Seiten mit Hinweis auf bereits vorliegende Sammlungen; Johannes soll der Schreiber sein. Nach acht Tagen reitet er zum Bischof, der ihn in die Minnelieder einweist. Er bringt einen Brief des Bischofs zu Kunigunde, die einander entsagen, da Fides unter ihrer unehelichen Geburt leidet (648 f.). Johannes tritt im Kloster auf und nennt sich Erzkanzler des Minnesanges, worüber Fides kurz lacht; Johannes versteht den Vorgang nicht. Er sammelt eifrig Lieder, erfährt die Geschichte der Fides und beginnt Fides zu lieben, die ihn aber kaum beachtet (653). Er dichtet sein erstes Minnelied und heftet es Fides heimlich an den Mantel: „Ich wär so gerne froh“. Als der Winter vorbei ist, singt er im Wald seine Lieder; es kommen Frauen, er spielt ihnen zum Tanz auf, sie verschwinden rasch. Auf dem Heimweg begegnet er Fides, beide gehen schüchtern weiter. Johannes dichtet dann weitere Lieder und schickt sie ihr; „es begann eine zärtliche Wärme ihr Herz zu beschleichen“ (659), aber sie hält sich zurück und liefert auf Rüdigers Rat die Briefe ihm ab, der sie dann sammelt und ebenso wie der Bischof meint, sie bezeugten bloß das Spiel der Minne, aber keine Liebe. Hadlaubs Minnelieder werden öffentlich bekannt gemacht, samt Fides als Adressatin.

So vergehen einige Jahre. Johannes sammelt fleißig weitere Lieder. Bei einem Fest kehrt die Jagdgesellschaft auf Burg Manegg ein, wo auch Johannes und Fides sich errötend begegnen; die Bücher der Minnesänger werden vorgezeigt, Johannes’ Leistung gewürdigt; manche Ritter auf den Bildern tragen das Gesicht der Fides (669). Fides lacht über einige misslungene Bilder (670 f.); da wird „Meister Johannes Hadlaub“ als Dichter aufgerufen (672) – Fides muss ihm den Kranz aufsetzen (673 f.), Johannes schaut sie verklärt an; sie gibt ihm eine Nadelbüchse aus Elfenbein und entflieht.

Fides bleibt ihm verborgen, gibt seine Minnebriefe aber nicht mehr ab. Er muss verreisen, bis nach Wien, sammelt Lieder und schließt sich an einen alten Spielmann an, der ihm seine Liedersammlung vermacht, darunter auch Gedichte des von Kürenberg. Nach einem Jahr kehrt er heim; Fides ist jetzt Freiin von Wasserstelz. Es taucht Graf Wernher von Homberg auf, der ebenfalls Fides anminnt; nur wenige halten noch zu Johannes. Da erreicht ihn ein Brief von Fides, die ihn zu einem abendlichen Treffen am 2. Mai bestellt. Ein Kahn bringt ihn zu einer geheimen Pforte – auf der Burg sind noch der Bischof und Wernher. Am nächsten Tag muss Johannes sich vor Fides wegen seiner Minnedichtung rechtfertigen: „Ei, (…) so habe ich immer nur das dabei gedacht, was in den Liedern eben steht, das heißt in denen, die Euch allein angehen…“ (690); wegen einiger grober Verse entschuldigt er sich. Er muss, als er vom Spielmann erzählt, eines von dessen Liedern singen: „Ich zog mir einen Falken“. Graf Wernher unterbricht das Beisammensein, indem er aus Eifersucht Fides abholen will, und muss von Fides auf dem Fluss abgewiesen werden (692 f.); als sie zurückkommt, küssen sie und Johannes sich, versprechen sich einander und planen die Hochzeit. Fides lädt Bekannte und Verwandte auf ihre Burg und gibt die Verlobung bekannt. Gegen den Bischof treten Rüdiger und der alte Hadlaub für das Paar ein. Fides zieht als Bürgersfrau mit Johannes in die Stadt. Die Vollendung des Codex erleben die Alten alle nicht mehr; Johannes hat die Lieder von 138 Sängern gesammelt.

Bei der Lektüre der Novelle müsste man eigentlich die Bilder des Codex Manesse betrachten können, damit man weiß, wovon die Rede ist.

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/zuercher/hadlaub.html (Text)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Z%C3%BCricher+Novellen/Erster+Band/Hadlaub (Text)

https://literarischermonat.ch/eine-expedition-durch-gottfried-kellers-zuericher-novellen/ (Eva Seck über die Züricher Novellen)

https://de.wikipedia.org/wiki/Hadlaub_(Gottfried_Keller) (dürftig)

https://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/3304-gottfried-keller-hadlaub (Eckhard Ullrich zur Novelle)

http://www.amorphe-welt.de/germanistik/hadlaub.pdf (Seminararbeit zu „Hadlaub“)

https://books.ub.uni-heidelberg.de/heibooks/reader/download/154/154-4-7606-1-10-20160818.pdf (Der Codex Manesse: Entstehung und Wirkung)

https://www.journal21.ch/artikel/manegg-ueber-ritter-narren-und-liebende (Burg Manegg heute)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz25095.html (Johannes Hadlaub)

https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=smh-002:1959:39::1626 (Gottfried Kellers Namensgebung)

https://dewiki.de/Lexikon/Gottfried_Keller (Gottfried Keller)

https://literaturkritik.de/gottfried-keller-geburtstag-200-jubilaeum,25834.html (dito)

https://www.ds.uzh.ch/_files/uploads/presse/319.pdf (dito, mit Bild: Schreibunterlage)

Codex Manesse:

https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848

https://de.wikisource.org/wiki/Codex_Manesse

https://www.ub.uni-heidelberg.de/allg/benutzung/bereiche/handschriften/codexmanesse.html

https://www.heraldik-wiki.de/wiki/Codex_Manesse

https://de.wikipedia.org/wiki/Codex_Manesse

G. Keller: Züricher Novellen – Einleitung/Rahmenerzählung (Herr Jacques)

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 611-623 (12Seiten Text).

Als Einleitung und Rahmenerzählung der „Züricher Novellen“ dient eine kleine Erzählung, die „(Herr Jacqes)“ überschrieben ist. Besagter Herr Jacques ist ein junger Mann in der Jugendkrise, gegen Ende der 1820er Jahre; der allwissende Erzähler berichtet von einem Tag im Leben des Herrn Jacques.

Er ist am Morgen des Tages missmutig, weil er verstanden zu haben glaubt, „daß die sanft aufregenden Gefühle, die er seit einiger Zeit in Schule und Haus und auf Spaziergängen verspürt, gar nichts anderes gewesen, als der unbewußte Trieb, ein Original zu sein oder eines zu werden, das heißt, sich über die runden Köpfe seiner guten Mitschüler zu erheben“ (611). Aus diesem Bestreben hat er sich eine Reihe ungewöhnlicher Redewendungen zugelegt und auch ein Heft gekauft, in das er als „Der neue Ovid“ eine Reihe von modernen Verwandlungen eintragen wollte.

Er geht spazieren und nimmt dabei das Heft mit; aber anstatt sich von den im Wasser des Sihlflusses treibenden Holzstämmen zu originellen Ideen anregen zu lassen, berechnet er fix, wie viel Holz da schwimmt und was es kostet. Dann geht er weiter und kommt zu einer Gesellschaft alter Herren, die sich zum Vergnügen im Mörserschießen üben; die hält er für originale Käuze einer vergangenen Zeit und ist betrübt. Sie stellen ihn dafür ein, ihnen die Pfeifen zu halten, und in einem Singspiel bekennt er, sapientia sei seine Liebste; die Alten verbitten sich, als originale Käuze bezeichnet zu werden.

Sein Pate, der unter den Alten ist, erbarmt sich seiner und bricht mit ihm zu einem Spaziergang an den Rand der Stadt Zürich auf. Sie geraten in eine Mädchenklasse, die gerade einen Ausflug macht; sein Pate freundet sich schnell mit den Backfischen an, während Jacques ganz hilflos auch seiner vermeintlichen Liebsten begegnet; doch er weiß nicht einmal, wie sie wirklich aussieht. „Trotz dieser scheinbar gefährlichen Sachlage kann jetzt schon erzählt werden, daß Herr Jacques pedantisch genug war, an seiner Jugendneigung festzuhalten, dieselbe immer mehr auszubilden und um das Mädchen späterhin zu werben mit der Ruhe und Gemessenheit einer guten Wanduhr, ohne je den Schlaf zu verlieren oder, wenn er schlief, von der Sache zu träumen.“ (621) In Wahrheit leidet er, als die Mädchen verschwinden, nur daran, dass er nicht wie diese etwas zu essen bekommt.

Sein Pate geht mit ihm zu den Trümmern der Burg Manegg, in der einst die Lieder der Manessischen Handschrift gesammelt worden sind. Er belehrt Jacques: „Ein gutes Original ist nur, wer Nachahmung verdient! Nachgeahmt zu werden ist aber nur würdig, wer das, was er unternimmt, recht betreibt und immer an seinem Orte etwas Tüchtiges leistet, und wenn dieses auch nichts Unerhörtes und Erzursprüngliches ist! Jenes ist aber im ganzen so wenig häufig oder recht betrachtet so selten, daß, wer es kann und tut, immer den Habitus eines Selbständigen und Originalen haben und sich im Gedächtnis der Menschen erhalten wird, ganze Stämme sowohl wie einzelne.“ (622) Als Beispiel solch tüchtiger Originale nennt er das Geschlecht der Manesse, die auf der Burg Hadegg gewohnt haben. Er schickt sich dann an, dem Patenkind Jacques von der Entstehung der Handschrift und vom Meister Hadlaub zu erzählen, der dafür verantwortlich war. „Es wird eine schöne Mondnacht werden, und bis wir zu Hause sind, bin ich fertig.“ (623)

Erste Novelle: Hadlaub.

In der Novelle „Der Narr auf Manegg“ wird die Rahmenerzählung fortgesetzt (s. dort), nach „Der Landvogt von Greifensee“ wird sie abgeschlossen (S. 802-809):

Jacques ist durch das Abschreiben endgültig von seinen Flausen befreit und verzichtet darauf, ein origineller Kauz zu werden. Er wird als erfolgreicher Geschäftsmann zum Mäzen junger Talente und legt dabei vor allem auf deren Bescheidenheit Wert. Er heiratet und fährt mit seiner Frau nach Rom, um dort u.a. einen jungen Bildhauer zu besuchen, den er fördert und der als Bildhauer an einem dürstenden Faun arbeitet. Als er im „Atelier“ eintrifft, ist dieses die Waschküche der Schwiegermutter, in der sein Schützling gerade seine Hochzeit feiert. Vom Faun gibt es nur ein vertrocknetes Tonmodell, dafür hat der Künstler schon ein Kind gezeugt – der Anlass zur Hochzeit. Jacques’ Entrüstung wird von seiner jungen Frau gedämpft, die das Kleine schon auf den Arm genommen hat. Jacques soll sein Pate werden, was er mit einem Dukaten für das Kleine honoriert, um dann schnell „aus der Höhle der Unbescheidenheit“ (809) zu fliehen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Z%C3%BCricher_Novellen (minimal)

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/zuercher/zuercher.html (Text)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Z%C3%BCricher+Novellen (Text)

https://literarischermonat.ch/eine-expedition-durch-gottfried-kellers-zuericher-novellen/# (Eva Seck über die Züricher Novellen)

http://www.amorphe-welt.de/germanistik/hadlaub.pdf (Seminararbeit zu „Hadlaub“)

https://dewiki.de/Lexikon/Gottfried_Keller (Gottfried Keller)

https://literaturkritik.de/gottfried-keller-geburtstag-200-jubilaeum,25834.html (dito)

https://www.ds.uzh.ch/_files/uploads/presse/319.pdf (dito, mit Bild: Schreibunterlage)

G. Keller: Die missbrauchten Liebesbriefe – gelesen, kurze Analyse

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 324-389 (66 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf den Aufbau der Erzählung.

