Celan: Corona – Interpretation

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde….

Text

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/corona-67 (mit Vortrag)

http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/360186/Paul-Celan-Corona

http://matthewsalomon.wordpress.com/2007/11/23/paul-celan-corona/

Peter Rychlo (s.u.) datiert das Gedicht auf die erste Jahreshälfte 1948, die Zeit von Celans erstem Wienaufenthalt; er sieht es als Reflexion auf die erfüllte Liebe zu Ingeborg Bachmann. Wer sich über den biografischen Hintergrund informieren will, kann die beiden Abhandlungen über das Verhältnis Celan-Bachmann lesen (s.u.). Und zum Interpretieren gibt es ein witziges Gedicht von Axel Kutsch: „Anleitung“. Da es mehrere Interpretationen gibt, begnüge ich mich mit einem kurzen Versuch:

Der Ich-Sprecher gehört zu einer Gruppe „wir“ (V. 1), die ihn und den Herbst umfasst: „wir sind Freunde“ (V. 1), was sich an der zutraulichen Nähe des Herbstes zeigt. Der Herbst ist die Jahreszeit des Reifens und des Vergehens; durch die Freundschaft mit dem Herbst gewinnt der Sprecher eine besondere Macht über die vergehende Zeit, die als vergangene in den Nüssen (einer Frucht) steckt: Gemeinsam lehren sie die Zeit gehen, „die Zeit kehrt zurück in die Schale“ (V. 3); sie geht rückwärts, damit ist die Zeit aufgehoben, damit ist „Ewigkeit“ (erfüllte Zeit, Seligkeit, Glück) da, ist das Vergehen (und Morden) beendet.

In der 2. Strophe wird dieser Zustand Ewigkeit paradox beschrieben: Im Spiegel ist Sonntag, der Tag nach der Woche, der 1. Tag einer neuen Schöpfung (christlich: Auferstehung); „im Traum wird geschlafen“ (V. 5), statt dass im Schlafen geträumt würde, „der Mund redet wahr“ (V. 6 – gegen alle Erfahrung!).

Wird in der 2. Strophe Ewigkeit allgemein beschrieben, so geht es in der 3. Strophe um ein neues „Wir“, zu dem das Ich und seine Geliebte gehören: im Zustand des Glücks, des Zeitlosen: Das Ich kann das Geschlecht der Geliebten ruhig suchen und anschauen („Aug“, V. 7); „wir sehen uns an“ (V. 8) statt aneinander vorbei; „wir sagen uns Dunkles“ (V. 9), die Worte der Liebe jenseits des Berechnens und des kalkulierten Vorteils. Es folgen zwei Aussagen mit drei Vergleichen über das unwahrscheinliche Ereignis der Liebe: einander lieben „wie Mohn und Gedächtnis“ (Mohn: Quelle des Opiums, also die Pflanze des Vergessen – paradox verbunden mit dem „Gedächtnis“ in der Liebe). „wir schlafen“ (V. 11), das greift das wundersame Schlafen aus V. 5 auf, hier ausgelegt in dem dunklen Vergleich „wie Wein in den Muscheln“ (V. 11) – dieser Vergleich wird in den verschiedenen Deutungen nicht erhellt, finde ich. Die Muscheln verweisen schon auf den folgenden Meervergleich (V. 12), aber wieso sie an der Stelle von Gläsern genannt werden, bleibt dunkel. „Da die Muschel von ihrer Form her dem weiblichen Geschlecht (Vulva, Vagina) ähnelt, gilt sie als Symbol der weiblichen Sexualität, Erotik und Fruchtbarkeit.“ (Symbollexikon) So berühren sich der berauschende Wein und die berauschende Liebe im Schlaf (?). Dass das Meer schläft, ist zu verstehen; dass es „im Blutstrahl des Mondes“ (V. 12) schläft, ist der dunkelste der drei Vergleiche – wieso sendet der Mond einen Blutstrahl aus? Der Blutstrahl kann jedenfalls die Ruhe des Meeres nicht stören, es schläft; „wir“ schlafen so, ungeachtet der Blutstrahlen der von uns erlebten Geschichte (Judenmord).

In der 4. Strophe konfrontiert das Liebespaar („wir“) sich der Welt, die hier „sie“ (V. 13) und „man“ (V. 14) ist: „es ist Zeit, daß man [von dieser Liebe, von der Wirklichkeit solcher traumhaften Liebe, N.T.] weiß“ (V. 14). Das ist die erste von vier Aussagen „Es ist Zeit“, worauf dreimal ein dass-Satz folgt, während zum Schluss der Satz elliptisch allein steht. Der zweite der dass-Sätze gehört in den Bereich des traumhaften Glücks, von dem in der 2. Strophe die Rede ist; der dritte dass-Satz ist semantisch paradox, weil sozusagen selbstbezüglich – eine Verbindung zweier Sätze, mit denen sonst die Notwendigkeit, etwas zu tun, eingeleitet wird. Ich sehe hier, dass auf die Zeit-Paradoxie der 1. Strophe verwiesen wird, wo die Zeit aufgehoben ist.

Die 5. Strophe besteht aus dem unvollständigen Satz „Es ist Zeit.“ (V. 18); die Zeit ist da, vergeht nicht (mehr). Dieser Satz kann nur die drei vorhergehenden Sätze mit den anschließenden Aussagen in den dass-Sätzen zusammenfassen und doch die Frage hervorrufen: Wofür ist es Zeit? In seiner Absolutheit erinnert er an Rilkes Gedicht „Herbsttag“  bzw. an dessen Eingangsvers. Ingeborg Bachmann antwortet auf dieses Gedicht mit der enttäuschten Antwort „Die gestundete Zeit“.

Warum heißt die Überschrift „Corona“? Corona, lateinisch, heißt Kranz (als Schmuck oder Auszeichnung), Kreis von Zuhörern, poetisch auch Krone, Diadem (daneben Truppenkette, Mauerring u.a.). Vielleicht ist Corona das, was Celan in der Büchnerpreis-Rede von 1960 „Meridian“ genannt hat? – Hier im Gedicht ist des Lebens Kranz noch ganz; in Bachmanns Gedicht geht der Kranz bereits den Weg alles Irdischen, wie Wilhelm Raabe es in einem bitteren Gedicht beschrieben hat:

„Legt in die Hand das Schicksal dir den Kranz,
so mußt die schönste Pracht du selbst zerpflücken…“

P.S.

In seinem Brief vom 20. Juni 1949 schreibt Celan an Ingeborg, er möchte, „daß niemand außer Dir dabei sei, wenn ich Mohn, sehr viel Mohn, und Gedächtnis, ebensoviel Gedächtnis, zwei große leuchtende Sträuße auf deinen Geburtstagstisch stelle“. (Ich erinnere auch an das Lied „Roter Mohn, warum welkst du denn schon“, das Rosita Serrano kurz vor 1940 gesungen hat; roter Mohn kommt in vielen Liedern vor, das Rot steht für die Liebe.) In ihrer Antwort vom 24. Juni schreibt Bachmann: „Ich habe oft nachgedacht, ‚Corona’ ist Dein schönstes Gedicht, es ist die vollkommene Vorwegnahme eines Augenblicks, wo alles Marmor wird und für immer ist. Aber mir hier wird es nicht ‚Zeit’. Ich hungere nach etwas, das ich nicht bekommen werde…“

Am 7. Juli 1951 schreibt Celan: „Nichts ist wiederholbar, die Zeit, die Lebenszeit hält nur ein einziges Mal inne, und es ist furchtbar zu wissen, wann und für wie lange. (…) Ich wäre froh, mir sagen zu können, dass du das Geschehene als das empfindest, was es auch wirklich war, als etwas, das nicht widerrufen, wohl aber zurückgerufen werden kann durch wahrheitsgetreues Erinnern.“

http://www.digitale-schule-bayern.de/dsdaten/17/740.pdf (dort S. 11 ff.)

http://www.drmkraemer.de/leben+tod.PDF (dort S. 9 ff.; Krämer sieht Bachmanns Gedicht „Die gestundete Zeit“ als Antwort auf „Corona“.)

http://www.avl.uzh.ch/studies/archive/hs07/PSGoslicka/papers/SybillePaperII.pdf (kurze Interpretation, Vergleich mit Rilke und Bachmann)

http://www.bewilderingstories.com/issue561/celan6.html (Eternity and Remembering)

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=X25-IDqiC5k (P. Celan)

https://www.youtube.com/watch?v=2UxA-DhWOnU (B. Damshäuser)

https://www.youtube.com/watch?v=Q6fU_5pqED0 (Wortmann)

https://www.youtube.com/watch?v=bUSrB-MPnQc (U. Lemper, gesungen)

Sonstiges

http://www.liberley.it/c/celan_p.htm (Texte Celans im Internet)

http://www.deutschelyrik.de/index.php/celan.html (Fritz St.: 12 Gedichte, mit Vortrag)

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66 (zehn Gedichte, mit Vortrag Celans)

http://www.marcus-steinbrenner.info/docs/texte/Celan_Auge.pdf (Gedichte zu den Motiven: Auge, Begegnung im Schweigen)

http://www.onlinekunst.de/november/23_11_Celan.htm (sechs Gedichte, einige Links)

http://www.planetlyrik.de/paul-celan-ausgewahlte-gedichte/2011/06/ (u.a. Beda Allemann über „Sprich auch du“ als poetolog. Gedicht; Allemanns Text allein: http://kammermusikkammer.blogspot.de/2012/07/paul-celan-ich-horte-sagen-gedichte-und.html)

http://www.ggr.ro/PCFRGED.htm (G. Gutu über frühe Gedichte Celans, plus 22 Gedichte)

http://www.imdialog.org/bp2010/06/06.html (U. Schwemer: Gedenken und Umkehren, mit Gedichten Celans)

http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg2/abschlussarbeiten/BA-Arbeit_Julian_Tietz.pdf (Funktion der Bibelmotive bei P.C.)

http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/files/13954/celan.pdf (Identitätssuche bei P.C.)

http://www.theologie-und-literatur.de/fileadmin/user_upload/Theologie_und_Literatur/Blasphemische_Gebete.Paul_Celan.Fin.pdf (zur versuchten Rettung des Menschen durch Gottesfremde bei P.C.)

http://is.muni.cz/th/263101/ff_m/Magisterarbeit.pdf (Bachmann – Celan)

http://www.erika-mitterer.org/dokumente/ZK2012-01/rychlo_celan-bachmann_2012-1.pdf (Peter Rychlo: Celan und Bachmann als Liebespaar)

http://www.inst.at/trans/15Nr/03_6/gutu15.htm (George Gutu: zu den Plagiatsvorwürfen)

http://www.anarchafeminismus.de/afaz/afaz-nr2/lyrik.htm (Lyrik und Anarchie – über P.C. u.a.)

http://www.kas.de/wf/doc/kas_6038-544-1-30.pdf?050201172131 (über P.C.)

http://www.ruedigersuenner.de/paul%20celan.html (über den Dichter)

http://www.ub.fu-berlin.de/service_neu/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/autorc/celan.html (Links der UB der FU Berlin)

Dieser Beitrag von April 2014 ist unverändert aus norberto42.kulando.de übernommen worden.

