Im vorigen Beitrag habe ich einen kleinen Überblick über die politischen Fabeln Pfeffels gegeben; am Ende des Beitrags stehen viele Links zu den Texten. Neben den politischen Themen in Pfeffels Fabeln gibt es noch einige weitere Aspekte, die mir aufgefallen sind und die teilweise mit der politischen Kritik zusammenhängen. Der erste Aspekt, bereits aus der Fabel „Der Reformator“ bekannt, ist die Kritik an den Gelehrten, speziell an den Philosophen:
Die Eule, der Kater, die Gans und die Ratte
An Hofrat Voß
In einer Klosterschule hauste
Ein alter Kauz, den ein Noviz [Klosterschüler]
Aus seiner Ahnen Rittersitz,
Dem Kirchturm, in der Jugend mauste
Und sich zum Stubenburschen zog.
Er fraß vertraut mit einem Kater
Und einer Gans aus einem Trog,
Und käute täglich, was der Pater
Professor seinem Schülerchor
Aus dem Plutarch und Diodor [antike Autoren]
Erzählte, seinen Tischgenossen,
Cum notis variorum [mit Notizen verschiedener Personen] vor.
Dann waren beide lauter Ohr
Und machten wohl auch eigne Glossen
Voll kritischer Belesenheit.
Oft übten sich die drei Tironen [Anfänger],
Mit klotzischer Beredsamkeit,
In scharfen Disputationen.
Einst teilte sie der große Streit
Vom Wert der alten Nationen.
„Ich“, sagte Mauz, „war allezeit
Für die Ägypter; diese lehrten
Uns Weisheit und Gerechtigkeit,
Und o wie liebten, wie verehrten
Sie ihre Götter nicht!“ — „Und ich“,
Versetzt der Kauz, „erkläre mich
Für die unsterblichen Athener.
Athen war stets der Musen Sitz.
Was ist erhabner, was ist schöner,
Als ihre Werke, die der Witz,
Mit Kunst und mit Genie gepaaret,
Der späten Nachwelt aufbewahret!
Und ihre Helden; hat man wohl
Mehr Anmut, mit mehr Kraft verbunden,
In irgend einem Heer gefunden?“ —
„Ha“, rief die Gans, „beim Kapitol!
Ihr faselt; habt ihr Rom vergessen?
Wer kann mit diesem Volk sich messen?
Vom Nordpol bis zum Süderpol
Gleicht in dem ganzen Altertume
Und in der neuern Zeit an Macht,
An Wissenschaft, an Waffenruhme,
Selbst an des Überflusses Pracht
Kein Volk den fürstlichen Quiriten [Bürger Roms].
Sie, sie sind meine Favoriten.“
Nun schrien auf einmal alle drei.
Die Fugen [Musikstücke] in der Synagoge
Sind neben diesem Dialoge
Ein Meisterstück der Melodei.
Schon sprachen Schnabel, Zahn und Tatze,
Als eine grundgelehrte Ratze,
Die manche Dissertation [Doktorarbeit]
Des Paters Rektor aufgezehret,
Von ihrem Aristarchenthron [Aristarch: griech. Astronom]
Es war ein großes Lexikon,
Wo sie den Streit mit angehöret,
Herunter rief: „Ich merke schon,
Was euch entzweit. Ägypten ehrte
Die Katzen; dem Athener war
Die Eule heilig; Rom ernährte
Im Rathaus eine Gänseschar.“
Dies, lieber Voß, ist die Geschichte
Der Lehrsysteme; jedes trägt
Ein Muttermal in dem Gesichte,
Vom Egoismus aufgeprägt.
Diese Fabel deckt gleich zwei Aspekte ab, Kritik an der Gelehrsamkeit und Philosophie sowie den Nachweis der elementaren Egozentrik (Pfeffel spricht von Egoismus) der Tiere, d.h. der Menschen. Für die Kritik an den Gelehrten nenne ich noch „Der Spottvogel“ (ist ein bloßer Nachschwätzer), „Das Windspiel“ (spielt nur einen Philosophen), „Der Krebs und die Karpfen“ (bestaunen einen Gaukler), „Die Musterkarte“ (sie haben nichts zu bieten), „Der Papagei“ (schwätzt Latein, versteht aber nichts). – Die Egozentrik der Eule und ihrer Genossen erinnert mich an die Kritik der Götterbilder bei Xenophanes, wie sie von Menschen gebildet werden und von Tieren gebildet würden.
