was ist uns deutschen der wald?
ein ewig grünender vorwand
zur definition von geräuschen
als rauschen oder als stille
zum hören des schweigens
sowie zur geselligen freude
an seiner zwanglos befreienden einsamkeit
eine deckung für hochgefühle
die anderwärts nicht mehr gedeckt sind
und für vertiefung in äußerste innerlichkeit
für stillen so-vor-sich-hingang
im sinne der suche nach nichts
und des forttragens aller funde
womöglich samt ihren wurzeln
ein anlaß sich gelassen verlassen zu fühlen
und vor lauter bäumen die bäume nicht mehr zu sehen
markierungen anzubringen
und gegen wildernde hunde
todeswarnungen die sie nicht lesen können
eine gelegenheit
weg und holzweg in ihm zu bahnen
ihn kurz und klein zu schlagen
dies als schicksalsschlag zu empfinden
und jeden baum von fall zu fall zu bejahen:
ihn äußerlich zu vernichten
und innerlich neu zu errichten
ein grund in ihm zu lieben und in ihm zu schießen
ihn tief ins herz und für den durchgang zu schließen
in ihm geborgen die ganze welt zu verneinen
und sich in ihm oder mit ihm zu vereinen
sein schweigen zu feiern in schallenden chorgesängen
in ihm fallen zu stellen und sich in ihm zu erhängen
erich fried (Text von https://www.dslr-forum.de/showthread.php?t=13368)
Im Jahr 2008 durften sich die Schüler des Saarlandes im Abitur mit Erich Frieds Frage befassen, auf die ein anonymer Sprecher im Gedicht ganz viele Antworten anbietet. Er zählt sich (bzw. wird vom Autor, der die Überschrift setzt, gezählt) zu den Deutschen, die in der Überschrift als Wir-Gemeinschaft auftreten. Die Antworten werden in fünf Strophen als Fortsetzung des durch die Titelfrage vorgegebenen Satzkerns „Der Wald ist uns [d.h. bedeutet uns, N.T.] Deutschen“ gegeben.
Die erste Antwort lautet: ein Vorwand zur Definition, zum Hören, zur Freude (1. Strophe). In dieser scheinbar einfachen Antwort steckt eine große Komplexität. Schon das Attribut „ewig grünender“ (V. 1) greift eine gängige Bezeichnung des Waldes auf, die kategorial nicht zu „Vorwand“ passt – ein syntagmatischer Bruch, der den Leser irritiert. Auch zwischen „Geräusche / Rauschen oder Stille“ gibt es einen Bruch, da hier die positiv dem Wald normalerweise zuerkannten Attribute als bloße Geräusche (V. 2) entlarvt werden – genauer: die Definition dieser Geräusche als schönes Rauschen oder erhabene Stille wird entlarvt, indem solche Bezeichnungen als „Vorwand zur Definition“ (V. 1 f.) bezeichnet werden. Exakter müsste der Sprecher sagen, nicht der Wald, sondern seine Verehrung sei ein solcher Vorwand; die verehrende Hinwendung zum Wald steckt in der Bewertung im Attribut „ewig grünender“ (V. 1). Wozu brauchen wir Deutschen einen solchen Vorwand? Das sagt der Sprecher nicht; doch er nennt als weiteren Vorwand den „zum Hören des Schweigens“ (V. 4) – ein Widerspruch in sich, der die religiöse Dimension der Waldverehrung andeutet (GOTT als coincidentia oppositorum, mit Nikolaus Cusanus gesprochen: der Zusammenfall der Gegensätze im Unendlichen, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Coincidentia_oppositorum). Solchem Bedürfnis nach Verehrung des Umgreifenden diene der Wald als Vorwand, sagt der Sprecher. Ein weiterer Widerspruch steckt in der dritten Bestimmung: Vorwand zur geselligen Freude an der befreienden Einsamkeit: Wenn man sich der Einsamkeit im Wald in Gesellschaft erfreut (V. 5 f.), wird die Einsamkeit aufgehoben, geht das zwanglos Befreiende in den Ritualen der Geselligkeit unter.
In der Aufdeckung der Widersprüche und im negativ konnotierten Nomen „Vorwand“ (V. 1) finden wir die Pointe der ersten Antwort: Die Deutschen betrügen sich mit ihrem Wald, mit ihrer Waldverehrung. Der Sprecher benutzt die normale Umgangssprache, erweist sich in der Konstruktion der Widersprüche aber als ein großer Dialektiker. Der Zeilenschnitt dient hier dazu, die einzelnen Glieder der Widersprüche zu isolieren und so einander zu konfrontieren (V. 1-2, 2-3, 5-6; nur in V. 4 steckt der Widerspruch in einer Zeile).