Interpretation von Johann-Peter Dohmen, Tübingen (1/2020):

Dem Schriftbild nach besteht das Gedicht aus 5 Strophen unterschiedlicher Länge, die letzte hat gar nur eine einzige Zeile. Fasst man die Strophen I und II wegen ihres sachlichen Übereinstimmens zusammen und aus dem gleichen Grund Strophen IV und V ebenso, erhält man überraschender Weise drei Textkörper von je 6 Zeilen. Das Metrum wechselt zunächst von Anapäst zu Daktylus (Zeile 01 zu Zeile 02) und umgekehrt (Zeile 13 zu Zeile 14 ff.). Das wirkt jeweils wie ein rhythmisches Palindrom, eine Spiegelung (Zeile 04 Spiegel), das Zurückbiegen einer Geraden zu einem kranzförmigen, diademartigen Gebilde (Zeile 03 die Zeit kehrt zurück in die Schale) und erklärt vielleicht die Überschrift CORONA1. Obwohl „Zeit“ sechsmal im Gedicht vorkommt und das eigentliche Thema zu sein scheint, heißt es nicht ZEIT.

Dichter-Ich und Herbst, vertraute Freunde, sind in Strophe I zum WIR geeint. Die Vertrautheit zeigt sich im Bild des Aus-der-Hand-Fressens, als sei der Herbst ein Pflanzen fressendes zutraulichesTier. Das Blatt aber, das er aus der Hand des Dichters frisst, ist sein Blatt, wurde also dem Dichter vorher vom Herbst übereignet: Herbst meint also die Tiere und Pflanzen umfassende Natur. Böttiger2 weist darauf hin, dass „Blatt“ auch das Blatt Papier sein kann, ein Arbeitsmittel des Dichters, und dass „Blatt“ also auf eine Identität im Wirken von Herbst und Dichter deutet. So naheliegend diese Konnotation anlässlich der Homonymie ist, müsste es dann nicht das Blatt oder ein Blatt heißen? Mir scheint die erste Zeile lediglich Reziprozität zu besagen: Herbst schenkt Dichter Blatt, Dichter gibt Blatt an Herbst zurück, indem er ihn damit füttert. Schenkt und füttert finden sich aber nicht im Text und sind möglicherweise Überinterpretationen: Die bunten Blätter, mit denen uns der Herbst erfreut, fallen letztlich von den Bäumen und werden zersetzt (buchstäblich von Mikroorganismen aufgefressen); aber nicht zum Entsetzen des Dichter-Ichs, sondern mit seinem Einverständnis, daher wir sind Freunde.

Das Gemeinsame, Vergleichbare im Tun von Herbst und Dichter schildert Zeile 02: Herbst wie Dichter schälen die Zeit aus den Nussschalen: Dass es sich bei aus den Nüssen um deren Schalen handelt, geht aus Zeile 03 hervor, wo die Kerne (= die Zeit) wieder in diese Schalen zurückkehren. Die Nusskerne stehen für die Zeit, für ein zeitliches Ereignis, wofür aber die Schale, in die die Zeit wieder zurückkehrt, nachdem man sie gehen gelehrt hat? Ich vermute für das Gedächtnis, aus dem die Erinnerungen (zeitlichen Ereignisse) auftauchen und in das sie wieder versinken, nachdem man sie vergegenwärtigt hat. Ja, ich vermute, dass es das Blattgeschenk des Herbstes war, das die Erinnerung ausgelöst hat, dass es die Erinnerung an ein Liebeserlebnis war, wie aus Strophe III hervorgeht, und dass deshalb der Herbst als Freund bezeichnet wird.

Wie der Spiegel nicht einen zweiten Gegenstand, sondern nur ein Abbild zurückwirft, so kann auch die Erinnerung das Geschehen nicht wiederholen, sondern nur ein Bild des Geschehens heraufbeschwören. Es handelt sich aber um ein besonderes, hervorgehobenes Ereignis, ein sonntägliches (Zeile 4). Auch der Traum (Zeile 5) ist Gedächtnis, auch in ihm tauchen Erinnerungen auf: paradoxer Weise vom Schlaf. Ebenso paradox scheint es zu sein, dass ein Mund wahr spricht (Zeile 6).

Das vierfache WIR der III. Strophe bezeichnet den Dichter und seine Geliebte. Das im ersten Textblock metaphorisch beschriebene erinnernde Tun des Dichters wird im zweiten konkretisiert. Es handelt sich um eine Liebesszene, da des Dichters Auge zum Geschlecht der Geliebten hinabsteigt (07). Zeilen 08 und 09, in der die Liebenden einander in die Augen schauen und Dunkles offenbaren, verweisen auf das wahr Gesprochene aus Zeile 6. Mohn und Gedächtnis (Zeile 10): Der Mohn steht in der Blumensymbolik für Vergessen wegen des Opiums, das aus den unreifen Samenkapseln des (blasslila blühenden) Schlafmohns gewonnen wird. Celan selbst schreibt aber an Bachmann, dass für ihn der rote Klatschmohn für die Liebe steht3, wie im Schlager4 der Rosita Serrano besungen. Zeile 10 scheint also eine Art Vorausschau zu sein: Die Erinnerung an das Liebesgeschehen wird immer eine willkommene sein. Die Zeilen 11 und 12 entziehen sich beinahe der Deutung. Was sie mit Zeile 10 verbindet, ist die Farbe Rot (Mohn, Wein und Blutstrahl des Mondes). Die Form und Geschlossenheit der Muschel könnte an die Nuss erinnern, der Wein als Produkt aus der herbstreifenden Traube an den Herbst, aber auch an den Rausch, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Nimmt man die Muschel als Bild fürs weibliche Geschlecht, könnte die Zeile bedeuten: Wir feiern (der Sonntag aus Zeile 4) das Geschlechtliche, wir berauschen uns am Sex. Dazu passt, dass im Bild des wogenden Meeres (Zeile 12) Ich und Du aufgehoben sind. Irritierend ist der Blutstrahl des Mondes, in den die Folge der Rottöne zu gipfeln scheint und der sich vielleicht aus den folgenden Strophen erklären lässt.

Die Strophen IV und V bezeichnen nämlich einen neuen Aspekt der Zeit: Den der Zukunft, von der etwas Neues, vielleicht der Ausbruch aus den Schemata der Vergangenheit erhofft wird, der Sprung von der Quantität in die Qualität, in die sinnvoll erfüllte, erlöste Zeit. Eine neue Zeit mit einer neuen Sprache, nachdem die Nationalsozialisten die „alte“ Sprache missbraucht hatten, ist das Programm der Nachkriegsliteraten. Dann entspräche dem Blutstrahl des Mondes aus Zeile 12 der vergangene Krieg mit seinen apokalyptischen Greueln, unter deren Eindruck und Traumata (seitens Celans) die Liebesbegegnung stattfindet. Sonnenfinsternis und die Rotfärbung des Mondes,wenn er sich in den Kernschatten der Erde bewegt, werden in allen Kulturen mit Unheil verbunden, so beim alttestamentlichen Propheten Joël5 (3,4 — in der christlichen Apostelgeschichte zitiert in Apostelgeschichte 2,20). Die Begegnung in Liebe, die mit allen geteilt wird (Fenster, Zuschauer Zeile 13) und zu allgemeiner Erkenntnis führen könnte (dass man weiß! Zeile 14), könnte das Wunder eines Wandels bewirken: (Zeile 15) Steine (erkaltete Herzen) blühen auf, das Leben eines Entwurzelten (Unrast) bekommt wieder einen Mittelpunkt (ein Herz, Zeile 16). Es mag sein,dass Celan und Bachmann einmal überrascht feststellten, dass sie sich in der Nähe eines Fensters umarmten und dabei gesehen wurden — das ist aber nicht von Belang, und daher möchte ich dass man weiß! nicht als Anrede an die Wiener Literatenkreise verstehen, in denen sich die beiden bewegt haben, zumal die Entstehung des Gedichts in eine Zeit fällt, da Bachmann und Celan räumlich weit getrennt waren — Celan macht die Szene durchsichtig für etwas Allgemeineres und Größeres: Jeder/jede (man) kann die Erfahrung erfüllter Zeit machen und sein Verhalten daran ausrichten. Daher fasst er in Zeile 17 zusammen: Es ist Zeit, dass es Zeit wird. Zeit taucht zwar sechsmal imText auf, hat aber verschiedene Bedeutungen „Zeit“ ist nicht gleich „Zeit“: sie ist ein abgeschlossenes Ereignis, gelebte Zeit und erinnerte und zuletzt erhoffte; vielleicht trägt das Gedicht deshalb nicht den Titel ZEIT.

