Aufgabenstellung Abitur NRW (Lk):
1. Analysieren Sie das Gedicht „Spiele wohl! Das Leben ein Schauspiel“ von Czepko im Hinblick auf die hier entwickelte Vorstellung vom menschlichen Leben und dessen Bedingungen. Brücksichtigen Sie dabei auch die Metaphorik und den Titel.
2. Erschließen Sie die zentralen Motive und Strukturen von Rose Ausländers Gedicht „Noch bist du da“ und vergleichen Sie anschließend die Konzepte menschlicher Lebensführung, die in den Gedichten jeweils zur Sprache kommen.
Daniel Czepko
Spiele wohl!
Das Leben ein Schauspiel
Was ist dein Lebenslauff und Thun, o Mensch? ein Spiel.
Den Innhalt sage mir? Kinds, Weibs und Tods Beschwerde.
Was ist es vor ein Platz, darauff wir spieln? Die Erde.
Wer schlägt und singt dazu? Die Wollust ohne Ziel.
Wer heißt auff das Gerüst‘ uns treten? Selbst die Zeit.
Wer zeigt die Schauer mir? Mensch, das sind bloß die Weisen,
Was ist vor Stellung hier? Stehn, schlaffen, wachen, reisen,
Wer theilt Gesichter aus? Allein die Eitelkeit.
Wer macht den Schau Platz auff? Der wunderbare Gott.
Was vor ein Vorhang deckts? Das ewige Versehen.
Wie wird es abgetheilt? Durch leben, sterben, flehen.
Wer führt uns ab, wer zeucht uns Kleider aus? Der Tod.
Wo wird der Schluß erwartt des Spieles? in der Grufft.
Wer spielt am besten mit? Der wol sein Ammt kan führen.
Ist das Spiel vor sich gut? Das Ende muß es zieren.
Wenn ist es aus? o Mensch! wenn dir dein JESUS rufft.
Rose Ausländer
Noch bist du da (1977)
Wirf deine Angst
in die Luft
Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends
Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast
Diese Aufgabenstellung ist vernünftig, weil sie nicht die Analyse und den Vergleich zweier Gedichte fordert (also drei Aufsätze: Analyse 1, Analyse 2, Vergleich), sondern die Arbeitsaufträge begrenzt – anders als z.B. der (schwache) Gedichtvergleich in http://www.antikoerperchen.de/material/3/gedichtvergleich-eichendorff-winternacht-trakl-im-winter-expressionismus.html mit seinem sogenannten diachronischen Verfahren.
1. Der anonyme Sprecher in Czepkos Gedicht „Spiele wohl!“ wendet sich an alle Menschen, die er direkt anredet (o Mensch, V. 1). Er stellt ihnen die Frage nach der richtigen Lebensführung, indem er das Wesen des Lebenslaufs lehrhaft erschließt: „Was ist dein Lebenslauff und Thun…?“ (V. 1) Seine Lehre besagt, dass sie „ein Spiel“ (V. 1) sind, und zwar ein Schauspiel, wie es in der Überschrift heißt.
Was das bedeutet, wird in der letzten Strophe entfaltet – die Metapher „Schauspiel“ besagt von sich aus, dass verschiedene Rollen nach einem vorgegebenen Plan ausgeführt werden, dass also das Rollenspiel vom Schauspieler nicht ganz „ernst gemeint“ ist bzw. sein darf. Der Sprecher erklärt zum Schluss, was das Spiel und das gute Spielen ausmacht: Wer sein Amt wohl führt, also eine Aufgaben treu erledigt, spielt am besten mit (V. 12). Und das Spiel insgesamt muss von einem guten Tod geziert bzw. gekrönt werden (V. 13) – ein Aufruf zu einer christlich-soliden Lebensführung.
In Str. 1-4 wird dann die Theatermetapher ausgeführt und auf einzelne Aspekte der Lebenserfahrung angewandt. Da sind zunächst die erfahrbaren Tatsachen des Lebens in der Zeit (V. 5) auf der Erde (V. 3): Stehen, Schlafen, Wachen, Reisen machen das Leben aus (V. 6 f.); an seinem Ende stehen der Tod und das Begräbnis (V. 12 f.) – dieses Ende trägt zur Distanzierung von der allzu großen Ernsthaftigkeit des Lebens bei, ebenso die Möglichkeit, das Leben mit den Augen der Weisen zu betrachten (V. 6).
Das Leben wird in seinem normalen Vollzug abgewertet: Es macht Beschwerden (V. 2), wird von der Wollust angetrieben (V. 4), von der Eitelkeit bestimmt (V. 8). Diese negative Wertung hängt davon ab, dass solche kritisierten Lebensvollzüge dem wahren Spielplan widersprechen, den Gott selbst entworfen hat (V. 9 f.) – hier liegt allerdings ein Widerspruch darin, dass der wunderbare Gott (V. 9) uns ein Leben voller Beschwernisse bereitet (V. 2); diesen Widerspruch löst die Bibel jedoch mit der Erzählung vom Sündenfall auf (Gen 2, bei Paulus die Lehre vom ersten und zweiten Adam). Das Geheimnis des Spiels, das ein von Gott angeordnetes Schauspiel ist, wird in der zweiten Hälfte des Gedichts enthüllt: „Wer macht den Schau Platz auf?“ (V. 9) Da kommen der Regisseur Gott (3. Str.) und das Spielende Tod (V. 12 ff.) in den Blick; so wird der Maßstab zur Beurteilung des Spiels und der Schauspieler gewonnen.
