Brecht: Wer aber ist die Partei? – zum Verständnis des Gedichts

Das Gedicht „Wer aber ist die Partei?“ war zunächst ein Dialog im Stück „Die Maßnahme“ (1931, entstanden 1929/30). Der Dialog zwischen dem jungen Genossen und den drei Agitatoren steht im Teil VI. Der Verrat; er setzt folgenden Dialog fort:

DER JUNGE GENOSSE: Hört, was ich sage: Mit meinen zwei Augen sehe ich, daß das Elend nicht warten kann. Darum widersetze ich mich eurem Beschluß, zu warten.
DIE DREI AGITATOREN: Du hast uns nicht überzeugt. Geh also zu den Arbeitslosen und überzeuge sie, daß sie sich in die Front der Revolution eingliedern müssen. Dazu fordern wir dich jetzt auf im Namen der Partei.

Dadurch wird die Frage (im Stück: ds jungen Genossen) im ersten Vers des Gedichts überhaupt erst verständlich: „Wer aber ist die Partei?“ Dem Dialog (V. 1-4, V. 5 ff.) schließt sich das Lied des Kontrollchors „Lob der Partei“ an.

Im Gedicht wird der Konflikt zwischen dem jungen Genossen, der Mitleid mit den Ausgebeuteten hat und direkt handeln will, und den drei Agitatoren, die von der Parteizentrale geschickt worden sind und eine langfristige subversive Arbeit betreiben sollen, reflektiert; denn sie haben „im Namen der Partei“ Gehorsam gefordert, so dass die Frage, wer denn die Partei ist, zu Recht gestellt werden kann. Diese Frage beantworten sie mit der großen mystischen Einheitsformel: „Wir sind sie. Du und ich und ihr – wir alle.“ (V. 5 f.) Dieser mystischen Einheit, welche dem theologischen Konstrukt „die Kirche = der Leib Christi = wir alle“ gleicht, verdeckt das entscheidende Problem: Wer kann dann „im Namen der Partei“ Gehorsam fordern? Wer ist der legitime Sprecher dieser mystischen Einheit, wie kann sie einen Willen haben und wer kann ihn kennen? Der junge Genosse denkt nicht zu Unrecht an ein Haus mit Telefonen (V. 2), wo vielleicht das Zentralkomitee der Partei sitzt, das als Sprecher der Partei auftritt und sich als solcher legitimieren muss – was mit der schönen Formel „Wir sind sie.“ überspielt wird.

Die Formel wird dann in V. 7 f. entfaltet: Die Partei steckt in deinem Anzug, denkt in deinem Kopf, wird in dir angegriffen. Wie aber kann man im Namen der Partei Gehorsam fordern, wenn sie doch in deinem Kopf selber denkt? Das wird in einem dialektischen Gedankenspiel begründet (3. Strophe): „Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen, (…) aber ohne ist er [der richtige Weg] der falscheste.“ Das heißt schlicht und ergreifend: Wir bestimmen, was der richtige Weg ist. „Wir können irren, und du kannst recht haben“ (V. 15), das ist bloße Sonntagsrhetorik, am Montag hast du zu gehorchen: „also trenne dich nicht von uns [und ordne dich unter]!“ (V. 15 f.) Und „wir“, das sind eben doch die Parteikader, letztlich das ZK, wie im Folgenden noch deutlicher wird.

In der vierten Strophe wird mit der Metapher vom kurzen und langen Weg noch einmal begründet, warum der junge Genosse sich nicht von „uns“ trennen soll. Die Problematik steckt im Pronomen „uns“. Während oben mit dem Pronomen „wir“ die mystische Einheit aller Genossen beschworen wurde, steht jetzt einer dem „uns“ gegenüber, wobei „wir“ eben die Parteikader sind: Der eine mag den kurzen Weg kennen, aber er muss ihn uns zeigen – „was nützt uns sonst seine Weisheit?“ (V. 19) In diesem Vers 19 muss zweimal „uns“ betont werden, damit die Logik des Gedankens zur Geltung kommt: „Sei bei uns weise! Trenne dich nicht von uns!“ (V. 20 f.) Und das heißt bei denen, die „im Namen der Partei“ sprechen: Halte die Klappe und ordne dich unter! Aber viel schöner hört sich an: „Sei bei uns weise!“

Das Gedicht „Lob der Partei“, das in „Die Maßnahme“ auf unseren Dialog folgt und in der Gedichtsammlung „Hundert Gedichte. 1918 – 1950“ (1951) ihm voraufgeht, zeigt klar, wie die schönen Formeln „Wir sind sie.“ oder „Zeige uns den Weg…“ zu verstehen sind; es hatte 1931 auch schon die ersten „Säuberungen“ der KPdSU durch Stalins Getreue gegeben, was Brecht sicher nicht unbekannt war – er war 1930 halt ein Betonkommunist. „Lob des Zweifels“ ist erst zehn Jahre später entstanden.

https://www.rundfunkschaetze.de/wp-content/uploads/2014/04/Libretto-Brecht-Eissler-Die-Massnahme.pdf („Die Maßnahme“; Text des Gedichts in VI. Der Verrat)

https://gonzalolivero.wixsite.com/lenguadetrapo/single-post/wer-aber-ist-die-partei-bertolt-brecht (dito)

https://www.youtube.com/watch?v=uIXEnPXwMxk (gesungen)

https://www.academia.edu/4569168/_Die_Wahrheit_ist_konkret_Bertolt_Brechts_Ma%C3%9Fnahme_und_die_Frage_der_Parteidisziplin_In_Brecht_Jahrbuch_Frankfurt_Main_Suhrkamp_S_49_61 (zur „Maßnahme“)

https://www.kahl-marburg.privat.t-online.de/kahl_marx1.pdf (Kritik der Partei)

https://www.gkpn.de/So10_05_KORR.pdf („Was bleibt vom Marxismus?“)

http://www.mlwerke.de/br/br_002.htm (Lob der Partei)

https://fd.phwa.ch/?page_id=676 (Lob des Zweifels)

Mascha Kaleko zum Gedächtnis

Beim Aufräumen bin ich auf ein Bändchen Gedichte von Mascha Kaleko gestoßen („Verse für Zeitgenossen“). Es stehen nicht viele darin, die bleiben werden. Nach dem ersten Lesen halte ich „Memento“ für bedenkenswert. Man findet es auf der Seite https://www.maschakaleko.com/gedichte. „Wo sich berühren Raum und Zeit…“ berührt mein Empfinden: dass wir im Kosmos und seiner unendlichen Geschichte wirklich nur Stäubchen sind, die im Luftstrom der Zeit einfach verweht werden:

Dein Weltbild, Zwerg, wie du auch sinnst,

Bleibt ein Phantom, ein Hirngespinst.

Dein Ich – das Glas, darin sich Schatten spiegeln,

Das „Ding an sich“ ein Buch mit sieben Siegeln.

Der letzte Vers fällt ein wenig aus dem Rahmen – er gibt dem Ding an sich eine Bedeutung, die ihm nicht zukommt. Im Gedicht „Kleine Zwischenbilanz“ ist der Gedanke, dass Schweigen besser als Reden ist, nicht streng durchgehalten: Erstens hat sie doch drei schmale Bände geschrieben, und zweiten finde ich es albern, dem Wind zuzugestehen, dass er viel weiß; auch finde ich im vorletzten Vers den Feigen nicht optimal, da wäre mir der Dumme lieber.

Mit einem Jugendbildnis“ finde ich leider nicht im Netz; es geht darin um die Erfahrung, dass man beinahe erschrickt, wenn man die Bilder alter Leute aus ihrer Jugendzeit sieht. Recht hat sie, dass man dann denkt:

Gemessen und gezählt ist unsre Frist

Auf diesem Stern, der so vergänglich ist.

Man kann das Gedicht mit „Das Ende vom Lied“ vergleichen.

An Kästner erinnert mich das Gedicht „Der Bescheidwissenschaftler“, das ich leider im Netz nicht finden kann. Ich will wenigstens die beiden ersten Strophen zitieren:

Er ist beim Weltall angestellt,

Vor fremder Tür zu kehren.

Bevor die große Glocke schellt,

Hat er sie läuten hören.

Er kniet für einen Silberling

Vor Hohem und Gemeinem,

Er kennt den Preis für jedes Ding,

Den Wert kennt er von keinem.

Die zweite Strophe lässt mich aber schon skeptisch fragen: Ist das wirklich ein Bescheidwissenschaftler oder einfach ein Wendehals? Aber immerhin, der Bescheidwisser verdient eine Typisierung. Als letztes Gedicht nenne ich „Temporäres Testament“, das man auf der wunderbaren Seite von Fritz Stavenhagen findet, der viele Gedichte Machs Kelekos gesprochen hat: https://www.deutschelyrik.de/kaleko.html

Man findet unter „Mascha Kaleko“ auch eine Sammlung von Gedichten, auf die ich noch hinweisen möchte: https://www.pinterest.at/spinne55/mascha-kal%C3%A9ko/

R. Gernhardt: Wortschwall – Text und Analyse

Robert Gernhardt: Wortschwall

Erst tropft es Wort für Wort. Dann eint ein Fließen
Solch Tropfen in noch ziellos vagen Sätzen,
Die frei mäandernd durst’ge Ganglien netzen,
Aus welchen wuchernde Metaphern sprießen

Und wild erblühn. Und sich verwelkend schließen,
Nun Teil der Wortflut, wenn auch nur in Fetzen,
Das will vermengt zur Sprachbarriere hetzen,
Um sich von Satz zu Absatz zu ergießen,

Bis tief ins Tal. Dort füllen Wortkaskaden
Ganz ausgewaschne, sinnentleerte Becken,
In welchen doch seit alters Dichter baden.

Dass dies Bad sinnlos ist, kann die nicht schrecken:
Ein Wortschwall reicht, um die maladen Waden
Mit frischer Schreit- sprich Schreiblust zu begnaden.

[In: Gernhardt: Weiche Ziele, 1994]

Quelle: http://wwwalt.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ2/lehre/wise_01/kai_kur/01_10_22/01_10_22m.htm (TPS Lyrik [Kaiser/Kurwinkel] – HHUD – WiSe 01/02)

Das Gedicht steht (neben drei weiteren) als Beispiel im Skript einer Veranstaltung der Uni Düsseldorf im Wintersemester 2001/02 für Gedicht, in denen das Dichten thematisiert wird (poetologisch). Ein anonymer auktorialer Sprecher beschreibt, wie ein Wortschwall sich Bahn bricht, in dem schließlich die Dichter baden; hierbei wird die Metapher „Wortschwall“ wörtlich genommen, so dass die Worte wie Wasser einen Fluss bilden, der über Kaskaden in mehrere Becken stürzt – ähnlich wie das Wasserbild in Goethes Gedicht „Mahomets-Gesang“ oder in der 2. – 4. Strophe von „Gesang der Geister über den Wassern“. Dabei überlagern sich sprachlich zwei große Bereiche, die Worte und das Wasser; diese werden differenziert: Wie die Worte zu den Dichtern kommen / Wie das Wasser durch die Landschaft fließt. Diese Bereiche sind jedoch im Gedicht miteinander verbunden oder verschmolzen, was den Reiz des Gedichtes ausmacht. Es zielt darauf ab, Dichter zu kritisieren, die in Worten oder im „Wortschwall“ baden.