Der zweite Aspekt ist die von Pfeffel öfter entlarvte Egozentrik, die in „Der Volksrath“ mit einer Kritik an einer demokratischen Mitbestimmung verbunden ist. Wie Tiere, die noch nie einen Menschen gesehen haben, sich diesen vorstellen, wird in „Das Bild des Menschen“ vorgeführt: Das Dromedar erwartet einen Buckel zu sehn, der Esel lange Ohren. Ein schönes Beispiel sei noch zitiert:
Der Reiher, der Habicht und der Schöps
„Wie lange willst du noch, Barbar,
Die ganze Flur veröden,
Und als ein wütender Korsar
Die schwächern Brüder töten?
Bald ist der Wald von Vögeln leer,
Und schon entzückt ihr Lied nicht mehr
Den Schnitter und den Hirten.“
So ward ein Habicht, der vom Fraß
Vergnügt nach Hause kehrte,
Von einem Reiher, der im Gras
Den fettsten Aal verzehrte,
Mit ernsten Blicken angekräht,
Wie wenn des Priors Majestät
Den Mönchen Buße predigt.
„Was du an mir als Fehler rügst,
Das tust du selbst“, versetzte
Der Habicht. — „Wie du dich betrügst!
Als ob ich Vögel hetzte!“
Rief Junker Reiher; „liebes Kind,
Auch in der strengsten Fasten[zeit] sind
Die Fische nicht verboten.“
Der Habicht widersprach, allein
Da war nichts auszurichten;
Doch kam man endlich überein,
Dass, um den Zank zu schlichten,
Ein Schöps, den man im Busche sah,
Durch einen Spruch ex cathedra [= endgültig]
Den Fall entscheiden sollte.
Sie stritten sich im dreisten Ton
Gelehrter Renomisten
Aus allen Kräften vor dem Thron
Des neuen Kasuisten [= Juristen],
Der gar ein großes Tier sich schien,
Indem die zween Athleten ihn
Stets Ihro Weisheit nannten.
„Ihr Herren“, blökt der seltne Geist
Nach wohlerwognen Klagen,
„Nie kann, wer Fisch und Vögel speist,
Den Namen Mörder tragen.
Der einzig wahre Mörder ist
Der frevle Wolf, der Schöpse frißt;
Und nun geht hin in Frieden.“
Hier ist schön zu sehen, wie alle drei Tiere nur ihr jeweils eigenes Tun (Fressen) für richtig bzw. ihr Leiden für verwerflich halten, während Ähnliches bei den anderen Tieren mit anderen Maßstäben gemessen wird. Insgesamt kommt die Egozentrik nicht oft in Pfeffels Fabeln vor, doch trübt sie weltweit den Blick der Menschen, ist also auch heute sachlich relevant.
Außer gegen die Gelehrten wettert Pfeffel gern gegen die Pfaffen und Frömmler. Eine großartige Fabel, die Toleranz predigt, ist „Die Kirchenvereinigung“: Der Adler verordnet, alle Vögel müssten die gleiche Melodie singen, was sie dann auch tun – nur ein alter Rabe schweigt:
… Mit zornigem Gesicht
Sprach der Despot zum Patriarchen:
„Rebelle, warum singst du nicht?“ —
„Weil dein Gebot mein Herz empöret“,
Versetzt der Alte: „glaube mir,
Der Schöpfer hat ein jedes Tier
Sein eigenes Gebet gelehret,
Das ihm gefällt. Ein Lobgesang,
Den Furcht erpreßt, ist Übelklang,
Ist Lästerung, die ihn entehret.
Befiel nun meinen Tod.“ Er schwieg.
