Pfeffels Fabeln – weitere Aspekte

Im vorigen Beitrag habe ich einen kleinen Überblick über die politischen Fabeln Pfeffels gegeben; am Ende des Beitrags stehen viele Links zu den Texten. Neben den politischen Themen in Pfeffels Fabeln gibt es noch einige weitere Aspekte, die mir aufgefallen sind und die teilweise mit der politischen Kritik zusammenhängen. Der erste Aspekt, bereits aus der Fabel „Der Reformator“ bekannt, ist die Kritik an den Gelehrten, speziell an den Philosophen:


Die Eule, der Kater, die Gans und die Ratte
An Hofrat Voß

In einer Klosterschule hauste
Ein alter Kauz, den ein Noviz [Klosterschüler]
Aus seiner Ahnen Rittersitz,
Dem Kirchturm, in der Jugend mauste
Und sich zum Stubenburschen zog.
Er fraß vertraut mit einem Kater
Und einer Gans aus einem Trog,
Und käute täglich, was der Pater
Professor seinem Schülerchor
Aus dem Plutarch und Diodor
[antike Autoren]
Erzählte, seinen Tischgenossen,
Cum notis variorum
[mit Notizen verschiedener Personen] vor.
Dann waren beide lauter Ohr
Und machten wohl auch eigne Glossen
Voll kritischer Belesenheit.
Oft übten sich die drei Tironen
[Anfänger],
Mit klotzischer Beredsamkeit,
In scharfen Disputationen.
Einst teilte sie der große Streit
Vom Wert der alten Nationen.
„Ich“, sagte Mauz, „war allezeit
Für die Ägypter; diese lehrten
Uns Weisheit und Gerechtigkeit,
Und o wie liebten, wie verehrten
Sie ihre Götter nicht!“ — „Und ich“,
Versetzt der Kauz, „erkläre mich
Für die unsterblichen Athener.
Athen war stets der Musen Sitz.
Was ist erhabner, was ist schöner,
Als ihre Werke, die der Witz,
Mit Kunst und mit Genie gepaaret,
Der späten Nachwelt aufbewahret!
Und ihre Helden; hat man wohl
Mehr Anmut, mit mehr Kraft verbunden,
In irgend einem Heer gefunden?“ —
„Ha“, rief die Gans, „beim
Kapitol!
Ihr faselt; habt ihr Rom vergessen?
Wer kann mit diesem Volk sich messen?
Vom Nordpol bis zum Süd
erpol
Gleicht in dem ganzen Altertume
Und in der neuern Zeit an Macht,
An Wissenschaft, an Waffenruhme,
Selbst an des Überflusses Pracht
Kein Volk den fürstlichen Quiriten
[Bürger Roms].
Sie, sie sind meine Favoriten.“
Nun schrien auf einmal alle drei.
Die Fugen
[Musikstücke] in der Synagoge
Sind neben diesem Dialoge
Ein Meisterstück der Melodei.
Schon sprachen Schnabel, Zahn und Tatze,
Als eine grundgelehrte Ratze,
Die manche Dissertation
[Doktorarbeit]
Des Paters Rektor aufgezehret,
Von ihrem Aristarchenthron
[Aristarch: griech. Astronom]
Es war ein großes Lexikon,
Wo sie den Streit mit angehöret,
Herunter rief: „Ich merke schon,
Was euch entzweit. Ägypten ehrte
Die Katzen; dem Athener war
Die Eule heilig; Rom ernährte
Im Rathaus eine Gänseschar.“

Dies, lieber Voß, ist die Geschichte
Der Lehrsysteme; jedes trägt
Ein Muttermal in dem Gesichte,
Vom Egoismus aufgeprägt.

Diese Fabel deckt gleich zwei Aspekte ab, Kritik an der Gelehrsamkeit und Philosophie sowie den Nachweis der elementaren Egozentrik (Pfeffel spricht von Egoismus) der Tiere, d.h. der Menschen. Für die Kritik an den Gelehrten nenne ich noch „Der Spottvogel“ (ist ein bloßer Nachschwätzer), „Das Windspiel“ (spielt nur einen Philosophen), „Der Krebs und die Karpfen“ (bestaunen einen Gaukler), „Die Musterkarte“ (sie haben nichts zu bieten), „Der Papagei“ (schwätzt Latein, versteht aber nichts). – Die Egozentrik der Eule und ihrer Genossen erinnert mich an die Kritik der Götterbilder bei Xenophanes, wie sie von Menschen gebildet werden und von Tieren gebildet würden.

Der zweite Aspekt ist die von Pfeffel öfter entlarvte Egozentrik, die in „Der Volksrath“ mit einer Kritik an einer demokratischen Mitbestimmung verbunden ist. Wie Tiere, die noch nie einen Menschen gesehen haben, sich diesen vorstellen, wird in „Das Bild des Menschen“ vorgeführt: Das Dromedar erwartet einen Buckel zu sehn, der Esel lange Ohren. Ein schönes Beispiel sei noch zitiert:

Der Reiher, der Habicht und der Schöps

„Wie lange willst du noch, Barbar,
Die ganze Flur veröden,
Und als ein wütender Korsar
Die schwächern Brüder töten?
Bald ist der Wald von Vögeln leer,
Und schon entzückt ihr Lied nicht mehr
Den Schnitter und den Hirten.“

So ward ein Habicht, der vom Fraß
Vergnügt nach Hause kehrte,
Von einem Reiher, der im Gras
Den fettsten Aal verzehrte,
Mit ernsten Blicken angekräht,
Wie wenn des Priors Majestät
Den Mönchen Buße predigt.

„Was du an mir als Fehler rügst,
Das tust du selbst“, versetzte
Der Habicht. — „Wie du dich betrügst!
Als ob ich Vögel hetzte!“
Rief Junker Reiher; „liebes Kind,
Auch in der strengsten Fasten[zeit] sind
Die Fische nicht verboten.“

Der Habicht widersprach, allein
Da war nichts auszurichten;
Doch kam man endlich überein,
Dass, um den Zank zu schlichten,
Ein Schöps, den man im Busche sah,
Durch einen Spruch ex cathedra [= endgültig]
Den Fall entscheiden sollte.

Sie stritten sich im dreisten Ton
Gelehrter Renomisten
Aus allen Kräften vor dem Thron
Des neuen Kasuisten [= Juristen],
Der gar ein großes Tier sich schien,
Indem die zwe
en Athleten ihn
Stets
Ihro Weisheit nannten.

„Ihr Herren“, blökt der seltne Geist
Nach wohlerwognen Klagen,
„Nie kann, wer Fisch und Vögel speist,
Den Namen Mörder tragen.
Der einzig wahre Mörder ist
Der frevle Wolf, der Schöpse frißt;
Und nun geht hin in Frieden.“
Hier ist schön zu sehen, wie alle drei Tiere nur ihr jeweils eigenes Tun (Fressen) für richtig bzw. ihr Leiden für verwerflich halten, während Ähnliches bei den anderen Tieren mit anderen Maßstäben gemessen wird. Insgesamt kommt die Egozentrik nicht oft in Pfeffels Fabeln vor, doch trübt sie weltweit den Blick der Menschen, ist also auch heute sachlich relevant.