Das menschliche Leben wird also als ganzes von seinem Ziel (Schauspiel vor Gott) und seinem Ende (Jesus ruft im Tod, und zwar als Weltenrichter) her bestimmt; in der Todgeweihtheit des Menschen erscheint als Rettung die göttliche Vorsehung (V. 10) und ein den Gläubigen gnädiger Richter (V. 14). „dein Jesus“ (V. 14) ist der selbstverständliche Bezugspunkt dieser weltlichen Predigt Czepkos.
2. a) In Rose Ausländers Gedicht „Noch bist du da“ wird ein unbestimmtes Du angesprochen, das Angst hat (1. Str.) und vom bevorstehenden Tod bestimmt ist (2. Str.). An dieses Du ergehen drei Aufforderungen (Imperative), die den Rahmen des Ganzen ausmachen: Wirf deine Angst in die Luft (V. 1 f.), sei was du bist (V. 16), gib was du hast (V. 17). Es bleibt zu prüfen, ob die beiden mittleren Strophen die Bedeutung dieser Forderungen erhellen; die Aufforderungen selbst sind so schlicht wie der Sprache, es werden nur kurze Hauptsätze benutzt.
Was für eine Angst das Du bedrückt, wird nicht gesagt; lebens- und zeitgeschichtlich (1977 Diskussion um Nachrüstung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa; Herkunft Ausländers aus der Bukowina, Vertreibung nach dem 1. Weltkrieg und später Verfolgung der Jüdin) wird man die Angst als die des gepeinigten Individuums des 20. Jahrhundert verstehen können. Unklar ist, ob der Sprecher sich an ein fremdes Du oder in diesem „du“ an sich selbst wendet.
Die 2. Strophe ist von dem bestimmt, was „bald“ (V. 3, 5, wiederholt) geschehen wird; das Du wird nicht mehr sein, wird tot sein. Dem steht entgegen, was „noch“ (V. 10, 13, 15, zweimal wiederholt und damit das „bald“ überbietend) ist, was es noch erfährt: das Leben in seiner Schönheit, der Schönheit der Natur (V. 11 f.) und menschlicher Innigkeit (V. 13 f.), das eigene pure Dasein (V. 15). V. 15 kann als Zusammenfassung von V. 10-14 gelten: Das Dasein ist schön.
Die Aussagen der 2. und der 3. Strophe stehen in einer Spannung zueinander: Bald bist du nicht mehr da, aber noch bist du da in einem schönen Leben – die gegensätzlichen Zeitbestimmungen bilden jeweils einen eigenen Vers (V. 3, 10) und leiten eine eigene Strophe ein. Aus diesem spannungsvollen Leben ergeben sich die Forderungen, die oben genannt worden sind: die Angst wegwerfen, dasein und alles geben. Die beiden letzten Aufforderungen sind durch die Aussagen der beiden vorhergehenden Strophen aufgefüllt: Sei, was du bist, das heißt: Stelle dich dem Leben, das eng begrenzt, aber schön ist; man kann die Aufforderung auch weit auslegen – dann würde sie Mut zum individuellen Lebensentwurf machen. Gib, was du hast, das heißt: Verfalle nicht darauf, vor dem nahenden Tod alles an dich zu reißen, sondern stelle dich in die Innigkeit menschlicher Liebe hinein (lieben, verschenken (V. 13 f.); denn das ist es, was du trotz der Todverfallenheit tun darfst (V. 13) und kannst.
b) Beide Gedichte stehen unter dem Aspekt, dass menschliches Leben auf den Tod zuläuft. In Cepkos Gedicht steht hinter diesem Leben (und hinter dem Tod) Gottes Vorsehung und Jesus als der Richter aller Menschen; daher ist nach dem Tod eine ewige Rettung zu erwarten. In Ausländers Gedicht wird das Leben nicht wie bei Czepko als Spiel relativiert, sondern ernstgenommen; dabei zeigt sich jedoch die Möglichkeit, trotz der Angst (die letztlich als Todesangst zu identifizieren ist) und ohne Angst das Leben selbst zu bejahen. Es ist das einzige, das wir haben, und es bietet in Schönheit und Liebe Möglichkeiten, der Angst standzuhalten (oder sogar von ihr frei zu werden) und erfüllt zu leben.
Czepko hat ein typisches Barockgedicht geschrieben, das vom Memento mori! bestimmt ist und zu einem christlich-pflichtbewussten Leben aufruft. Ausländer hat im 20. Jahrhundert ein Gedicht geschrieben, welches sich den ungeheuerlichen Erfahrungen der Zeit stellt und zu einer menschlichen Erfüllung im Hier und Jetzt führen will.
P.S. Ich möchte noch auf Czepkos Gedicht „Vive! moriendum est“ hinweisen, das weithin mit dem hier besprochenen übereinstimmt.