Der Sultan [= Adler] auch: wie Meereswogen,
So schäumt sein Blut. Noch wankt der Sieg;
Doch schnell rief er: „Ich ward betrogen!
Heil dir, o Freund! du zogst ihn ab,
Den Schleier, der mein Aug’ umgab.
Und ihr, empfangt die Freiheit wieder,
Ihr Vögel, singet eure Lieder
In eurem angebor’nen Ton!“
Jetzt drangen sie in dichten Kreisen
Entzückt um des Monarchen Thron
Und lobten Gott nach tausend Weisen.
Der majestätische Choral
Steigt wallend in die lichten Sphären.
Der Sultan staunt. Zum erstenmal
Hört er, was keine Muftis hören,
In der verschied’nen Melodie
Die feierlichste Harmonie.
Die Muftis, die Pfaffen aller Religionen jedoch schwören auf ihre Melodie als die einzig gottgefällige. Gut gefällt mir die folgende Fabel:
Der Paradiesvogel
Ein Vogel, von dem Paradies
Hat er, Gott weiß warum, den Namen,
Geriet dem Pater Aloys
Von Dominiks geweihtem Samen [= Dominikaner]
Auf seinem frommen Ritterzug
Nach Koromandel [in Vorderindien] in die Klauen.
Der Pfaffe konnte nicht genug
Das seltene Geschöpf beschauen.
Entzückt rief er ihm endlich zu:
„Du, dessen Ahnen einst in Eden
Mit Adam hausten, hörest du
Nicht manchen Greis noch von ihm reden?“ —
„Ach nein“, versetzt das gute Tier. —
„Ist nichts durch Überlieferungen
Aus jener Zeit zu euch gedrungen?“ —
„Kein Wort.“ — „Du willst, gesteh es mir,
Mich durch Verstellung bloß betören.“ —
„Nein, wahrlich nein, das kann ich schwören.“ —
„Wie dumm!“ rief der beschorne Held [er hat eine Tonsur],
„Uns ist es leicht, den frommen Seelen
Aus jedem Teil der andern Welt [= des Jenseits]
Stets etwas neues zu erzählen.“
Köstlich ist auch das Gespräch des Stiergottes Apis und des Drachengottes aus Babylon in der Unterwelt (in „Apis und der Drache zu Babel“); sie beklagen ihren Sturz. Der Drachengott bereut seinen Schwindel, für den sie jetzt büßen müssen; Stiergott Apis erwidert: „Die Kühnheit wird mich nie gereun. / Wenn Priester ungescheut aus Menschen Ochsen machen, / So dürfen Ochsen Götter seyn.“ Die gefährliche Nähe der Theologie zur Philosophie war schon erwähnt worden (in „Der Reformator“). Auch das fromme Nichtstun der Mönche wird attackiert („Der Santom, der Rabe und der Falke“), und die Bibel in des Heuchlers Mund ist pures Gift („Der Löwe und die Klapperschlange“).
Viertens ist zu notieren, dass viele Fabeln gängige Lebensweisheit vortragen: im Genießen mäßig sein, den Mächtigen misstrauen, keine törichten Hoffnungen hegen… Zwei Fabeln, die mir besonders gut gefallen, seien noch zitiert:
Ein Esel zog in kurzem Trab
Mit faulem Dünger durch die Straßen;
Der Dunst, den dieser von sich gab,
War eine Pest für alle Nasen.
Die ekle Fracht war kaum erblickt,
So trat ein jeder auf die Seite.
„Ei, ei!“ sprach Langohr hoch entzückt.
„Wie ehren mich die guten Leute!“
Er trug an einem andern Tag
Den Raub von zwanzig Blumenbeeten,
Der bunt in seinen Körben lag.
Die süßen Balsam von sich wehten.
Er ward umringt. Der Nasen Schmaus
Hat Jung und Alt herzugetrieben.
„Ha!“ rief das Tier mit Tränen aus,
„Wie mich die guten Leute lieben!“
Beglückte Dummheit! sollte sie
Nicht selbst des Weisen Neid erregen?
Was auch geschieht, weiß ihr Genie
Zu ihrem Vorteil auszulegen.