Tabelle der Wortfelder (mit Versangabe)

Worte / Dichter                                    Wasser / Landschaft

Wort für Wort  1                                    es tropft  1

                                                                 Fließen  1

vage Sätze  2                                          frei mäandernd  3

                                                                 Ganglien netzen  3

Metaphern sprießen  4                        Metaphern sprießen  4

Wortflut  6                                             Wortflut  6

(Sprachbarriere  7)                               zur Sprachbarriere hetzen  7

von Satz zu Absatz  8                           sich ergießen  8

Wortkaskaden  9                                  ins Tal  9

                                                                füllen Becken  10

Dichter                                                    baden  12

Wortschwall  13                                    Wortschwall  13

Schreiblust  14

Wie man sieht, sind die beiden Bereiche durch drei Brücken miteinander verbunden: Metaphern sprießen; Wortflut; Wortschwall. Im Gedicht wird spielerisch-witzig, beinahe böse und natürlich nicht ernst gemeint die Frage beantwortet: Wie werden Dichter von Schreiblust erfüllt? Die Antwort lautet: Sie baden sinnlos in einem vom Wortschwall gefüllten Becken, was sie zum Schreiben anregt.

Zuerst wird beschrieben, wie der Wortschwall entsteht: Einzelne Wörter tauchen auf (V. 1), verbinden sich zu vagen Sätzen (V. 2) – das Adjektiv „vage“ ist ein kritisch-abwertendes Attribut, weil Schreiben präzise sein sollte. Im Flussbild vom freien Mäandern (V. 3) steckt die gleiche Kritik, der Fluss fließt irgendwie durch die Gegend. Dieses vage fließende Wasser benetzt Ganglien, also eine Ansammlung von Nervenkörpern (etwa im Gehirn) – die Ganglien werden hier jedoch als Pflanzen am Flussufer vorgestellt, „[a]us welchen wuchernde Metaphern sprießen“ (V. 4): Metaphern, ein Urbestandteil von Gedichten, wachsen hier nicht normal, sondern wuchern: wiederum eine Kritik an metaphernsüchtigen Schreibern, die dann in der Bemerkung fortgeführt wird, dass die Metaphern „wild erblühn“ und bald verwelken (V. 5),also keinen Bestand haben, nicht viel taugen. Sie werden als zerfetzte Teil der Wortflut (V. 6), da schwimmt also ein Brei zu Tal. Die hier materiell als Wehr vorgestellte „Sprachbarriere“ (V. 7) staut die Wortflut, so dass daraus ganze Absätze werden können – Satz und Absatz (V. 8) werden zugleich als sprachliche und als lokale Größen vorgestellt, auf die die strömende Wortflut trifft, was auch durch die weitere Ortsangabe „Bis tief ins Tal“ (V. 9) bewirkt wird.  Im Nomen „Wortflut“ und erst recht im späteren „Wortschwall“ (V. 13) steckt eine Kritik der vollmundigen Dichter, da die Wortflut sich bloß aus einzelnen Tropfen (Kontrast) gebildet hat. Das Bild von der strömenden Wortflut wird in den „Wortkaskaden“ fortgeführt: Kaskaden sind Wasserfälle in der Form von Stufen; „Wortkaskaden“ kann also nur eine Wortflut, die über Kaskaden strömt, bezeichnen oder ist einfach eine Neubildung, der man in diesem Zusammenhang nicht allzu viel Sinn abverlangen darf. Das Ziel der Fluten sind „ausgewaschene, sinnentleerte Becken“ V. 10) – beide Attribute werten die Becken ab, wobei „sinnentleert“ als Attribut eines Beckens kategorial nicht passt (wie viele andere Bilder des Gedichts, etwas das von den benetzten Ganglien): ein Merkmal satirischen Sprechens. Dass die Dichter trotzdem „seit alters“ in solchen Becken baden (V. 11), kritisiert die Dichter und ihr Treiben. Der nächste Satz kritisiert erneut deren Treiben als „sinnlos“ (V. 12) und als erkanntermaßen sinnlos („kann die nicht schrecken“, V. 12). Schon ein einziger Wortschwall reicht, um sie zum Schreiben zu animieren (V. 13 f.), wobei das Bild von den maladen Waden (Wortspiel, Assonanz, fortgeführt in „begnaden“, V. 14) und ihrer Schreitlust = Schreiblust als kategorial nicht passend purer Hohn ist. Im letzten Verb „begnaden“ klingt noch die alte Vorstellung an, dass Dichter inspiriert, also vom Geist erfüllt oder von der Muse geküsst seien.

Das dichtungskritische Gedicht ist ein Sonett: ein Spott auf das alte dichterische Bemühen (vgl. auch Gernhardts Gedicht „Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs“). Die Verse bestehen aus fünfhebigen Jamben mit weiblicher Kadenz; die Verse der Quartette sind im umarmenden Reim miteinander verbunden. Nach dem kurzen einleitenden Satz (V. 1) umfassen die beiden nächsten Sätze jeweils vier Verse und greifen mit einer kurzen Wendung in die nächste Strophe über (Enjambement), was das wilde Strömen der Worte gut abbildet. Die Terzette bestehen ebenfalls aus einem Satz (zumindest das erste; das zweite besteht eher aus zwei Sätzen, die Wortflut staut sich im Becken). In den Terzetten ist die Reimform a – b – a / b – a – a. In einem Gedicht mit so langen Sätzen und so wilder Bildmischung kann man von den Reimen nicht viel Sinn erwarten. Ein gewisser Einschnitt liegt zwischen der dritten und der vierten Strophe vor: In den ersten drei Strophen strömt die Wortflut, in der vierten Strophe geht es um die badenden Dichter.

Das Gedicht regt an, über die Entstehung eines Gedichts und über Bildung und Sinn von Metaphern in Ruhe nachzudenken. H. M. Enzensberger hat 1962 „Die Entstehung eines Gedichts“ beschrieben.

https://lyrikzeitung.com/2020/02/16/entstehung-eines-gedichts/ (hier: Hälfte des Lebens)

Hilke Schild: Aus der poetischen Werkstatt, 1971, hat angeregt und Material dazu angeboten, mehrere Fassungen des gleichen Gedichts zu vergleichen. Ein besonders gut dokumentiertes Beispiel hierfür ist C. F. Meyers Gedicht „Der römische Brunnen“ (C. F. Meyer: Rom: Springquell (1860) → Der schöne Brunnen (1864) → Der Brunnen (1865) → Der römische Brunnen (1870) → Der römische Brunnen (1882) https://deutschunterlagen.files.wordpress.com/2014/12/meyer-rocc88mischer-brunnen-6-fassungen.pdf). Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie, 1985, hat S. 181 ff. drei Fassungen eines Gedichts von Clemens Brentano und von Günter Eich. – In Georg Trakl: Das dichterische Werk, dtv 6001, 1972, werden S. 196 ff. Doppelfassungen vieler Gedichte Trakls aufgeführt.

R. Gernhardt: Doch da ist noch ein Falter – Text und Analyse

Gernhardt: Doch da ist noch ein Falter. Ein Couplet

Und da wirste geborn
und da fühlste dich klein
und da ließest du alles am liebsten gleich sein
und sagtest »Tschüss Alte, tschüss Alter« –
doch dann sind da die Falter.
Und denen krabbelste nach,
denn die sind so schön bunt,
und…

Und nu biste schon größer
und nu liebste schon wen
und die, die du liebst, will nich mit dir gehn
und du sagst dir: »Mach Schluß jetzt, Mensch Walter!«
doch dann ist da der Falter.
Und dem rennste nach,
denn der ist so schön bunt,
und…

Und denn biste ein Mann
und denn läuft es nicht so
und denn biste oft traurig und nur sehr selten froh
und denn blätterste schon mal im Psalter –
doch da ist noch ein Falter.
Und dem gehste nach,
denn der ist so schön bunt,
und …

Und dann wird dein Haar grau
und dann fühlste dich alt
und dann siehste sie plötzlich, diese Gestalt
und du fragst dich: »Wo kommt die Gestalt her?
Mensch, die ist doch kein Falter!«
Und dann folgst du ihr doch
mit verstummendem Mund
und…

(aus: Wörtersee, 1981)

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/doch-da-ist-noch-ein-falter-1280

Ein Couplet (französisch couplet „Zeilenpaar“) ist ein mehrstrophiges witzig-zweideutiges, politisches oder satirisches Lied mit markantem Refrain. (Wikipedia, 25. 10. 2021) Es spricht eine ungenannte Größe zu einem Du, das ein jeder ist, wie sich aus V. 30 ff. ergibt; denn zu einem Gestorbenen kann man ja nicht sprechen. In vier Stufen oder Etappen wird in einer Aufzählung der normale Lebenslauf skizziert; es beginnt mit „Und da…, Und nu…, Und denn…, Und dann…“, also eigentlich immer gleich; dem wird dann in der Mitte der Strophe „doch dann…, doch dann…, doch da…“ entgegengesetzt, wobei diese Entgegensetzung in der letzten Strophe ein wenig anders ausfällt. Der Gegensatz beruht nämlich in den ersten drei Strophen auf einer Enttäuschung, die einem das Leben verleidet – „doch dann sind da die Falter…“ (V. 5, ähnlich V. 13 und V. 21). Die drei Enttäuschungen sind das eigene klein Sein (V. 2), der Liebeskummer (V. 10-12), die Misserfolge im Leben (V. 19 f.) – doch dann sind da ein oder mehrere Falter, die so schön bunt sind; und denen krabbelt, rennt, geht der Mensch nach (V. 6, V. 14, V. 22), weil ihn deren Schönheit fasziniert und wieder aufmuntert. Dieses skizzierte Schema bestimmt die ersten drei Strophen und, leicht abgewandelt auch die vierte: Schließlich fühlt man sich alt (V. 26), sieht plötzlich „diese Gestalt“ (V. 27), nämlich den Tod, eine unbekannte Gestalt (V. 28) – und stellt erstaunt fest: „Mensch, die ist doch kein Falter!“ (V. 29) Dieses Erstaunen stammt aus der Überraschung, dass bisher in allen bedrückenden Situation eben doch noch ein Falter sich gezeigt hat, der einen aus der Trübsal herausgerissen hat. „Und dann folgst du ihr doch…“ (V. V. 30) – warum, wird nicht gesagt, aber wie: „mit verstummendem Mund“ (V. 31). Diese Gestalt fasziniert nicht, aber sie ruft offenbar lautlos und zwingend, „und…“ dann bist du tot (V. 32).