Die abgerückte Zeile 18 beschreibt genau den Kipp-Punkt: Sowohl Es ist Zeit für die qualitative Änderung, als auch Es ist Zeit: Es existiert sinnvolles Sein. Ich würde beim Vortrag die mittlere der drei Silben betonen — Es ist Zeitweder ein Daktylus, noch ein Anapäst: etwas Neues.

Ich habe bewusst versucht, bei meiner Interpretation des Gedichts die persönlichen Daten von Celan und Bachmann herauszulassen. Bei knapp zwei Dritteln des Texts ist das auch gelungen, aber um den Blutstrahl des Mondes und das folgende Textdrittel zu verstehen, muss man um Celans Sehnsucht nach Erlösung wissen, und die wurzelt in seiner Biographie: Vater und Mutter wurden, da sie Juden waren, von den Nazis ermordet; er selbst entging dem Judenmord dadurch, dass er sich freiwillig zum Arbeitsdienst gemeldet hat. Zeit seines Lebens hat er sich am Tod der Eltern mitschuldig gefühlt; dies Trauma und die Tatsache, dass der Antisemitismus in Europa auch nach dem Weltkrieg fortbestand (und wie aktuelle Begebenheiten zeigen, ist er sogar auf dem Vormarsch, was in beschämender Weise für die Aktualität des Gedichts sorgt), haben wohl zu seinem Freitod geführt. Die Kluft zwischen dem Alltags-ICH und dem Künstler-ICH mag groß sein, aber beide sind Seinsweisen derselben Persönlichkeit; und wenn die traumatisiert ist, hat das Auswirkungen auf die Wahrnehmung, Verarbeitung und die künstlerische Produktion dieser Person.

Peter Rychlo datiert das 1952 im Gedichtband Mohn und Gedächtnis publizierte Gedicht auf die erste Jahreshälfte 1948: Es sei die Reflexion auf die erfüllte Liebe zu Ingeborg Bachmann. Dieser Argumentation vermag ich nicht zu folgen:

  • Eine reflexive Verarbeitung muss sich nicht notwendiger Weise zeitlich unmittelbar an ein Ereignis anschließen (den Eindruck macht eher das Gedicht Ägypten aus der gleichen Sammlung), genauso fördert zeitlicher Abstand Reflexion.

  • Wahrscheinlicher erscheint mir, dass Corona im Herbst oder nach Erleben des Herbstes 1948 in Frankreich geschrieben wurde; Paul Celan schenkt es Ingeborg Bachmann jedenfalls zu ihrem Geburtstag (am 25. 06.) 1949, also ein ganzes Jahr später. Strophe I enthält einen Hinweis darauf, wie das Gedicht zustande kam: Wenn das Schälen der Nüsse das Aufbrechen der Erinnerung und die Rückkehr der Zeit in die Schale das Aufbewahren im Gedächtnis bedeuten, wodurch das Zurückrufen (Celans Brief vom 7. Juli 19516) des Ereignisses erst möglich wird, dann wird diese metaphorische Verknüpfung vielleicht durch das welkende Blatt in der Hand des Dichters ausgelöst. Vielleicht hat er die roten Blätter des Wilden Weins gesammelt, wie er im Frühsommer den roten Mohn für Ingeborg Bachmann gesammelt hat. Dann stünde hinter allen drei Textkörpern die Farbe Rot: das Rot der Herbstblätter, das die Erinnerung auslöst, das Rot des Mohns, das die Liebe repräsentiert, und das Rot der Morgenröte (die Corona der Sonne, ihr Strahlenkranz nach der Nacht des Blutmohns), das eine bessere Zeit verspricht. Aber das ist nur eine schöne Spekulation.

Anmerkungen

1 Lat. corona = dt. Kranz, Krone, Diadem = rum. Coroană

Helmut Böttiger, Wir sagen uns Dunkles, München 2017, S. 53: Es (das Blatt, Anm. d. Verf.) ist dem Herbst wie dem Dichter zugehörig.

In seinem Brief vom 20. Juni 1949 schreibt Celan an Ingeborg Bachmann, er möchte, dass niemand außer Dir dabei sei, wenn ich Mohn, sehr viel Mohn, und Gedächtnis, ebenso viel Gedächtnis, zwei große leuchtende Sträuße auf deinen Geburtstagstisch stelle. (Ich erinnere auch an das Lied „Roter Mohn, warum welkst du denn schon“, das Rosita Serrano kurz vor 1940 gesungen hat; roter Mohn kommt in vielen Liedern vor, das Rot steht für die Liebe.)

Es war Frühling, da gingen wir beide
durch die Felder mit frohem Gesicht,
tief im Herzen den Lenz und die Freude,
an den Herbst dachten wir damals nicht.
Aber nun ist er doch schon gekommen,
und viel schneller, als ich gedacht,
nun ist alles so leer, nun ist alles so schwer,
ist vorbei, was mich glücklich gemacht.
Refr.:
Roter Mohn, warum welkst du denn schon?
Wie mein Herz sollst du glüh’n und feurig loh’n!
Roter Mohn, den der Liebste mir gab,
welkst du, weil ich ihn schon verloren hab‘?

Rot wie Blut, voller Pracht warst du noch gestern erglüht,
aber schon über Nacht ist deine Schönheit verblüht.
Roter Mohn, warum welkst du denn schon?
Wie mein Herz sollst du glüh’n und feurig loh’n!
Refr.:
Roter Mohn, …

(www.songtexte.com, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=oAXWVNTe4OM)

Joël 3,4 Die Sonne wandelt sich in Finsternis, der Mond in Blut, bevor der Tag des Herrn erscheint, der große, fürchterliche. In der Apostelgeschichte 2,20 wird der alttestamentliche Text Petrus als Erfüllung der Prophetie durch das Pfingstwunder in den Mund gelegt.

Am 7. Juli 1951 schreibt Celan: Nichts ist wiederholbar, die Zeit, die Lebenszeit hält nur ein einziges Mal inne, und es ist furchtbar zu wissen, wann und für wie lange. (…) Ich wäre froh, mir sagen zu können, dass du das Geschehene als das empfindest, was es auch wirklich war, als etwas, das nicht widerrufen, wohl aber zurückgerufen werden kann durch wahrheitsgetreues Erinnern.

Celan: Zähle die Mandeln – Interpretation

Zähle die Mandeln…

Text

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/zaehle-die-mandeln-69 (mit Vortrag Celans)

http://www.marcus-steinbrenner.info/docs/texte/Celan_Auge.pdf (dort S. 7)

http://web.archive.org/web/20030829151542/http://www.geocities.com/Athens/Chariot/3474/mohn/inhalt.htm (Mohn und Gedächtnis – das letzte Gedicht)

Dieses Gedicht hat Paul Celan 1952 in Niendorf der Gruppe 47 vorgetragen, zusammen mit „Die Todesfuge“, „Ein Lied in der Wüste“ und „In Ägypten“ (der Vortrag endete als Fiasko für Celan). In „Mohn und Gedächtnis“ ist es als Schlussgedicht des zweiten Teils das Pendant zu „Die Todesfuge“. Celan hat ihm also eine große Bedeutung zugeschrieben. Dieses Gedicht ist ungewöhnlich – es gibt eine Rettung für das angesprochene Du; wie sie gelingt, bleibt zu untersuchen.

Die erste Strophe knüpft an den Geschmack der Mandeln an, um das Bittere in den Blick zu rufen. Der Ich-Sprecher beginnt mit der zweifachen Aufforderung zu zählen: die Mandeln, Symbol für das, „was bitter war und dich wachhielt“ (V. 2); dann als dritte eine schwer verständliche Forderung: „zähl mich dazu“. Es folgt ein Doppelpunkt, der ankündigt, dass nun eine Erklärung dieser dritten Aufforderung folgt – die 2. Strophe. Wozu sind die Mandeln und alles Bittere zu zählen, um sich dessen zu vergewissern? Das wird zunächst nicht gesagt, ergibt sich indirekt aber aus der 2. und 3. Strophe: aus dem Wirken des Ich und aus den Folgen dieses Wirkens für das Du.

Das Ich berichtet von zwei Leistungen, die es vollbracht hat: das Auge des einsamen Ichs suchen (V. 4), den Weg zu einem geheimnisvollen Spruch weisen (V. 5-9). Dabei fällt auf, dass das Ich damit eine einzigartige Position einnimmt; es ist der einzige Mensch, der das Du anschaute, als es die Augen öffnete; er hat die Gedanken des Du zu den einzigartigen Krügen geleitet – sie wurden von einem „Spruch, der zu niemandes Herz fand“ (V. 9), behütet. Damit hat das Ich die Situation „niemand um mich“ für das Du beendet.

In der 3. Strophe wird in verschiedenen Bildern umschrieben (berichtet), wie das Du so zu sich selber fand: zum eigenen Namen (V. 10), zum eigenen Schweigen (V. 12), zur Aneignung des Erlauschten und des Toten. Das Erlauschte wird wohl im Schweigen (V. 12) erlauscht sein; vielleicht ist es der Spruch, der bisher noch zu niemandes Herz drang (V. 9). Es ist das erlösende Wort. Und das Tote, also die Toten, die ermordeten Verwandten (biografisch gesprochen), die Opfer des Nazi-Massenmordes (historisch gesprochen), es blieb nicht verloren, blieb nicht Asche in der Luft, sondern „legte den Arm um dich“ (V. 14), stellte die Gemeinschaft wieder her, kehrte als Totes ins Leben zurück, „und ihr ginget selbdritt durch den Abend“ (V. 13), zusammen mit dem Erlauschten.