Außer gegen die Gelehrten wettert Pfeffel gern gegen die Pfaffen und Frömmler. Eine großartige Fabel, die Toleranz predigt, ist „Die Kirchenvereinigung“: Der Adler verordnet, alle Vögel müssten die gleiche Melodie singen, was sie dann auch tun – nur ein alter Rabe schweigt:

Mit zornigem Gesicht
Sprach der Despot zum Patriarchen:
Rebelle, warum singst du nicht?“ —
Weil dein Gebot mein Herz empöret“,
Versetzt der Alte: „glaube mir,
Der Schöpfer hat ein jedes Tier
Sein eigenes Gebet gelehret,
Das ihm gefällt. Ein Lobgesang,
Den Furcht erpreßt, ist Übelklang,
Ist Lästerung, die ihn entehret.
Befiel nun meinen Tod.“ Er schwieg.
Der Sultan [= Adler] auch: wie Meereswogen,
So schäumt sein Blut. Noch wankt der Sieg;
Doch schnell rief er: „Ich ward betrogen!
Heil dir, o Freund! du zogst ihn ab,
Den Schleier, der mein Aug’ umgab.
Und ihr, empfangt die Freiheit wieder,
Ihr Vögel, singet eure Lieder
In eurem angebor’nen Ton!“
Jetzt drangen sie in dichten Kreisen
Entzückt um des Monarchen Thron
Und lobten Gott nach tausend Weisen.
Der majestätische Choral
Steigt wallend in die lichten Sphären.
Der Sultan staunt. Zum erstenmal
Hört er, was keine Muftis hören,
In der verschied’nen Melodie
Die feierlichste Harmonie.

Die Muftis, die Pfaffen aller Religionen jedoch schwören auf ihre Melodie als die einzig gottgefällige. Gut gefällt mir die folgende Fabel:

Der Paradiesvogel

Ein Vogel, von dem Paradies
Hat er, Gott weiß warum, den Namen,
Geriet dem Pater Aloys
Von Dominiks geweihtem Samen [= Dominikaner]
Auf seinem frommen Ritterzug
Nach Koromandel [in Vorderindien] in die Klauen.
Der Pfaffe konnte nicht genug
Das seltene Geschöpf beschauen.
Entzückt rief er ihm endlich zu:
„Du, dessen Ahnen einst in Eden
Mit Adam hausten, hörest du
Nicht manchen Greis noch von ihm reden?“ —
„Ach nein“, versetzt das gute Tier. —
„Ist nichts durch Überlieferungen
Aus jener Zeit zu euch gedrungen?“ —
„Kein Wort.“ — „Du willst, gesteh es mir,
Mich durch Verstellung bloß betören.“ —
„Nein, wahrlich nein, das kann ich schwören.“ —
„Wie dumm!“ rief der beschorne Held [er hat eine Tonsur],
„Uns ist es leicht, den frommen Seelen
Aus jedem Teil der andern Welt [= des Jenseits]
Stets etwas neues zu erzählen.“

Köstlich ist auch das Gespräch des Stiergottes Apis und des Drachengottes aus Babylon in der Unterwelt (in „Apis und der Drache zu Babel“); sie beklagen ihren Sturz. Der Drachengott bereut seinen Schwindel, für den sie jetzt büßen müssen; Stiergott Apis erwidert: „Die Kühnheit wird mich nie gereun. / Wenn Priester ungescheut aus Menschen Ochsen machen, / So dürfen Ochsen Götter seyn.“ Die gefährliche Nähe der Theologie zur Philosophie war schon erwähnt worden (in „Der Reformator“). Auch das fromme Nichtstun der Mönche wird attackiert („Der Santom, der Rabe und der Falke“), und die Bibel in des Heuchlers Mund ist pures Gift („Der Löwe und die Klapperschlange“).

Viertens ist zu notieren, dass viele Fabeln gängige Lebensweisheit vortragen: im Genießen mäßig sein, den Mächtigen misstrauen, keine törichten Hoffnungen hegen… Zwei Fabeln, die mir besonders gut gefallen, seien noch zitiert:

Das Glück des Esels

Ein Esel zog in kurzem Trab
Mit faulem Dünger durch die Straßen;
Der Dunst, den dieser von sich gab,
War eine Pest für alle Nasen.

Die ekle Fracht war kaum erblickt,
So trat ein jeder auf die Seite.
„Ei, ei!“ sprach Langohr hoch entzückt.
„Wie ehren mich die guten Leute!“

Er trug an einem andern Tag
Den Raub von zwanzig Blumenbeeten,
Der bunt in seinen Körben lag.
Die süßen Balsam von sich wehten.

Er ward umringt. Der Nasen Schmaus
Hat Jung und Alt herzugetrieben.
„Ha!“ rief das Tier mit Tränen aus,
„Wie mich die guten Leute lieben!“

Beglückte Dummheit! sollte sie
Nicht selbst des Weisen Neid erregen?
Was auch geschieht, weiß ihr Genie
Zu ihrem Vorteil auszulegen.

Der Schmetterling und die Ephemere [Eintagsfliege]“ ist ein Zeugnis tiefer Weisheit; leider kann ich sie nirgendwo kopieren, deshalb referiere ich sie bloß: Der Schmetterling trifft eine Ephemere, die zum dritten Mal in ihrem Leben einen Glockenschlag hört und erschrickt. Der Schmetterling klärt sie auf, dass es Tiere gibt, die schon jahrelang die Glocke schlagen hören, was die Ephemere als deren Unsterblichkeit auslegt. Der Schmetterling beseitigt das Missverständnis. Und die Ephemere antwortet:

Sie sterben, sagst du, Freund, ist das auch ihr Geschick,

So wüßt ich nicht, warum das meine härter wäre.

Früh oder spät; im letzten Augenblick

Ist beides eins.“ … Hier starb die Ephemere.

Der zweite Band von „Fabeln und poetische Erzählungen“, hrsg. von H. Hauff, bietet nichts wesentlich Neues gegenüber dem ersten: In „Die Bonzen“ schwatzen zwei indische Mönche einer armen Frau zwei Enten ab, indem sie ihr erklären, in denen lebten die Seelen ihrer Väter. „Der Derwisch“ beeilt sich, ein Findelkind zu beschneiden, und lässt es dann liegen. „Der Thiergarten“ demonstriert, dass die intellektuelle Revolution nur zum Chaos führt; die Befreiten gehen zugrunde, wenn ihnen der bisherige Schutz fehlt (so „Die Meise“). „Apoll und Minerva“ kommen auf die Erde und müssen sich hier durchschlagen; Apoll tritt als Wunderdoktor auf und verdient viel, Minerva preist ihre Weisheit an und hungert. Apoll rät ihr:

Mach’ es, wie ich, so hast du Brod.

Nur durch die Kunst der Charlatane,

Nur durch der Täuschung Zauberkraft

Gebietet man dem eitlen Wahne

Und der verjährten Leidenschaft.

Verkappe dich als Hexenmeister,

Und leihe der Philosophie

Den Mantel der Thaumaturgie;

Lies im Gestirn, citire Geister,

Und rühme dich der Alchymie,

So wird sich bald das Blättchen wenden…“

Und Apoll hat recht, Minerva findet großen Zuspruch und hinterlässt den Gefoppten ein Briefchen: „Die Welt will hintergangen seyn; / Wohlan denn, so gescheh’ ihr Wille.“ Das ist heute so wahr wie zu Pfeffels Zeiten.

In „Der Major und der Schuster“ wird vermutlich der kategorische Imperativ verspottet. „Die Reformatoren“ lehrt, dass man mit der Wahrheit nicht zu plötzlich ins Haus fallen darf, sondern den Irrtum „stückweis zu besiegen“ hat, also auch Aberglauben noch dulden muss. In „Die Aeolsharfe“ bringt diese schöne Töne durch einen leichten Windhauch hervor, woraus gefolgert wird, dass die Psychologen, die „Bald im Gehirne, bald im Blut / Die Seele suchen, sich betrogen“. Reizend finde ich auch „Das Wunderkind“: Miss Ignorantia wurde schwanger, nach einer alten Sage mit der Herrscherin der Welt; sie bringt das Wunderkind „die Meinung“ zur Welt und macht Faulheit und Stolz zu ihren Paten. Die Mutter findet, das Kind sei ihr „Conterfei“, und die Paten legen ihm „den Namen Wahrheit bei“ – und das kann man heute täglich nicht nur in Sachen Corona bestätigt finden.