„Wer hat dich, du schöner Wald, / Aufgebaut so hoch da droben? / Wohl, den Meister will ich loben…“ Solche romantischen Waldgedichte Eichendorffs muss man kennen, wenn man Frieds Gedicht verstehen will: Dem gemäß decke der „deutsche Wald“ Hochgefühle, „die anderwärts nicht mehr gedeckt sind“ (V. 8). Dass mit dem Waldpathos Hochgefühle gedeckt werden, steht schon in Strophe 1; jetzt kommt die nüchterne Bewertung, dass sie eben Gefühle einer vergangenen Zeit sind, also heute („nicht mehr“, V. 8) kein Fundament in unserer Lebenswelt haben – was in der 1. Strophe bereits durch die Brüche und inneren Widersprüche angedeutet war. „Vertiefung in die äußerste Innerlichkeit“ (V. 9) ist ebenso etwas, was „der deutsche Wald“ abdecken muss; das entspricht dem „Hören des Schweigens“ (V. 4) und ist in sich genau so widersprüchlich formuliert (äußerst / Innerlichkeit). Was damit gemeint ist, wird in der folgenden Paraphrase von Goethes Gedicht „Gefunden“ („Ich ging im Walde / So für mich hin…“) angedeutet, etwas lässig-umgangssprachlich („im Sinne“, V. 11; „aller Funde“, V. 12; „womöglich“, V. 13) und damit von Goethe distanziert. Der Zeilenschnitt folgt den Sinneinheiten, also den syntaktischen Blöcken (Sätzen und Satzteilen). Zur Strophe gehören sieben Zeilen – insgesamt schwankt die Zahl der Zeilen in den fünf Strophen von fünf bis sieben.
„Der deutsche Wald“ und das damit verbundene Gefühlspathos dient verschiedenen Zwecken, zeigt das Gedicht auf (Str. 1-5): Er ist
- ein Vorwand für…
- eine Deckung für…
- ein Anlass zu…
- eine Gelegenheit zu…
- ein Grund zu…,
das sind fünf verschiedene Ausdrücke dafür, einen Zweck anzugeben. In der dritten Strophe werden zum „Anlass zu…“ verschiedene Gefühle und Handlungen aufgezählt; in der ersten dient dazu das Wortspiel „gelassen verlassen“ (V. 14), das wieder in sich widersprüchlich ist. Der zweite Widerspruch („vor lauter Bäumen die Bäume nicht sehen“, V. 15) verdreht auf unsinnige Weise die Redensart „vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen“. Markierungen haben in einem der Innerlichkeit dienenden Ort (V. 16, mit V. 9) eigentlich nichts zu suchen. Der vierte Zweck läuft auf einen bewusst sinnlos formulierten Widerspruch („Todeswarnungen, die sie nicht lesen können“, V. 18) hinaus: erstens können Hunde nie lesen, und zweitens dienen die Warnungen den Menschen, nicht den Hunden. Sprachlich gibt es sonst gegenüber den beiden ersten Strophen nichts Neues.
In der vierten Strophe wird die Liste der Wortspiele und Widersprüche fortgesetzt, diesmal im Hinblick auf die Waldwirtschaft: Man bahnt Wege, aber keine Holzwege (V. 20), sondern kann allenfalls auf einem Holzweg sein (Wortspiel „Holzweg“ – Wald); „kurz und klein schlagen“ (V. 21) ist hier abwertende Bezeichnung des Bäume Fällens, was als geplante Aktion natürlich kein „Schicksalsschlag“ (V. 22) sein kann – auch hier wieder ein Wortspiel (schlagen – Schicksalsschlag, V. 21 f.). Ebenfalls doppeldeutig ist „von Fall zu Fall“ (V. 23), hier auch auf das Fallen eines gefällten Baumes bezogen. In den beiden letzten Versen ist gleich ein doppelter Widerspruch vorhanden: äußerlich vernichten – innerlich errichten (V. 24 f.). Der Zeilenschnitt folgt wieder den syntaktischen und semantischen Einheiten. In V. 24 f. finden wir erstmals einen Paarreim.