Im ersten Teil der Novelle wird erzählt, wie ein erfolgreicher Geschäftsmann sich als Schriftsteller gebärdet und durch seine überspannten Ideen seine Ehe mit einer hübschen, tüchtigen Frau zerbricht; dieser Teil ist eine großartige Satire auf den Wahn vieler Leute, Schriftsteller zu sein.

Zu Beginn stellt der allwissende Erzähler die Protagonisten des ersten Teils vor, den Kaufmann Viktor Störteler, genannt Viggi, und seine schöne Ehefrau Gritli. Viktor hat eine „Liebe für Bildung und Belesenheit“ aus seiner Arbeit in einer größeren Stadt mit nach Seldwyla gebracht. Bald schreibt er selber erfolglos Abhandlungen, die er Essays nennt; Novellen bringt er als Kurt vom Walde in Sonntagsblättchen unter. Das Diminutiv „blättchen“ und die Namen seiner Schriftstellerkollegen (u.a. Gänserich von der Wiese) wie auch die offene Bewertung der jungen Comptoiristen in der Stadt (Dummheiten, verworrene Unterhaltung, schreckbare Aufsätze, S. 324) zeigen den Spott des Erzählers über die Kleinstliteraten. Als Haupterlebnis eines Tages auf der Geschäftsreise in einer fremden Stadt wird von einem Treffen solcher Literaten in einer Wirtschaft berichtet (325 ff.), wo Viktor sich als Kurt vom Walde vorstellt; dort wird die Stiftung einer „neuen Sturm- und Dranggesellschaft“ beschlossen – ein satirischer Clou. Nebenher wird ein Dr. Mewes als ahnungsloser Schriftsteller und der Kellner George d’Esan (= Georg Nase) als gewesener Schreiberling entlarvt, der sich wieder zur Arbeit als Oberkellner bekehrt hat.

In Seldwyla gibt Viktor sich ein künstlerisches Aussehen und beschließt, seine Frau „zu erhöhen und zu seiner Muse zu machen“ (332). Als sie die Bücher, die er ihr gibt, nicht versteht, beschließt er, sie mit Gewalt zu höherer Bildung zu führen, und macht einen Erziehungsplan – der eheliche Friede gerät in Gefahr. Nach einigen Wochen erfolglosen Bemühens kommt Viktor auf die Idee, „die schöne Leidenschaft“ zu Hilfe zu rufen und während einer Geschäftsreise einen Briefwechsel mit seiner Frau zu führen, um ihn später zu veröffentlichen; „kehre deine höhere Weiblichkeit hervor“, fordert er von ihr. Sie gibt ihm ein Köfferchen mit Esswaren und Getränken mit, leidet aber an seinem Auftrag, während er sich auf der Reise an den Vorräten gütlich tut (innerer Widerspruch, typisch für eine Satire); den gleichen Widerspruch gibt es zwischen dem gestelzten Liebesbrief, den er schreibt, und einem beigefügten Schreiben mit praktischen Anweisungen (337 f.).

Gritli weiß auf den Liebesbrief nicht zu antworten. In ihrer Not verfällt sie darauf, ihren Nachbarn, den schüchtern Hilfslehrer Wilhelm, einzuspannen, der gerne nach ihr schaut. Sie weist ihn ausdrücklich auf einen „Scherz“ hin (340) und fordert ihn auf, den auf einen Mann als Adressaten umfrisierten Liebesbrief zu beantworten. Wilhelm glaubt sich geliebt, Gritli spürt die Wärme in seinem Antwortbrief, den sie wieder als Antwort an Viktor umformuliert, und will den Versuch schon abbrechen, als der zweite Brief Viktors eintrifft; da lässt sie den Dingen ihren Lauf. Bald schreibt Viktor täglich, bald zweimal täglich, schließlich verlängert er die Reise um zwei Wochen, damit so prächtige Liebesbriefe entstehen – dabei vergnügt er sich in der Fremde mit anderen Frauen (innerer Widerspruch).

Auf der Heimreise erfindet er schon den Titel „Kurtalwine, Briefe zweier Zeitgenossen“; da findet er zufällig Gritlis Briefe an Wilhelm. Er findet dann alle Briefe und sperrt seine Frau in den Keller, „fahr wohl, du schöner Traum“; er räsoniert in verletzter Eitelkeit, betrinkt sich und wirft seine Frau am nächsten Tag aus dem Haus. Sie flieht zu einer älteren Base in Seldwyla. Er geht nach zwei Tagen zum Pfarrer, „um die Scheidung anhängig zu machen“, hofft aber noch im Stillen auf eine Versöhnung. Doch Gritli war schon vor ihm beim Pfarrer. Da trifft ein Brief der Kätter Ambach, einer hässlichen, aber fürs Geistige schwärmenden arbeitsscheuen Frau bei ihm ein, in dem sie ihre Hilfe anbietet; als Kätter selber kommt und ihn anhimmelt, nimmt ihn das für seine Verehrerin ein. Ein Seldwyler kommentiert das neue Paar: „Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Leut!“ (356) Es kommt zur Gerichtsverhandlung, beide Eheleute legen ihre Sicht der Dinge dar, Wilhelm sagt als Zeuge aus; sie werden bei Gütertrennung geschieden, Viktor muss den ansehnlichen Betrag herausrücken, den Gritli mit in die Ehe gebracht hat. Tätter tröstet ihn, die beiden beschließen zu heiraten und feiern groß ihre Verlobung. Nach der Hochzeit zieht der neue Lebensstil ein: Tätter isst für zwei und geht gern aus, Viktor treibt eine wilde und schülerhafte Literatur. Über Jahr und Tag sind sie verarmt.

Mit dem Wechsel des Erzählfadens beginnt der zweite Teil der Novelle, in dem die Veränderung (Reifung) Wilhelms und seine Annäherung an Gritli (bzw. umgekehrt) erzählt wird: die Geschichte von Hindernissen und ihrer Überwindung auf dem Weg zur Liebe. Der zweite Teil ist eher konventionell erzählt, er fällt gegen den ersten Teil ab; er steht aber mit der Geschichte einer zurückhaltend angebahnten Liebe (und natürlich mit den Hauptpersonen) im Kontrast zu den verrückten Liebesbriefen des ersten Teils und rundet so auch den ersten Teil ab.

Gritli hält sich im Städtchen zurück; der 23-jährige Wilhelm wendet sich, in Seldwyla verachtet, den Schulkindern zu. Der Pfarrer betreibt, dass sein Vertrag nicht verlängert wird. Er geht weg. An einem trüben Märzmorgen kommt er bei Regen in einem Rebhäuschen unter, das einem Tuchscherer gehört. Er erweist sich als tüchtiger Landwirt, worauf er in dem Häuschen bleiben darf und vom Besitzer angestellt wird. Wilhelm sucht „seinen Frieden in rastloser Bewegung“ (368) und Arbeit, verschönert das Häuschen, liebt die Natur und sammelt Steine und Rinden. Er erfährt, „wie das grüne Erdreich Trost und Kurzweil hat für die Verlassenen und die Einsamkeit eine gesegnete Schule ist für jeden, der nicht ganz roh und leer ist“ (Kommentar, 369). Er wird ein hübscher Kerl.

Im Herbst taucht Gritlis Gestalt immer deutlicher in seinem Geist auf; er glaubt, sie in einer Besucherin zu erkennen, hält sich aber fern. Im Winter bekommt er einen Ofen und Besuch von Bauern, die seinen Rat suchen, von Frauen und von Kindern, die in der Schule Probleme haben. Gritli nimmt an seinem Geschick Anteil und geht verkleidet mit einer Freundin ihn besuchen; Haus und Mann gefallen ihr, die Freundin richtet zum Schluss einen Gruß Gritlis aus. Sie beschließen danach, ihn auf die Probe zu stellen. Im Frühling geht die Freundin, der er auch gefällt, verkleidet zweimal zu ihm und „gesteht“ ihm, sie sei als Witwe in ihn verliebt. Als sie ihn küssen will, schwankt er, denkt an Gritli und hält sich zurück.

Nach einer schlaflosen Nacht will er erneut aufbrechen, als Gritli zu ihm kommt; sie gehen hilflos ein Stück miteinander. Bei einer Rast bemerkt Wilhelm: „Diese Frau war in ihren Kleidern und bei sich selbst zu Hause, und wer da einkehrte, befand sich in keiner Marktbude.“ (387) Sie nähern sich zögernd und ungeschickt einander, bis sie sich umarmen und küssen. Im Mai wird Hochzeit gefeiert, nach der Reise kaufen sie ein Landgut und bewirtschaften es erfolgreich. Es folgt als Abschluss ein Ausblick in die ferne Zukunft der beiden tüchtigen Leute und ihrer Kinder.

So hat der Möchtegern-Schriftsteller eine schlampige Verehrerin gefunden, die ihn zugrunde richtet, während seine ehemalige Ehefrau an einen tüchtigen Mann gekommen ist, der gern und verständig arbeitet und mit dem sie eine solide Familie gründet.

https://annotext.dartmouth.edu/texts/10200 (Text)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller,+Gottfried/Erz%C3%A4hlungen/Die+Leute+von+Seldwyla/Zweiter+Band/Die+mi%C3%9Fbrauchten+Liebesbriefe (Text)

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/lbbrief/lbbrief.html (Text)

https://www.phlu.ch/_Resources/Persistent/8/7/4/0/8740536a4e5de5cfff074b4065d9b6cd4e08d94b/Missbrauchten%20Liebesbriefe_ER_Aebli.pdf (Nacherzählung, vereinfacht)

https://www.einladung-zur-literaturwissenschaft.de/indexa25a.html?option=com_content&view=article&id=211%3A5-6-die-leute-von-seldwyla&catid=40%3Akapitel-5&Itemid=55 (Sautermeister über „Die Leute von Seldwyla“)

https://www.academia.edu/14756594/Strukturuntersuchung_an_Gottfried_Kellers_Die_mi%C3%9Fbrauchten_Liebesbriefe_aus_dem_zweiten_Band_des_Zyklus_Die_Leute_von_Seldwyla_ (Hans-Michael Dolle: Strukturuntersuchung an Gottfried Kellers „Die missbrauchten Liebesbriefe“)

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_mi%C3%9Fbrauchten_Liebesbriefe (schwach)

Jung’ und Alte, Groß’ und Klein’,

Gräßliches Gelichter!

Niemand will ein Schuster sein,

Jedermann ein Dichter. (Goethe)

Zur Veranschaulichung und Erheiterung hier der erste Brief Viktors an seine Frau:

»Teuerste Freundin meiner Seele!