Das sind ungefähr die Fabeln, die ich aus dem zweiten Buch zu nennen für wert befinde. – Nicht in den beiden Bänden steht die Fabel „Das Elixier“: Wenn man die Religion „[w]ie grobe Kost und als ein fremdes Wesen“ zu sich nimmt, erzeugt sie Schwärmerei und Pharisäerstolz; doch wenn man ihren Geist in jede Nahrung der Seele mischt, mehrt und stärkt sie deren Lebenssaft.

Pfeffels politische Fabeln

Der erste Eindruck, den man von Pfeffels Fabeln gewinnt, ist der: Da hat einer im 18. Jahrhundert aber mächtig gegen die Fürsten gewettert. Da ist zum Beispiel „Der kranke Löwe“ (1773):

Der Tiere Großsultan lag auf dem Krankenbette;
Er war von Kopf bis auf den Schwanz
So dürr als Bruder Hein im Basler Totentanz.
Da war kein Vieh, das ihm nicht was geraten hätte.
Die Gerste, sprach das Pferd, ist trefflich für die Lunge,
Sie kühlet das Geblüt und reiniget die Zunge.
Nicht doch, versetzt der Bär, der wilde Honigseim
Ist Balsam für die Brust und löst den zähen Schleim.
Freund, rief ein weiser Wolf, ich wette hundert Kronen,
Mein sympathetisches Arcan
Erhält den Preis: Neun frische Ziegenbohnen,
Im Vollmond angehängt, ziehn alle Seuchen an.
Pfui, sprach der Leopard, man möchte flugs purgieren,
Der Henker brauche diesen Quark.
Ich lobe mir das Menschenmark,
Um einen Fürsten zu kurieren.
Ein Pfund des Tags in Tränen aufgelöst
Hilft ganz gewiß, probatum est [das ist bewährt].
Dies, Vetter, will ich gleich probieren,
Versetzt der Patient, der Rat ist Goldes Wert.
Ich selber habe längst gehört,
Daß viele große Herrn auf Erden
Durch dieses Mittel fett als wie die Dachse werden.

Die Reichsgeschichte der Tiere“, wo der Löwe aus der Anarchie als siegreicher Tyrann hervorgeht, endet so:

Allein der Freiheit Kranz war nun einmal verloren,
Der Löwe war und blieb Tyrann;
Er ließ von jedem Tier sich stolz die Pfote lecken,
Und wer nicht kroch, der mußte sich verstecken.

Und in „Das Hermelin und der Jäger“ wird der Fürst angeklagt, weil er Soldatenhandel mit den Engländern treibt: Des Hermelins Fell verarbeitet er als Pelz, des Menschen Haut „verhandelt er den Britten“.

Wenn man länger liest, merkt man, dass die Fürstenkritik nicht politisch, sondern moralisch begründet ist. So endet „Die Ratzen“ mit dem Ergebnis, dass die Ratten nicht den Tiger zu ihrem „Großherrn“ wählen, weil er den dazu erwählten Ichneumon (eine Art Wiesel oder Mungo) kurzerhand tötet:

 Ward er gewählet?
O nein! Die Deputierten flohn;
Sie sah’n am ersten Pröbchen schon,
Daß Mut und Macht, statt es zu schützen,
Ein Volk mit Tyrannei bedrohn,
Wenn sie sich nicht auf Güte stützen.

Und in „Der junge Löwe“ wird nicht die Herrschaft des Löwen bestritten, sondern er muss sich nur ihrer würdig erweisen – das verträgt sich durchaus mit der Kritik am Gottesgnadentum (etwa in „Der Pfau“):

Ein junger Löwe bat den Vater der Natur
Einst um die Reichsinvestitur 
[= Einsetzung als König].
„Was hast du“, fragte Zeus, „für Rechte?“
„Ei!“ sprach der Kandidat,
„Ich bin, du weißt es ja, vom herrschenden Geschlechte,
Das stets mit Ruhm regieret hat.
Mein Ältervater war der edelste der Krieger,
Und gab sein Leben für den Staat;
Sein tapfrer Sohn bezwang de
r Panther und der Tiger
Rebellische Banditenbrut,
Und mein Papa belegte gar die Drachen
Mit einem jährlichen Tribut.“ —
„Das alles wird dir niemand streitig machen“,
Sprach Zeus; „allein, was hast denn du getan?“
Verstummt und stier sah der Infant ihn an.
„Geh“, fuhr Chronion
[= Zeus] fort, „erwirb erst eine Krone
Durch eigene
s Verdienst; dann strebe nach dem Throne.“

Das ist ziemlich eindeutig auch Pfeffels Meinung vom Recht des Herrschers, über das sich freilich viele Fürsten durch pure Erbfolge hinwegsetzen – die gilt es dann zu kritisieren.

Damit ist klar, dass Pfeffel sich gegen jede Art von Revolution ausspricht. So endet der Kampf der Hummeln gegen die Bienen („Die Hummeln und die Bienen“) mit dem allgemeinen Hungertod. Was er von den Parolen der Gleichheit und Brüderlichkeit hält, zeigt „Die Entdeckungsreise“:

Um fremde Länder zu besehn,
Ließ König Adler ein paar Störche
Mit Doktorsrang auf Reisen gehen.
Schon sang das hohe Lied der Lerche
Zum zweiten Mal den Frühling an,
Als unsre Waller [= Wanderer] wiederkehrten,
Und bei dem König durch den Hahn
Mit Klappern Audienz begehrten.
„Willkommen!“, rief der gute Chan [= Khan, Kaiser],
Indem das hohe Paar sich nahte,
„Ich muß nach dem geheimen Rate,
Darum erzählt jetzt nur im Flug
Das Wichtigste von eurem Zug.“ —
„Sir“, sprach der eine mit zu Boden
Gesenktem Schnabel, „unserm Lauf
Stieß in dem Land der Antipoden [= Erdbewohner der anderen Seite]
Ein Volk von seltnen Vögeln auf.
An Rechten gleich, wie an Gefieder,
Sind alle beides, Haupt und Glieder [Bild des Staates als Leib],
Hier ist kein Herr, kein Untertan;
Auch nennen sie sich alle Brüder.“ —
„So werden sie“, versetzt der Chan,
„Einander auch als Brüder lieben?
Du schweigst?“ — „Herr“, sagte sein Gespan [= Gefährte],
Der wider Willen stumm geblieben,
„Die Wahrheit zu gestehn, wir sahn
Sie täglich bis aufs Blut sich balgen.“ —
„Ha“, rief der Fürst von Zorn entbrannt,
„Kommt solch ein Bruder in mein Land,
So sei der erste Baum sein Galgen.“

Und „Der Wetterhahn“ zeigt mit seinem Sturz im Sturm, dass es „führwahr kein Spaß um Revolutionen“ ist.

Mit der Kritik an der Revolution ist die Kritik an der Philosophie verbunden. „Der Reformator“, der Affe, verkündet den Atheismus und die These, dass alles erlaubt ist; er wird befördert, aber vom weisen Elefanten getötet: Als der König das nicht hinnimmt, lachen ihn alle Tiere aus und fallen über die Schwachen her:

Der Wolf erfrechet sich mit einem schweren Fluch,
Der Majestät zum Trotz den Widder zu zerreißen,
Und sein Gevatter Fuchs die Henne todt zu beißen.
Kurz, dieser Tag gebahr die Anarchie,
Das Faustrecht und den Krieg, der noch im Staate wüthet:
Und so hat die Philosophie,
So gut als die Theologie,
Schon manches Unheil ausgebrütet.