Der erste Witz liegt da vor, wo das Kleinkind am liebsten alles gleich sein ließe (V. 3); solche Gedanken von Kleinkindern kennen wir nicht, und dass sie sich von ihren Eltern locker „Tschüss Alte, tschüss Alter“ (V. 4) verabschieden (wollten), klingt auch ganz kess. Den Falter mit seiner belebenden Wirkung kann man wörtlich als Falter, aber auch als Platzhalter für all die schönen Dinge ansehen, die einem Lebenslust bereiten. Wir müssen auch noch etwas zum „und…“ sagen, das in allen vier Strophen den ganzen letzten Vers ausmacht, als Reimwort dreimal zu „bunt“ (V. 7, V. 15, V. 23) und einmal zu „Mund“ (V. 31); dieses „und“ mit den drei Punkten ersetzt einen ganzen Satz, etwa „und denn lebste weiter“. Nur in der vierten Strophe muss folgen „und denn biste tot“ – der formal überraschende, ein wenig witzige Unterschied zu den drei zuvor genannten Lebenssituationen.

Zum Couplet gehört die schnodderige Umgangssprache mit den verschliffenen Wörtern (z.B. wirste, fühlste, krabbelste, 1. Str.) und dem verkürzten „nu“ (V. 9 ff.), in der Sätze einfach mit „und“ aneinandergereiht werden. Dabei ist das erste „Und“ (V. 1) sachlich nicht berechtigt, weil ja vorher nichts gesagt worden ist – es klingt aber so, als wäre bereits etwas gesagt worden, ein kleiner Scherz. Auch der Rhythmus passt zu diesem Stil; es gibt eine bestimmte Anzahl von Hebungen pro Vers mit einer freien Füllung; für die ersten vier Verse ist die Anzahl der Hebungen 2 – 2 – 4 – 3, das ergibt ein flottes Sprechen, weil zwei Silben zwischen den Hebungen stehen (Daktylos); die nächsten drei Verse werden langsamer gesprochen, weil V. 5 aus drei Jamben besteht, V. 6 aus einem Jambus und einem Daktylos, V. 7 wieder aus zwei Daktylen und V. 8 aus einer unbetonten Silbe, der eine große Pause folgt. Außerdem weisen V. 4 und V. 5 eine zusätzliche Silbe auf (weibliche Kadenz), die ein Reimwort abschließt, was beides das Sprechen beruhigt: viermal „Falter“ mit passendem Reim; ebenso reimen sich jeweils V. 7/8. Alle Reime bedeuten nichts, sind bloß überraschender Gleichklang. Die rhythmische Struktur ist also ziemlich komplex. Vielleicht sollte man zum „und“ im je achten Vers noch festhalten, dass es in der letzten Strophe bedeutsam ist: Da gibt es nichts mehr zusagen, weil das angesprochene Du dann tot ist. Von dieser letzten Zeile strahlt das „und“ dann auf die vorhergehenden Strophen, bzw. umgekehrt: Die vorhergehenden drei „und“ bereiten das letzte vor.

Den gleichen Schnodderton – in der Sache, nicht in der Sprache – hören wir in Kästners Gedicht „Kurzgefasster Lebenslauf“, der allerdings nur bis zum Alter von 31 Jahren reicht. Eine echte Parallele liefert aber Wilhelm Busch:

Lebenslauf

Mein Lebenslauf ist bald erzählt. –
In stiller Ewigkeit verloren
Schlief ich, und nichts hat mir gefehlt,
Bis daß ich sichtbar ward geboren.

Was aber nun? – Auf schwachen Krücken,
Ein leichtes Bündel auf dem Rücken,
Bin ich getrost dahingeholpert,
Bin über manchen Stein gestolpert,

Mitunter grad, mitunter krumm,
Und schließlich mußt‘ ich mich verschnaufen.
Bedenklich rieb ich meine Glatze
Und sah mich in der Gegend um.

O weh! Ich war im Kreis gelaufen,
Stand wiederum am alten Platze,
Und vor mir dehnt sich lang und breit,
Wie ehedem, die Ewigkeit.

Wie anders hört sich das an als Matthias Claudius’ Gedicht „Der Mensch“ – es ist der Ton der Moderne, den wir hier hören.

R. Gernhardt: Siebenmal mein Körper – Text und Analyse

Gernhardt: Siebenmal mein Körper

Mein Körper ist ein schutzlos Ding,
wie gut, daß er mich hat.
Ich hülle ihn in Tuch und Garn
und mach ihn täglich satt.

Mein Körper hat es gut bei mir,
ich geb’ ihm Brot und Wein.
Er kriegt von beidem nie genug,
und nachher muß er spein.

Mein Körper hält sich nicht an mich,
er tut, was ich nicht darf.
Ich wärme mich an Bild, Wort, Klang,
ihn machen Körper scharf.

Mein Körper macht nur, was er will,
macht Schmutz, Schweiß, Haar und Horn.
Ich wasche und beschneide ihn
von hinten und von vorn.

Mein Körper ist voll Unvernunft,
ist gierig, faul und geil.
Tagtäglich geht er mehr kaputt,
ich mach ihn wieder heil.

Mein Körper kennt nicht Maß noch Dank,
er tut mir manchmal weh.
Ich bring ihn trotzdem übern Berg
und fahr ihn an die See.

Mein Körper ist so unsozial.
Ich rede, er bleibt stumm.
Ich leb ein Leben lang für ihn.
Er bringt mich langsam um.

(Robert Gernhardt: Körper in Cafés, 1987)

Wie schon in der Überschrift gesagt wird, spricht jemand – Ich – in sieben Strophen über seinen Körper. Dabei macht das Ich deutlich, dass sein Körper ein eigenständiges „Ding“ ist, das dem Ich gegenübersteht, oder umgekehrt. Es lohnt sich, die verschiedenen Erfahrungen zu betrachten, die dabei zur Sprache kommen. In Strophe (1) und (2) berichtet das Ich, was es für seinen Körper tut; in (3) und (4), was der Körper unabhängig vom Ich tut; in (5)-(7), wie destruktiv er ist und was das Ich dagegen tut.

Zu Beginn sagt das Ich, dass sein Körper „ein schutzlos Ding“ (V. 1) ist, das der Fürsorge bedarf, der Kleidung (V. 3) und der Nahrung (V. 4, V. 6). Was das Ich von seinem Körper sagt, gilt natürlich von allen Körpern, wie jeder aus Erfahrung weiß. Der erste Witz taucht in dem Satz auf, in dem das Ich seine Fürsorge bewertet: „wie gut, daß er mich hat“ (V. 2). Der Witz liegt darin, dass hier das Ich wie eine vom Körper unabhängige Instanz gedacht oder bewertet wird, die für den Körper sorgen oder auch nicht sorgen könnte; das knüpft an die alte Vorstellung von der eigenständig lebenden Seele an, die den Körper beherrschen soll und ihn zu diesem Zweck auch kasteien oder durch Fasten disziplinieren kann, wie es etwa die Einsiedler in der ägyptischen Thebais gemacht haben. Unsere normale Erfahrung besagt dagegen, dass ich mit solider Kleidung und gutem Essen etwas für mich (statt für meinen Körper) tue; und selbst die Menschen, die abnehmen oder ihren Körper fit machen wollen, empfinden und sagen: Ich will (statt: Mein Körper muss) abnehmen; ich will fit werden und gut aussehen. – Die Doppelungen „Tuch und Garn“ und „Brot und Wein“ zeigen, wie gut das Ich für den Körper sorgt. Brot und Wein sind elementare Nahrungsmittel, die in den christlichen Kirchen zum Sakrament geworden sind. Doch schon hier zeigt sich eine erste Widersetzlichkeit des Körpers: „Er kriegt von beidem nie genug“ (V. 7), wofür er dann auch bestraft wird (V. 8) oder sich selbst bestraft. Doch ist dies wirklich eine Widersetzlichkeit allein des Körpers? Ist es nicht auch so, dass Ich nie genug kriege? Aus diesem Grund ist die Völlerei in der kirchlichen Tradition als eine der sieben Todsünden betrachtet worden, weil Ich dem körperlichen Begehren nachgebe – auch in der Tradition steht also das Ich dem Körper gegenüber – ein unbeholfener Ausdruck dafür, dass ich zugleich Körper bin und einen Körper habe.

Die Form der sieben Strophen des Gedichts ist einfach: Jede Strophe besteht aus vier Versen zu abwechselnd vier und drei Jamben, wobei Vers 2 und 4 jeweils im Paarreim verbunden sind; man könnte also in einer Strophe auch von zwei Langversen sprechen, wenn nicht jeder Vers ein vollständiger Satz wäre. Durch das gleiche Thema in je zwei Versen und die Minderung der Takte entsteht jedoch immer erst nach Vers 2 und 4 eine größere Pause. Die Reime der Doppelverse sind semantisch sinnvoll: worin die Güte gegen den Körper besteht (1); Kontrast (2); Ähnliches gilt auch für die Reime in (3) und (4), während die Reime der letzten drei Strophen wegen der Spannung zwischen den Strophenhälften nur noch lautlicher Gleichklang sind.

In den beiden nächsten Strophen wird berichtet, dass der Körper macht, „was er will“ (V. 13) bzw. sich „nicht an mich“ hält (V. 9), dass er also gegenüber dem Ich Unabhängigkeit zeigt; und es wird erklärt, worin sich diese Unabhängigkeit zeigt. Das erste ist, dass „er tut, was ich nicht darf“ (V. 10). In diesem Vers haben wir die drei Instanzen des Freud’schen Seelenmodells vor uns: der Körper (Es) – Ich – darf (Über-Ich). Während es in der kirchlichen Tradition hieß: Das Ich soll dem Über-Ich gehorchen und zu diesem Zweck das Es beherrschen (oder sogar ausschalten), sagt Freud und mit ihm die Moderne: Wo Es war, soll Ich werden, womit dem Über-Ich dann auch Genüge getan wird. [Dass in der Postmoderne das Es teilweise völlig entfesselt ist und das Ich nur als Anhängsel mitschleppt, ohne noch ein Über-Ich zu kennen, ist ein Problem für sich.] Die Erklärung bzw. Begründung der These folgt auf dem Fuß: Ich wärme mich an den geistigen Werten und ihrer Schönheit (V. 11), während meinen Körper attraktive Körper „scharf“ machen (V. 12). Das eher vulgäre Verb „scharfmachen“ kontrastiert zu den künstlerischen Werten „Bild, Wort, Klang“ (V. 11). In (4) werden körperliche Ausscheidungen und Aus-Wüchse (V. 14) genannt, deren Existenz die Eigenständigkeit des Körpers bezeugen und die das Ich dann einschränkt oder beseitigt (V. 15 f.). Die Ortsangabe „von hinten und von vorn“ (V. 16) ist wieder ein Scherz am Rande, da sachlich unsinnig und vor allem dem Reim zu V. 14 verdankt.