In der 4. Strophe wird auf die 1. zurückverwiesen; dabei wird die scheinbare Idylle der 3. Strophe zerstört, indem die Bedingung der Versöhnung, des Gewinns der Identität bewusst gemacht wird: „Mache mich bitter.“ (V. 16) Der Imperativ „zähl mich dazu“ (V. 2) wird hier weitergeführt; dazuzählen ist zu wenig, solange das Ich nicht wirklich bitter geworden ist. Das Ich wird bitter, indem es die Situation der Einsamkeit aushält: nicht angeblickt werden, die vom erlösenden Spruch gehüteten Krüge nicht finden, den eigenen Namen nicht finden…

Wenn man das Verhältnis von Ich und Du bedenkt, erscheint es als möglich, dass Ich und Du die beiden Pole eines Selbst-(oder doch eines Zwie?)gesprächs sind: Das Ich will seine Bitterkeit annehmen, um durch sie hindurch seine Identität (als Du) zu finden. Hier ist noch einmal auf alles zu verweisen, was man in der Interpretation des Gedichtes „Brandmal“ zur Schwermut bzw. Melancholie lesen kann (s. die Links dort!).

„Celan war es darum zu tun, ein Neues zu konstruieren und in der Beschreibung dieser Rekonstruktion möglichst viele, die mit demselben Selbstgefühl geistig sich befassten, mitzunehmen. Wenn seine Lyrik eine kathartische Funktion gehabt hatte, dann nur die, Schlüssel zu sein zu Vorstellungswelten, in denen Motive beschrieben werden, die den Weg zu neuer Ganzheit begleiten.“ (Werner Karg, s.u.)

http://www.connotations.uni-tuebingen.de/charney01101.htm

http://www.blz.bayern.de/blz/eup/01_06/8.asp (Werner Karg: Identität und Zeitgenossenschaft. Zeitbezug in der deutschen Lyrik nach 1945)

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=jHWoghcOdgc (Musik von Carl Rütti)

https://www.youtube.com/watch?v=W22MJW6qTts (Musik: Dror Elimelech)

https://www.youtube.com/watch?v=QFD9EVJjT24 (getanzt)

Sonstiges

http://www.liberley.it/c/celan_p.htm (Texte Celans im Internet)

http://www.deutschelyrik.de/index.php/celan.html (Fritz St.: 12 Gedichte, mit Vortrag)

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66 (zehn Gedichte, mit Vortrag Celans)

http://www.marcus-steinbrenner.info/docs/texte/Celan_Auge.pdf (Gedichte zu den Motiven: Auge, Begegnung im Schweigen)

http://www.onlinekunst.de/november/23_11_Celan.htm (sechs Gedichte, einige Links)

http://www.planetlyrik.de/paul-celan-ausgewahlte-gedichte/2011/06/ (u.a. Beda Allemann über „Sprich auch du“ als poetolog. Gedicht; Allemanns Text allein: http://kammermusikkammer.blogspot.de/2012/07/paul-celan-ich-horte-sagen-gedichte-und.html)

http://www.ggr.ro/PCFRGED.htm (G. Gutu über frühe Gedichte Celans, plus 22 Gedichte)

http://www.imdialog.org/bp2010/06/06.html (U. Schwemer: Gedenken und Umkehren, mit Gedichten Celans)

http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg2/abschlussarbeiten/BA-Arbeit_Julian_Tietz.pdf (Funktion der Bibelmotive bei P.C.)

http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/files/13954/celan.pdf (Identitätssuche bei P.C.)

http://www.theologie-und-literatur.de/fileadmin/user_upload/Theologie_und_Literatur/Blasphemische_Gebete.Paul_Celan.Fin.pdf (zur versuchten Rettung des Menschen durch Gottesfremde bei P.C.)

http://www.anarchafeminismus.de/afaz/afaz-nr2/lyrik.htm (Lyrik und Anarchie – über P.C. u.a.)

http://www.kas.de/wf/doc/kas_6038-544-1-30.pdf?050201172131 (über P.C.)

http://www.ruedigersuenner.de/paul%20celan.html (über den Dichter)

http://www.ub.fu-berlin.de/service_neu/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/autorc/celan.html (Links der UB der FU Berlin)

Paul Celan: Brandmal – Interpretation

Wir schliefen nicht mehr, denn wir lagen im Uhrwerk der Schwermut…

Text

http://www.deutschelyrik.de/index.php/brandmal.html (mit Vortrag Fritz Stavenhagens)

http://systemrelevante-kunst.de/wp-content/uploads/2013/09/europ%C3%A4ische-Beziehungsweisen.pdf (dort das letzte Gedicht)

„Die Melancholie, heute Depression genannt, begleitet den Menschen seit Beginn seiner Geschichte und wird auch in Zukunft zu seinem Leben gehören. (…) Neben Melancholie wurde in der Vergangenheit mit jeweils spezifischem Akzent auch von Schwermut, Depression, Acedia, Hypochondrie und Trübsinn gesprochen. In der modernen Medizin findet sich die Krankheitsbezeichnung Melancholie nicht mehr. Auch wenn die biochemischen Abläufe der Entstehung, der Ursachen und Therapie depressiver Erkrankungen heute weitgehend erforscht sind, kommt ihrem seelisch-geistigen Sinn und ihren sozialen Zusammenhängen weiterhin übergreifende Bedeutung zu.“ (D. von Engelhardt, s.u.)

Ein lyrisches Ich berichtet im Gedicht, wie es ihm in der Schwermut erging. Es gehört mit einem Du zusammen und bildet die Gemeinschaft „Wir“ (V. 1). Das erste Bild ist das vom „Uhrwerk der Schwermut“ (V. 1), in dem „wir“ nach dem Schlaf lagen. Im Uhrwerk treibt die Feder die Räder zu ihrem präzise abgestimmten Gang an; wenn man im Uhrwerk der Schwermut liegt, kann man ihr nicht entkommen. Das zeigt sich bei einem entsprechenden Versuch: Wir „bogen die Zeiger wie Ruten“ (V. 2); wir wollten aus dem Gehäuse entfliehen, aber vergeblich; denn „sie schnellten zurück und peitschten die Zeit bis aufs Blut“ (V. 3). Hier erscheint die Zeit als leidendes Subjekt oder Objekt, sie ist mit dem Uhrwerk verbunden; vielleicht ist sie das Uhrwerk – dann wäre die Zeitlichkeit der Grund der Schwermut, die Tatsache, dass wir nicht bleiben können.

Im nächsten der vielen und-Sätze – Hauptsätze, die acht von neun Versen des Gedichtes ausmachen und den Eindruck unaufhaltsamen Fortschreitens erzeugen: Das Verhängnis nimmt seinen Lauf – wird das Einzige erwähnt, was das Du getan hat: „du redetest wachsenden Dämmer“ (V. 4), zunehmend Dunkles. Das ist die Folge, vielleicht auch der Grund für das Dasein im Uhrwerk der Schwermut.

Dem Lauf der Zeit entsprechend redet das Ich die „Nacht deiner Worte“ (V. 5) geduldig, beharrlich zwölfmal mit „du“ an, wie etwas Vertrautes, wie einen Vertrauten. Das Ich stellt sich also dem Dunkel und es gelingt ihm, dass die Nacht der Worte sich öffnet (V. 6).

Das folgende Bild ist surreal oder ungewohnt: Das Ich legt der Nacht „ein Aug in den Schoß“ (V. 7); im Dunkel der Nacht braucht es seine Augen nicht – ist die Gabe des Auges ein Opfer oder ein Dank dafür, dass die Nacht der Worte sich geöffnet hat? Oder werden die beiden Augen nur an verschiedenen Orten deponiert (V. 7), damit zwischen beiden die Zündschnur gespannt werden kann? Offensichtlich wird dann die Schnur entzündet und es folgt der Blitz der Explosion (V. 9) – damit endet das Gedicht. Was denkt man sich danach? Die Augen sind zerstört, vielleicht sind auch die beiden zerstört; das Dunkel ist blitzartig erhellt worden – vielleicht ist das Dunkel zerstört? Wenn man die Überschrift beachtet, könnte das Brandmal auch die Folge der Explosion sein: Wie das Dunkel deiner Worte (statt der Schwärze der Galle, wie man in der Antike meinte: Melancholie = Schwermut) beseitigt wurde, blieb von der Explosion ein Brandmal als Andenken zurück.

Eine Apposition verdient noch Beachtung: „die Zündschnur, die offene Ader“ (V. 8). Wenn die Zündschnur eine offene Ader ist, dann ist sie zum Blutvergießen geöffnet, zum baldigen Verenden. Zündschnur und Ader kann ich als Bilder nicht verbinden; vielleicht ist die Ader erforderlich, damit der Blitz heranschwimmen (V. 9) kann? Aber warum muss er heranschwimmen? Und warum muss Celan so dunkel schreiben?

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=_yHN5MHOfdM (wer spricht?)