Der Löwe hat auf seiner Wanderung durch Europa die Segnungen der Aufklärung kennengelernt; er kehrt heim und überträgt das Lehramt der Philosophie einem Affen – aber die Segnungen der Aufklärung bleiben aus:

Ha!“ rief der Schach, „zu meiner Schande

Bekenn’ ich, daß ich falsch gesehn.

Den Irrtum hab’ ich zwar vertrieben,

Allein die Laster sind geblieben.

Anstatt in meiner Monarchie

Gelehrte Bürger ziehn zu wollen,

Hätt’ ich vor allen Dingen sie

Zu guten Bürgern machen sollen.“

Und in „Der Phönix“ wird die Wohltat schöner Vorurteile und Gefühle verteidigt:

Der Phönix lag auf seinem Sterbebette
Von Myrrhen, Aloes und Zimmetreis.
Minervens Kauz, ein Denker wie man weiß,
Erspähte die geweihte Stätte
Und sprach zum Einzigen: „So glaubst du, blöder Greis,
Daß, hat die Glut zu Asche dich verzehret,
Dein Ich erneut ins Leben wiederkehret?“
Der Phönix schwieg. Der Kauz fuhr fort: „Erkläre mir,
Was gründet deinen Wahn von einem andern Leben?
Ich fordre stets Beweis.“ – „Den kann ich dir“,
Versetzt der Phönix, „wohl nicht geben;
Denn was man fühlt, beweist sich nicht;
Und ein Gefühl, das laut wie ein Orakel spricht,
Sagt mir, ich werde nicht vergehen.“
Hier stecket er mit heitrer Zuversicht
Den Holzstoß an und ruft: „Auf Wiedersehen!“

Der Phönix, lieber Freund, philosophierte schlecht,
Allein er wußte froh zu sterben,
Und wer nicht fühlt wie er, hat wie mich dünkt, kein Recht,
Ihm seine Freude zu verderben.

Zählt man einen solchen Fabeldichter mit Recht zur Aufklärung? Die gleiche Frage muss sich übrigens auch Gellert („Der süße Traum“) gefallen lassen.

Damit kommen wir zum dritten Aspekt der politischen Philosophie Pfeffels: Demokratie taugt nach seiner Überzeugung nichts. Das zeigt der Versuch des Königs, einen Volksrat mitsprechen zu lassen („Der Volksrath“):

Der Tiere mächtiger Regent
Berief die Glieder seiner Staaten
In einen großen Volkskonvent,
Um sich mit ihnen zu beraten.
Ihm lag das Wohl des Reiches an,
Und weil nicht bloß die Herren denken,
So durfte jeder Untertan
Dem Vaterland sein Scherflein schenken.
Der Bienen Fürstin brach die Bahn
Und sprach: „In kleinen Köpfen keimen
Oft große Dinge. Lange schon
Empört mich dieses Heer von Bäumen;
Drum mach ich, Sir, die Motion,
Die dummen Wälder umzuhauen;
Veredle sie zu bunten Auen,
Aus deren Blumen unser Fleiß
Den Honig zu bereiten weiß.“
Nun kam der Wolf. Mit ernster Miene
Erhob er sich auf seinen Steiß
Und schüttelte den Kopf: „Die Biene
Beliebt zu scherzen; mein Projekt,
Herr König, ruht auf festerem Grunde:
Es zielt auf das Exil der Hunde.
Ihr Ruf ist’s, der den Hirten weckt,
Sobald sie uns nur wittern können,
Sie, die aus niedrer Sklavenpflicht
Dem edlen Wolf sein Brot mißgönnen.
Verbannst du dieses Diebsgezücht,
So soll hinfort kein Schäfer wehren,
Daß wir mit Schöpsenfleisch uns nähren.“ —
„Mit größerem Fug trifft dein Gericht
Die räuberische Brut der Katzen“,
Rief jetzt die Sprecherin der Ratzen.
„Herr König, ich begreife nicht
Warum sie deine Langmut duldet.
Der treue Hund hat nichts verschuldet,
Er schützet bloß des Hirten Gut;
Allein der Katzen wilde Scharen
Bekriegen schon seit tausend Jahren
Mein armes Volk mit frecher Wut.
Wer hat in aller Welt gehöret,
Daß je der Ratzen fromme Brut
Das kleinste Kätzchen aufgezehret?
Drum sei ihr Tod dein erstes Werk.“ —
„Das sind nur Kleinigkeiten;
Ich werde, Sir, dein Augenmerk
Auf einen höhern Vorwurf leiten“,
Versetzt ein bunter Schmetterling,
Der um den Thron des Löwen tanzte
Und endlich auf sein Ohr sich pflanzte.
„Des Jahres ewig gleicher Ring
Ist in vier Zeiten abgeteilet:
Der Lenz ist kühl, der Sommer eilet,
Gleich einem kurzen Traum, vorbei,
Dann kommt der Herbst, sein Hauch verödet
Die Fluren, und was er nicht tötet,
Zerstört des Winters Tyrannei.
Zur Hebung dieser Volksbeschwerden
Muß eine Deputation
Vom König und der Nation
Zum Vater Zeus gesendet werden.
Sie fleh’ ihn um die Wohltat an,
Aus Phöbus [= der Sonne] träger Zirkelbahn [= Kreisbahn]
Drei raue Viertel wegzustreichen.
Dann schmückt ein steter Sommer nur
Den vollen Busen der Natur,
Und nichts wird unsrer Wohlfahrt gleichen.“ —
„Gut“, rief mit einem hohen Schwur
Der biedre Schach [= Schah, Kaiser], „an diesen Proben
Genüget mir; statt meinem Reich
Zu raten, sprecht ihr nur für euch.
Die Audienz ist aufgehoben.“

Hier sieht man, wie lächerlich die Demokratie enden würde; aber da das Gottesgnadentum der Könige vorbei ist (vgl. „Der Pfau“), muss der König dem Volk grundsätzlich (aber wie?) Rechenschaft geben. Das zeigt „Die Bill“, die so endet:

Schließlich machte

Das Volk mit reifem Vorbedachte

Die Bill: daß, weil ein Großsultan

Den höchsten Richter uns’rer Thaten

Verachten oder läugnen kann,

Man vor der Hand den Autokraten

Verpflichten soll, der Nation

Von seiner Wirthschaft auf dem Thron,

Mitunter auch von seinem Leben

Genaue Rechenschaft zu geben.

Fragen wir – der vierte Aspekt – nach der Freiheit der Untertanen. „(…) mag der Schösser (Steuereintreiber) / Noch heute kommen; immer besser / Ist zinsbar seyn, als vogelfrei.“ Das sagt der Widder in „Der Widder, der Fuchs und die Ziege“. Und der Schwan wendet sich (in „Die Vögel“) gegen den Plan, alle Tiere der Nation „mit vollem Recht zum Mitregenten“ zu machen: „Wenn jeder herrschen will, so sprich, wer wird gehorchen wollen?“ Hier wird die Freiheit allzu simpel undialektisch gedacht, die Freiheit unter der Herrschaft des Gesetzes bleibt außer Betracht. Pfeffel plädiert für eine innere Freiheit, ohne deren Bedingungen zu bedenken („Der Gebrauch der Freiheit“): „Der Sklave brauchet sie zur Dienstmagd seiner Lüste, / Indeß der edle Mensch selbst auf Maroccos Küste / Sie nicht verlieren kann (…) sie wohnt in seinem Busen / Und ihre Wächter sind die Weisheit und die Musen.“ Das ist schon im Sinn der Weimarer Klassik gedacht. Die politische Konsequenz bedenkt „Das Schaf“:

Ein Fleischer riss ein Lamm im Schlaf
Vom Euter seiner frommen Amme:
»Grausamer«, ächzt das bange Schaf,
»Stoß, ungetrennt von meinem Lamme,
Auch mir dein Messer in das Herz!«
»Nein«, rief der Mann mit bitterm Scherz,
»Ich muß dich erst noch fetter machen.«
»Du mich?« erwiedert, mit dem Schmerz
Der Niobe, die arme Mutter:
»Das wirst du nicht.« Von nun an aß
Sie keinen Halm von ihrem Futter
Und trank nicht mehr. Der Fleischer sah’s
Und trieb sie schon am vierten Tage
Zur Würgbank: »Lieber schlacht ich dich,
Als daß ich dich zum Schinder trage«,
Sprach er. »Da siehst du’s, Wüterich!«
Versetzt das Schaf mit kalter Seele:
»Es ist auf Erden kein Tyrann
So mächtig, daß er dem befehle,
Der sterben will und sterben kann.«

Das ist die letzte Freiheit des Gefangenen in der Tyrannei – menschlich groß, aber keine politische Lösung der Frage, wie die Freiheit der Untertanen, nein, die Freiheit der Bürger zu sichern ist.