Auch in den letzten drei Strophen ist von der Widersetzlichkeit des Körpers die Rede, die letztendlich zum Tod führt, obwohl das Ich dem abzuhelfen sucht. Man könnte auch sagen, es werde hier bewertet, was mein Körper für ein Kerl ist. Der erste Satz ist bezeichnend: „Mein Körper ist voll Unvernunft“ (V. 17), wogegen dem Ich die Vernunft zugeordnet wird; das ist das klassische Menschenbild, welche in der Formel vom animal rationale, dem vernünftigen Tier, festgehalten ist. Das Tierhafte wird als „gierig, faul und geil“ (V. 18) abgewertet, worin sich die Todsünden Habgier/Völlerei, Trägheit und Wollust zeigen; der zweite Teil von Strophe (5) bringt einen neuen Aspekt: dass der Körper zugrunde geht – der Fromme würde sagen: sich durch seine Todsünden zugrunde richtet – was ich wieder aufrichte und heile (V. 19 f.). Dieser Gedanke hält sich variiert bis zum Ende des Gedichtes durch. In V. 21 wird die bereits genannte Maßlosigkeit (V. 6, V. 18) wieder aufgegriffen; dem Körper wird als Undank ausgelegt, dass er „mir machmal weh“ tut (V. 22), was nicht näher erklärt wird, aber sich leicht etwa als Kater nach einem Besäufnis verstehen lässt. Dem steht die Güte und Hilfsbereitschaft des Ichs (V. 20, V. 23 f., V. 27) gegenüber. Die Kombination ‚heil machen / an die See fahren‘ ist ein beinahe satirischer Witz, weil das eine kategorial nicht zum anderen passt. Auch die Bewertung in V. 25 ist ein kleiner Scherz: Unsozial können eigentlich nur Menschen sein, hier wird die Kategorie auf das schwierige Verhältnis Ich-Körper angewandt; die Erklärung (V. 26) zeigt das, was ich meine: Der Körper kann ja nichts sagen, kann jedenfalls nicht mit dem Ich sprechen (man kann nur mit sich selbst sprechen); anderseits „sagt“ der Körper doch etwas, etwa „Bier her!“ oder „Lass mich noch schlafen!“ – wenigstens wurden solche Äußerungen zuvor dem Körper zugerechnet. Nicht nur hier zeigt sich, dass die harte Konfrontation Ich-Körper unserer Erfahrung nicht gerecht wird – was Gernhardt natürlich weiß, worauf aber der Witz des Gedichts beruht.

Im Kontrast der beiden letzten Verse bringt das Ich im Vorwurf noch einmal das gespannte Verhältnis der beiden zur Sprache: Ich lebe für ihn, er bringt mich um (V. 27 f.). Die Wahrheit ist natürlich viel differenzierter, sie ist komplex und vor allem nicht so witzig, wie Gernhardt die Ambivalenzen von Ich und Körper hier einseitig auflöst.

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/siebenmal-mein-koerper-1698 (Text)

https://sieben-todsuenden.com/ (die sieben Todsünden)

https://www.christoph-asmuth.de/system/files/inline-files/KoerperdesSelbst.pdf (Christoph Asmuth: Das Selbst des Körpers – der Körper des Selbst. Hier geht es philosophisch um „die Frage nach der Art der Selbstbezüglichkeit, die dem Körper zugeschrieben wird“.

https://www.philosophie.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/anthro/mitarbeiter/keil/publikationen/c41volltext-neu.pdf (Geert Keil: Ich und mein Gehirn: Wer steuert wen?) – In den beiden zuletzt verlinkten Aufsätzen wird Gernhardts Gedicht zitiert.

Morgenstern: Der Tanz – für Kinder erläutert

Christian Morgenstern: Der Tanz (1905)

Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule

trafen sich im Schatten einer Säule,

die im Geiste ihres Schöpfers stand.

Und zum Spiel der Fiedelbogenpflanze

reichten sich die zwei zum Tanze

Fuß und Hand.

   Und auf seinen dreien rosa Beinen

hüpfte das Vierviertelschwein graziös,

und die Auftakteul auf ihrem einen

wiegte rhythmisch ihr Gekrös.

Und der Schatten fiel,

und der Pflanze Spiel

klang verwirrend melodiös.

   Doch des Schöpfers Hirn war nicht von Eisen,

und die Säule schwand, wie sie gekommen war;

und so mußte denn auch unser Paar

wieder in sein Nichts zurücke reisen.

Einen letzten Strich

tat der Geigerich –

und dann war nichts weiter zu beweisen.

Erläuterungen für Kinder:

V. 1 Vierviertelschwein: Das ist ein ungewöhnlich zusammengesetztes Hauptwort. Was ein Wildschwein ist, weiß man: ein Schwein, das wild im Wald lebt; ein Hausschwein ist ein Schwein, das im Stall in einem Haus lebt. „Vierviertelschwein“ hat man noch nie gehört – und die Angabe des Taktes, Vierviertel, passt nicht zu einem Schwein. Wenn man den ersten Vers des Gedichtes spricht, hört sich das etwa so an (betonte Silben sind fett gesetzt): Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule…, und im Viervierteltakt gesetzt: Ein Vierviertel / schwein und eine / Auftakteule… Der Vers bestände also aus drei Takten mit vier Silben (= Vierteltakten). Bei Gedichten sagt man, dass das sechs Takte mit dem Metrum Trochäus (Abfolge betonte/unbetonte Silbe) sind.

Auftakteule: Im gleichen Vers treffen wir auf ein weiteres Tier, das wir nicht kennen. Aber der Auftakt gehört in die Musik und bezeichnet den Beginn eines Liedes oder Stücks auf einem unbetonten Taktteil vor der ersten Hauptbetonung. Das gilt auch für Gedichte, etwa so: Im / Frühtau zu / Berge wir / zieh‘n, faller / a – – . Hier ist „Im“ der Auftakt; es folgen vier Dreivierteltakte, wovon dem letzten zwei Silben fehlen.

Vierviertelschwein und Auftakteule sind also Tiere, die in der Musik leben; das Gedicht hat ja auch den Titel „Der Tanz“.

V. 3 die im Geiste ihres Schöpfers stand: Da sie sonst nirgendwo stand, war es eine bloß erdachte oder vorgestellte Säule.

V. 4 Fiedelbogenpflanze: Das verstehen wir jetzt sofort, es ist eine Pflanze, die eine Geige (Fiedel) spielt.

V. 6 Fuß und Hand: Schwein und Eule haben zwar keine Hände, aber beim klassischen Tanzen nimmt der Herr die Dame in den rechten Arm und fasst mit der linken Hand ihre freie Hand; wenn Schwein und Eule miteinander tanzen, müssen sie sich also auch mit einer Hand anfassen. Vers 6 besteht nur aus zwei Takten, wovon der letzte unvollständig ist (= kleine Pause); da dem Vers zwei Takte fehlen, muss er ganz ruhig gesprochen werden, weil man wie bisher vier vollständige Takte erwartet.

V. 7 drei rosa Beine: Das eine Bein hat das Schwein als Hand der Eule gereicht; aber da sich die beiden auch den Fuß reichen, kann es eigentlich nur auf einem Bein hüpfen.

V. 8 graziös: anmutig, leicht beschwingt

V. 10 Gekrös(e): ein Teil des Leibesinneren, des Bauchfells; allgemein: die Innereien, also der Inhalt der Bauchhöhle. – Man darf „Gekrös“ hier nicht zu allzu wörtlich nehmen, der Dichter brauchte schließlich ein Wort, das sich auf „graziös“ reimt.

V. 11 der Schatten: der Schatten der Säule, siehe V. 2!

V. 11 und 12 sind so wie Vers 6 gebaut, nur dass sie einen Takt mehr aufweisen, aber immer noch keine vier Takte: also ruhig sprechen!

V. 13 weist ihnen gegenüber einen zusätzlichen Takt auf, endet ebenso wie diese mit einer betonten Silbe (= kleine Pause, dazu kommt der Punkt des Satzendes: Stimme senken!).

V. 13 melodiös: Das Adjektiv wird von „Melodie“ abgeleitet.

V. 14 des Schöpfers: der vorgestellten Säule, siehe V. 3!

V. 14 nicht von Eisen: war nicht stabil, nicht beständig; Folge davon siehe V. 15!

V. 15 schwand: verschwand

V. 17 in sein Nichts zurückreisen: Es gab auch die Tiere offensichtlich nur im Geist ihres Schöpfers (siehe V. 3), es waren Phantasiegebilde.

V. 19 der Geigerich: der Geiger; das Nomen ist ähnlich wie „der Enterich“ gebildet, die männliche Form zu „die Ente“ – nur dass „die Geige“ nicht eine Spielerin, sondern das Instrument selbst bezeichnet; ein Wortwitz.

V. 20 besteht aus fünf Takten, was nach den beiden verkürzten Versen 18 und 19 einen guten Schluss bildet.

V. 20 nichts zu beweisen: Da alle Beteiligten sich in Nichts aufgelöst haben, kann man ihnen nichts (Böses) nachweisen.

Überschrift: Wenn du jetzt, nachdem du das Gedicht verstanden und ein paar Mal laut und sinnvoll gelesen hast, über die Überschrift nachdenkst, merkst du, dass hier nicht nur Schwein und Eule getanzt haben – wer oder was war es außerdem noch?

Vortrag des Gedichtes:

https://www.youtube.com/watch?v=-qES-9d9J7w (F. Friedrich, etwas zu langsam)

https://www.youtube.com/watch?v=LyGl4ZCCbz4 (F. Stavenhagen, sehr gut)

Ein Hinweis für Lehrer: zum Vergleich den Rhythmus von Goethes „Die Braut von Korinth“ heranziehen!

Erich Fried: Was es ist – Analyse

Es ist Unsinn…“

Text: http://falco.heimat.eu/Fried/index.html

Hier haben wir den Text des Eingangssongs einer ZDF-Sendung vor uns, also wohl das bekannteste Gedicht Frieds, auch wenn man es nicht immer mit seinem Namen verbindet. Der Aufbau des Gedichtes ist ganz einfach: Der Doppelvers

Es ist was es ist

sagt die Liebe

beherrscht das Gedicht (V. 3 f., 11 f., 19 f.). Diese zunächst noch kaum verständlichen Verse erhalten ihren Sinn durch die sieben Wider-Worte, welche die Vernunft (V. 1 f.), die Berechnung (V. 5 f.), die Angst (V. 7 f.), die Einsicht (V. 9 f.), der Stolz (V. 13 f.), die Vorsicht (V. 15 f.) und die Erfahrung (V. 17 f.) dagegen vorbringen.