Wenn sich zwei Sterne küssen, so gehen zwei Welten unter! Vier rosige Lippen erstarren, zwischen deren Kuß ein Gifttropfen fällt! Aber dieses Erstarren und jener Untergang sind Seligkeit, und ihr Augenblick wiegt Ewigkeiten auf! Wohl hab ich’s bedacht und hab es bedacht und finde meines Denkens kein Ende – Warum ist Trennung? – ? – Nur eines weiß ich dieser furchtbaren Frage entgegenzusetzen und schleudere das Wort in die Waagschale: Die Glut meines Liebeswillens ist stärker[387] als Trennung, und wäre diese die Urverneinung selbst – – solange dies Herz schlägt, ist das Universum noch nicht um die Urbejahung gekommen!! Geliebte! fern von Dir umfängt mich Dunkelheit – ich bin herzlich müde! Einsam such ich mein Lager – – schlaf wohl! – –«

Bei diesem Briefe lag noch ein Zettel des Inhalts:

»P.S. Ich habe absichtlich, liebe Frau! diesen ersten Brief kurz gehalten, daß der Anfang Dir nicht zu schwierig erscheinen möge! Du siehst, daß es sich in diesen Zeilen nur um ein einziges Motiv handelt, um den Begriff der Trennung. Äußere nun hierüber Deine Gefühle und füge eine neue Anregung hinzu, welche zu finden nun eben die Sache Deines Herzens und Deines guten Willens sein wird. Heute schlaf ich zum ersten Mal in einem Bette seit meiner Abreise; wenn’s nur keine Wanzen hat! Der junge Müller an der Burggasse, welchen ich angetroffen, hat mich um 40 Francs angepumpt in Gegenwart von andern Reisenden und ganz en passant, so daß ich es in der Eile nicht abschlagen konnte. Da ich weiß, daß seine Eltern noch eine Partie Ölsamen haben, so soll unser Kommis gleich hingehen und den Ölsamen kaufen und auf Rechnung setzen. Es muß aber gleich geschehen, ehe sie wissen, daß der Junge mir Geld schuldig ist, sonst bekommen wir weder Ölsamen noch Geld.

NB. Wir wollen die geschäftlichen und häuslichen Angelegenheiten auf solche Extrazettel setzen, damit man sie nachher absondern kann. In Erwartung Deiner baldigen Antwort, Dein Gatte und Freund Viktor.«

G. Keller: Der Schmied seines Glückes – gelesen

Kellers „Novelle“, eher satirische Humoreske „Der Schmied seines Glückes“ ist wieder eine reizende Geschichte von einem Mann aus Seldwyla, der ohne zu arbeiten sein Glück machen will. Erzählt werden vier Versuche, die der Mann im Lauf von etwa zehn Jahren unternimmt, immer unter dem Bild eines Hammerschlags; denn Herr Kabis vertritt den Grundsatz, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Zuerst modernisiert er seinen Namen Johannes Kabis (= Kappes) zu John Kabys, allerdings ohne damit Erfolg zu haben; dann möchte er ein vermögendes Fräulein Olivia heiraten, um an den chicen Doppelnamen Kabys-Olivia zu kommen, was daran scheitert, dass die Braut als uneheliches Kind in Wahrheit Köpfle heißt und Kabys-Köpfle doch zu eindeutig wäre. Die Werbung um die Mutter, Frau Olivia, scheitert daran, dass diese gemerkt hat, dass Kabys bettelarm ist. Deshalb muss er als Friseur (Barbier) in Seldwyla zu arbeiten beginnen; dabei hört er von einem Kunden, dass es in Augsburg einen reichen alten Mann gebe, dessen Großmutter eine geborene Kabis aus Seldwyla gewesen und der an der Seldwyler Verwandtschaft interessiert sei. Kabys fährt nach Augsburg und wird herzlich aufgenommen; der alte kinderlose Adam Litumlei möchte ihn bald als seinen Erben einsetzen, ihn zu seinem unehelichen Sohn erklären, ihm eine reiche Frau aus Augsburg besorgen und so Stammvater eines neuen Geschlechts Litumlei werden. Sie erfinden mit viel Mühe eine Geschichte vom unehelichen Sohn. Aus Angst, die Frau des Hauses könnte ihn ablehnen, nähert er sich ihr und beginnt eine Affäre mit ihr. Sie wird offenbar schwanger, was aber nicht erzählt wird – Litumlei schickt Kabys jedenfalls auf eine große Bildungsreise, er solle Erziehungsmethoden in ganz Europa erkunden. Als er davon heimkehrt, hat Frau Litumlei einen Sohn geboren; Kabys ist enterbt worden, er soll jedoch als Erzieher im Haus bleiben. Verärgert stellt er die Vaterschaft Litumleis in Frage, worauf er hinausgeworfen wird und in Seldwyla eine Werkstatt als Nagelschmied übernimmt, wo er brav Nägel schmiedet und mit der Zeit (sozusagen als seines Glückes Schmied) „das Glück einfacher und unverdrossener Arbeit“ kennenlernt.

Um den Stil der Erzählung Kellers vorzuführen, zitiere ich die Beschreibung der Ausstattung, mit der Kabys sein Glück machen wollte:

Diese bestanden in einer vergoldeten Brille, in drei emaillierten Hemdeknöpfen, durch goldene Kettchen unter sich verbunden, in einer langen goldenen Uhrkette, welche eine geblümte Weste überkreuzte, mit allerlei Anhängseln, in einer gewaltigen Busennadel, welche als Miniaturgemälde eine Darstellung der Schlacht von Waterloo enthielt, ferner in drei oder vier großen Ringen, einem großen Rohrstock, dessen Knopf ein kleiner Operngucker bildete in Gestalt eines Perlmutterfäßchens. In den Taschen trug, zog hervor und legte er vor sich hin, wenn er sich setzte: ein großes Futteral aus Leder, in welchem eine Zigarrenspitze ruhte, aus Meerschaum geschnitzt, darstellend den aufs Pferd gebundenen Mazeppa; diese Gruppe ragte ihm, wenn er rauchte, bis zwischen die Augbrauen hinauf und war ein Kabinettsstück; ferner eine rote Zigarrentasche mit vergoldetem Schloß, in welcher schöne Zigarren lagen mit kirschrot und weiß getigertem Deckblatt, ein abenteuerlich elegantes Feuerzeug, eine silberne Tabaksdose und eine gestickte Schreibtafel. Auch führte er das komplizierteste und zierlichste aller Geldtäschchen mit unendlich geheimnisvollen Abteilungen.

Diese sämtliche Ausrüstung war ihm die Idealausstattung eines Mannes im Glücke; er hatte dieselbe, als kühn entworfenen Lebensrahmen, im voraus angeschafft, als er noch an seinem kleinen Vermögen geknabbert, aber nicht ohne einen tiefern Sinn. Denn solche Anhäufung war jetzt nicht sowohl das Behänge eines geschmacklosen eitlen Mannes als vielmehr eine Schule der Übung, der Ausdauer und des Trostes zur Zeit des Unsterns sowie eine würdige Bereithaltung für das endlich einkehrende Glück, welches ja kommen konnte wie ein Dieb in der Nacht. Lieber wäre er verhungert als daß er das geringste seiner Zierstücke veräußert oder versetzt hätte; so konnte er weder vor der Welt noch vor sich selbst für einen Bettler gelten und lernte das Äußerste erdulden, ohne an Glanz einzubüßen. Ebenso war, um nichts zu verlieren, zu verderben, zu zerbrechen oder in Unordnung zu bringen, eine fortwährend ruhige und würdevolle Haltung geboten. Kein Räuschchen und keine andere Aufregung durfte er sich gestatten, und wirklich besaß er seinen Mazeppa schon seit zehn Jahren, ohne daß an dem Pferde ein Ohr oder der fliegende Schweif abgebrochen wäre, und die Häkchen und Ringelchen an seinen Etuis und Necessaires schlossen noch so gut als am Tage ihrer Schöpfung. Auch mußte er zu all dem Schmucke Rock und Hut säuberlich schonen, sowie er auch stets ein blankes Vorhemdchen zu besitzen wußte, um seine Knöpfe, Kettchen und Nadeln auf weißem Grunde zu zeigen.

Die humorvolle Erzählung ist unbedingt lesenswert.

https://mythos-magazin.de/methodenforschung/mh_keller.pdf (Seminararbeit? recht ordentlich)

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Schmied_seines_Gl%C3%BCckes (schwächer)

https://www.projekt-gutenberg.org/keller/schmied/schmied.html (Text)

https://archive.org/details/gesammeltewerke03kelluoft/page/54/mode/2up?view=theater (Text)

https://librivox.org/der-schmied-seines-gluckes-by-gottfried-keller/ (Text, gesprochen)

file:///Users/norbert/Desktop/2012_23.pdf (Ursprung des Sprichworts: Jeder ist seines Glückes Schmied)

Eine durchaus lehrreiche Geschichte, fast eine Parabel. Man könnte sie literaturwissenschaftlich vielseitig interpretieren. Wir beschränken uns aber auf den Titel, der ein Teil von einem überaus gebräuchlichen deutschen Sprichwort ist.

Die Novelle veranschaulicht – parömiologisch betrachtet – den Weg, welchen ein Idiom durchmacht, aber rückwärts. Der Protagonist geht sei- nen Weg des Leidens, indem er falsch den Sinn der Volksweisheit versteht. Er wartet ab, gibt sich nicht viel Mühe. Und erst wenn er sich an das hand- werkliche Schmieden macht, erlebt er eine seelische Transformation, denn es geht zum Schluss um Nägel, die immer besser gerieten, und somit wird unser „Glücksschmied“ zu einem Meister, zu einem, der etwas eigenhändig schafft. Aber er schmiedet (im wahrsten Sinne des Wortes) doch Nägel. Er erreicht praktisch den Zustand des phraseologischen Etymons, legt den Bedeutungswandelweg vom Abstrakten zum Konkreten zurück. (Elena N. Tsvetaeva: Warum ist jeder seines Glückes „Schmied“. Zum Ursprung eines Sprichwortes, pdf-Datei, S. 400)

G. Keller: Frau Regel Amrain und ihr Jüngster – Analyse

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 129-172 (44 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf das Erziehen.

Das Thema der Novelle ist die Erziehung eines Jungen durch seine Mutter zu einem tüchtigen Mann und Bürger; sie ist somit mehr ein Exempel als eine Novelle, da nichts Unerhörtes geschieht. Erzählt wird die Geschichte der Familie Amrain, mit dem Hauptaugenmerk auf der Erziehung des jüngsten Sohnes Fritz durch seine Mutter. Der Erzähler spart nicht mit Kommentaren, hält sich insgesamt an die Reihenfolge der Ereignisse, die jedoch nur grob datiert werden; eine Episode aus der Zeit, als Fritz fünf Jahre alt ist, und dann vier pädagogische Eingriffe der Mutter ins Leben des beinahe oder bereits Erwachsenen machen den Kern des erzählten Geschehens aus. Der Erzähler stellt die Erziehungsweise der Frau Amrain als vorbildlich dar.

Zu Beginn wird die Situation der Frau Amrain beschrieben: Sie betreibt allein einen Steinbruch; ihr Mann hat sie mit drei Kindern im Stich gelassen, als er wegen unvorsichtiger politischer Äußerungen Konkurs machen musste; die beiden Eheleute werden charakterisiert, der Mann ziemlich kritisch (S. 129-131).

Das erzählte Geschehen beginnt „einst“ (S. 131). Bei einer Besprechung mit ihrem Geschäftsführer bedrängt der Frau Amrain, sich scheiden zu lassen, um die attraktive Frau („kaum dreißig Jahre alt“, S. 134) zu heiraten und Chef der Firma zu werden. Als er sie auch körperlich bedrängt und sie kaum noch Widerstand leisten kann, erscheint plötzlich ihr kleinster Sohn und vertreibt den aufdringlichen Mann (bis S. 135), während die beiden älteren Söhne schlafen. Da beschließt sie, „von Stund an alle ihre Treue und Hoffnung auf den kleinen Sankt Georg zu setzen und ihm seine junge Ritterlichkeit zu vergelten“ (S. 135); dabei ist er der Sohn, der ihr äußerlich am wenigsten gleicht und auf den Vater kommt.