Fazit: Der erste Eindruck hat getäuscht: Die politischen Fabeln Pfeffels sind kritisch, aber nur im Sinn der deutschen Klassik. Die Angst vor der Revolution sitzt ihm in den Knochen; er ist eher ein moralischer als ein politischer Denker.

Diese Darstellung stützt sich auf die Lektüre der ersten 300 Seiten von Gottl. Conr. Pfeffel: Fabeln und poetische Erzählungen, in Auswahl herausgegeben von A. Hauff. Erster Band. Cotta: Tübingen 1861. Ob sich in dem hier systematisch Skizzierten eine Entwicklung von Pfeffels Denken spiegelt, kann ich nicht beurteilen, weil ich die Entstehungszeit der einzelnen Fabeln nicht kenne. Neben den pointiert politischen Fabeln gibt es viele, die im Sinn des gesunden Menschenverstandes und der Erfahrungen, die man in der Welt machen kann, die Leser belehren und unterhalten. Die Lektüre von Pfeffels Fabeln wäre auch eine schöne Gelegenheit, Frakturschrift lesen zu lernen, falls man das noch nicht kann.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gottlieb_Konrad_Pfeffel

https://www.deutsche-biographie.de/sfz95227.html (2001)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz95227.html#adbcontent (1887, umfangreich)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Pfeffel,+Gottlieb+Konrad/Gedichte/Fabeln+und+Erz%C3%A4hlungen

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/pfeffel.html

https://gedichte.xbib.de/gedicht_Pfeffel.htm

https://archive.org/details/fabelnundpoetis00haufgoog/page/n8/mode/2up Fabeln und poetische Erzählungen, Bd. 1

https://archive.org/details/bub_gb_4-46AAAAcAAJ/page/n1/mode/2up Fabeln und poetische Erzählungen, Bd. 2

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_1-1.htm

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_1-2.htm

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_1-3.htm

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_1-4.htm

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_1-5.htm

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_2-1.htm

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_2-2.htm

http://www.fabelnundanderes.at/pfeffel_2-3.htm

P.S. Inzwischen habe ich das erste Buch der von A. Hauff herausgegebenen Fabeln und poetischen Versuche ganz gelesen (bis S. 442); am Bild der politischen Fabel hat sich dadurch nichts verändert. Es ist mir inzwischen aber gelungen, Verzeichnisse mit dem Entstehungsjahr der Fabeln zu finden:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Pfeffel,+Gottlieb+Konrad/Gedichte Hier ist das Entstehungsjahr angegeben.

https://lueersen.homedns.org/!gutenb/pfeffel/poetvers/pv1cverz.htm 1. Teil der poetischen Versuche, ebenso

https://lueersen.homedns.org/!gutenb/pfeffel/poetvers/pv2cverz.htm 2. Teil, ebenso

https://lueersen.homedns.org/!gutenb/pfeffel/poetvers/pv3cverz.htm 3. Teil, ebenso

https://lueersen.homedns.org/!gutenb/pfeffel/poetvers/poetvers.htm Stammseite

bzw. https://lueersen.homedns.org/!gutenb/pfeffel/, wo u.a. auch die Gedichte aufgeführt werden.

Gellert: Der süße Traum

Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) war ein deutscher Dichter und Moralphilosoph, den man der Aufklärung zurechnet. Zu seiner Zeit war er hoch geschätzt und viel gelesen. Wenn man seine Fabeln heute liest, wirken sie doch sehr bieder: Er klagt Geiz und Habgier an, zeigt die Schwierigkeiten der Ehe wiederholt auf, mahnt zu einem gottgefälligen Leben, schätzt das gute Herz höher als den Reichtum oder die Schönheit und widerlegt die Gottesleugner mit der linken Hand; zufrieden leben und in den Himmel kommen, das sind die von ihm gepriesenen Ziele. Einige seiner Fabeln sind aber wahre Perlen, etwa „Die Geschichte von dem Hute“ oder „Der Schatz“. Mir gefällt auch „Der süße Traum“, der allerdings wenig mit der Aufklärung des Volkes zu tun hat:

Der süße Traum

Mit Träumen, die uns schön betrügen,

Erfreut den Timon einst die Nacht;

Im Schlaf erlebt er das Vergnügen,

An das er wachend kaum gedacht.

Er sieht, aus seines Bettes Mitte

Steigt schnell ein großer Schatz herauf.

Und schnell baut er aus seiner Hütte

Im Schlafe schon ein Lustschloß auf.

Sein Vorsaal wimmelt von Klienten,

Und, unbekleidet am Kamin,

Läßt er, die ihn vordem kaum nennten,

In Ehrfurcht itzt auf sich verziehn.

Die Schöne, die ihn oft im Wachen

Durch ihre Sprödigkeit betrübt,

Muß Timons Glück vollkommen machen;

Denn träumend sieht er sich geliebt.

Er sieht von Doris sich umfangen,

Und ruft, als dies ihm träumt, vergnügt;

Er lallt: »O Doris, mein Verlangen!

Hat Timon endlich dich besiegt?«

.

Sein Schlafgeselle hört ihn lallen;

Er hört, daß ihn ein Traum verführt,

Und tut ihm liebreich den Gefallen,

Und macht, daß sich sein Traum verliert.

»Freund«, ruft er, »laß dich nicht betrügen,

Es ist ein Traum, ermuntre dich!«

»O böser Freund, um welch Vergnügen«,

Klagt Timon ängstlich, »bringst du mich!

Du machest, daß mein Traum verschwindet;

Warum entziehst du mir die Lust?

Genug, ich hielt sie für gegründet,

Weil ich den Irrtum nicht gewußt.«

.


.

Oft quält ihr uns, ihr Wahrheitsfreunde,

Mit eurer Dienstbeflissenheit;

Oft seid ihr unsrer Ruhe Feinde,

Indem ihr unsre Lehrer seid.

Wer heißt euch uns den Irrtum rauben,

Den unser Herz mit Lust besitzt?

Und der, so heftig wir ihn glauben,

Uns dennoch minder schadt, als nützt?

Der wird die halbe Welt bekriegen,

Wer allen Wahn der Welt entzieht.

Die meisten Arten von Vergnügen

Entstehen, weil man dunkel sieht.

Was denkt der Held bei seinen Schlachten?

Er denkt, er sei der größte Held.

Gönnt ihm die Lust, sich hochzuachten,

Damit ihm nicht der Mut entfällt.

Geht, fragt: Was denkt wohl Adelheide?

Sie denkt, mein Mann liebt mich getreu.

Sie irrt; doch gönnt ihr ihre Freude,

Und laßt das arme Weib dabei.

Was glaubt der Ehemann von Lisetten?

Er glaubt, daß sie die Keuschheit ist.