Es geht also darum, „was es ist“ (Überschrift u.ö.). Das ist eine völlig unbestimmte Bezeichnung, die nur in einem Gespräch Bedeutung hat, wo beide Partner wissen, wovon die Rede ist – es kann also alles Mögliche sein: eine hohe Rechnung bezahlen müssen, den Beruf wechseln, nach Süddeutschland ziehen… Es handelt sich in jedem Fall um etwas, worüber man geteilter Meinung sein kann; und hier sind eben die sieben genannten (personifizierten) Qualitäten oder Stimmungen eines Menschen und „die [personifizierte] Liebe“ geteilter Meinung.

Die sieben „Gegner“ widersprechen der Liebe, indem sie das, „was es ist“, mit ihren spezifischen Kategorien beurteilen:

Vernunft → Unsinn,

Berechnung → Unglück,

Angst → Schmerz,

Einsicht → aussichtslos,

Stolz → lächerlich,

Vorsicht → leichtsinnig,

Erfahrung → unmöglich.

Bei Berechnung und Angst wären auch andere Urteile möglich, die vielleicht spezifischer so lauten: Berechnung → Schaden, Angst → Scheitern; insgesamt sind die Widerworte jedoch schlüssig.

Dagegen sagt die Liebe: „Es ist was es ist“ (V. 3 u.ö.). Die Liebe verzichtet also auf eine Bewertung und nimmt das, was es ist, einfach hin. Das kann sich streng genommen (und in anderen Gedichten Frieds explizit gesagt) nur auf den Partner, seine Pläne und seine Eigenheiten beziehen, die einfach akzeptiert werden, ohne dass man ihn zu erziehen versuchte. Die absolute Einfachheit dieser Konstruktion von Liebesworten und Widerworten hat etwas Überzeugendes, wenn im realen Leben auch in einer Liebesbeziehung Auseinandersetzung und rationales Streitgespräch nicht fehlen dürfen. Eine hohe Verschuldung wegen eines Hauskaufs darf auch die Liebe nicht mit dem Satz „Es ist, was es ist“ kommentieren; auch ein Liebender darf sich nicht selbst aufgeben.

Der anonyme Sprecher, der hier lehrhaft ganz allgemein spricht, benutzt normale Umgangssprache in Prosa; nur der Zeilenschnitt und die Konstruktion weisen den Text als Gedicht aus. Jeweils ein Satz bildet eine Zeile, wobei der erste Satz immer Objekt des zweiten ist (was das jeweilige Subjekt sagt). Die erste Strophe besteht aus einem Widerwort und dem Liebeswort; darauf folgen zwei Doppelstrophen, in denen auf drei Widerworte das entscheidende immer gleiche Liebeswort folgt. Weil das Liebeswort allen Einwänden standhält und die Liebe als letzte zu Wort kommt, muss ihr Wort im Sinn des Sprechers das richtige sein.

Vergleichbare Liebesgedichte Frieds sind zum Beispiel „Dich“ oder „Sehen“, beide auf der Seite http://falco.heimat.eu/Fried/index.html zu finden.

Erich Fried: Die Nichtnure – Analyse

Nicht nur aus Zeitungen…“

Text: http://www.meike-lindemann.de/meike/erichfried/liebesgedichte3.htm

Schon die unverständliche Überschrift verrät, dass in diesem Gedicht mit Worten gespielt wird. Es besteht aus drei Teilen: In den beiden ersten Strophen wird achtmal die negierte Bestimmung „Nicht nur…“ vorgetragen; meistens folgt darauf ein Nomen (je nachdem mit weiteren Bestimmungen), aber kein Prädikat, so dass man überhaupt nicht versteht, worum es bei diesen „Nicht-nur“-Äußerungen geht, die ein anonymer Sprecher vorträgt. Erst zu Beginn der dritten Strophe wird das klar: „Erst auf der anderen Seite der Nure / beginnt das Leben“ (V. 17 f.). Damit haben wir zwei Neologismen des Sprechers vor uns, die Nure (V. 17) und und die Nichtnure (Überschrift), wobei die Nure für die eingeschränkten Lebensmöglichkeiten stehen: Stimmen aus Galle (V. 2), Angst, Abwehr der täglichen Gemeinheit (V. 9 f.) usw. Im zweiten Teil des Gedichts wird das erfüllte Leben „auf der anderen Seite der Nure“ (V. 17) beschrieben; im dritten Teil beklagt der Sprecher sein tatsächliches Leben im Land der Nure und – völlig überraschend, thematisch nicht vorbereitet – „ohne dich“ (V. 33).

Vielleicht beginnt man am besten damit, sich das Bild des wahren Lebens anzuschauen, das der Sprecher skizzenhaft entwirft (V. 17-25). Es ist kein richtiges Bild – vielleicht kann er es deshalb nicht detailliert malen, weil er dauernd im Land der Nure lebt (V. 26 ff.); im guten Leben gibt es also „die Liebe“ (V. 19) und wirkliche Jahreszeiten (V. 20 – wobei „wirkliche Jahreszeiten“ eher unklar ist), Farben zum Schauen (V. 21) und Luft zum Atmen (V. 24), dort kann man „beinahe“ alles verstehen (V. 23) und „spüren und fühlen“ (V. 25): Abgesehen von der Liebe ist dieses Bild des guten Lebens rein auf ein eingeschränktes Leben in einer ungegliederten Welt bezogen; die soziale Dimension und die Kultur bleiben ausgespart, als stände der Sprecher im Banne Rousseaus, und auch gearbeitet wird nicht. Der Zeilenschnitt in der dritten Strophe bringt einige Überraschungen hervor, so hinter V. 17, V. 19 und V. 22; in den anderen Fällen fällt er mit syntaktischen Einheiten zusammen. Die Sprache ist normale Prosa; als einzige Strophe besteht die dritte aus neun Zeilen, die anderen aus acht, was jedoch ohne Bedeutung ist.

Gegen dieses schöne Leben ist das reale Leben im Bereich der „Nure“ abgesetzt: Es ist ein bitteres Leben (V. 2) voller Sorgen und Schrecken (V. 1-8), voller Leid und Gemeinheit und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft (V. 9-16). Im Wettlauf mit der Post zu sein (V. 5 ff.) besagt vermutlich, dass man den durch die vielen durch die Post eintreffenden Verpflichtungen (V. 6-8) kaum nachkommen kann, dass sie einem die Zeit stehlen. Man braucht die einzelnen negativen Bestimmungen nicht tiefsinnig zu deuten; es fallen allerdings die Attribute „notgetaufte“ zu „Hoffnung“ (V. 14) und „geschlachtete“ (V. 15) zu „Glaube an eine bessere Welt“ (V. 15 f.) auf – beide sind syntagmatisch unpassend. Dass der Glaube geschlachtet ist, versteht man leicht: Es gibt ihn nicht mehr. Dass die Hoffnung notgetauft ist, erschließt sich erst, wenn man weiß, dass die Nottaufe Kindern, die sich in höchster Lebensgefahr befanden oder gar tot geboren wurden, gespendet wurde, um ihrer Seele den Zugang zum Himmel zu eröffnen; man darf daher wohl annehmen, dass im Sinn des Sprechers die Hoffnung bereits tot geboren wurde, also nicht lebt.

Der Blick auf das schöne Leben lässt den Sprecher allerdings resignieren; mit dem adversativen „Aber“ (V. 26) wird der Hoffnung, ins gute Leben zu gelangen, entsagt. Er begründet dies mit seiner umfassenden Erschöpfung, die aus drei Quellen stamme: die Zeitungen, die Stimmen, der Wettlauf mit den Nuren (V. 27 ff.). Die beiden ersten Angaben sind recht unbestimmt, da man nicht weiß, was in den Zeitungen steht (V. 27, ebenso V. 1) – im Sinn kritischer linker Theorie Frieds müsste man in ihnen systemstabilisierende Verdummung finden. Die „Stimmen“ (V. 28) sind wohl „die Stimmen aus Galle und Angst“ (V. 2 f.), wobei auch noch ziemlich undeutlich ist, was sie denn sagen und von wem sie stammen. Hier ergeht sich der Sprecher in undeutlicher Systemkritik, die nur in bestimmter Perspektive einleuchtet. Als dritte Quelle der Erschöpfung nennt der Sprecher den „Wettlauf mit diesen Nuren“ (V. 29 f.); dass da ein Wettlauf stattfindet, wird erst verständlich, wenn man den Wettlauf als Metapher für einen Kampf versteht – vielleicht deutet der Sprecher auch an, dass er im Wettlauf den Nuren entfliehen will. Jedenfalls wird mit dem Nomen „Wettlauf“ ein drittes Nomen aus der ersten Strophe aufgegriffen (V. 5), so dass man hier erkennen kann, dass der Sprecher durch die drei Nomina „Zeitungen, Stimmen, Wettlauf“ eine Klammer um den Blick auf das schöne Leben bildet.

Es folgt als Abschluss ein Relativsatz, der sich auf die Nure bezieht: In ihnen vergehe sein Leben „ohne dich“ (V. 31-33), klagt er. Dieses Leben sei sein einziges („mein eines Leben“, V. 31 f.), weshalb keine Hoffnung besteht, den Wettlauf mit den Nuren vor dem Tod zu gewinnen und ins gelobte Land einzuziehen. Die letzte Bestimmung „ohne dich“ (V. 33), durch Zeilenschnitt isoliert und damit hervorgehoben, könnte man als Attribut auf „Leben“ (V. 32) beziehen, aber auch als negiertes Konditional auf den ganzen Satz (etwa: wenn/weil du nicht da bist; wenn/weil du nicht zu mir gehörst). In jedem Fall sei die Tatsache, dass das Du dem Ich fehlt, der Grund dafür, dass es sich weiterhin im Wettlauf mit den Nuren befindet. Das Gedicht erweist sich zum Schluss als verkappte Liebesklage. Im Zeilenschnitt gibt es in der letzten Strophe zwei Überraschungen, nämlich beim Übergang V. 29/30 und ganz stark V. 32733, da vorher noch nie von einem Du die Rede war, wenn auch „die Liebe“ (V. 19) zum gelingenden Leben gehörte.

Außerhalb der Analyse kann man fragen, ob die Liebe wirklich alle Lebensprobleme löst: Solche Hoffnung wird notwendig enttäuscht, auch wenn quälende Sehnsucht vielleicht davon überzeugt ist.