Es folgt eine ausführliche Beschreibung der Erziehungsmethoden der Frau Amrain, die man am besten ganz liest: Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog ihn so, daß er ein braver Mann wurde in Seldwyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht blieben, solange sie lebten. Wie sie dies eigentlich anfing und bewirkte, wäre schwer zu sagen; denn sie erzog eigentlich so wenig als möglich, und das Werk bestand fast lediglich darin, daß das junge Bäumchen, so vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und sich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete Leute haben immer weit weniger Mühe, ihre Kinder ordentlich zu ziehen, wie es hinwieder einem Tölpel, der selbst nicht lesen kann, schwerfällt, ein Kind lesen zu lehren. Im ganzen lief ihre Erziehungskunst darauf hinaus, daß sie das Söhnchen ohne Empfindsamkeit merken ließ, wie sehr sie es liebte, und dadurch dessen Bedürfnis, ihr immer zu gefallen, erweckte und so erreichte, daß es bei jeder Gelegenheit an sie dachte. (…)

Besonders während der kleineren Jugend des Knaben war die Erziehungsmühe seiner Mutter sehr gering, da sie, wie gesagt, weniger mit der Zunge als mit ihrer ganzen Person erzog, wie sie leibte und lebte, und es also in einem zu ging mit ihrem sonstigen Dasein. Sollte man fragen, worin denn bei dieser leichten Art und Mühelosigkeit ihre besondere Treue und ihr Vorsatz bestand, so wäre zu antworten lediglich in der zugewandten Liebe, mit welcher sich das Wesen ihrer Person dem seinigen einprägte und sie ihre Instinkte die seinigen werden ließ.

Das liest man am besten selber ganz nach, in der Ausgabe auf zeno.org S. 156-160. Aufgrund der liebevollen und vernünftigen Eriehung wächst Fritz ordentlich heran. Mit einem großen Zeitsprung geht es dann weiter: „Als Fritz bald achtzehn Jahre zählte“, musste die Mutter „allerdings einige vorsätzliche und kräftige Erziehungsmaßregeln anwenden“ (S. 139) – diese vier Maßnahmen machen bis auf den Schluss den Rest der Erzählung aus. Es gilt nämlich, Fritz vor vier Gefahren zu bewahren:

1. Er beginnt nach den Frauen auszuschauen und gerät auf einer Hochzeit, als Frau verkleidet, in die Gesellschaft einiger fragwürdiger Frauen aus Seldwyla, aus der die Mutter ihn herausholt (bis S. 146). Als er sich einer neuen jungen Angestellten zu sehr nähert, nimmt die Mutter ihn ins Gebet und verspricht, ihm in einigen Jahren eine tüchtige Frau aus ihrer Heimat zu besorgen. Da sieht er sich selber dort um und findet auch einen Schatz (S. 147 f.).

2. Bald beginnt Fritz, als „ein guter Liberaler“ in der Art der Seldwyler zu politisieren, alles hin und her zu wälzen und „durch blindes Behaupten sich selber zu betäuben“ (S. 150). Die Mutter verbittet sich solche Reden in ihrem Haus, die könne man in der Wirtschaft führen.

3. Die dritte Gefahr liegt in der Begeisterung, mit der Fritz sich an den Freischarzügen zu beteiligen beginnt (S. 150 ff.), mit denen man in die politischen Kämpfe anderer Gemeinden eingriff. Der erste Zug der Seldwyler endet erfolglos bzw. in erfolgreichem Trinken. Beim zweiten Zug sondert Fritz sich von den planlosen Seldwylern ab und gerät mit einem Zug aus der Heimat seiner Mutter in Gefangenschaft; die Mutter erteilt ihm eine Lektion und lässt ihn zwei Wochen in Haft sitzen, worauf er amnestiert wird und gelernt hat, dass man sich nicht leichtfertig in fremde Angelegenheiten mischen soll.

4. Als Fritz bereits verheiratet ist und einen Sohn hat, muss er noch einmal in die Schule genommen werden (S. 161 ff.). Die Wahl des Rates steht an, doch Fritz geht lieber in den Steinbruch arbeiten; zu wählen dünkt den Seldwylern insgesamt überflüssig. Da holt die Mutter ihn aus dem Steinbruch heraus und überzeugt ihren Sohn, zur Wahl zu gehen. In der Versammlung betreibt Fritz, dass der unfähige Präsident der Versammlung sein Amt niederlegt und dass zwei tüchtige Bauern aus der Umgebung in den Rat gewählt werden.

Am gleichen Tag kehrt der Vater aus Amerika heim (S. 169) – das ist der Schluss der Erzählung: Er hat Geld mitgebracht und will sich als Vater und Herr aufspielen. Fritz widersetzt sich ihm; nach einiger Zeit schickt sich der Vater, mit dem die Mutter sich versöhnt, in die Rolle des Mitarbeiters – er lässt sich von seinem Sohn „noch ein bißchen erziehen“ (S. 172). „Sie alle lebten zufrieden und wohlbegütert“ (S. 172), und am Ende stirbt Frau Amrain als eine edle und stolze Frau.

G. Keller: Pankraz der Schmoller – Analyse

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ausgabe „Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe“. Zweiter Band. Carl Hanser: München 1979 (4. Aufl.), S. 13-60 (48 Seiten Text). Ich versuche, die Novelle kurz zu analysieren, und achte dabei besonders auf das Schmollen.

Ein allwissender Erzähler berichtet von Pankraz, dem Schmoller, indem er punktuell dessen bisherige Lebensgeschichte erzählt, die „Geschichte von Pankraz’ Leben und Bekehrung“ (S. 60). In der Kindheit und Jugend ist Pankraz ein von der Mutter verwöhnter Nichtsnutz, der sich durch sein Schmollen auszeichnet und der eines Tages einfach verschwindet (17), als er von anderen Burschen verprügelt wird und seine Schwester ihm einen Teil seines Essens stiebitzt. Nach etwa 15 Jahren kehrt er als französischer Offizier völlig verändert heim (18 f.), wird herzlich aufgenommen und von den Seldwylern bestaunt; er erzählt der Mutter und der Schwester am Abend das, was er während seiner Abwesenheit erlebt hat, in einer Kurzfassung (S. 24 ff.). Diese Erzählung wird unterbrochen (56) und am nächsten Morgen fortgesetzt (bis S. 60); es folgt ein summarischer Bericht vom neuen Leben der Familie im Hauptort des Kantons (60). Pankraz nennt als die Moral seiner Geschichte, „daß er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei“ (60). – Damit ergibt sich die Fragestellung: 1. Wie sah die Unart des Schmollens bei ihm aus? 2. Wie ist er von dieser Unart geheilt worden?

Pankraz wächst in Seldwyla in kümmerlichen Verhältnissen als Sohn einer Witwe zusammen mit seiner jüngeren Schwester Esther auf (13 f.). Er ist ein eigenartiger Junge von 14 Jahren, der kaum Kontakt mit anderen hat (14 f.). „Im übrigen war es ein eigensinniger und zum Schmollen geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte.“ (14) Mutter und Schwester arbeiten in Heimarbeit, um etwas Geld zu verdienen; Esther ärgert ihren Bruder gelegentlich beim Essen, worauf Pankraz den Löffel wegwarf, „lamentierte und schmollte“ (15) und die Mutter von ihrem Essen den Kindern abgab. Pankraz lernt nichts als ein „künstliche Art zu schmollen, mit welcher er seine Mutter, seine Schwester und sich selbst quälte“ (16); über Esthers Fröhlichkeit nach einem Streit ärgert er sich, schmollt „immer länger Zeiträume hindurch“ und weint heimlich „aus selbstgeschaffenem Ärger“ (16). Er beginnt bald, in der Gegend umherzustreifen, „um zu sehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben und erleiden könne“ (16). Darüber erstarkt er, wird aber einmal selber verprügelt und am gleichen Tag von der Schwester um einen Teil seines Essens gebracht (17), wie bereits erwähnt. Er verschwindet in der Nacht und bleibt 15 Jahre weg. „Das war ein langes und gründliches Schmollen…“ (17); dabei war er vorher schon „unzählige Male schmollend zu Bett gegangen“ (21) und Esther hatte „den Schmollenden tausendmal ausgelacht“ (21).

Da war einst ein heller schöner Sommernachmittag“ (18), so beginnt der Erzähler den Bericht von der Heimkehr Pankraz’; drei kleine Sensationen beleben Seldwyla an diesem Tag und Esther ahnt, dass ihr Bruder heimkehrt, als ein feiner Herr im offenen Reisewagen erscheint und sich als der völlig veränderte Sohn und Bruder vorstellt (20 f.): Er ist höflich und freundlich, umarmt die Mutter, hat für ein gutes Essen und Trinken gesorgt und bekennt von dem Löwen, dessen Fell er mitgebracht hat, der sei sein „Lehrer und Bekehrer“ gewesen und habe ihm stundenlang „so eindringlich gepredigt, dass ich armer Kerl endlich von allem Schmollen und Bössein für immer geheilt wurde“ (22). Die aufdringlichen Leute von Seldwyla schickt er nach einiger Zeit freundlich fort, um dann beim Kerzenschein seine Geschichte zu erzählen (24). Er knüpft dabei an seine Flucht aus dem Elternhaus an und erklärt, dass sein früherer Groll sich „nicht gegen euch, sondern gegen mich selbst, gegen diese Gegend hier, diese unnütze Stadt, gegen meine ganze Jugend“ (25) richtete; der geheime Grund seines häuslichen Schmollens sei gewesen „das nagende Gefühl, dass ich mein Essen nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts tat, ja weil mich gar nichts reizte zu irgend einer Beschäftigung“ (25). Der Erzähler erwähnt am Rande „die herbe und bittere Gemütsart“ Pankraz’ (24), die sein Wesen in der Fremde konserviert habe.

Sein Leben ist, kurz skizziert, nach der Flucht so verlaufen (25 ff.): Er hat sich durch Gelegenheitsarbeit beim Wandern nach Hamburg durchgeschlagen, ist nach Amerika und zurück gefahren, hat sich als englischer Soldat verdingt und in Indien lange dient, hat wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte seinen Abschied genommen und in Paris sich entschieden, in die französisch-afrikanische Armee einzutreten; bei einer Löwenjagd wäre er fast umgekommen und hat im Angesicht des Löwen beschlossen, sein Leben zu ändern und heimzukehren.

Als Soldat war er ordentlich und zuverlässig, wobei ihm sein Schmollwesen zustatten kam, „indem es mir eine vortreffliche lautlose Pünktlichkeit und Aufmerksamkeit erleichterte“ (29). Er wird befördert und zum Kommandeur als dessen Bursche delegiert, wo er dessen schöne Tochter Lydia kennenlernt; sie scheint anders als alle Frauen zu sein (32 f.); er ändert sein Frauenbild (33-35), erfreut sich an ihrem Anblick und schweigt lange, bis er sich eines Tages in sie verliebt, als sie sich ihm nähert (37); er hält sich weiterhin zurück und sucht unsicher sein Heil „in meiner alten wohlhergestellten Schmollkunst“ (39). Dass Lydia offensichtlich leidet, macht ihn unsicher. Da gibt sie ihm Skakespeares Werke zu lesen, der für ihn zum Verführer wird (40 f.), indem er ihn scheinbar erleuchtet: Er sieht Lydia im Licht der Skakespeareschen Gestalten, hält sich aber ein halbes Jahr zurück und beschließt, wieder zur Kompanie zurückzukehren. Am Abend seiner Abreise macht Lydia ihm eine Leidensszene (45 ff.); er gesteht ihr seine Liebe und wird zurückgewiesen – sie hat es endlich erreicht, dass sie auch bei ihm gesiegt hat. Nach einer Auseinandersetzung mit ihr geht er enttäuscht fort und wirft sich vor, durch sein eigenes Schmollwesen zu spät bemerkt zu haben, was für eine hohle Nuss Lydia trotz ihr Schönheit ist (51); dennoch hat er oft noch Sehnsucht nach ihr. Er erlebt sie noch einmal, wie sie sich mit „Hausnarren“ umgeben hat, die ihr den Hof machen (54 f.), nimmt dann endgültig Abschied von der Armee und tritt in Paris in französische Dienste. Seinen beiden Zuhörerinnen erklärt er am nächsten Morgen, dass er wegen seiner Schmollerei die von ihm geliebte Frau nicht eher durchschaut hat „und als ein neugestählter Schmoller aus Indien nach Afrika ging zu den Franzosen“ (56). Dort trifft er bei der Jagd auf den großen Löwen, den er erlegen will, aber zunächst nicht findet, und der mit ihm „ein ähnlich schmollendes Spiel trieb“ wie umgekehrt (57). In Gedanken an Lydia hat er sein Gewehr abgelegt, um an einer Quelle zu trinken, als der Löwe auftaucht und sie stundenlang einander gegenüberstehen. „Das war die bitterste Schmollerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieser Gefahr entränne, so wollte ich umgänglich und freundlich werden, nach Hause gehen und mir und andern das Leben so angenehm als möglich machen“ (58 f.). Zwei Soldaten retten ihn dann.