Er irrt; ich wollte selber wetten;

Doch schweigt, wenn ihr es besser wißt.

Was denkt der Philosoph im Schreiben?

Mich liest der Hof, mich ehrt die Stadt!

Er irrt; doch laßt ihn irrig bleiben,

Damit er Lust zum Denken hat.

Durchsucht der Menschen ganzes Leben:

Was treibt zu großen Taten an?

Was pflegt uns Ruh und Trost zu geben?

Sehr oft ein Traum, ein süßer Wahn.

Genug, daß wir dabei empfinden!

Es sei auch tausendmal ein Schein!

Sollt aller Irrtum ganz verschwinden:

So wär es schlimm, ein Mensch zu sein.

Goethe: Dem Schicksal → Einschränkung

Wir haben hier einen der Fälle vor uns, wo Goethe ein frühes Gedicht später deutlich überarbeitet hat: „Was weiß ich, was mir hier gefällt“ → „Ich weiß nicht, was mir hier gefällt“. Den Text beider Fassungen findet man u.a. in der Hamburger Ausgabe, Bd. 1, S. 132. Die Erläuterungen dort (S. 550) sind etwas knapp, ausführlicher ist Viehoffs Kommentar, auf den ich ausdrücklich verweise. Siehe auch Heinrich Düntzers Kommentar!

Ich finde es reizvoll, etwa im LK Deutsch verschiedene Fassungen eines Gedichts zu vergleichen, und rege deshalb dazu an, es einmal zu versuchen. Unter „Gedichtvergleich“ finden Sie mehrere Arbeiten in diesem Blog; siehe auch https://norberto68.wordpress.com/2021/04/29/gedichtvergleich-zwei-fassungen-eines-gedichts/ und https://norberto68.wordpress.com/2012/10/15/gedichtvergleich-mehrere-fassungen-verwandte-gedichte/!

Ludwig Tieck: Melancholie – Text und Analyse

Ludwig Tieck: Melankolie

Schwarz war die Nacht und dunkle Sterne brannten
Durch Wolkenschleier matt und bleich,
Die Flur durchstrich das Geisterreich,
Als feindlich sich die Parzen abwärts wandten,
Und zorn’ge Götter mich in’s Leben sandten.

Die Eule sang mir grause Wiegenlieder
Und schrie mir durch die stille Ruh
Ein gräßliches: Willkommen! zu.
Der bleiche Gram und Jammer sanken nieder
Und grüßten mich als längst gekannte Brüder.

Da sprach der Gram in banger Geisterstunde:
Du bist zu Quaalen eingeweiht,
Ein Ziel des Schicksals Grausamkeit,
Die Bogen sind gespannt und jede Stunde
Schlägt grausam dir stets neue blutge Wunde.

Dich werden alle Menschenfreuden fliehen,
Dich spricht kein Wesen freundlich an,
Du gehst die wüste Felsenbahn,
Wo Klippen drohn, wo keine Blumen blühen,
Der Sonne Strahlen heiß und heißer glühen.

Die Liebe, die der Schöpfung All durchklingt,
Der Schirm in Jammer und in Leiden,
Die Blüthe aller Menschenfreuden,
Die unser Herz zum höchsten Himmel schwingt,
Wo Durst aus seelgem Born Erquicken trinkt,

Die Liebe sei auf ewig dir versagt.
Das Thor ist hinter dir geschlossen,
Auf der Verzweiflung wilden Rossen
Wirst du durch’s öde Leben hingejagt,
Wo keine Freude dir zu folgen wagt.

Dann sinkst du in die ewge Nacht zurück,
Sieh tausend Elend auf dich zielen,
Im Schmerz dein Dasein nur zu fühlen!
Ja erst im ausgelöschten Todesblick
Begrüßt voll Mitleid dich das erste Glück. –

(Ich orientiere mich in der Textgestalt an der Ausgabe http://www.zeno.org/Literatur/M/Tieck,+Ludwig/Gedichte/Gedichte/Zweiter+Theil/Melankolie.)

Das Gedicht ist ein Bericht, der aber nur eine Phantasie sein kann; denn ein Ich berichtet davon, wie es in eine grauenvolle Welt kam und was „der Gram“ dabei zu ihm sagte (V. 11 ff.). Sieben Strophen machen das Gedicht aus, das 1795 entstanden ist und die dunkle Seite der Romantik repräsentiert.

In der ersten Strophe wird die Weltsituation bei der Geburt des Ichs – von Geburt ist eigentlich nicht die Rede, sondern davon, durch Götter ins Leben gesandt zu sein (V. 5) – beschrieben: schwarze Nacht, bleiche Wolkenschleier; die dunklen Sterne (V. 1) sind beinahe ein paradoxes Phänomen. Rätselhaft klingt, dass die Flur das Geisterreich durchstrich; gegen mein früheres Verständnis löst man das Problem, wenn man „das Geisterreich“ als Subjekt und „Die Flur“ als Objekt versteht; das passt dann auch zu V. 4. Die Parzen: Das Wort fehlt in Adelungs Wörterbuch, gehört als latinisierte Form der griechischen Moiren der Bildungssprache an; es sind die Schicksalsgöttinnen, die jedem Menschen sein Geschick zuteilen. Die Szene ist wohl so vorgestellt, dass aus einem himmlischen Geisterreich (V. 3) feindlich gesinnte Parzen und zornige Götter das Ich auf die Erde schicken, „in‘s Leben“. Wieso die Parzen und Götter dem Ich nicht gewogen sind, wird nicht gesagt – von Anfang an und schon vorher stand sein Geschick unter keinem guten Stern, sondern nur unter dunklen Sternen.

Die Form des Gedichtes ist eigenwillig: Fünf Verse reimen sich im Schema a – b – b – a – a; dabei bestehen die a-Verse aus fünf Jamben mit weiblicher Kadenz, die eine kleine Sprechpause einfordert, die b-Verse aus vier Jamben. Das ergibt ein insgesamt bewegtes Sprechen. Die Reime sind semantisch sinnvoll, die Verse stellen insgesamt eine schlimme Situation dar. „Schwarz“ (V. 1) ist gegen den Takt betont und macht als erstes Wort sogleich klar, dass einen nichts Gutes erwartet. Ab Strophe 4 haben die b-Verse eine weibliche Kadenz, was das Sprechen noch etwas weicher macht, während die a-Verse männlich-hart enden.

In der zweiten Strophe wird die Ankunft auf der Erde beschrieben: Begrüßung durch einen grässlichen Eulenschrei: Die Eule begrüßt als Todesvogel den neuen Erdenbürger mit „Willkommen“ (V. 6-8); Gram und Jammer treten personifiziert auf (V. 9 f.). Dass sie niedersanken, kann nur bedeuten, dass sie zuvor auch im Geisterreich waren und mit dem neuen Menschen kamen; sie sind ihm als „Brüder“ verwandt, die Partikel „als“ (V. 10) liest man am besten im Sinn von „wie“ im Sinn eines irrealen Vergleichs. Für die Reime gilt das gleiche wie in Strophe 1, nur dass die b-Verse hier einen Kontrast abbilden.

Von der dritten Strophe an wird in wörtlicher Rede berichtet, was der Gram zur Begrüßung dem neuen Erdenbürger sagt. Was ist der Gram? „Ein höherer Grad der anhaltenden Betrübniß über ein Übel. Ihr Auge verräth seit einiger Zeit einen heimlichen Gram. Seinem Grame nachhängen. Von dem Grame verzehret werden. Sieh wie der Gram um dich ihn zerfoltert, Weiße.“ (Adelung) Dass der Gram personifiziert wird, ist also auch sonst üblich. Die Zeitangabe „in banger Geisterstunde“ (V. 11), also zur Mitternacht, passt zur schrecklichen Botschaft des Grams. Sie besagt, kurz gefasst, dass dem Ich eine „wüste Felsenbahn“ (V. 18) als Lebensweg bestimmt ist (Str. 3 und 4) und dass ihm die Liebe auf ewig versagt bleibt (Str. 5 und 6), so dass der Tod ihm schließlich eine Erlösung sein wird (Str. 7). Gegen den Takt betont sind die Personalpronomen der 2. Person am Versanfang (V. 12, V. 16 ff.) und das drohende „Dann“ (V. 31).