„Der Schmetterling und die Ephemere [Eintagsfliege]“ ist ein Zeugnis tiefer Weisheit; leider kann ich sie nirgendwo kopieren, deshalb referiere ich sie bloß: Der Schmetterling trifft eine Ephemere, die zum dritten Mal in ihrem Leben einen Glockenschlag hört und erschrickt. Der Schmetterling klärt sie auf, dass es Tiere gibt, die schon jahrelang die Glocke schlagen hören, was die Ephemere als deren Unsterblichkeit auslegt. Der Schmetterling beseitigt das Missverständnis. Und die Ephemere antwortet:
„Sie sterben, sagst du, Freund, ist das auch ihr Geschick,
So wüßt ich nicht, warum das meine härter wäre.
Früh oder spät; im letzten Augenblick
Ist beides eins.“ … Hier starb die Ephemere.
Der zweite Band von „Fabeln und poetische Erzählungen“, hrsg. von H. Hauff, bietet nichts wesentlich Neues gegenüber dem ersten: In „Die Bonzen“ schwatzen zwei indische Mönche einer armen Frau zwei Enten ab, indem sie ihr erklären, in denen lebten die Seelen ihrer Väter. „Der Derwisch“ beeilt sich, ein Findelkind zu beschneiden, und lässt es dann liegen. „Der Thiergarten“ demonstriert, dass die intellektuelle Revolution nur zum Chaos führt; die Befreiten gehen zugrunde, wenn ihnen der bisherige Schutz fehlt (so „Die Meise“). „Apoll und Minerva“ kommen auf die Erde und müssen sich hier durchschlagen; Apoll tritt als Wunderdoktor auf und verdient viel, Minerva preist ihre Weisheit an und hungert. Apoll rät ihr:
„Mach’ es, wie ich, so hast du Brod.
Nur durch die Kunst der Charlatane,
Nur durch der Täuschung Zauberkraft
Gebietet man dem eitlen Wahne
Und der verjährten Leidenschaft.
Verkappe dich als Hexenmeister,
Und leihe der Philosophie
Den Mantel der Thaumaturgie;
Lies im Gestirn, citire Geister,
Und rühme dich der Alchymie,
So wird sich bald das Blättchen wenden…“
Und Apoll hat recht, Minerva findet großen Zuspruch und hinterlässt den Gefoppten ein Briefchen: „Die Welt will hintergangen seyn; / Wohlan denn, so gescheh’ ihr Wille.“ Das ist heute so wahr wie zu Pfeffels Zeiten.
In „Der Major und der Schuster“ wird vermutlich der kategorische Imperativ verspottet. „Die Reformatoren“ lehrt, dass man mit der Wahrheit nicht zu plötzlich ins Haus fallen darf, sondern den Irrtum „stückweis zu besiegen“ hat, also auch Aberglauben noch dulden muss. In „Die Aeolsharfe“ bringt diese schöne Töne durch einen leichten Windhauch hervor, woraus gefolgert wird, dass die Psychologen, die „Bald im Gehirne, bald im Blut / Die Seele suchen, sich betrogen“. Reizend finde ich auch „Das Wunderkind“: Miss Ignorantia wurde schwanger, nach einer alten Sage mit der Herrscherin der Welt; sie bringt das Wunderkind „die Meinung“ zur Welt und macht Faulheit und Stolz zu ihren Paten. Die Mutter findet, das Kind sei ihr „Conterfei“, und die Paten legen ihm „den Namen Wahrheit bei“ – und das kann man heute täglich nicht nur in Sachen Corona bestätigt finden.
Das sind ungefähr die Fabeln, die ich aus dem zweiten Buch zu nennen für wert befinde. – Nicht in den beiden Bänden steht die Fabel „Das Elixier“: Wenn man die Religion „[w]ie grobe Kost und als ein fremdes Wesen“ zu sich nimmt, erzeugt sie Schwärmerei und Pharisäerstolz; doch wenn man ihren Geist in jede Nahrung der Seele mischt, mehrt und stärkt sie deren Lebenssaft.