Seine Erzählung wird zweimal kurz unterbrochen, einmal von der Bemerkung des Erzählers, dass die beiden Frauen eingeschlafen sind (33), und dann von der anderen, dass Pankraz sie weckt (56), um am nächsten Morgen die Geschichte zu Ende zu erzählen – die Liebesgeschichte haben sie zu ihrem Bedauern nicht gehört und er weigert sich, sie zu wiederholen. Er wird ein geachteter, tüchtiger Bürger und nimmt das Wort Lydia nie mehr in den Mund.

Aus einer höheren Warte bedenkt Pankraz – ganz im Sinne des Erzählers, denke ich – nach seiner Rückkehr angesichts seiner Mutter und seiner Schwester „die menschliche Art und das menschliche Leben, und wie gerade unsere kleineren Eigenschaften, eine freundliche oder herbe Gemütsart, nicht nur unser Schicksal und Glück ausmachen, sondern auch dasjenige der uns Umgebenden und uns zu diesen in ein strenges Schuldverhältnis zu bringen vermögen, ohne dass wir wissen, wie es zugegangen, da wir uns unser Gemüt ja nicht selbst gegeben“ (23). Das ist denn auch das endgültige Wort zur Bedeutung der Novelle.

Die Zeitangaben des Erzählers und seines Helden sind insgesamt sehr unbestimmt: „einst“ (18), fünf Jahre (31), „ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber“ (35), ein halbes Jahr (42), „eines Tages“ (57). Auch wird weder die Geschichte der Familie noch die Flucht Pankraz’ datiert, ferner hat die Mutter keinen Namen – die Novelle hat den Charakter einer Parabel, die zeigt, wie unsere Gemütsart unser Geschick und das der uns Verbundenen bestimmt (s. die Gedanken Pankraz’, 23). Die Liebesgeschichte als Geschichte einer Täuschung und Enttäuschung, der scheuen Zurückhaltung und einer schamlosen Verführung zum Liebesbekenntnis verdient eine eigene Analyse.

E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann – Analysen

Ich orientiere mich am Text in der Anthologie „Meistererzählungen der deutschen Romantik“, hrsg. von Albert Meier u.a. (1985); dtv 2147, S. 183-213.

1.Die drei Briefe

Der Erzähler nennt die drei vorangestellten Briefe „den Umriß des Gebildes“, welches er erzählend kolorieren will (S. 195); deshalb sind zuerst die Briefe zu untersuchen. Der erste Brief hebt sich von den beiden anderen ab, weil in ihm die Lage Nathanaels erklärt wird, während die beiden anderen Briefe Kommentare zum ersten Brief darstellen.

Im ersten Brief gibt es drei Zeitmarken:
– das Heute, in dem der Brief geschrieben wird, Anfang November;
– das Ereignis vom 30. Oktober, das als Einbruch des Entsetzlichen erklärt wird;
– die Kindheit Nathanaels, in der er Coppelius als teuflischen Sandmann erlebt hat.
Diese drei Ebenen oder Zeitmarken sind kunstvoll im Schreiben des berichtenden Autors ineinander verschlungen, so dass es schwer ist, an einer Stelle mit der Analyse zu beginnen, ohne das Knäuel zu zerreißen – wie ja auch später der Erzähler seine Schwierigkeiten hat, mit dem Erzählen zu beginnen (S. 195 f.).
Die Kindheitsgeschichte wird chronologisch vom Briefschreiber Nathanael erzählt (S. 184 ff.), nachdem er vom Besuch des Wetterglashändlers berichtet und von „der zerrissenen Stimmung des Geistes“ gesprochen hat, in der er sich befindet, sowie zu Beginn den Kontakt zu „Euch“, den Lieben daheim, aufgenommen hat (S. 183 f.):
* Er hat als kleines Kind den Sandmann als eine schreckliche Figur, welche den Kindern die Augen stiehlt, kennengelernt;
* er hat den kinderfeindlichen Advokaten Coppelius, welcher abends den Vater besucht, als Sandmann identifiziert;
* bei dieser Aktion hat Coppelius ihn misshandelt und in eine schwere Krise gestürzt;
* Coppelius hat den Tod des Vaters (mit)verursacht und ist danach verschwunden;
* Coppelius hat sich, so bewertet Nathanael zusammenfassend, als Teufel erwiesen („ewiges Verderben“, S. 187; „verruchter Satan“, S. 189; teuflischer Coppelius, S. 189).
Dieser „verruchte Coppelius“ (S. 190) ist nun wenige Tage zuvor in Gestalt des Wetterglashändlers [Wetterglas: Barometer] wieder erschienen, eindeutig identifiziert durch „Figur und Gesichtszüge“ sowie den Namen Coppola (S. 190).
Wie wirkt sich diese Erscheinung des Coppola-Coppelius auf Nathanel aus? Er ist verstört (S. 183); dunkle Ahnungen eines grässlichen Geschicks haben ihn wie schwarze Wolkenschatten befallen (S. 183 – ähnlich: ein dunkles Verhängnis hat sich wie ein trüber Wolkenschleier über sein Leben gehängt, S. 188). Er besteht darauf, dass es nicht seiner eigenen „Augen Blödigkeit ist“, wenn er nun die Welt so farblos sieht (S. 188). Auch die anmutige Freundin Clärchen „mit ihren hellen Augen“ (S. 183) kommt nicht gegen diese Bedrohung an, ihr will er erst später schreiben – Nathanael wendet sich an seinen Freund Lothar, ohne dafür einen Grund zu nennen; vielmehr versichert er, er wolle den Kampf gegen Coppola aufnehmen (S. 190).
Trotz seines Schreibens rechnet er nicht mit dem Verständnis Lothars und Claras (S. 183 f.); trotz seines Schreibens möchte er nicht, dass Clara und seine Mutter etwas von seiner Not erfahren (S. 190); trotz seines seelischen Verfinsterung spricht er von „süßen Träumen“, in denen ihm Clara erscheine (S. 183). Der Austausch mit den Freunden daheim besteht also noch, ist aber gestört, zumal da der Student ohnehin schon lange nicht mehr nach Hause geschrieben hat.
Der zweite Brief (S. 190-193) ist der Claras an Nathanael, welcher den ersten fälschlich an Clara adressiert hat – „durch meine Zerstreutheit“ (S. 193) erklärt er selber; als Leser erkennt man in diesem Versehen vielleicht einen versteckten Hilferuf an die Braut. Clara zeigt in ihrem Brief sowohl Mitgefühl und Mitleiden mit Nathanael, bezeugt aber auch, dass sie verstört war, jedoch schnell ihre Heiterkeit wiedergewonnen hat (S. 190 f.). Zugleich erklärt sie ihm ihre aufgeklärte Sicht: dass „alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vorging“ (S. 191). Sie bestreitet nicht, dass es eine dunkle Macht geben mag, „die feindlich uns in unserm eignen Selbst zu verderben strebt“ (S. 191); aber durch Lothar belehrt, erklärt sie Nathanael, wie wir durch unseren Glauben an diese Macht ihr Gewalt über uns einräumen.
Wie will sie ihm helfen? Sie ermahnt ihn: „Sei heiter – heiter!“ (S. 192); sie will als sein Schutzgeist bei ihm erscheinen und den hässlichen Coppola durch lautes Lachen vertreiben (S. 192 f. – damit ist Nathaels Befürchtung aufgegriffen, die Freunde würden ihn auslachen, S. 183 f.); seiner Augen-Verderberei gedenkt sie zu widerstehen (S. 193).
Der dritte Brief ist wiederum ein Brief Nathanaels an Lothar (S. 193 f.); gegenüber seinem ersten Brief hat Nathanael erkannt, dass Coppola als Piemonteser nicht mit Coppelius identisch sein kann – der Schrecken scheint eingezäunt zu sein. Anderseits fällt mir der Widerstand gegen Claras Intervention auf; er möchte nicht, dass Lothar mit seiner Schwester über ihn spricht und dass Clara „so gar verständig, so magistermäßig distinguieren könne“ – ihm genügt eine Clara mit den „hellen holdlächelnden Kindesaugen“ (S. 193). Er deutet auch eine mir schwer verständliche tiefe Verstimmung an, die durch Claras „fatalen verständigen“ Brief hervorgerufen worden sei (S. 194) – das lässt auf einen Widerstand gegen Claras Einsicht schließen, dass Coppelius/Coppola „nur in meinem Innern existieren und Phantome meines Ichs sind“ (S. 193).
Ferner werden als neue Figuren Professor Spalanzani und seine Tochter Olimpia eingeführt, die zwar ein „engelschönes Gesicht“ habe, deren Augen jedoch „etwas Starres“ anhafte, als seien sie ohne Sehkraft (S. 193 f.). Damit sind die Figuren benannt, in deren Umkreis der Wahn Nathanaels weiterwuchern kann.
Zum Schluss kündigt er an, er werde in vierzehn Tage nach Hause kommen und seine Lieben besuchen – so kann das Geschehen seinen erzählten Fortgang nehmen.

Als Thema kristallisiert sich in den drei einleitenden Briefen heraus, dass ihm die Sehkraft der Augen durch den „Sandmann“ Coppelius/Coppola geraubt zu werden droht, was sich schon in einer Trübung seines Blicks und einer Verfinsterung seiner Seele zeigt. Ferner gibt es zwei Frauengestalten, deren eine, seine Braut, einen klaren Blick hat, während die andere ohne rechte Sehkraft zu sein scheint.