In der dritten Strophe ist die Wendung „zu Quaalen eingeweiht“ (V. 12) eher rätselhaft, verdankt sich wohl dem Reimwort „Grausamkeit“ (V. 13); „einweihen“ heißt: zu einem gewissen Gebrauch bestimmen (Adelung) – am einfachsten liest man „eingeweiht“ im allgemeineren Sinn von „bestimmt“. In V. 13 fehlt aus metrischen Gründen ein „von“, welches „Grausamkeit“ als Attribut zu „Ziel“ ausweist. „Die Bogen“ (V. 14) sind völlig unbestimmt, wer sie und seine Pfeile gegen das Ich richtet, wird nicht gesagt: Die Botschaft des Grams ist eine einzige Sammlung bedrohlicher Aspekte.

Im Folgenden wird zunächst die Liebe gepriesen (Str. 5), ehe sie dem Ich versagt wird (Str. 6); vielleicht ist hier die Wurzel seiner Melancholie zu finden, dass es sich als einziges Geschöpf („der Schöpfung All durchklingt“, V. 21) ungeliebt und freudlos (V. 30) weiß – aber das ist nur eine Spekulation. Auch das „hinter dir“ geschlossene Tor (V. 27), ohne Attribut vorgestellt, ist auf den ersten Blick rätselhaft; man könnte an das Tor des Paradieses denken, des Paradieses der Liebe – aber dafür müsste das Ich zuvor im Paradies gewesen sein. So bleibt nur ein allgemeines Bild dafür, dass es für das Ich keinen Zugang in jenes gelobte Land gibt.

Das drohende „Dann“ (V. 31) weist auf einen nicht greifbaren Zeitpunkt hin, obwohl bisher nur künftiges Unheil verkündet, aber kein Ereignis berichtet worden ist (Präsens neben einer futurischen Wendung, V. 16, und einem imperativischen Konjunktiv mit futurischer Bedeutung, V. 26); offenbar wird unterstellt, alle diese Unheilsdrohungen würden irgendwann Wirklichkeit werden – „Dann sinkst du in die ewge Nacht zurück“ (V. 31; das Präsens „sinkst zurück“ muss dann als Teil der Unheilsbotschaft futurische Bedeutung haben). Hier kommt der Sprecher mit seinen Zeitvorstellungen durcheinander: „Dann“ kann ja wohl nur den Tod bezeichnen, von dem erneut V. 34 f. die Rede ist; vorher jedoch, zwischen „Dann“ und dem Todesblick, liegen noch der Blick auf das Elend (richtig „Elende“, da tausend, ein nicht üblicher Plural, hier des Metrums wegen verkürzt) und das schmerzhafte Gefühl des Daseins (V. 32 f.) – es sei denn, man denke sich das Ich so, dass es im Prozess des Sterbens (V. 31, aber das war doch schon vorher der Fall!?) das Elend sähe und das Dasein fühle, um dann gleich nach dem Sterben vom personifizierten Glück (des Nicht mehr Seins – oder doch des reinen Glücks?) begrüßt zu werden, „voll Mitleid“ (V. 35).

Im Brockhaus von 1809 gibt es keinen Melancholie-Artikel. Im Damen Conversations Lexikon von 1836 finden wir: „Melancholie, die Schwermuth oder der Trübsinn, ein einseitig, fieberloses, anhaltendes Delirium, welches durch Schwäche, Trauer, Betrübniß und niederdrückende Affecte unterhalten wird. Der Melancholische verbindet seine irrigen Ideen ganz gut, hält sie für wahr und schließt nach ihnen ganz richtig auf andere Dinge. (…)“ Im Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon steht 1839 ein größerer Artikel: „Melancholie, Trübsinn, Schwermuth wird die Art von Seelenstörung genannt, welche auf anhaltender und ausschließlicher Beschäftigung des Gemüths mit wirklich begründeten oder nur eingebildeten, Schmerz und Trauer erregenden Gegenständen beruht, sodaß für andere Eindrücke und Vorstellungen wenig oder gar keine Empfänglichkeit mehr sich zeigt, das Bewußtsein mehr oder weniger getrübt und Vernunft und Wille befangen und in ihren Äußerungen beeinträchtigt erscheinen. Abgesehen von dem Leiden der Seele verräth sich die Melancholie auch durch körperliche Merkmale und Zufälle, namentlich durch eine bleiche, gelbliche oder erdfahle Gesichtsfarbe, einen matten, trüben, unstäten oder auch stieren Blick, ungewöhnliche Trockenheit und Kühle der Haut, Magerkeit, Trägheit des Pulses, Mangel an Appetit, schlechte Verdauung, Mattigkeit, Beängstigungen und Krämpfe. (…)“

Tieck hat ein sprachlich ambitioniertes Gedicht geschrieben, das mehr vom Pathos des Leidens als von formaler Meisterschaft geprägt ist und die Nachtseite menschlicher Existenz durchmisst.

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6847.html (Ludwig Tieck)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Tieck (dito)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/lebensgeschichte-und-literarisches-schaffen-3 (dito)

https://de.wikipedia.org/wiki/Melancholie (Melancholie, dort auch Bilder)

https://www.deutschlandfunk.de/melancholie-als-unvermittelbares-leid-ich-weiss-nicht-was.1184.de.html?dram:article_id=432500 (Melancholie)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/von-melancholie-und-anderen-duesteren-gefuehlen.976.de.html?dram:article_id=401360 (dito)

https://www.textlog.de/1792.html (Wb Kirchner; Melancholie, 1907)

https://gedichte.xbib.de/_Melancholie_gedicht.htm Melancholie-Gedichte

https://gedichte.xbib.de/Melancholie_gedichte_recherche.htm (dito)

https://abi.unicum.de/abitur/abitur-lernen/romantik-epoche (Romantik)

Nachträglich stelle ich fest, dass Franz Loquai eine gelehrte Analyse des Gedichts geschrieben hat (Lovells Leiden und die Poesie der Melancholie, in: Gedichte und Interpretationen, Band 3: Klassik und Romantik. Hrsg. von Wulf Segebrecht. Reclam 1984 = 1998, S. 100 ff.): „Lovell interpretiert in diesem Gedicht seine Geburt im Gestus der Rückschau so, daß sie als sein ganzes Leben prägend erscheint, um seine Empfindungslage in der Gegenwart als schicksalhaft determiniert erklären zu können.“ (S. 101) Die Strophen 5 und 6 seien kontrapunktisch auf die Strophen 3 und 4 bezogen (S. 103). „Dem Gedicht liegt eine zyklische, kontrapunktisch verfahrende Strukturierung zugrunde (Eröffnung, Variation und Abschluß des Themas). Die Grobstruktur wird im kleinen wiederholt, in Varianten, Spiegelungen und Rückbezügen. Viele Begriffe und Bilder kommen unverändert oder variiert zweimal vor (z.B. ‚grausam‘. ‚bleich‘ usw.; ‚wüst‘/‚öde‘, ‚schwarz/‚dunkel‘ usw.).“ (S. 104). Ab S. 104 wird die Stellung des Gedichts im Roman ausführlich gewürdigt, ab S. 108 in der Dichtung Tiecks. – Loquai weist auch noch auf Schillers „Melancholie an Laura“ und Karl Philipp Moritz‘ „Die Melancholie“ (im „Anton Reiser“) hin und nennt zum Schluss viele Werke der Sekundärliteratur. [Schillers Gedicht mit seinen über 100 Versen findet man leicht im Netz. Moritz‘ „Die Melancholie“ muss man am besten mit dem Gedichtanfang suchen: „Dir, Freund, will ich mein Leiden klagen“, da findet man den ganzen Text stückweise; später hat der Erzähler die erste Strophe umgedichtet: „Der Seele Leiden will ich klagen“.]