Erich Fried: Halten – Analyse

das heißt…“

Text: http://falco.heimat.eu/Fried/index.html (so richtig)

oder http://www.suzanne.de/worte/fried/halten/halten.html (andere Textgestalt)

In diesem Gedicht verbindet sich das für den späten Fried so wichtige Thema „Liebe“ mit der von ihm gepflegten Technik der Wortspiele. Es geht also darum, was man alles halten kann bzw. wie das Wort „halten“ verwendet wird. In der ersten Strophe wird der normale Sprachgebrauch von „halten“ vorgeführt“, in den folgenden drei Strophen wird dann als Liebesbekenntnis „dich halten“ in seinen Varianten durchgespielt.

Was „halten“ heißt (V. 1), wird zunächst ganz allgemein umschrieben (V. 2: „Nicht weiter“ – ergänze „gehen“, „nicht einen Schritt“ – ergänze „weiter tun“); danach werden vier mögliche Phrasen genannt (V. 3-5), wobei einmal „halten“ genannt (V. 3, mit falscher Rechtschreibung – Nomen und Verb müssten getrennt werden) und dreimal ausgespart wird (V. 4 f.). Diese Übersicht ist wenig originell und fällt ausgesprochen dürftig aus, das DWDS zählt 21 Möglichkeiten auf (https://www.dwds.de/wb/halten). Nur der Zeilenschnitt weist die fünf Zeilen als Gedicht aus; V1. nimmt dabei das deklarierende, an die Überschrift anschließende „das heißt“ ein, in V. 2 werden Beispiele für die Wortbedeutung genannt, ab V. 3 werden ohne erkennbare Ordnung einige Phrasen aufgezählt, wobei „Schritthalten“ (V. 3) spielerisch das Nomen der Wendung „nicht einen Schritt [weiter tun]“ (V. 2) aufgreift; V. 4 nennt zwei sachlich verwandte Verhaltensweisen. In V. 3-5 wird „halten“ immer in einer abgeblassten Bedeutung verwendet, jedenfalls nicht in der in V. 2 vorgeführten.

Danach kommt der Teil, auf den es dem anonymen Sprecher ankommt und in dem er sich auch an ein Du wendet (V. 7 ff.), das vermutlich nicht anwesend ist; die Äußerung ist weniger kommunikativ als reflektierend – wozu sollten man dem Du auch erklären, was alles „dich halten“ bedeutet? Die drei letzten Strophen beginnen alle mit dem Verb „Halten“, dem jeweils eine Zeile reserviert ist, wodurch es betont wird, worauf fünf Zeilen folgen. Wenn man die Überschrift der ersten Strophe zuschlägt (was deshalb berechtigt ist, weil V. 1 sie unmittelbar fortsetzt), hätten wir dort das gleiche Bild. Auch die zweite Zeile (V. 7) besteht aus einem einzigen und daher hervorgehobenen Wort, „dich“, was in der Phrase „dich halten“ das Thema der folgenden Strophen ergibt. In der zweiten Strophe werden dann vier Wendungen vorgeführt (jeweils „halten“ zu ergänzen, V. 8 f.), die zu Verhaltensweisen des dich Haltens gehören; dabei ist „mich an dich halten“ (V. 8) Beleg für eine metaphorische Verwendung von „halten“, während „sich zurückhalten“ (V. 8) ein Kompositum des Verbs ist, ebenso „anhalten“ (V. 8). Nominal lassen sich die vier „halten“ so umschreiben: Rücksicht VerzauberungSchutz – Umarmung. Insgesamt stehen sie im Umkreis des liebenden Haltens, ohne dass eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt würde. Eigens ausgeschlossen wird „dir etwas vorenthalten“ („jemandem etwas ihm rechtmäßig Zustehendes verweigern“, DWDS), was etymologisch ein ganz entfernter Abkömmling von „halten“ ist, dessen Abstammung kaum noch verspürt wird (V. 10 f.). Durch den Zeilenschnitt V. 10/11 wird die Negation hervorgehoben. Auch diese Strophe ist in normaler Prosa gesprochen; „vorenthalten“ ist beinahe bildungssprachlich.

In der dritten Strophe werden zwei Wendungen durchgespielt, „dich in den Armen halten“ (V. 12-14) und „dich „hochhalten“ (V. 15-17). Hier werden vom Sprecher zwei elementare Bedeutungen von „dich halten“ entfaltet: sozusagen jederzeit dich in den Armen halten (V. 13 f.) und die ungewöhnliche Wendung „Dich hochhalten / gegen das Dunkel“ (V. 15 f.); dies verstehe ich in dem Sinn, dass das Du dem Ich ein Licht ist. Das beschworene Dunkel wird dreifach und damit umfassend angedeutet (V. 17), zunächst wörtlich „Dunkel des Abends“, dann zweimal metaphorisch-existenziell „Dunkel der Zeit“ und „Dunkel der Angst“, wobei offen bleibt, worin denn die beiden zuletzt genannten Dunkelheiten bestehen – Unbestimmtheit als Bedingung dafür, dass jeder seine Dunkelheiten hier finden kann. Sprachlich fällt hier auf, dass jeweils drei nähere Bestimmungen als Orte des Haltens (V. 14) oder als Attribute des Dunkels (V. 17) aufgeführt werden, so dass die Strophe aus zwei parallel gebauten Teilen besteht, deren Anfang der Verbalkomplex bildet. Dies wird durch den Zeilenschnitt verdeutlicht.

Ähnlich ist auch die letzte Strophe aufgebaut: Im ersten Teil wird aufgezählt, was am geliebten Du alles zu halten ist (V. 18-20); es folgt die Beteuerung, dass außer diesem Du „Sonst nichts mehr [zu] halten“ ist (V. 21), dass das Du sozusagen sein Ein und Alles ist. Die vier genannten Objekte des Nicht-mehr-Haltens sind verschiedenartig; der Trumpf (V. 22) ist völlig unbestimmt und könnte sowohl ein Trumpf gegen die Welt wie gegen das Du sein; wenn Reden (V. 22) nicht mehr zu halten sind, dann ist mit einem Liebesbekenntnis alles gesagt. „Stecken und Stab“ sind eine Wendung aus dem berühmten Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“, wo es heißt: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, / fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ (Ps 23,4) Der Sprecher verzichtet mit seiner Äußerung auf jede Art göttlichen Beistands, er hält sich nur an das von ihm gehaltene Du. Die Münze im Mund (V. 23) spielt auf einen antiken Brauch an: „Ein sogenannter Charonspfennig ist eine Münze, die ursprünglich in der Antike verstorbenen Griechen als Grabbeigabe unter die Zunge gelegt wurde, bevor sie bestattet wurden. Die Lage der Münze im Mund stellte sicher, dass der Tote diese im Jenseits bei sich hatte, und sollte als Fährgeld für den Fährmann Charon für die Überfahrt der Toten über den Fluss Acheron, Styx und den Acherousia-See in das Totenreich des Hades dienen.“ (Wikipedia, 3/2020) Wenn das sprechende Ich also auf diese Münze verzichtet, hat es sich auf Leben und Tod dem Du verschrieben. Stecken/Stab und Münze/Mund sind jeweils durch Alliteration miteinander verbunden. Die Wendungen der letzten Zeilen gehören der Bildungssprache an; der Sprecher kennt die antike und die christliche Tradition und sagt sich von den alten Gewissheiten und Tröstungen los – er sucht sein Heil nur noch in dem von ihm gehaltenen Du.

Außerhalb der Analyse ist anzumerken, dass durch solche Ansprüche jedes reale Du überfordert ist; es ist wie das Ich ein hilfsbedürftiger Mensch mit wechselnden Stimmungen und keine Gottheit, mögen verliebte Augen es auch in göttlichem Glanz erblicken. Luise und vor allem Ferdinand in „Kabale und Liebe“ haben demonstriert, wohin solche übersteigerten Ansprüche an das Du führen.

Erich Fried: Die Bezeichnungen – Analyse

Nicht mehr Selbstmord…“

Text: http://www.suzanne.de/worte/fried/bezeichnung/bezeichnung.html

Die Bezeichnungen, von denen im Titel absolut (ohne Attribut: Bezeichnungen für…) und mit bestimmtem Artikel gesprochen wird, sind die möglichen Bezeichnungen für den sogenannten Selbstmord oder Suizid. Drei der gängigen Bezeichnungen werden diskutiert und zurückgewiesen: Selbstmord, Freitod, der letzte Ausweg. Am Ende fragt der anonyme Sprecher deshalb in seiner Ratlosigkeit: „Mit welchen Worten das Namenlose nennen?“ (V. 17)

Das Gedicht ist leicht zu verstehen, da gibt es nicht viel zu „interpretieren“; man kann allerdings den Gedankengang aufzeichnen und sprachliche Feinheiten beachten. Die erste besteht darin, dass in den ersten Versen aller Strophen das Verb und das Subjekt, also der Satzkern fehlt – zu ergänzen wäre dreimal „Man darf sagen“ oder „Man soll sagen“; das zeigt, dass der Sprecher Vorschläge macht oder Verbote (wenn man die jeweils vorhandene Negation berücksichtigt) ausspricht. Es folgen auf dieses einleitende Verbot Begründungen dafür, dass man so nicht sprechen soll oder kann. Daraus ergibt sich dann eben die abschließende Frage (V. 17).

Die Bezeichnung „Selbstmord“ wird abgelehnt, weil – so der Sprecher – nicht der Selbstmörder mordet, sondern „dieses Leben“ (V. 3 f.). Das ist eine recht vage Aussage, die pauschal unterstellt, dass „dieses Leben“ in der Bundesrepublik Deutschland mörderisch (gewesen) ist; man muss schon sehr links eingestellt (gewesen) sein und etwa auch die Partei der Baader, Meinhof und Genossen ergriffen haben (vgl. das Gedicht „Die Anfrage“), um im Hinweis auf „dieses Leben“ ein Mordmotiv zu erkennen. Aus dieser Perspektive kann man in der Tat in der Bezeichnung „Selbstmord“ eine Verleumdung erkennen (V. 2). – Nur der Zeilenschnitt weist die vier in normaler Prosa gesprochenen Zeilen als Gedicht aus; die beiden ersten trennen semantische Einheiten, der Schnitt hinter „die“ (V. 3) hebt „dieses Leben“ (V. 4) als Täter oder Mörder hervor.

Als nächste Bezeichnung wird „Freitod“ abgelehnt, und zwar mit einer doppelten Begründung: Freitöter (ein Neologismus, abgeleitet von „Freitod“) seien andere Typen (V. 6 f.), die töten und trotzdem frei ausgehen – für Staatsmänner ist das nicht zu bestreiten, für Polizisten in unserem Land allerdings schon. Das zweite Argument steckt in der rhetorischen Frage, ob die Tötung den Betroffenen wirklich freigestanden habe (V. 8). Die rhetorische Frage impliziert die Antwort „Nein“, die allerdings problematisch ist, wenn man das so pauschal behauptet; es gibt doch Leute, die ernsthaft sterben möchten – deren Recht auf Autonomie hat das Bundesverfassungsgericht gerade erst bestätigt (26.02.2020): „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.“ – Der Zeilenschnitt in der zweiten Strophe folgt i.W. dem Satzbau.