2. Der Erzähler beginnt zu erzählen, sagt er

Gleich nach dem letzten Brief wird ein neues Dreieck konstruiert: Nathanael, mein Freund – ich, der Erzähler – du, „günstiger Leser“; Nathanaels Geschick wird als überaus seltsam und wunderlich bewertet (S. 194).
Der Rest des großen Absatzes (S. 194 f.) dient dazu, den Erzähler ins rechte Licht zu rücken, sagt er, und seine Erzählstrategie zu erklären: dass er ohne weitere Erklärung mit den drei Briefen begonnen hat. Jedenfalls stellt er eine fiktive Situation des Lesers seiner eigenen Situation gegenüber; entscheidend dabei ist die Tatsache, dass der jeweils Erzählende ganz von seinem Thema erfüllt ist und dass es sich bei diesem, bezogen auf Nathanaels verhängnisvolles Leben, um etwas Seltsames und Wunderbares handelt (S. 195). Was das Interesse der Zuhörer angeht, sieht er sich im Nachteil gegenüber dem geneigten Leser: Ihn habe niemand nach Nathanael gefragt… Des Lesers quälendem Bemühen, die ersten Worte zu finden; dann den Umriss des inneren Bildes zu entwerfen; danach die glühenden Farben aufzutragen, sodass man selbst recht „mitten im Bilde“ ist (S. 195) – des Lesers Bemühen also stellt er sein eigenes Scheitern entgegen: Er habe den Anfang nicht gefunden, habe deshalb auch wohl nicht zu erzählen begonnen, sondern als Herausgeber besagte drei Brief vorangestellt (S. 195). Mit zwei durch „vielleicht“ eingeleiteten Sätzen greift er dann auf die mögliche Wirkung seines Erzählens vor: dass der Leser sich ein recht lebendiges Bild macht, dass er aber des Dichters Werk nur für ein schwaches Abbild des wahren Lebens halte (S. 195, Ende).
Diese Paradoxie: dass das dichterische Werk erhellen kann, obwohl es nur ein mattes Bild ist; und die Fiktion, dass der Erzähler angeblich der Dichter selbst ist – beides bedürfte einer Interpretation im Rahmen einer Theorie romantischen Erzählens. Die neuere Erzähltheorie kann mit solchen Arrangements umgehen, ohne hier eine Bescheidenheit des Dichters E.T.A. Hoffmann annehmen zu müssen; Selbstreferenz, Erzählen des Erzählens (erzähltes Erzählen), das sind die Stichworte, unter denen man das Phänomen aufspüren kann. (Über homodiegetisches Erzählen s. http://www.li-go.de/definitionsansicht/prosa/homodiegetischeserzaehlen.html und die Links unten.) Bezogen auf den Fortgang des Geschehens kann man hier aber die Folie erkennen, vor der die Überschätzung der eigenen poetischen Machwerke Nathanaels (S. 199 und S. 207 f.) als rechte Überspannung eines vermeintlich poetischen Gemütes deutlich wird.

Danach schließt der Erzähler in zwei Schritten zu der Zeit auf, von der er erzählen will: Zunächst wird die von Nathanael berichtete Vorgeschichte weitergeführt (wie Clara und Lothar mit Nathanael aufgewachsen sind, S. 195 f.); es folgt eine Beschreibung und Charakterisierung Claras, die „lebendig mir vor Augen“ steht (S. 196 – der Erzähler konstituiert hier einen späteren Zeitpunkt des Erzählens), bevor er die zeitliche Lücke zwischen dem letzten Brief und der Ankunft Nathanaels in seiner Vaterstadt schließt (S. 196).
Der Erzähler kennt also Clara persönlich oder hat sie gekannt (als holdselig lächelnd); er berichtet zuerst, was andere von ihr gesagt haben (S. 196) – dabei finden Claras Augen besondere Beachtung. Danach beschreibt er sie als eine Frau mit Gemüt und Verstand, bei der „die Nebler und Schwebler“ keinen Stich bekommen. Abschließend berichtet er von zwei verschiedenen Bewertungen dieser Eigenart Claras: was viele sagen (S. 196) vs. was die sagen, „die das Leben in klarer Tiefe aufgefasst“ haben (S. 196); schließlich erwähnt er, wie Nathanael und Clara sich lieben, wobei auffällt, dass die „ersten Wolkenschatten“ in Claras Leben erwähnt werden (S. 197, bei der Abfahrt Nathanaels zum Studium) – die Wolkenschatten kennen wir schon von der Verdüsterung Nathanaels. Insgesamt erscheint Clara als eine Gegenfigur zu Coppelius (S. 186 f.) – sie sind die einzigen Figuren, die beschrieben und charakterisiert werden und die jeweils einen anderen Pol des Lebens darstellen.
Clara ist keineswegs eine Figur allein der Aufklärung, sondern besitzt auch „ein tiefes weiblich zartes Gemüt“ (S. 196); ihre Überlegenheit gegenüber den Neblern und Schweblern weist allerdings darauf hin, dass es zu Spannungen mit Nathanael kommen muss – jetzt wird auch seine im dritten Brief ausgesprochene Verstimmung verständlich.

3. Nathanael dichtet und sieht den Untergang

Auf den nächsten vier Seiten (S. 197-201) wird vom Heimaturlaub des Studenten Nathanael erzählt. Die Dauer dieses Aufenthalts gibt der Erzähler nicht an; insgesamt erzählt er stark raffend – nur der Inhalt von Nathanaels Gedicht wird ausführlicher berichtet. Weniger stark gerafft ist die episodische Erzählung vom Vortrag des Gedichts (S. 199 f.), vom Beinahe-Duell am folgenden Morgen und von der Versöhnung (S. 200).
Als Thema schiebt sich der kommende Untergang dreifach in den Blick des Lesers:
* Nathanael beweist Clara in seinen Spinnereien, dass der Dämon Coppelius ihr Liebesglück stören wird (S. 197);
* der Erzähler kommentiert die Entfremdung zwischen ihnen, dass sie sich immer mehr voneinander entfernen, ohne es zu merken (S. 198);
* im Gedicht wird der Untergang vorweggenommen, wodurch es beinahe zum Duell zwischen Lothar und Nathanael gekommen wäre. Die darauf folgende Versöhnung kann das drohende Ende nur noch hinausschieben.
Bevor von Nathanaels Dichten berichtet wird, verfolgt der Erzähler sozusagen eine Zwar-aber-Strategie: Zwar ist die Verstimmung verflogen, als die Brautleute sich sehen, aber alle spüren, dass Nathanael verändert ist (S. 197); wenn dieser beweist, dass Coppelius ihr Liebesglück stören wird, dann widerspricht Clara, und eine Verständigung ist nicht mehr möglich (S. 197); sonst konnte Nathanael anmutig und lebendig erzählen, jetzt aber sind seine Erzählungen düster und gestaltlos (S. 198). Der Erzähler kommentiert, dass das ganze Leben für Nathanael „Traum und Ahnung“ geworden ist (S. 197), für Clara sind seine Schicksalsphantasien „mystische Schwärmerei“ (S. 197).
Es ist nicht immer klar, ob der Erzähler ausschließlich neutral berichtet oder sich auch an die Perspektive der Figuren anlehnt. Dass er neutral berichtet, bedarf keines Beweises; interessanter ist es, Belege für das Gegenteil zu suchen. Wenn es vergebens „schien“, sich auf eine Widerlegung einzulassen (S. 197), dann ist das Claras Sicht – der Erzähler könnte sagen, dass es vergebens war. Und wenn Nathanaels Verdruss „über Claras kaltes prosaisches Gemüt“ ansteigt (S. 198), so ist das Nathanaels Meinung – so hat dieser zuvor schon von Clara gedacht. Der Erzähler seinerseits kennt nicht nur die Stimmung der Figuren („verdrüßlich“, S. 197), sondern auch ihre Gedanken („Der dachte“, S. 198) und sogar deren unbewusste Gedanken („ohne sich deutlich bewusst zu sein“, S. 198).
Die meiste Zeit (resp. den meisten Platz) verwendet der Erzähler für seinen Bericht von Nathanaels Dichtung. Des Coppelius Gestalt ist bereits dabei, in Nathanaels Fantasie zu erbleichen – nur noch mit Mühe koloriert er den „Schicksalspopanz“ in seinen Dichtungen. „Es kam ihm endlich ein“, seine düstere Ahnung in einem Gedicht festzuhalten (S. 198); das Neutrum-Pronomen der 3. Person zeigt, dass es eben „es“ ist, was da in Nathanael wirkt, nicht sein Ich. Der Inhalt des Gedichtes interessiert hier weniger – es ist mit dem flammenden Feuerkreis eine Vorausdeutung aufs reale Ende (S. 198/210/213). Interessanter ist des Erzählers Bemerkung, dass Nathanael „ruhig und besonnen“ dichtet, dass er am Metrum feilt, bis alles wohlklingend ist (S. 199). Erst beim Lesen fasst ihn „Grausen und wildes Entsetzen“ (S. 199). Nach einem distanzierten Erzählerkommentar („wiewohl er nicht deutlich dachte“, S. 199) wird episodisch erzählt, wie er Clara das Gedicht vorliest und dabei von seiner eigenen Dichtung fortgerissen wird (rote Wangen, er weint, S. 199).
Diese Wirkung steht nicht nur im Widerspruch zu der ausdrücklich benannten artifiziellen Herstellung des Gedichtes, sondern auch zur erwarteten Wirkung des vom Erzähler gefertigten Opus (S. 195); diesem wohnt der Drang inne, etwas Wichtiges zu sagen, aber mit dem Sagen und dem Wirken hat es eine eigene Bewandtnis. – Ich denke also, dass man Nathanael an dieser Stelle als Zerrbild eines Dichters wahrnehmen muss, während er sich in der Zeit der ersten Liebe „in Wissenschaft und Kunst kräftig und heiter bewegte“ (S. 197). Sein Niedergang ist also auch der des Dichters Nathanael.
Clara reagiert auf Nathanaels Gedicht-Erregung ruhig, aber entschlossen; sie drückt ihn an sich, bittet ihn aber, „das tolle – unsinnige – wahnsinnige Märchen“ vom Ende ihrer Liebe ins Feuer zu werfen (S. 199 f.). Damit widersteht sie „sachlich“ dem Wahn, auch wenn sie menschlich Nathanael auffängt; der reagiert empört und beschimpft Clara so, als ob er sie mit der Puppe Olimpia verwechselte: „Du lebloses, verdammtes Automat!“ (S. 200) Das ist für Clara zu viel; sie berichtet Lothar den Vorfall, worauf es dann zum Duell gekommen wäre, wenn Clara es nicht verhindert hätte (S. 200). Es folgt eine Versöhnung; reserviert berichtet der Erzähler, dass „dem Nathanael (…) zumute“ war, als sei er nun gerettet (S. 200) – damit deutet er an, dass jener in Wahrheit eben nicht gerettet ist.
Den Abschluss dieser Passage bildet der kurze Bericht von drei selig erlebten Tagen und der Abreise Daniels „nach G.“ (S. 200); die Randbemerkung, dass man der Mutter nichts gesagt hat, greift dagegen bereits wieder die unheilvolle Gestalt „Coppelius“ auf (S. 201).