Sonstiges

http://www.liberley.it/c/celan_p.htm (Texte Celans im Internet)

http://www.deutschelyrik.de/index.php/celan.html (Fritz St.: 12 Gedichte, mit Vortrag)

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66 (zehn Gedichte, mit Vortrag Celans)

http://www.marcus-steinbrenner.info/docs/texte/Celan_Auge.pdf (Gedichte zu den Motiven: Auge, Begegnung im Schweigen)

http://www.onlinekunst.de/november/23_11_Celan.htm (sechs Gedichte, einige Links)

http://www.planetlyrik.de/paul-celan-ausgewahlte-gedichte/2011/06/ (u.a. Beda Allemann über „Sprich auch du“ als poetolog. Gedicht; Allemanns Text allein: http://kammermusikkammer.blogspot.de/2012/07/paul-celan-ich-horte-sagen-gedichte-und.html)

http://www.ggr.ro/PCFRGED.htm (G. Gutu über frühe Gedichte Celans, plus 22 Gedichte)

http://www.imdialog.org/bp2010/06/06.html (U. Schwemer: Gedenken und Umkehren, mit Gedichten Celans)

http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/files/13954/celan.pdf (Identitätssuche bei P.C.)

http://www.theologie-und-literatur.de/fileadmin/user_upload/Theologie_und_Literatur/Blasphemische_Gebete.Paul_Celan.Fin.pdf (zur versuchten Rettung des Menschen durch Gottesfremde bei P.C.)

http://www.anarchafeminismus.de/afaz/afaz-nr2/lyrik.htm (Lyrik und Anarchie – über P.C. u.a.)

http://www.kas.de/wf/doc/kas_6038-544-1-30.pdf?050201172131 (über P.C.)

http://www.ruedigersuenner.de/paul%20celan.html (über den Dichter)

http://www.ub.fu-berlin.de/service_neu/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/autorc/celan.html (Links der UB der FU Berlin)

Schwermut, Melancholie, Depression

http://gedichte.xbib.de/_Schwermut_gedicht.htm (Schwermutsgedichte)

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/moeblierte-melancholie-1580 (Mascha Kaleko)

http://www.faz.net/aktuell/wissen/mensch-gene/psychologie-vom-nutzen-der-schwermut-1957347.html (Vom Nutzen der Schwermut)

http://www.deutschlandradiokultur.de/sei-dennoch-unverzagt-gib-dennoch-unverloren.1124.de.html?dram:article_id=177092 (Von der Melancholie)

http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/melancho.html (H. Böhme: Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik)

http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=2852 (Melancholie in der Medizin- und Kulturgeschichte)

http://www.hardtwaldklinik2.de/melancholie.html

http://www.untier.de/pdf/der_lange_schatten_der_melancholie.pdf (U. Horstmann: Der lange Schatten der Melancholie)

http://www.glanzundelend.de/Artikel/wgsebald.htm (Enzyklopädie der Melancholie – über W. G. Sebald)

http://www.psychotherapie-wissenschaft.info/index.php/psy-wis/article/view/35/151 (Freuds Annäherung an Trauer und Melancholie)

http://www.ev-akademie-meissen.de/fileadmin/studienbereich/Naturwissenschaft/Material/Depression_Dr._Jurk_Vortrag_Melancholie.pdf

https://de.wikipedia.org/wiki/Depression

http://www.psychiatrie.de/krankheitsbilder/depression/

http://www.mpipsykl.mpg.de/clinic/erkrankungen/depression/

Wozu Gedichte schreiben?

In den „Dionysos-Dithyramben“ Nietzsches (1888) gibt es das Gedicht „Zwischen Raubvögeln“. Darin spricht Zarathustra (V. 41 ff.):

„Jetzt –

einsam mit dir,

zwiesam im eignen Wissen,

zwischen hundert Spiegeln

vor dir selber falsch,

zwischen hundert Erinnerungen

ungewiß,

an jeder Wunde müd,

an jedem Froste kalt,

in eignen Stricken gewürgt,

Selbstkenner!

Selbsthenker!

 

Was bandest du dich

mit dem Strick deiner Weisheit?

Was locktest du dich

ins Paradies der alten Schlange?

Was schlichst du dich ein

in dich – in dich?

 

Ein Kranker nun,

der an Schlangengift krank ist;

ein Gefangner nun,

der das härteste Los zog:

im eignen Schachte

gebückt arbeitend,

in dich selber eingehöhlt,

dich selber angrabend,

unbehilflich,

steif,

ein Leichnam –,

von hundert Lasten übertürmt,

von dir überlastet,

ein Wissender!

ein Selbsterkenner!

der weise Zarathustra!…“

Ich wähle bewusst nur diesen Auszug aus einem der Gedichte des Zyklus – philologisch korrekt müsste man den ganzen Zyklus beachten. Mir geht es jedoch um die Einsamkeit eines Denkenden, in der er sich selbst zerstört; dies ist hier wunderbar ausgearbeitet – es ist die Einsamkeit, in der und mit der man nicht leben kann, die jedoch für manche Dichter Bedingung ihres Schreibens zu sein scheint. Schreibend bitten sie beliebige Fremde um ein Gespräch, indem sie sich poetisch äußern und hierauf eine Antwort erwarten, erhoffen, erbitten – aber wehe den Lesern, wenn sie nicht „richtig“ antworten! Ich zitiere aus Celans Brief vom 12. November 1959 an Ingeborg Bachmann, es geht dabei um die Rezension der „Sprachgitter“ durch Günter Blöcker vom 11. Oktober 1959 in der Zeitung „Der Tagesspiegel“: „Du weisst auch – oder vielmehr: Du wusstest es einmal -, was ich in der Todesfuge zu sagen versucht habe. Du weißt – nein, du wusstest – und so muss ich Dich jetzt daran erinnern -, dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. Wer über die Todesfuge das schreibt, was dieser Blöcker darüber geschrieben hat, der schändet die Gräber. / Auch meine Mutter hat nur dieses Grab.“

Hier kanzelt Celan nicht nur den Rezensenten Blöcker ab, hier weist er auch brutal Ingeborg Bachmann zurück, die er doch geliebt hatte und die zur Zeit dieses Briefes mit Max Frisch zusammen lebte und in ihrem Brief vom 9. November um Celans Verständnis geworben hat – sie stand zwischen zwei Männern, die ihr teuer waren.

Wenn man ein Gedicht veröffentlicht, macht es sich in der Öffentlichkeit selbständig. Wenn man seine Seele in dieses Gedicht gelegt hat, ändert das nichts daran, dass Fremde in das Gedicht hineinschauen dürfen und vielleicht keine Seele entdecken. Blöcker hat in seiner Rezension u.a. behauptet, „der Kommunikationscharakter der Sprache“ hemme und belaste Paul Celan weniger als andere; wie sehr er damit recht hat, erkennt man an Celans Reaktion. Dass die „Todesfuge“ für ihn das einzige Grab seiner Mutter ist, müssen die Leser dem Gedicht nicht ansehen. Das Grab seiner Mutter darf man nicht der Öffentlichkeit übergeben. Wenn man es freilich in seiner Einsamkeit der Öffentlichkeit übergeben muss, ist die Katastrophe abzusehen.

Es bleibt die Frage: Wozu soll man Gedichte schreiben?

Celan: Wasser und Feuer – Interpretation

So warf ich dich denn in den Turm und sprach ein Wort zu den Eiben…

Text

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/wasser-und-feuer-68

http://www.letov.ru/Kuprijanow-Paul-Celan.html (dort das 3. Gedicht)

Celan legte dieses Gedicht dem Brief bei, den er am 30.10.51 an Ingeborg Bachmann schrieb; diese war von dem Gedicht begeistert und hörte darin einen neuen Ton.

Mich lässt es weithin ratlos. „So warf ich dich denn in den Turm…“ (V. 1) Es ist, als ob das lyrische Ich eine Rede an das Du hielte, in der er (so sehe ich den Sprecher, das Du ist eine Frau) dem Du erklärte, warum er es einsperren musste – der 1. Vers setzt mitten in dieser Rede ein, zieht mit „So“ gerade eine Schlussfolgerung. Er berichtet, wie er sich an die Eiben wandte. „Während Shakespeare und die Dichter des 18. und 19 Jahrhunderts in der Eibe nur ein Symbol für den Tod sahen, galt die Eibe bei früheren Kulturen auch als Baum der Wiedergeburt und des Lebens, das nach dem Tod folgte. So glaubten die Kelten, die sich im 5. Jahrhundert v. Chr. von Britannien bis Anatolien verbreitet hatten, dass die Eibe zwischen der Welt der Toten und Lebenden wachen würde (Hageneder 2006).“ (Uni Göttingen, vgl. auch hier) So konnte er ohne weiteres aus den Eiben die Flamme hervorrufen, in der (als „Brautkleid“, V. 2) das angesprochene Du verbrennt. Dieser Vorgang des Verbrennens bestimmt das Geschehen, von dem im Gedicht die Rede ist.

Dreifach wird darauf festgestellt, was sich aus dem Brennen ergibt: „Hell ist die Nacht.“ (V. 3 ff.) Die Nacht, „die uns Herzen erfand“ (V. 4) – „uns“ lese ich als Dativ, „Herzen“ als Akkusativ; die Nacht gab uns erst die Herzen (für die Liebe), aber als erfundene; im Vorgang des Verbrennens ersteht aus dem Erfundenen das Wahre.

Diese helle Nacht, eigentlich die verbrennende Frau, „leuchtet weit übers Meer“; es ist ein großes Ereignis. Sie weckt „die Monde im Sund“ (V. 7), die untergegangenen, die vergangenen, und „wäscht sie mir rein von der Zeit“ (V. 8): befreit sie von ihrer Vergangenheit, von ihrem Vergangensein. So kann das tote Silber aufgefordert werden, aufzuleben „wie die Muschel“ und wieder Gefäß für Speise und Trank zu sein. Zuvor hat die helle Nacht (Feuer) die Monde „auf gischtende Tische“ (V. 7; Wasser) gehoben, auf Tische also, die vom Meer überspült werden.

Von diesen Tischen ist nun im Singular die Rede, was ich nicht erklären kann: Der Tisch wogt (V. 10, V. 15) „stundauf und stundab“, „nachtaus und nachtein“, also in der Zeit, wiewohl diese aufgehoben ist, oder aber gerade deshalb. Wind und Meer bringen Speise und Trank, das tote Silber ist lebendiges Gefäß geworden (V. 11 f.); als Speise verzehrt werden die unruhigen Organe Auge und Ohr, mit denen man den anderen nicht richtig wahrgenommen hat, verzehrt werden die symbolträchtigen Tiere Fisch (http://www.symbolonline.de/index.php?title=Fisch) und Schlange (http://www.symbolonline.de/index.php?title=Schlange), welche beide Leben bringen (V. 13 f.).