Dieses Reimschema wird in der letzten Strophe beibehalten; hier wird der Ton noch deutlicher ironisch – bereits die Vielzahl der inneren Widersprüche war in den ersten vier Strophen ein Hinweis auf eine ironische Schwingung in der Sprache. Satiresignal ist die Tatsache, dass Phänomene als gleichartig zusammengestellt werden, die semantisch (bzw. syntagmatisch) nicht zueinander passen: im Wald lieben / schießen (V. 26; ebenso V. 29 und V. 31), massiv das Zeugma in V. 27 („ins Herz und für den Durchgang schließen“), die inneren Widersprüche (der Wald gehört auch zur ganze Welt, die verneint wird, V. 28; Schweigen feiern in schallenden Chorgesängen, V. 30); auch die Reimwörter passen partout nicht zueinander: in ihm schießen – ihn für den Durchgang schließen (V 26 f.); vereinen – verneinen (V. 28 f.); in Chorgesängen – sich erhängen (V. 30 f.); sie sind so Zeugnisse des satirischen Tones, in dem die deutsche Waldbegeisterung verspottet wird.
Mit diesem Gedicht bezieht Erich Fried sich kritisch auf eine literarische Tradition der innerlicher Seligkeit, in der dem deutschen Wald vor allem im 19. Jahrhundert Denkmäler gesetzt wurden. Eines davon stammt von Leberecht Blücher Drewes (1816-1870):
„Frühmorgens, wenn die Hähne krähn,
Eh‘ noch der Wachtel Ruf erschallt,
Eh‘ wärmer all‘ die Lüfte wehn,
Vom Jagdhornruf das Echo hallt:
Dann gehet leise
Nach seiner Weise
Der liebe Herrgott durch den Wald.“
Das wird heute noch von Heino (https://www.youtube.com/watch?v=cY5XDvuKzPY), von Chören (https://www.youtube.com/watch?v=ITakopQqiAc) oder in der Bundeswehr (https://www.youtube.com/watch?v=Xs5XKYNe7PU) gesungen. Und von Peter Rosegger gibt es die Erzählung „Der liebe kleine Gott geht durch den Wald“. Da kann man mit Fried (in: „Die Beine der größeren Lügen“, 1969) nur noch entgeistert fragen: Was ist uns Deutschen der Wald? Gewidmet ist das Gedicht Hans Mayer.
P.S.
Der Abiturient, der unter dem Pseudonym „sebastian29189“ (vermutlich sein Vorname und sein Geburtsdatum) von der Abituraufgabe im Saarland berichtet hat (http://www.uni-protokolle.de/foren/viewt/183727,0.html), schreibt zur Interpretation des Gedichtes u.a.:
Ich interpretierte allgemein die Ambivalenz des Waldmotivs in der Literatur und auch in der Wahrnehmung des Menschen vom romantischen Wald bis hin zu einem fremden Ort, der den Mensch entfremdet und isoliert beziehungsweise ein Ort, wo Menschen auf dem Holzweg sind und ihren Weg verlieren. Mit anderen Worten und kurz ausgedrückt warnt der Lyriker davor, den Weg zu verlieren, sich zu isolieren und blind durch das Leben zu gehen. Er hält es für wichtig, sehend und auf die Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen und warnt „vor lauter bäumen die bäume nicht mehr zu sehen“ also den Menschen und das Einzelschicksal aus dem Blick zu verlieren. Er spricht sich für Toleranz aus… In dieser Art habe ich interpretiert.
Meine Frage lautet nun, inwiefern ihr es als bedeutend seht, die „wildernde Hunde“, die ich als eine allgemeine Bedrohung oder auch als einen Teil des Waldes gesehen habe, als Nazis interpretieren würdet und inwiefern die Chorgesänge für die Gesänge der Nationalsozialisten stehen.
Da sieht man, was arme Schüler von sich geben, wenn sie nicht zu lesen gelernt haben, sondern bloß „interpretierend“ anhand einzelner Wörter zu phantasieren, und wenn sie die literarische Tradition nicht kennen (bzw. wenn man ihnen zu Gedichten, die sich mit literarischen Traditionen auseinandersetzen, keine Zusatzinformationen gibt – aus denen sie im Zweifelsfall aber bloß abschreiben würden: mittlerweile eine gängige Methode zumindest in der ZAP in NRW).
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Wald (Deutscher Wald)
https://www.planet-wissen.de/natur/landschaften/deutscher_wald/deutscher-wald-sehnsuchtsort-100.html (Die Deutschen und ihr Wald)
https://www.bpb.de/apuz/260674/natur-der-nation-der-deutsche-wald-als-denkmuster-und-weltanschauung (Der „deutsche Wald“ als Denkmuster und Weltanschauung)
http://www.buergerimstaat.de/1_01/wald_01.pdf (Der deutsche Wald)
http://s128739886.online.de/deutscher-wald/ (Deutscher Wald)