4. Nathanael wird vom Wahn gepackt

Im folgenden Teil der Erzählung (bis zur letzten Leseranrede, S. 210) wird berichtet, wie Nathanael in den Wahnsinn verfällt; dabei wird das Motiv des verrückten Dichters beibehalten: Einmal wirft er seinem Freund Siegmund vor, nicht zu den poetischen Gemütern zu gehören und deshalb auch keinen Sensus für Olimpias Innenleben zu haben und sie bloß für einen Mechanismus zu halten (der sie ja ist, S. 207); das „poetische Gemüt“ erscheint dem Leser so als das von Wahngedanken bestimmte. Das zweite Mal taucht dieses Motiv auf, als Olimpia vom Erzähler ironisch als andächtige Zuhörerin beschrieben wird, die sich täglich Nathanaels poetische Ergüsse anhört, „ohne zu ermüden. Aber auch noch nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt. Sie stickte und strickte nicht…“ (S. 208), ganz anders als Clara, der er sein entsetzliches Gedicht vorgelesen hatte (S. 199).
Die wiederholte Gegenüberstellung seines Verhältnisses zu Clara und zu Olimpia zeigt seine Veränderung, die im Wahnsinn endet (S. 210): Zuerst ist ihm in G. Clara im Herzen (S. 201); nachdem er durch das Fernglas Olimpia gesehen und sich in sie verliebt hat, ist Claras Bild „ganz aus seinem Innern gewichen“ (S. 203 – ich sehe auch einen Zusammenhang zwischen Nathanaels Begeisterung für sein Gedicht-Artefakt und für das „Menschen“-Artefakt Olimpia); schließlich hat er ganz vergessen, „dass es eine Clara in der Welt gebe“ (S. 207) – im Vergleich der idealen Zuhörerin Olimpia mit der realen Clara zeigt sich sein Wahn.
Dieser Wahn wird durch die erneute Begegnung mit Coppola und dessen Angebot „sköne Oke“, die sich als Brillen herausstellen, ausgelöst (S. 202); an Clara denkend kann Nathanael den Spuk noch einmal abwehren (S. 202). Doch als Coppola ihm ein Taschenperspektiv, also ein Fernrohr verkauft und Nathanael durch den künstlichen Augenersatz Olimpia erblickt, ist es um ihn geschehen, je schärfer er hinschaut: Es ist ihm, „als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf“ (S. 202), und ihre vermeintlichen Blicke werden ihm Zeugnis ihrer tiefen Seele. Die Augen Olimpias, die er schließlich blutig am Boden sieht und die Spalanzani ihm vor die Brust wirft, treiben ihn vollends in den Wahnsinn – der Sandmann und Coppelius haben ihr Werk an ihm vollendet (S. 210, vgl. S. 184, 188).
Die Zeitstruktur des erzählten Geschehens (10 Seiten von 30, fünf Episoden in einem unbestimmten Zeitraum von mehreren Wochen) ist folgende: Der Erzähler beginnt mit der Beschreibung von Nathanaels neuer Wohnung und seinem stabilisierten Zustand: Clara im Herzen, Olimpia wird nur flüchtig wahrgenommen (S. 201). Es folgt die Episode, wo Coppola wieder auftaucht, ihm zwar keine neuen Brillen-Augen, dafür aber das Fernrohr verkaufen kann; der nicht erklärte „Todesseufzer“ in seinem Zimmer (S. 203) signalisiert eine Wende, er kann sich „von Olimpias verführerischem Anblick“ schon nicht mehr lösen (S.203). Diese Episode mag zwei Stunden dauern, der Erzähler widmet ihr zwei Seiten (von 30). Nachdem andeutungsweise von zwei Tagen berichtet worden ist (S. 203), wird kurz episodisch vom anstehenden Fest bei Spalanzani berichtet (S. 203 f.). Am folgenden Tag findet das Fest statt, bei dem der Automat Olimpia musiziert und sich bewegt – Nathanael verfällt ihr vollends, er befindet sich „in einer ganz anderen Welt“ (S. 205) und fühlt „des Lebensblutes Ströme in ihr“, obwohl doch allen anderen klar ist, dass sie kein Mensch ist (S. 205). Am Ende des Festes wird er von Spalanzani ermuntert, ihn und seine Tochter öfter zu besuchen (2 Seiten für das Geschehen eines Abends, S. 204-206). In den folgenden Tagen sprechen die Leute viel „über die todstarre, stumme Olimpia“ (S. 207), wovon nur kursorisch berichtet wird; nur Nathanael denkt der Puppe „tiefes herrliches Gemüt“ zu kennen (S. 206). Eines Tages, so wird erzählt, kommt es zu einem Gespräch zwischen Nathanael und seinem Freund Siegmund, welcher ihm zwar seine Bedenken bezüglich Olimpia vortragen, aber nicht nahebringen kann, da er sich für ein poetisches Gemüt, die anderen jedoch für Prosaiker hält (S. 207); Siegmund versichert ihm seinen Beistand für alle Fälle. Nach dieser Episode berichtet der Erzähler summarisch voller Ironie, was jetzt „täglich“ (dreimal, S. 207 f.) geschieht: wie Nathanael dem Automaten als einer vermeintlich seelenvollen Frau vollends erliegt, wie er dazu dichtet und sich zutiefst verstanden weiß (und sie schließlich heiraten will), obwohl die Puppe nur „Ach! Ach!“ sagen kann (S. 207 f.). Es folgt als letzte Episode der Besuch bei Spalanzani, wo er Olimpia um ihre Hand bitten will und dabei erlebt, wie Coppola/Coppelius (die Namen werden wahlweise gebraucht, S. 209 f. – die Identität der Figuren wird also von Nathanael erlebt) mit Spalanzani in Streit gerät und den Automaten zerstört, wobei Nathanael vom Wahnsinn ergriffen wird und sich mit dem Sprüchlein vom „Feuerkreis…“ in den Kampf stürzt (S. 210); er wird schließlich überwältigt und „nach dem Tollhause gebracht“ (S. 210). Diesem Geschehen von ein, zwei Stunden werden knapp 2 Seiten, also vielleicht gut fünf Minuten Erzählzeit eingeräumt.
Hier könnte die Erzählung vom verunglückten Poeten Nathanael enden, welcher durch die seit seiner Kindheit wuchernde Angst vor dem Sandmann Coppelius und dem Augenraub um den Verstand gebracht worden ist – Claras Liebe und ihre von Lothar gestützten rationalen Erklärungen seiner Ängste haben ihm letztlich nicht geholfen. Sein Scheitern zeigt sich in der Verwechslung von Maschine und liebender Frau (dabei ist auch deren Blick bedeutsam) sowie in der Fehleinschätzung der Poesie.

Exkurs: Leseranrede und Spott
Mit der folgenden Leseranrede, welche man als Abrundung der Olimpia-Geschichte lesen kann (S. 210 f.), wird nebenbei vom weiteren Geschick Spalanzanis und Coppolas berichtet; im Wesentlichen verspottet der Erzähler die feine Gesellschaft (vernünftige Teezirkel, mit dem schönen Neologismus „Teeist“, S. 210) und ihre Manieren (gähnen > niesen); er verspottet den Professor der Poesie und Rhetorik, der eigentlich trotz seiner Worte überhaupt nichts sagt, als er „das Ganze“ eine Allegorie und Metapher nennt [womit er vielleicht sogar im tieferen Sinn Recht hat: Nathanael als Vertreter einer überspannten romantischen Poesie]; er verspottet die Versuche des Publikums, sich der wahren Liebe zu versichern. Wie gesagt, hier liegt eine Seite Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft des Autors Hoffmann vor.

5. Das Ende
kommt dann überraschend: In einem harten Schnitt (Orts- und Zeitwechsel) wird kurz von Nathanaels Genesung und der Aussicht auf ein normales Glück berichtet, mit Häuschen und Ehestand (S. 211 f.). Dann folgt die letzte Episode: Zur Mittagszeit besteigt das Brautpaar einen Turm, Clara versperrt versehentlich Nathanael den Blick durchs Fernrohr. Ohne erkennbaren Grund rastet der völlig aus: „Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern“ (S. 212); nur mit Mühe verhindert Lothar, dass Clara vom Turm geworfen wird, wobei Nathanael in erneuter Verkennung sie wie die Puppe Olimpia behandelt („Holzpüppchen, dreh dich“, S. 212, vgl. S. 210). Er wechselt dann zum „Feuerkreis“ (S. 213, vgl. S. 210 – die beiden Sprüchlein bezeugen in der vorletzten Episode den Ausbruch des Wahnsinns). Als er Coppelius in der Menge unterm Turm erblickt, springt er mit dem Ruf „Sköne Oke“ in den Tod; Coppelius hat ihn zugrunde gerichtet, wie auch dessen Spruch bezeugt (S. 213).

Im letzten Absatz berichtet der Erzähler davon, dass Clara Jahre später das zu ihr passende häusliche Glück gefunden hat, „das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können“ (S. 213).
Dieser Bericht vom Tod Nathanaels und vom Eheglück Claras (S. 211-213) wirkt auf mich nachgetragen, beinahe überflüssig; der erneute Zusammenbruch Nathanaels nach seiner (vermeintlichen) Heilung ist nicht recht motiviert, auch taucht zum bösen Schluss Coppelius noch einmal wie ein diabolus ex machina auf. Der Vorschein des happy ends dient dazu, den Untergang so recht grauslich erscheinen zu lassen; Claras Eheglück ist dann das Trostpflaster, welches über die Wunden des toten Nathanael geklebt wird.

 

Eine Übersicht über die Grundbegriffe der neueren Erzähltheorie bieten http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/wp-content/uploads/2015/10/IX.pdf; http://www.jungeforschung.de/grundkurs/erzaehlen2.pdf
Über Selbstreferenz in der Poesie: https://de.wikipedia.org/wiki/Mise_en_abyme; vgl. http://sjschmidt.net/konzepte/texte/noeth1.htm http://zirkumferenz.de/hlx/Vortrag/zkmfshe.htm

Achim von Arnim: Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau – zur Analyse

Diese Novelle steht in den „Meistererzählungen der deutschen Romantik“ (dtv 2147, S. 258-276). Der Kommentar von Walter Schmitz dort (S. 412 ff.) erklärt zwar nicht alle schwierigen Stellen (Was ist ein Piekschlitten, S. 259?), deutet aber die symbolisch überladene Erzählung völlig einleuchtend. Der Artikel im KLL von Ernst Ribbat ist deutlich verhaltener. Bei Schmitz wird auch skizziert, auf welche Vorlage Achim von Arnim sich gestützt hat – das soll hier aber nicht beachtet werden.

Es ist die Geschichte einer seltenen Liebe, wie Graf Dürande die Lebensgeschichte Rosalies richtig kommentiert; es ist eine Erzählung, in der gezeigt wird: „Liebe treibt den Teufel aus.“ (letzte Zeile, S. 276) Das macht den lehrhaft-legendenartigen Charakter der Erzählung aus. Dieser Teufel ist durch den Fluch einer bösen Mutter in das Leben und dann in die Ehe Rosalies eingebrochen und auf Francoeur weitergeleitet worden; in der physischen Realität entspricht ihm eine Kopfverletzung, aus der Francoeur einen Knochensplitter quasi ausschwitzt (S. 274 f.). Der entsprechende innere Kampf wird durch Rosalies unerschrockenes Zugehen auf ihren Mann ausgelöst (S. 274).
Das leitende Motiv ist das Feuer; zuerst brennt Dürandes Bein, als er von einem neuen Feuerwerk phantasiert (S. 258). Durch den Schürzenbrand wird Rosalie ihm verbunden (S. 259), und er beauftragt ihren Mann, ein schönes Feuerwerk vorzubereiten (S. 264). Das veranstaltet dieser dann auch, allerdings ganz anders, als Dürande gemeint hat, wobei die fliehende Rosalie nebenher auch noch durch das Licht des Feuerwerks gerettet wird. Das Motiv wird auch in vielen Nebenbemerkungen sichtbar: Dürandes Einbildungskraft wird entflammt (S. 258); die Mutter erscheint, als ob eine Flamme aus ihrem Hals brenne, sie hat schwarz flammende Augen (S. 261); und Francoeur packt seine neue Aufgabe mit funkelnder Begeisterung an (S. 264), um nur einige der Stellen zu nennen. Er ist aber auch ein Teufelskerl…
Zugleich ist es eine Geschichte von Frankreich und Deutschland; sie hat im Siebenjährigen Krieg begonnen – Rosalie ist eine geborene Lilie, und das Lilienbanner weht zum Schluss wieder über den Fort, nachdem Francoeur (ein sprechender Name) von der Liebe „besiegt“ worden ist und das Teufelsbanner von einem gottgesandten Wirbelwind entfernt worden ist. Der Friede erscheint zuerst in der Familie, und die beiden Tauben mit den grünen Blättern sind mehr als deutliche Friedensboten (S. 275).
Selbst die böse Mutter hat bereut und ist zum Schluss erlöst worden, wie man später hört (S. 276): Gnade löst den Fluch der Sünde…

Der Erzähler blickt auf ein Geschehen „damals“ im Siebenjährigen Krieg zurück (S. 258); er kennt die Gedanken Dürandes, den er wohlwollend als „der gute alte Kommandant von Marseille“ vorstellt (S. 258). Mit Kommentaren hält er sich zurück („Ein solches Feuer hat großen Reiz“, S. 258; „Nach solche Tage läßt sich in einem Menschenleben selten noch etwas erleben…“, S. 276).
Die Vorgeschichte umfasst das Geschehen, das mit der Ernennung Francoeurs zum Kommandanten des Forts endet (S. 265); es dauert etwa einen Tag. Zunächst wird Dürande mit seinen Feuerwerksgedanken und seinem Hausbrand vorgestellt; ihn rettet Frau Rosalie, die wiederum von Dürandes Helfern gerettet wird. Das ist der Anlass, dass Rosalie ihren Brief abgeben und ihre Lebens- und Liebesgeschichte erzählen und Dürande um Hilfe bitten kann (bis S. 263).
Danach beginnt der Kammerdiener Basset eine Rolle zu spielen, nachdem er zuvor den Brand verschlafen hat; er hört Dürandes Selbstgespräch und beschließt, mittels eines Paters den Teufel aus Francoeur auszutreiben (S. 263 f.). Damit ist das Thema ex negativo gesetzt; denn Bassets Versuch sowie sein Verrat von Rosalies Geständnis setzen später den Teufel erst recht frei (ab S. 266). Am folgenden Morgen kommt Francoeur mit seinen Leuten, wird herzlich aufgenommen und in sein neues Amt eingewiesen, nicht ohne den alten Kameraden Basset zum nächsten Sonntag ins Fort einzuladen (S. 264 f.). Dann kann das eigentlich unerhörte Geschehen beginnen: dass Francoeur unter die Gewalt des Teufels gerät, welcher allein durch die Liebe Rosalies ausgetrieben wird.
Das verrückte Geschehen dauert drei Tage (S. 272); am nächsten Morgen vollbringt Rosalie todesmutig ihren Gang zu ihrem Mann.
Nach dem Kommentar zu Beginn des letzten Absatzes (S. 276) fasst der Erzähler das glückliche Geschehen vieler Jahre kurz zusammen, um zum Schluss seine Verse von der Kraft der Gnade und der Liebe anzuhängen.