In dieser hellen Nacht wogt der Tisch im Wasser; das sprechende Ich ist bei dem Tisch und beschreibt, was über, neben und unter ihm sich tut – es ist da wie in der Mitte der Welt (V. 15-19); die Einzelheiten weiß ich nicht zu deuten.

Da wendet sich das Ich wieder dem Du zu, blickt zu der brennenden Frau hinüber (V. 19 f.), spricht sie an und fordert sie dreifach auf, an etwas zu denken (V. 21 ff. – ich lese „Denk“ als Imperativ): zweimal „an die Zeit“, an die vergangene Zeit und daran, „daß ich war, was ich bin“ (V. 23). Diese seltsame Formel weist das Ich als einen Unveränderten aus, der der Zeit enthoben ist. Drei Attribute legt das Ich sich zu, die allesamt seine enthobene „Macht“ bezeugen (V. 24 f.): Meister der Türme (vgl. V. 1), Hauch in den Eiben (vgl. V. 1 f.), Zecher im Meer (vgl. V. 11 ff.). Das letzte Attribut greift erneut die Bilder von V. 1 f. auf: Das Wort hat aus den Eiben die Flamme hervorgerufen, in der das Du verbrennt; nun wird das Wort als dasjenige bestimmt, „zu dem du herabbrennst“ (V. 26) – bis auch du nichts als ein Wort bist (statt Quelle vieler missverständlicher Worte).

Wenn die Zeit aufgehoben ist, wenn Feuer und Wasser (Überschrift) zusammengekommen sind, wenn du nur noch ein Wort bist…

Nach wiederholter Lektüre Celans erinnere ich mich an Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“:

Sagt es niemand, nur den Weisen,

Weil die Menge gleich verhöhnet,

Das Lebend’ge will ich preisen

Das nach Flammentod sich sehnet…

vgl. https://norberto42.wordpress.com/2012/01/29/goethe-selige-sehnsucht-analyse/

Celan: Psalm – Interpretationen

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm…

Text

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/psalm-161 (mit Vortrag)

http://www.lyrikwelt.de/gedichte/celang1.htm

http://saetzeundschaetze.com/2014/04/07/paul-celan-psalm/

Es gibt mehrere sehr gute Interpretationen; es wäre vermessen von mir, eine bessere Interpretation schreiben zu wollen:

http://www.uni-due.de/~gev020/courses/course-stuff/lit-bach-galle-psalmendichtung09celan.htm

http://www.litde.com/beispiele-der-texthermeneutik/fragendes-verstehen-zu-paul-celans-gedicht-psalm.php

http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg2/abschlussarbeiten/BA-Arbeit_Julian_Tietz.pdf (dort S. 22 ff.)

http://phantasma.lett.ubbcluj.ro/?p=2601

http://www.inst.at/trans/16Nr/06_7/rutecka16.htm (Interpretation im Kontext religiösen Sprechens aus Sicht Derridas)

https://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/2b-dtsc-t-01/user_files/weissenburger/Dateien/Seminardateien/AB02_sekundaertexte_-_Firges.pdf (gekürzter Text)

http://www.drmkraemer.de/Gott_au.html (religiöse Lesart des Gedichts)

http://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/2b-dtsc-t-01/user_files/weissenburger/Dateien/Seminardateien/3_-_Texte_und_Kontexte.pdf (methodische Anleitung zur Interpretation)

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=I1maiHgs6iQ (P. Celan) = https://www.youtube.com/watch?v=OI_0ipa6bDQ

http://www.deutschelyrik.de/index.php/psalm.html (Fritz Stavenhagen) = https://www.youtube.com/watch?v=bDDBnD4L2kI

https://www.youtube.com/watch?v=9LFDQkWT0hI (U. Lemper) = https://www.youtube.com/watch?v=xhfJYHV1UDw

https://www.youtube.com/watch?v=PoYyXB7vnSo (Göncölszekér Ensemble)

Sonstiges

http://www.liberley.it/c/celan_p.htm (Texte Celans im Internet)

http://www.deutschelyrik.de/index.php/celan.html (Fritz St.: 12 Gedichte, mit Vortrag)

http://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66 (zehn Gedichte, mit Vortrag Celans)

http://www.onlinekunst.de/november/23_11_Celan.htm (sechs Gedichte, einige Links)

http://www.planetlyrik.de/paul-celan-ausgewahlte-gedichte/2011/06/ (u.a. Beda Allemann über „Sprich auch du“ als poetolog. Gedicht; Allemanns Text allein: http://kammermusikkammer.blogspot.de/2012/07/paul-celan-ich-horte-sagen-gedichte-und.html)

http://www.ggr.ro/PCFRGED.htm (G. Gutu über frühe Gedichte Celans, plus 22 Gedichte)

http://www.marcus-steinbrenner.info/docs/texte/Celan_Auge.pdf (Motiv: Auge, Begegnung im Schweigen)

http://www.imdialog.org/bp2010/06/06.html (U. Schwemer: Gedenken und Umkehren, mit Gedichten Celans)

http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg2/abschlussarbeiten/BA-Arbeit_Julian_Tietz.pdf (Funktion der Bibelmotive bei P.C.)

http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/files/13954/celan.pdf (Identitätssuche bei P.C.)

http://www.theologie-und-literatur.de/fileadmin/user_upload/Theologie_und_Literatur/Blasphemische_Gebete.Paul_Celan.Fin.pdf (zur versuchten Rettung des Menschen durch Gottesfremde bei P.C.)

http://is.muni.cz/th/263101/ff_m/Magisterarbeit.pdf (Bachmann – Celan)

http://www.inst.at/trans/15Nr/03_6/gutu15.htm (George Gutu: zu den Plagiatsvorwürfen)

http://www.anarchafeminismus.de/afaz/afaz-nr2/lyrik.htm (Lyrik und Anarchie – über P.C. u.a.)

http://www.kas.de/wf/doc/kas_6038-544-1-30.pdf?050201172131 (über P.C.)

http://www.ruedigersuenner.de/paul%20celan.html (über den Dichter)

http://www.ub.fu-berlin.de/service_neu/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/autorc/celan.html (Links der UB der FU Berlin)

http://www.rps-regensburg.de/files/Titelthema_01-2011_S4-31.pdf (dort S. 18 ff.: Moderne Psalmen)

Deutsche Lyrik 1945 – 1960 (Unterricht)

Die vier Lektionen sind das Ergebnis meines Unterrichts im letzten D-Kurs, den ich zum Abitur 2007 geführt habe. Die U-Reihe ist bei l-o ausgearbeitet unter http://www.lehrer-online.de/lyrik1945-1960.php.

Inzwischen gibt es das Arbeitsheft „Deutsche Lyrik 1945-1960. Nachkriegslyrik“, das bei Krapp und Gutknecht erschienen ist.

 