Für die Diskussion der dritten Bezeichnung nimmt der Sprecher sich die doppelte Zeit (zwei Strophen): „den letzten Ausweg wählen“. Die Konstruktion der dritten Strophe ist etwas ungewöhnlich: Das Subjekt „sie“ (V. 10) wird erst nachträglich in einer Apposition bestimmt: „die einfachen Leute“ (V. 11), deren Abschiedsbotschaften zitiert werden. Wieso das die einfachen Leute sein wollen, erschließt sich mir nicht.

Das zweifache Argument gegen diese Bezeichnung oder Erklärung steht in der vierten Strophe, wieder in zwei rhetorischen Fragen. Die erste Frage hätte nur Sinn, wenn man von der Bezeichnung „Freitod“ ausgeht, nicht aber vom „letzten Ausweg“ (V. 13 mit V. 12); denn um den letzten Ausweg zu nehmen, braucht man nicht die Wahl zu haben, im Gegenteil. Hier käme man im Sinne des Sprechers höchstens weiter, wenn man nach dem Attribut „Ausweg vor was?“ fragte; da man aber vom letzten Ausweg immer ohne dieses Attribut spricht, beansprucht man gerade, keine Wahl zu haben – nur so kann dieses Wort als Erklärung oder Entschuldigung oder Bitte um Verständnis dienen. Auch die zweite Frage ist mit dem Wortspiel vom „vorletzten Ausweg“ (V. 16, analog dem „letzten“) nicht plausibel: Wenn man am letzten Ausweg ankommt, hat man den vorletzten bereits verpasst; beim letzten Ausweg nach dem vorletzten zu fragen nimmt den, der sterben will, und seine Lage nicht ernst.

Der Zeilenschnitt in den beiden letzten Strophen hebt „die einfachen Leute“ (V. 11) hervor, ohne dass diese Bezeichnung dadurch plausibler würde, ebenso die Wendung „einen vorletzten Ausweg“ (V. 16), wo schon die Wortbildung überraschend ist; in den anderen Fällen folgt der Zeilenschnitt dem Satzbau.

Auf die ratlose Schlussfrage, die in ihre Sonderstellung durch nur eine Zeile gelangt, als die Konsequenz aller Überlegungen ist bereits hingewiesen worden. Eine Untersuchung verdient die Bezeichnung „das Namenlose“ (V. 17). Das ist zunächst das, wofür drei gängige Namen abgelehnt worden sind, weshalb es als namenlos erscheint. Nimmt man jedoch diese Bezeichnung als endgültigen „Namen“ für jenes Namenlose, dann deutet sich darin der Abgrund an, in den man blickt, wenn ein guter Bekannter sich selbst getötet hat.

Angesichts sowohl des Namenlosen wie auch des eigenen Erschreckens könnte man, statt nach einem passenden Namen zu fragen, jedoch überlegen, wie man Verzweiflungstaten wie die Selbsttötung vielleicht verhindern kann – das wäre eine humanere Alternative an Stelle der allerdings logisch erscheinenden Schlussfrage (V. 17). In diesem Gedicht hat Erich Fried in guter „linker“ Absicht um sich gehauen und dabei nicht darauf geachtet, ob er nicht vielleicht auch die Falschen trifft.

Erich Fried: Was ist uns Deutschen der Wald? – Analyse

was ist uns deutschen der wald?

ein ewig grünender vorwand
zur definition von geräuschen
als rauschen oder als stille
zum hören des schweigens
sowie zur geselligen freude
an seiner zwanglos befreienden einsamkeit

eine deckung für hochgefühle
die anderwärts nicht mehr gedeckt sind
und für vertiefung in äußerste innerlichkeit
für stillen so-vor-sich-hingang
im sinne der suche nach nichts
und des forttragens aller funde
womöglich samt ihren wurzeln

ein anlaß sich gelassen verlassen zu fühlen
und vor lauter bäumen die bäume nicht mehr zu sehen
markierungen anzubringen
und gegen wildernde hunde
todeswarnungen die sie nicht lesen können

eine gelegenheit
weg und holzweg in ihm zu bahnen
ihn kurz und klein zu schlagen
dies als schicksalsschlag zu empfinden
und jeden baum von fall zu fall zu bejahen:
ihn äußerlich zu vernichten
und innerlich neu zu errichten

ein grund in ihm zu lieben und in ihm zu schießen
ihn tief ins herz und für den durchgang zu schließen
in ihm geborgen die ganze welt zu verneinen
und sich in ihm oder mit ihm zu vereinen
sein schweigen zu feiern in schallenden chorgesängen
in ihm fallen zu stellen und sich in ihm zu erhängen

erich fried (Text von https://www.dslr-forum.de/showthread.php?t=13368)

Im Jahr 2008 durften sich die Schüler des Saarlandes im Abitur mit Erich Frieds Frage befassen, auf die ein anonymer Sprecher im Gedicht ganz viele Antworten anbietet. Er zählt sich (bzw. wird vom Autor, der die Überschrift setzt, gezählt) zu den Deutschen, die in der Überschrift als Wir-Gemeinschaft auftreten. Die Antworten werden in fünf Strophen als Fortsetzung des durch die Titelfrage vorgegebenen Satzkerns „Der Wald ist uns [d.h. bedeutet uns, N.T.] Deutschen“ gegeben.

Die erste Antwort lautet: ein Vorwand zur Definition, zum Hören, zur Freude (1. Strophe). In dieser scheinbar einfachen Antwort steckt eine große Komplexität. Schon das Attribut „ewig grünender“ (V. 1) greift eine gängige Bezeichnung des Waldes auf, die kategorial nicht zu „Vorwand“ passt – ein syntagmatischer Bruch, der den Leser irritiert. Auch zwischen „Geräusche / Rauschen oder Stille“ gibt es einen Bruch, da hier die positiv dem Wald normalerweise zuerkannten Attribute als bloße Geräusche (V. 2) entlarvt werden – genauer: die Definition dieser Geräusche als schönes Rauschen oder erhabene Stille wird entlarvt, indem solche Bezeichnungen als „Vorwand zur Definition“ (V. 1 f.) bezeichnet werden. Exakter müsste der Sprecher sagen, nicht der Wald, sondern seine Verehrung sei ein solcher Vorwand; die verehrende Hinwendung zum Wald steckt in der Bewertung im Attribut „ewig grünender“ (V. 1). Wozu brauchen wir Deutschen einen solchen Vorwand? Das sagt der Sprecher nicht; doch er nennt als weiteren Vorwand den „zum Hören des Schweigens“ (V. 4) – ein Widerspruch in sich, der die religiöse Dimension der Waldverehrung andeutet (GOTT als coincidentia oppositorum, mit Nikolaus Cusanus gesprochen: der Zusammenfall der Gegensätze im Unendlichen, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Coincidentia_oppositorum). Solchem Bedürfnis nach Verehrung des Umgreifenden diene der Wald als Vorwand, sagt der Sprecher. Ein weiterer Widerspruch steckt in der dritten Bestimmung: Vorwand zur geselligen Freude an der befreienden Einsamkeit: Wenn man sich der Einsamkeit im Wald in Gesellschaft erfreut (V. 5 f.), wird die Einsamkeit aufgehoben, geht das zwanglos Befreiende in den Ritualen der Geselligkeit unter.

In der Aufdeckung der Widersprüche und im negativ konnotierten Nomen „Vorwand“ (V. 1) finden wir die Pointe der ersten Antwort: Die Deutschen betrügen sich mit ihrem Wald, mit ihrer Waldverehrung. Der Sprecher benutzt die normale Umgangssprache, erweist sich in der Konstruktion der Widersprüche aber als ein großer Dialektiker. Der Zeilenschnitt dient hier dazu, die einzelnen Glieder der Widersprüche zu isolieren und so einander zu konfrontieren (V. 1-2, 2-3, 5-6; nur in V. 4 steckt der Widerspruch in einer Zeile).

Wer hat dich, du schöner Wald, / Aufgebaut so hoch da droben? / Wohl, den Meister will ich loben…“ Solche romantischen Waldgedichte Eichendorffs muss man kennen, wenn man Frieds Gedicht verstehen will: Dem gemäß decke der „deutsche Wald“ Hochgefühle, „die anderwärts nicht mehr gedeckt sind“ (V. 8). Dass mit dem Waldpathos Hochgefühle gedeckt werden, steht schon in Strophe 1; jetzt kommt die nüchterne Bewertung, dass sie eben Gefühle einer vergangenen Zeit sind, also heute („nicht mehr“, V. 8) kein Fundament in unserer Lebenswelt haben – was in der 1. Strophe bereits durch die Brüche und inneren Widersprüche angedeutet war. „Vertiefung in die äußerste Innerlichkeit“ (V. 9) ist ebenso etwas, was „der deutsche Wald“ abdecken muss; das entspricht dem „Hören des Schweigens“ (V. 4) und ist in sich genau so widersprüchlich formuliert (äußerst / Innerlichkeit). Was damit gemeint ist, wird in der folgenden Paraphrase von Goethes Gedicht „Gefunden“ („Ich ging im Walde / So für mich hin…“) angedeutet, etwas lässig-umgangssprachlich („im Sinne“, V. 11; „aller Funde“, V. 12; „womöglich“, V. 13) und damit von Goethe distanziert. Der Zeilenschnitt folgt den Sinneinheiten, also den syntaktischen Blöcken (Sätzen und Satzteilen). Zur Strophe gehören sieben Zeilen – insgesamt schwankt die Zahl der Zeilen in den fünf Strophen von fünf bis sieben.

Der deutsche Wald“ und das damit verbundene Gefühlspathos dient verschiedenen Zwecken, zeigt das Gedicht auf (Str. 1-5): Er ist

  • ein Vorwand für…
  • eine Deckung für…
  • ein Anlass zu…
  • eine Gelegenheit zu…
  • ein Grund zu…,

das sind fünf verschiedene Ausdrücke dafür, einen Zweck anzugeben. In der dritten Strophe werden zum „Anlass zu…“ verschiedene Gefühle und Handlungen aufgezählt; in der ersten dient dazu das Wortspiel „gelassen verlassen“ (V. 14), das wieder in sich widersprüchlich ist. Der zweite Widerspruch („vor lauter Bäumen die Bäume nicht sehen“, V. 15) verdreht auf unsinnige Weise die Redensart „vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen“. Markierungen haben in einem der Innerlichkeit dienenden Ort (V. 16, mit V. 9) eigentlich nichts zu suchen. Der vierte Zweck läuft auf einen bewusst sinnlos formulierten Widerspruch („Todeswarnungen, die sie nicht lesen können“, V. 18) hinaus: erstens können Hunde nie lesen, und zweitens dienen die Warnungen den Menschen, nicht den Hunden. Sprachlich gibt es sonst gegenüber den beiden ersten Strophen nichts Neues.