Diese mit Symbolen der Romantik überladene Erzählung trägt ihre Botschaft zu aufdringlich vor, als dass sie heute jemand bewegen könnte, finde ich.

Eichendorff: Das Marmorbild – Analyse

Die Märchennovelle ist 1818 erstmals veröffentlicht worden, acht Jahre, ehe sie mit dem „Taugenichts“ zusammen als Buch erschien. Ich beziehe mich hier auf die Ausgabe in den „Meistererzählungen der deutschen Romantik“, hrsg. von Albert Meier u.a. (München 1985, S. 277 – 312). Der Kommentar Sibylle von Steinsdorffs (S. 420 ff.) ist recht umfassend und auch solide.
Der Erzähler folgt mit seinem Blick dem Helden der Märchennovelle, Florio, der gleich zu Beginn vorgestellt wird (277). Nur einmal verlässt er ihn und wendet sich Bianka zu, als diese verlassen auf der Terrasse sitzt (301), und einmal trägt er in einem Kommentar die Geschichte Biankas vom Abend der ersten Begegnung mit Florio bis zum „gegenwärtigen“ Ritt aus der Stadt nach (311). Er ist allwissend, kennt die Gedanken und Gefühle der Figuren; einmal lässt er sich zu einem Kommentar hinreißen, als Florio seine Befreiung vom Zauber der Venus versteht und befreit ein Lied singt (311): „Es kommt nach allzu heftigen Gemütsbewegungen (…) eine stillklare Heiterkeit über die Seele…“. Einmal fällt er mir als personal erzählend auf: „Das schöne Marmorbild war ja lebend geworden…“ (292) – ich will aber nicht behaupten, das sei der einzige Beleg.
Die zeitliche Abfolge ist klar, der Erzähler folgt den Ereignissen: Am ersten Tag lernt Florio den Sänger Fortunato und die schöne Bianka kennen, der er sich nähert und die er küsst. Der fremde Ritter Donati kommt als Störender hinzu und führt sich als jemand ein, der Florio kennt. Nach einem Traum in seiner Herberge geht Florio ins Freie und bringt einem „Mädchen“ jenseits des Flusses ein Ständchen, das nicht mehr Bianka gilt; im Venusbild aus Marmor erkennt er „eine lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte“ der frühesten Jugend (287); doch Grausen treibt ihn in die Herberge zurück.
Am zweiten Tag warnt Fortunato ihn vor dem Verliebtsein; doch Florio ist im Bann des Marmorbildes. Er irrt umher und findet in einem Palast, der wie versunken aussieht, die singende [aber nicht identifizierte] Venus und dann Donati, der da wie ein Toter liegt und die Venus seine Verwandte nennt. Jener vertröstet Florio auf „morgen“; auf dem Heimweg scheint ihm die Schöne noch einmal aus einem Haus nachzublicken (292).
Am dritten Tag ist Sonntag, da kann er die Schöne nicht sehen; Donati lädt ihn zur Jagd ein, was Florio jedoch ablehnt (wegen des Sonntags). Das Glockengeläut  vertreibt Donati; Florio kann in der Kirche nicht beten; er sucht und findet aber das Haus, aus dem er beobachtet wurde, jetzt leer (294).
Am vierten Tag findet er auf Einladung Fortunatos eine Villa, in der ein Fest gefeiert wird. Dort begegnet er einer verkleideten Griechin, die ihm eine Rose gibt; er sieht dann eine zweite Griechin, die genau wie die erste aussieht (und vermutlich Bianka ist). Er folgt seiner Griechin, als er sie draußen sieht, wo sie ein Lied singt. Sie entspringt, er trifft sie wieder und fragt sie nach ihrem Namen. Sie verweigert ihm diesen: „Laßt das, nehmet die Blumen des Lebens fröhlich wie sie der Augenblick gibt, und forscht nicht nach dem Wesen im Grunde, denn unten ist es freudlos und still.“ (298) Sie lädt ihn in ihr Haus ein, „unser Freund“ [Donati] werde ihn hingeleiten; er erkennt in ihr die Schöne aus dem Garten (des zweiten Tages), deren Gesicht jedoch bleich und regungslos wie das Marmorbild am Weiher ist.
In einer kleinen Gesellschaft trifft er noch Fortunato und auch Bianka, welche durch die Rose an seiner Brust erkennt, dass er ihr abhanden gekommen ist – sie hätten sich an diesem Abend mehrfach gesehen, was er aber nicht weiß. Sie weist ihn auf die Wolken und deren gefährliche Bilder hin, er ist ganz verwirrt und verlässt die Runde (301).
Nach mehreren Tagen ist Florio bei Donati, sie reiten zum Palast des Fräuleins, der „fast wie ein heidnischer Tempel erbaut“ ist (302). Venus flirtet mit Florio, ist dann mit ihm allein. Da hört er „ein altes frommes Lied, das er in seiner Kindheit oft gehört“ hat (310); als Sänger meint er Fortunato zu erkennen. Florio glaubt in den Bildern Gestalten zu erkennen, die er seit der frühen Jugend kennt; Venus klärt ihn auf, jeder glaube, sie schon einmal gesehen zu haben, „denn mein Bild dämmert und blüht wohl in allen Jugendträumen mit herauf“ (305). Die Töne des Liedes beeindrucken ihn so, dass er ein Stoßgebet zu Gott sendet, worauf eine Schlange sich in den Abgrund stürzt. Gewitter; Dame ist bleich; die Gestalten der steinernen Bilder an den Wänden werden lebendig… Grausen, Florio flieht und sieht draußen Fortunato singend in einem Kahn auf dem Weiher. Bald ist die Nacht wieder klar, Florio sucht Donatis Wohnung vergeblich. Die Schönheit der Venus hat in seinem Herzen eine unendliche Wehmut hinterlassen (307).
Er brütet dann den neuen Tag und die folgende Nacht hindurch, um am nächsten Morgen auf den Rat seines Dieners hin aufzubrechen.
Er trifft drei Reiter: Fortunato, den Onkel Biankas und einen Burschen; sie sehen das Zwielicht über einer Ruine, darin einen Weiher mit einem zertrümmerten Marmorbild. Fortunato soll Auskunft geben und singt ein Lied von Italia, wo Venus noch erwacht, aber von einem anderen Frauenbild besiegt wird: von der Madonna mit dem Kind. Fortunato berichtet dann von Gefährdungen und Anfechtungen in jenem Schloss und bekennt, er sei vorgestern Abend dort gewesen, habe aber nichts und niemanden gesehen, sondern nur ein altes frommes Lied gesungen, „eines von jenen ursprünglichen Liedern, die, wie Erinnerungen und Nachklänge aus einer anderen heimatlichen Welt, durch das Paradiesgärtlein unsrer Kindheit ziehen“ und an denen sich alle poetischen Menschen später erkennen (310). Das bewegt Florio so sehr, dass er vorausreitet und Gott in einem Lied für seine Befreiung dankt.
Nun erkennt er in dem Knaben Bianka, bemerkt ihre Schönheit und gesteht ihr, er sei wie neu geboren und möchte nie mehr von ihr scheiden. Sie sieht „wie ein heiteres Engelsbild auf dem tiefblauen Grunde des Morgenhimmels aus“ (312), die Lerchen schwirren, und die Glücklichen ziehen in das blühende Mailand hinunter.

Thematisch scheint mir wichtig,
1. dass die Frau Venus hier als Verführerin und Archetyp auftritt und die Liebe zur reinen Bianka zerstört; ihr siegreiches Gegenbild ist die Madonna, im Lied Fortuantos besungen; die gute Frau ist also in die mythische Madonna und die irdische Bianka aufgeteilt, während die bös-heidnische beide in der Venus vereint sind. Wieso Bianka eine gute Frau ist, wäre noch zu untersuchen. Den Frauen Bianka-Madonna und Venus sind die Männer Fortunato und Donati zugeordnet;
2. dass das Grausen Florios als gutes natürliches Gefühl ihn anleitet, den Todesmächten zu entfliehen; dem Grausen entsprechen die Todes- und Heidentumssignale, die von Donati und Venus ausgehen;
3. dass die Musik als Tanzmusik die in uns schlummernden Lieder erwecken kann (295), in Fortunato ihren Kunst-Meister und in Florio auch einen Sänger hat und dass Fortunatos frommes Lied den Zauber der Venus bricht und Florio in den Stand setzt zu beten;
4. dass die Mädchen und Frauen dem Mann Florio als Bilder erscheinen, wobei nicht nur das belebte Marmorbild gemeint ist, sondern auch das in der Imagination ruhende Bild der Geliebten und das Bild der Madonna, aber auch die vielen Gestalten auf den Festen: „Florio stand noch still geblendet, selber wie ein anmutiges Bild, zwischen den schönen schweifenden Bildern“ (295) – so auf dem Fest, wo er die beiden Griechinnen sieht.

Frau von Steinsdorff hat kenntnisreich die Quellen von Eichendorffs Novelle dargestellt; eine ist der griechische Mythos von Pygmalion, der sich in eine Statue der Aphrodite verliebt, welche von der Göttin zum Leben erweckt wird (http://de.wikipedia.org/wiki/Pygmalion). Ferner gibt es die Tannhäuser-Sage von dem fahrenden Sänger, der sich in Elisabeth verliebte, aber von Klingsor in den Venusberg schicken ließ (http://www.elvenqueen.de/sagen/ge-tannhaeuser.htm).
Dann gibt es noch weitere Quellen Eichendorffs, die sich dem gelehrten Forschen erschließen – kann man bei von Steinsdorff nachlesen.

Hilfreiche Links:
http://www.referate10.com/referate/Literatur/1/Das-Marmorbild-reon.php
http://www.textmachina.uzh.ch/ds/documents/document2792.doc
http://www.unca.edu/postscript/postscript13/ps13.3.pdf
http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/eichendorff/marmorbild_heimboeckel.pdf
http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Marmorbild
zur Epoche Romantik: http://www.lehrer-online.de/dyn/bin/294222-294235-1-projektbeschreibung_romantik2.pdf