Celan: Tenebrae – Analyse

Den Text findet man u.a. bei http://thomasdretart.over-blog.com/article-paul-celan-tenebrae-99540948.html bzw. http://www.cafe-sophia.de/html/forum/topic.php?id=108&s=269ce5ed5a708171a48631d4214397b5. .
Das Gedicht steht im Band „Sprachgitter“ (1959); es hat die Form eines Psalms. Damit ihr nachchristlich Sozialisierten wisst, was ein Psalm ist, solltet ihr einige in der Bibel lesen (etwa Ps 22; 23; 91; 130). Die Überschrift Tenebrae, lat. Dunkelheiten, ist ein klassisches Psalmenmotiv; vielleicht schlagt ihr einmal in der Bibelkonkordanz (http://www.erlangerliste.de/ressourc/lex.html, dort unter „Datenbanken“: Bibel) die Stichworte „Finsternis, Dunkel(heit), Nacht“ nach, wie in den Psalmen davon gesprochen wird. Auch in der Finsternis vertraut der Fromme darauf, nicht von Gott verlassen zu sein; das ist Psalmenfrömmigkeit. – Einen guten Überblick über die Psalmen bietet http://www.die-bibel.de/bibelwissen/inhalt-und-aufbau/altes-testament/poetische-buecher/die-psalmen/ oder http://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/altes-testament/ketubimschriften/psalmen/.
Das lyrische Ich tritt in der Gemeinschaft „wir“ (V. 1 ff.) völlig hinter die anderen zurück und spricht den „Herrn“, also Gott an; das ist für Psalmen ungewöhnlich – normal ist, dass sich der einzelne Fromme an den Herrn wendet (mit Ausnahme etwa von Ps 137). Wer „wir“ ist, wird nicht gesagt, und auch der „Herr“ wird zunächst nicht identifiziert; aufgrund der Psalm-Form wird man in ihm den biblischen GOTT sehen dürfen. Das Gebet beginnt mit der Feststellung: „Nah sind wir, Herr…“ (V. 1). Offen bleibt, wer wem nah ist: wir einander? wir dem Herrn? Auch diese Aussage befremdet den Bibelleser; normal ist die Hoffnung, dass der Herr „mir“ nah ist in der Finsternis. Das anaphorische „nahe“ in der betonten Anfangsstellung wird dann näher bestimmt: „greifbar“ (V. 2). Das ist zunächst die unmittelbare Nähe dessen, was in greifbarer Nähe liegt (und dann oft verfehlt wird).
In der 2. Strophe enthüllt sich ein anderer Sinn der greifbaren Nähe: Im Partizip „gegriffen schon“ wird einmal der Zustand des Greifbaren als überholt korrigiert, dann das Verständnis von „greifbar“ verändert: Greifbar ist der, der gefangen und gegriffen werden kann; Antonym wäre jetzt „freigelassen“. Mit dem Adverb „schon“ ist gesagt, dass dieses Gegriffenwerden noch nicht erwartet wurde, dass es unzeitig früh geschehen ist. Der Zustand der Gegriffenen wird dann so beschrieben, dass sie „ineinander verkrallt“ sind (V. 4); so kann man nur in einem Kampf sein – im Kampf mit dem Gegner in ihn verkrallt, in der Gaskammer die Opfer ineinander verkrallt. „ineinander“ (V. 4) bleibt unbestimmt, doch kann hier nicht der Herr mitgemeint sein, wie sich auch aus V. 4-6 ergibt. In einem Vergleich wird dann die Verkrallung gedeutet: „als wär / der Leib eines jeden von uns / dein Leib, Herr.“ (V. 4-6) Dieser Vergleich erhellt nichts, sondern ist rätselhaft: als ob es normal wäre, dass jemand in den Leib des Herrn verkrallt wäre! Wann war jemand in den Leib des Herrn verkrallt? Und was ist der Leib des Herrn? „Leib des Herrn“ ist im christlichen Glauben das geheiligte Brot, in dem der Herr Jesus Christus sich zur Speise gibt (Zitat des letzten Abendmahls, Mk 14,22). Aber verkrallt?
Es folgt eine Bitte oder Aufforderung: „Bete, Herr“ (V. 7); so ungewöhnlich schon diese Aufforderung ist, ihre anaphorische Präzisierung (vgl. V. 1 f.) ist noch ungewöhnlicher: „bete zu uns“ (V. 8). Wieso soll der Herr zu uns beten, da doch der Mensch zum Herrn etwa Psalmen beten darf? Als sprachlich nicht angeschlossene Begründung kann der nächste Satz gelten: denn „wir sind nah“. Die in normaler Frömmigkeit sinnlose oder gotteslästerliche Aufforderung, der Herr solle zu uns beten, kann einen Sinn erhalten, wenn man die zweite Strophe noch einmal liest: Wir sind ineinander verkrallt, als wäre der Leib eines jeden von uns der Leib des Herrn; wenn derart jeder verkrallte Leib der des Herrn ist, also nicht nur so verkrallt ist, als ob es der Leib des Herrn wäre, sind die Leidenden dem Herrn nah. Die im Vergleich angebotene Nähe oder Identität mit dem Herrn wird hier als real vorausgesetzt; deshalb soll der Herr zu uns beten, wir sind ihm als Verkrallte nah. Was der Herr zu uns beten soll, wird nicht gesagt; vielleicht darf er um Hilfe bitten, da wir ihm nah sind?
Darauf folgt ein Bericht in fünf Strophen (V. 11 ff.) über das, was „wir“ getan haben (im Präteritum), der mit einer Aussage im Perfekt endet, womit also diese Aktion als abgeschlossen und ihre Wirkung als bestehend markiert wird. In der letzten Strophe wird die 3. verkürzt wiederholt, indem der Herr aufgefordert wird zu beten und ihm versichert wird, dass wir nah sind (V. 21 f.). Diese Aussage steht am Beginn und am Ende des Gedichts und ist die letzte Aussage des Sprechers am Ende des ersten Teils; es ist also zu begreifen, worin diese wiederholt beschworene Nähe besteht und was sie bedeutet.
Vielleicht sollte man hier schon einen ersten Blick auf die Eigentümlichkeiten des Sprechens werfen: Viele Wiederholungen fallen auf; „greifbar / gegriffen“ ist eine Alliteration, in der wie öfter im Folgevers der vorhergehende präzisiert wird; die Sprache ist einfach – nur „der Herr“ als Angesprochener deutet eine Tiefendimension des nur angedeuteten Erlebten an.
Wie gesagt folgt ein Bericht, der ganz harmlos anfängt: Wir gingen zur Tränke; dann wird berichtet, dass da Blut war, dass Blut getrunken wurde und dass das Bild des Herrn darüber verloren ging. Der Bericht beginnt überraschend mit dem Satzadjektiv „windschief“ (V. 10) zur Charakterisierung des Ganges; windschief und baufällig sind sonst Häuser. Geht man windschief, ist man bedrückt, unter einer Last gebeugt, niedergeschlagen; das Ziel des Gehens ist dann sogar, sich (noch tiefer) zu bücken; im Enjambement wird das Ziel des Bückens abgetrennt: „nach Mulde und Maar“ (V. 12), eine Alliteration für ein Bodensenke. Im nächsten Vers, einer Strophe für sich, wird das Ziel des Ganges genannt: zur Tränke (V. 13).
In der nächsten Strophe enthüllt sich jedoch eine neue Dimension des Trinkens (wie in V. 3 die der Greifbarkeit): „Es war Blut, es war, / was du vergossen, Herr.“ (V. 14 f. – vgl. Mk 14,24) Wird zunächst völlig überraschend vom Fund des Blutes berichtet, so wird es außerdem mit dem Blut des Herrn identifiziert; und schließlich wird es getrunken (V. 19). In der Tränke ist also nicht erfrischendes Wasser, sondern Blut; der Herr, der Blut vergossen hat, ist der Herr Jesus. Das wäre die erste, die christliche Lesart von V. 14 f.; denkbar ist die andere, dass der Herr das Blut anderer vergossen hat, indem er sie getötet hat oder hat töten lassen. Sprachlich lässt sich nicht entscheiden, welche Lesart richtig ist. Dass das Blut glänzte (V. 16 – wieder ein Vers als Strophe: Bedeutung dieser Beschreibung!), rückt es in die Nähe des Göttlichen; der Lichtglanz ist ein Zeichen, dass Gott selbst nahe ist. Wieso ist er nahe? Das Blut „warf uns dein Bild in die Augen“ (V. 18). Blut, Tod und Untergang ist also das Zeichen der Nähe Gottes – im Christentum des geopferten und auferweckten Gottessohnes, hier jedoch anders. Im nächsten Vers wird ausnahmsweise im Präsens berichtet, was das Ergebnis des ganzen Geschehens ist: Augen und Mund stehen (jetzt) offen und leer, während man nach dem Trinken doch den Mund schließt und in den Augen das Bild des Herrn sein sollte. Es ist aber nicht da, es ist weg; eine nähere Erklärung dazu fehlt. Dass wir Blut getrunken haben, wird nachgetragen (V. 19) und wiederum im folgenden Vers erläutert: Getrunken haben wir das Blut und das Bild; das Blut war also nicht so, dass es Gottes Bild bewahrt hätte, es war nur Blut. Und es hat nicht den Durst gelöscht, so lese ich; denn der Mund steht noch offen. Es hat nicht wie in der Kommunion der Christen Gemeinschaft mit dem Gott gestiftet, ist nicht als Zeichen künftiger Rettung getrunken worden, wodurch man in den Leib Christi aufgenommen wird; es war das Blut wessen auch immer, und das Bild des Herrn ist verschwunden.
Wozu muss das alles Gott berichtet werden? Wozu soll es ihm berichtet werden? In der letzten Strophe wird man eine Antwort auf unsere Fragen suchen: Wie bereits vorher wird der Herr aufgefordert zu beten, und zwar mit der Begründung, dass wir nah sind, auch wenn das Bild des Herrn verschwunden ist und wir von Blut voll sind. Das Beten zum Gott, dessen Bild im Blut gefunden und wieder verloren wurde, ist zuerst und zuletzt widersinnig; so wird der Herr aufgefordert zu beten (V. 21), damit wir nicht sprachlos, mit offenem Mund (V. 18), blutgetränkt allein sind. „Wir sind nah.“ (V. 22) Wir sind nah, weil wir schon gegriffen sind und ineinander verkrallt, wie oben bereits erklärt worden ist. Nach dem Verschwinden des Bildes (V. 18) wird der irreale Charakter des Vergleichs deutlicher: „als wär…“ (V. 4-6). Erwartet der Sprecher wirklich, dass der Herr beten wird? Oder ist die Bitte zu beten nur der letzte Ausdruck einer verzweifelten Einsamkeit? Wenn man zu V. 13 allerdings Ps. 23 im Ohr hat, dass der Herr mein Hirte ist und mich zum Ruheplatz am Wasser führt, dann wird man den Bericht und das ganze Gedicht als Anklage gegen den Herrn verstehen, der „uns“ nur zur Bluttränke hat gehen lassen.
Simon Petrus bekennt auf des Herrn Jesus Christus Frage, ob die Jünger ihn verlassen wollen: „Du hast Worte des ewigen Lebens.“ (Joh 6, 68) Davon kann hier nicht die Rede sein; der Herr wird aufgefordert zu beten, doch ob er den Gebeugten und ineinander Verkrallten etwas sagen wird, ist mehr als fraglich.
Was in der 2. Strophe beschrieben und in der 4. berichtet wird, lässt an den Tod in der Gaskammer, allgemein an den Leidensweg der Juden denken; dieser wird vor Gott ins Gespräch gebracht, doch der sagt nichts, auch wenn man ihn zum Beten auffordert. Das Gedicht ist letztlich ein Gegen-Psalm zu Psalm 23; den Betroffenen ist der Herr abhanden gekommen, es bleibt nur die Leidensgemeinschaft „wir“.
** Ich kenne die Analyse von Winfried Freund: Deutsche Lyrik (2. Aufl. 1994, S. 179 ff.); doch scheint sie mir nicht haltbar zu sein, je weiter Freund darin fortschreitet. Vgl. zu Bibelmotiven bei Celan http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg2/abschlussarbeiten/BA-Arbeit_Julian_Tietz.pdf.