In der vierten Strophe wird die Liste der Wortspiele und Widersprüche fortgesetzt, diesmal im Hinblick auf die Waldwirtschaft: Man bahnt Wege, aber keine Holzwege (V. 20), sondern kann allenfalls auf einem Holzweg sein (Wortspiel „Holzweg“ – Wald); „kurz und klein schlagen“ (V. 21) ist hier abwertende Bezeichnung des Bäume Fällens, was als geplante Aktion natürlich kein „Schicksalsschlag“ (V. 22) sein kann – auch hier wieder ein Wortspiel (schlagen – Schicksalsschlag, V. 21 f.). Ebenfalls doppeldeutig ist „von Fall zu Fall“ (V. 23), hier auch auf das Fallen eines gefällten Baumes bezogen. In den beiden letzten Versen ist gleich ein doppelter Widerspruch vorhanden: äußerlich vernichten – innerlich errichten (V. 24 f.). Der Zeilenschnitt folgt wieder den syntaktischen und semantischen Einheiten. In V. 24 f. finden wir erstmals einen Paarreim.

Dieses Reimschema wird in der letzten Strophe beibehalten; hier wird der Ton noch deutlicher ironisch – bereits die Vielzahl der inneren Widersprüche war in den ersten vier Strophen ein Hinweis auf eine ironische Schwingung in der Sprache. Satiresignal ist die Tatsache, dass Phänomene als gleichartig zusammengestellt werden, die semantisch (bzw. syntagmatisch) nicht zueinander passen: im Wald lieben / schießen (V. 26; ebenso V. 29 und V. 31), massiv das Zeugma in V. 27 („ins Herz und für den Durchgang schließen“), die inneren Widersprüche (der Wald gehört auch zur ganze Welt, die verneint wird, V. 28; Schweigen feiern in schallenden Chorgesängen, V. 30); auch die Reimwörter passen partout nicht zueinander: in ihm schießen – ihn für den Durchgang schließen (V 26 f.); vereinen – verneinen (V. 28 f.); in Chorgesängen – sich erhängen (V. 30 f.); sie sind so Zeugnisse des satirischen Tones, in dem die deutsche Waldbegeisterung verspottet wird.

Mit diesem Gedicht bezieht Erich Fried sich kritisch auf eine literarische Tradition der innerlicher Seligkeit, in der dem deutschen Wald vor allem im 19. Jahrhundert Denkmäler gesetzt wurden. Eines davon stammt von Leberecht Blücher Drewes (1816-1870):

Frühmorgens, wenn die Hähne krähn,
Eh‘ noch der Wachtel Ruf erschallt,
Eh‘ wärmer all‘ die Lüfte wehn,
Vom Jagdhornruf das Echo hallt:
Dann gehet leise
Nach seiner Weise
Der liebe Herrgott durch den Wald.“

Das wird heute noch von Heino (https://www.youtube.com/watch?v=cY5XDvuKzPY), von Chören (https://www.youtube.com/watch?v=ITakopQqiAc) oder in der Bundeswehr (https://www.youtube.com/watch?v=Xs5XKYNe7PU) gesungen. Und von Peter Rosegger gibt es die Erzählung „Der liebe kleine Gott geht durch den Wald“. Da kann man mit Fried (in: „Die Beine der größeren Lügen“, 1969) nur noch entgeistert fragen: Was ist uns Deutschen der Wald? Gewidmet ist das Gedicht Hans Mayer.

P.S.

Der Abiturient, der unter dem Pseudonym „sebastian29189“ (vermutlich sein Vorname und sein Geburtsdatum) von der Abituraufgabe im Saarland berichtet hat (http://www.uni-protokolle.de/foren/viewt/183727,0.html), schreibt zur Interpretation des Gedichtes u.a.:

Ich interpretierte allgemein die Ambivalenz des Waldmotivs in der Literatur und auch in der Wahrnehmung des Menschen vom romantischen Wald bis hin zu einem fremden Ort, der den Mensch entfremdet und isoliert beziehungsweise ein Ort, wo Menschen auf dem Holzweg sind und ihren Weg verlieren. Mit anderen Worten und kurz ausgedrückt warnt der Lyriker davor, den Weg zu verlieren, sich zu isolieren und blind durch das Leben zu gehen. Er hält es für wichtig, sehend und auf die Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen und warnt „vor lauter bäumen die bäume nicht mehr zu sehen“ also den Menschen und das Einzelschicksal aus dem Blick zu verlieren. Er spricht sich für Toleranz aus… In dieser Art habe ich interpretiert.
Meine Frage lautet nun, inwiefern ihr es als bedeutend seht, die „wildernde Hunde“, die ich als eine allgemeine Bedrohung oder auch als einen Teil des Waldes gesehen habe, als Nazis interpretieren würdet und inwiefern die Chorgesänge für die Gesänge der Nationalsozialisten stehen.

Da sieht man, was arme Schüler von sich geben, wenn sie nicht zu lesen gelernt haben, sondern bloß „interpretierend“ anhand einzelner Wörter zu phantasieren, und wenn sie die literarische Tradition nicht kennen (bzw. wenn man ihnen zu Gedichten, die sich mit literarischen Traditionen auseinandersetzen, keine Zusatzinformationen gibt – aus denen sie im Zweifelsfall aber bloß abschreiben würden: mittlerweile eine gängige Methode zumindest in der ZAP in NRW).

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Wald (Deutscher Wald)

https://www.planet-wissen.de/natur/landschaften/deutscher_wald/deutscher-wald-sehnsuchtsort-100.html (Die Deutschen und ihr Wald)

https://www.bpb.de/apuz/260674/natur-der-nation-der-deutsche-wald-als-denkmuster-und-weltanschauung (Der „deutsche Wald“ als Denkmuster und Weltanschauung)

http://www.buergerimstaat.de/1_01/wald_01.pdf (Der deutsche Wald)

http://s128739886.online.de/deutscher-wald/ (Deutscher Wald)

Erich Fried: Kinder und Linke – Analyse

Wer Kindern sagt…“

In diesem Gedicht werden in drei Strophen fünf verschiedene Möglichkeiten beurteilt, wie man mit Kindern über ihr Denken sprechen kann. In den beiden ersten Strophen stellt der anonyme Sprecher lehrhaft vier falsche Möglichkeiten vor, jeweils in drei Versen, die nach dem gleichen Schema aufgebaut sind:

Wer Kindern sagt

[was sie zu denken haben]

der ist ein Rechter“

Entscheidend ist hier, dass den Kindern überhaupt gesagt wird, was sie zu denken haben; dem ist gleichwertig, dass man ihnen sagt, es sei egal, was sie denken (V. 11), weil man sie so nicht beachtet. Es kommt in der Kritik des Sprechers darauf an, dass man ihnen überhaupt das Denken vorschreiben oder verbieten (V. 8) will oder ihr Denken nicht ernst nimmt (V. 11). Die Kritik steht dann im jeweils dritten Vers, immer gleich lautend: „der ist ein Rechter“, also ein Reaktionär, ein Gegner des Fortschritts. Bemerkenswert ist, dass auch nur ein Rechter vorschreibt, links zu denken (V. 4-6); damit wird jeder Zensur und jeder Konformität, wie sie im „real existierenden“ Sozialismus (SU, DDR usw.) gang und gäbe war, eine Absage erteilt.

Richtig dagegen, sagt der Sprecher, sei es, den Kindern zu sagen,

a) was man selbst denkt,

b) dass daran etwas falsch sein könnte;

wer so zu ihnen spricht, „der ist vielleicht / ein Linker“ (V. 17 f.). In den beiden zitierten Versen ist das Modalwort „vielleicht“ durch den Zeilenschnitt betont und auch dadurch, dass in den vier vorhergehenden Bewertungen (V. 3, 6, 9, 12) das Modalwort fehlt. So mit Kindern zu sprechen ist also nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, „ein Linker“ zu sein. Ein Linker, ein Vertreter der Humanität, relativiert also als Lehrer seine eigene Position, stellt sie zur Kritik; diese These findet man in vielen Gedichten Brechts, besonders eindrucksvoll in „Lob des Zweifels“ und „Der Zweifler“, aber auch in anderen. Die richtige Möglichkeit steht nach den Regeln nicht nur literarischen Sprechens und Erzählens am Schluss; da gehört sie hin, sie ist die Pointe der Ausführungen.

Noch eine Besonderheit, richtig vom Denken zu sprechen, besteht darin, dass man sagt, was man selber denkt: Erstens denkt man selber (was nicht selbstverständlich ist!), und zweitens steht man öffentlich dazu (was ebenfalls nicht selbstverständlich ist). Mit solchem Selbstbewusstsein verträgt es sich ausgezeichnet, dass man seine eigene Fehlbarkeit zugeben kann – nur mit solchem Selbstbewusstsein kann man das. Dem selbstbewussten Standpunkt-Nehmen entspricht das Ziel, Kinder in die Mündigkeit, in die Autonomie zu entlassen.

Der Sprecher redet in normaler Umgangssprache; der Zeilenschnitt folgt dem Satzbau (bis auf V. 17/18, s.o.). Für die Erläuterung der richtigen Art, zu Kindern zu sprechen, braucht es mehr Platz (sechs Verse) statt der sonst ausreichenden drei Verse.

Das Gedicht ist leicht zu verstehen – ihm gemäß zu handeln ist schon etwas schwerer, aber unbedingt notwendig; schließlich muss man dafür kein Linker sein. Am Rand der Analyse sollte man festhalten, dass hier die Unterscheidung „ein Linker / ein Rechter“ sich der Bedeutung „richtig / falsch handeln“ nähert, allerdings nicht ihr gleich ist. Erich Frieds Probleme, wer wahrhaft ein Linker ist, brauchen uns nicht mehr zu interessieren; erfreulich ist, dass er sich von Stalinisten und Betonkommunisten abgrenzt und ihnen abspricht, wahrhaft Linke zu sein – wenn wir denn annehmen dürfen, der anonyme Sprecher trage Frieds Ansichten vor, wogegen nichts spricht. Die Schlag- und Schimpfworte „ein Linker – ein Rechter“ sind in der politisch aufgeheizten Stimmung heute nicht hilfreich (und waren es vielleicht noch nie); wenn ich Frieds Gedicht lese, geht es mir jedenfalls darum, wie man richtig mit Kindern umgeht, egal welches Etikett man später darauf klebt.

Text und Vortrag Fritz Stavenhagens: https://www.deutschelyrik.de/kinder-und-linke.html