** Man könnte Zoltan Kemenys Bild Ténèbres (1947) zum Vergleich heranziehen, ebenso Bilder von Eugène Gabritschevsky von 1947 (im Centre Pompidou in Paris):
Praehistorischer Mensch und dreimal Sans titre, vgl. das zweite Bild hier (http://www.abcd-artbrut.org/article.php3?id_article=101)
** Eine Anthologie „Trauer und Trost. Perlen der Weltliteratur“ findet man unter http://www.mortalino.ch/trauertrost/thematisch/ainhalt.htm

Celan: Todesfuge – zur Analyse

Die Überschrift des Gedichtes muss man ganz wörtlich nehmen: Es ist (wie) eine Fuge vom Tod; es werden also ein Thema und sein Gegenthema mehrfach variiert und zu Ende geführt. Der Unterschied zur musikalischen Fuge besteht darin…

Die Analyse finden Sie in dem Buch Norbert Tholen: Deutsche Lyrik 1945-1960. Nachkriegslyrik. Krapp & Gutknecht 2009 (lieferbar).

Bemerkungen zu Paul Celan nach der Lektüre von „Paul Celan“. Dargestellt von Wolfgang Emmerich. Rowohlt 1999

1920 in der Bukowina als Paul Antschel geboren, einer Landschaft, die 1918 von Österreich-Ungarn zu Rumänien verschoben wurde; gemischte Bevölkerung (Ukrainer, Rumänen, Juden, diese meist deutschsprachig), 1941 von der Deutschen Wehrmacht besetzt, 1944 von der Roten Armee erobert, 1945 zwischen Ukraine (UdSSR) und Rumänien aufgeteilt. Die Eltern wurden 1942 von den Deutschen ermordet; Paul schuftete im Arbeitslager Tabaresti, ab 1944 als Arzthelfer, gibt 1945 nach Bukarest (u.a. als Lektor, rumänisierte seinen Namen zu Ancel, aus dem später der Name Celan gemacht wurde), 1947 nach Wien (Verhältnis mit Ingeborg Bachmann), 1948 nach Paris (u.a. Fabrikarbeiter, Student, Lektor…)
Seine (frühe) Dichtung ist als Reflex des Leidens an der Judenvernichtung, an der Ermordung seiner geliebten Mutter und an der „Schuld“ des Überlebenden zu verstehen (vgl. Primo Levi: Die Scham, in: Die Untergegangenen und die Geretteten, dtv 11730, S. 70 ff.). Von diesen elementaren Eindrücken sind auch Natur- und Liebesgedichte erfüllt. In der Meridian-Rede 1960 (zum Büchnerpreis) hat er gesagt, dass jedem Gedicht vielleicht sein „20. Jänner“ eingeschrieben sei, dass also versucht werde, im Gedicht solcher Daten eingedenk zu bleiben. Mit dem 20. Januar spielt er auf Büchners Erzählung „Lenz“ an, aber auch auf das Datum der Wannsee-Konferenz (20. 1. 1942) und möglicherweise auf das Datum, an dem er Ingeborg Bachmann kennengelernt hat, vielleicht auch auf eine Stelle aus Jean Pauls Roman „Titan“ (Emmerich, S. 8 ff.). Man sieht hier, wie vielschichtig solche Worte Celans zu deuten sind.
Die „Todesfuge“, 1944 konzipiert und 1945 endgültig ausgearbeitet, kann als Gegengesang zu Weißglas‘ Gedicht „Er“ verstanden werden; Oxymora wie „schwarze Milch“ waren seit Trakl gängig; vielleicht wird auch auf Jer 4, 7 f. und Psalm 137 angespielt – im Gedicht werden jüdische und deutsche Tradition zitiert und auch distanziert. 1947 wurde es unter dem Titel „Todestango“ auf Rumänisch veröffentlicht; 1948 erschien sein Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“, den Celan jedoch wieder einstampfen ließ, weil er viele Fehler enthielt. Celan wollte ein Dichter detuscher Sprache sein, der Sprache, die ihn mit der Mutter verband, die ihn auch in deutsche Dichtung eingeführt hatte.
1952 erschien „Mohn und Gedächtnis“, womit der Ruhm Celans begründet wurde, auch wenn seine Gedichte teilweise als poetische Vergangenheitsbewältigung missverstanden wurden. 1952 wurde Celan zur Lesung vor der Gruppe 47 in Niendorf eingeladen, wobei er auch bei der Lektüre des Gedichts „Todesfuge“ teilweise ausgelacht, jedenfalls nicht verstanden wurde. Diese Missverständnisse des Jahres 1952 waren für ihn ein Anstoß, sein Dichten zu verändern; der Band „Von Schwelle zu Schwelle“ (1955, seiner Frau Gisèle gewidmet) war der letzte mit „schönen“ Gedichten; danach legte er sich eine „grauere“ Sprache zu, was er in seiner Bremer Rede 1958 theoretisch verteidigte. Dazu passt das Gedicht „Sprich auch du“ (vgl. dazu Beda Allemanns Nachwort in „Ausgewählte Gedichte“, es 262, S. 151 ff.). Aus dem 1959 erschienenen Band „Sprachgitter“ ist besonders „Engführung“ zu nennen, ein Gegengedicht zu „Todesfuge“. Peter Szondi hat es in seinen Celan-Studien (Suhrkamp 1972, S. 47 ff.: Durch die Enge geführt) auszulegen versucht; vgl. auch die Auslegung beider Gedichte: member.eduhi.at/schenner/papers/1998-schenner-FBA-celan.pdf
Es sei noch einmal angemerkt, wie stark Celans Dichtung von der Beziehung zu anderen Texten lebt, etwa zu Ossip Mandelstam, auch zu Ingeborg Bachmann („Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt“ als Antwort auf Bachmanns Gedicht „Große Landschaft bei Wien“) und anderen.
Es ist beinahe unmöglich, Gedichte aus der Zeit nach 1945 einfach einmal in einer Unterrichtsreihe „Deutsche Lyrik 1945 – 1960“ zu besprechen; dafür muss man sich viel mehr Zeit nehmen, als uns in der Schule zur Verfügung steht.

P.S. Vgl. auch https://freudeautor.wordpress.com/2022/11/03/celan-todesfuge/

Bachmann: Psalm 1 – Celan: Tenebrae (Vergleich)

Beide Gedichte sind in der Form eines Psalms geschrieben; das eine hat die Überschrift „Psalm“, das zweite ist in der Form des Psalms abgefasst: Der Herr wird (wie) in einem Gebet angesprochen, wobei der Bericht des Beters (ebenso wie die Überschrift „Tenebrae“) den Psalm 23 als Folie durchschimmern lässt. Im „Psalm“ wird eher fremdes Leiden bedacht und das Schicksal der Welt („alles“, V. 6 f.) gesehen; in „Tenebrae“ wird dagegen das Ergriffen-Sein der wir-Gruppe beschrieben und von ihrem gescheiterten Gang zur Tränke berichtet.

In „Tenebrae“ spricht ein „wir“ (oder jemand für eine wir-Gruppe), welche über die leibliche Situation in die Nähe des Herrn gerückt wird: Beschreibung vom Verkrallt-Sein (2. Str., mit Vergleich), Bericht vom Trinken des Herrenblutes (V. 10 ff.). Im „Psalm“ spricht ein Ich (V. 1); es fordert unbekannte Hörer auf, mit ihm zu schweigen (statt den Herrn zu loben); die wir-Gruppe fordert den Herrn jedoch paradoxerweise auf zu beten, sogar „zu uns“ zu beten (V. 8).

Im „Psalm“ wird die Forderung, nicht mehr zu beten (also zu schweigen), mit der Aktion Gottes begründet: Die Hand des Herrn hängt nur noch zur Ansicht am Himmel, hat „alles“ (V. 7, alle Schrecken, V. 2) nicht verhindert und wird auch in Zukunft nicht eingreifen und sich so als machtvoll erweisen (V. 7 f.); sie entrückt sogar die neuen Mörder, erhebt sie in den Himmel und entzieht sie ihrer Verantwortung (V. 9). Dementsprechend kann das Sakrament der letzten Ölung für die Kranken und Toten nicht mehr vollzogen werden; sie müssen trostlos sterben. Resigniert kann das Ich nur dazu auffordern, die Scherben des abgestürzten Mondes liegen zu lassen.

In „Tenebrae“ ist die Aktion Gottes die des christlichen Erlösers: Er hat sein Blut vergossen (möglicherweise jedoch nicht „sein“ Blut – das Pronomen „dein“ fehlt!). Dieses Blut hat zwar das Bild des leidenden Erlösers aufgerufen (V. 17), jedoch nicht wahrhaft vermittelt: „Augen und Mund stehn so offen und leer“ (V. 18). Der Erlöser kann nicht mehr erlösen, im Blutmeer ist sein Bild verschwunden. So mag die Forderung, der Herr möge beten, als Angebot zu verstehen sein, dass wir ihm beistehen, da wir ja nahe sind, wenn er uns schon nicht erlöst, sondern selber im Leiden verblieben ist. „Wir sind nah.“ (V. 22, vgl. V. 9 und V. 1) – das ist von einigen Schülern als Drohung gelesen worden, was mir aber sachlich nicht einleuchtet; denn dann müsste man das geforderte Gebet als Bitte um Verschonung verstehen – eine Bestrafung des Herrn ist jedoch nirgends angedeutet.

In beiden Gedichten wird die Erfahrung des Leidens bzw. Mordens vor 1945 verarbeitet, indem sie über die alteuropäische Form des Psalmengebets mit der religiösen Hoffnung auf Rettung konfrontiert wird; im „Psalm“ wird die Tatenlosigkeit Gottes beklagt bzw. wird er der Komplizenschaft mit den neuen Mördern angeklagt; in „Tenebrae“ wird seine Hilflosigkeit beklagt. Das Fazit ist in beiden Fällen gleich: Zu diesem Gott wird nicht mehr gebetet.