Ludwig Tieck: Seid mir gegrüßt – Text und Analyse

Tieck: Seid mir gegrüßt…

Seid mir gegrüßt, ihr frohen goldnen Jahre,

Sosehr ihr auch mein Herz mit Wehmut füllt!

Ach! damals! damals! – immer strebt mein Geist zurück

In jenes schöne Land, das einst die Heimat war.

Das goldne, tiefgesenkte Abendrot,

Des Mondes zarter Schimmer, der Gesang

Der Nachtigallen, jede Schönheit gab

Mir freundlich stillen Gruß, es labte sich

Mein Geist an allen wechselnden Gestalten

Und sah im Spiegel frischer Phantasie

Die Schönheit schöner: Willig fand die Anmut

Zum Ungeheuren sich, und alles band sich stets

In reine Harmonie zusammen. – Doch

Entschwunden ist die Zeit, das ehrne Alter

Des Mannes trat in alle seine Rechte.

Mich kennt kein zartes, kindliches Gefühl,

Zerrissen alle Harmonie, das Chaos

Verwirrter Zweifel streckt sich vor mir aus.

Von jäher Felsenspitze schau ich schwindelnd

In schwarze, wüste, wildzerrißne Klüfte.

Ein wilder Reigen dreht sich gräßlich unten,

Ein freches Hohngelächter schallt herauf,

Und bleiche Fackeln zittern hin und her.

Dämonen, fürchterliche Larven feiern

Mit raschem Schwung ein nächtlich Lustgelage.

Wer ist der schwarze Riese unter ihnen? –

Er nennt sich Tod und streckt den bleichen Arm

Nach mir herauf! – Hinweg du Gräßlicher! –

Was rührt sich in den Bäumen? – Ist‘s mein Vater?

Er will zu mir! er kömmt mit Rosalinen

Und langsam geht Pietro hinter ihm,

Auch Willys Kopf streckt sich aus feuchtem Grabe! –

Hinweg! – ich kenn euch nicht! – zur Höll hinab!! –

Doch laut und immer lauter rauscht die Waldung,

Es braust das Meer und schilt mit allen Wogen –

Und in mir klopft ein ängstlich feiges Herz. –

Ihr alle richtet mich? verdammt mich alle? –

Du selbst bist gegen dich? – O Tor, laß ja

Den Geist in dir, den frechen Dämon nie

Gebändigt werden! Laß das Schicksal zürnen,

Laß Lieb und Freundschaft zu Verrätern werden,

Laß alles treulos von dir fallen: ha! was kümmern

Dich Luftgestalten? – sei dir selbst genug!

Das Gedicht steht in einem Brief William Lovells an Rosa in Tiecks Briefroman „Geschichte des Herrn William Lovell“ (1795/96, später überarbeitet). William hat auf seiner Bildungsreise den Italiener Rosa und durch diesen Rosaline kennengelernt, die er verführt. Sie erkennt, dass William am Tode ihres Bräutigams Pietro, eines Räubers, schuld ist, und geht in den Tiber. William erfährt über seinen Freund Eduard Burton vom Tode des Vaters; immer stärkt bedrückt ihn Melancholie. – In einem Brief an Rosa (Neuntes Buch, 27.) berichtet er, wie er erneut von Räubern überfallen wurde und sich ihnen anschloss. Als er den Brief schreibt, ist er allein, hat Sehnsucht nach seinen Freunden, möchte Rosaline und den Vater wiedersehen. Er teilt Rosa ein altes Gedicht mit, von dem er sich jedoch distanziert, und schreibt dann „Seid mir gegrüßt…“ auf. Er kommentiert das Gedicht danach kurz: „Was meinen Sie? – Wenn ich über mich selbst ein Trauerspiel machte, müßte sich da diese Tirade nicht am Schlusse des vierten Akts ganz gut ausnehmen?“

Das Gedicht ist die Meditation eines jungen Mannes, William Lovell, der innehält und im Selbstgespräch über sich und seine Lage nachdenkt. Er beginnt mit einem Gruß an die vergangenen Jahre der Kindheit, „ihr frohen goldnen Jahre“ (V. 1, vgl. „damals“, V. 3, und „einst“, V. 4), in denen er Schönes erlebte (V. 4, V. 7 ff.); sie waren dadurch gekennzeichnet, dass „die Anmut“ sich mit dem „Ungeheuren“ verband „[i]n reine Harmonie“ (V. 13).

Das adversative „Doch“ (V. 13) markiert den Umschwung von der Kindheit zum Mannesalter (das ehrne = eherne, eiserne Alter des Mannes, V. 14 f.), wo der Sprecher aus der reinen Harmonie der Kindheit in „das Chaos“ des Lebens (V. 17) geriet, wo verwirrte Zweifel ihn befielen und Dämonen ihn bedrängten (V. 17 ff.) – dies ist seine gegenwärtige Situation, die er im Präsens beschreibt (ab V. 16). Er beschreibt sie aber nicht in der Ich-Form (Ich erlebe dies…; Ausnahme V. 19), sondern so, als ob Gestalten ihn verließen oder bedrängten („Mich kennt kein zartes, kindliches Gefühl“, V. 16) und ein Reigen von Dämonen ihn umgäbe (V. 19 ff.). Mit Fragen wendet er sich an die trüben Gestalten, wer sie seien (V. 26 ff.); es sind der Tod und die Toten, die an seinem Lebensweg zurückgeblieben sind (bis V. 32). Der Gedankenstrich hinter V. 32 signalisiert, dass er nachdenkt, dass er den Anblick der Gestalten auf sich wirken lässt.

Auf diese Schreckgestalten reagiert er dann zwiefach: Zunächst will er sie abwehren („Hinweg!“, V. 33); doch ihr Lärmen bedroht ihn weiter (V. 34 f.). Der Gedankenstrich hinter V. 36 markiert einen neuen Einschnitt: Er stellt sich mit drei Fragen (V. 37 f.) gegen die bedrängenden Gestalten, er wehrt sich gegen den Ansturm der Gespenster. Dabei ist die dritte Frage die entscheidende: „Du selbst bist gegen dich?“ (V. 38) Diese Frage weist die bedrohlichen Gestalten als einen Teil seines Inneren (statt Waldung, Meer, Wogen, V. 34 f.) aus; indem er die Gespenster heimholt, kann er ihrer Herr werden – was er nach einer erneuten Besinnung (Gedankenstrich, V. 38) erkennt: „O Tor“. Mit vierfachem „Laß“ ermannt er sich, diesen Schreckgestalten Raum zu lassen, da er sie nicht vertreiben kann: den Dämon, das Schicksal, die Untreue – er degradiert sie zu bloßen „Luftgestalten“ (V. 43), von denen er sich abwendet, die er von sich abfallen oder abprallen lässt (V. 42), und ermannt sich: „ – sei dir selbst genug!“ (V. 43)

Der Sprecher trägt seine Gedanken und Gefühle in reimlosen Jamben vor (5 Hebungen pro Vers, manchmal mit einer weiblichen Kadenz ausklingend; nur in V. 12 stehen 6 Takte). Solches Sprechen ist geeignet, der gehetzten Seele Ausdruck zu geben und sich Luft zu verschaffen. Dass Gedichte in Romane integriert sind, ist typisch für die Romantik; bekannt dafür ist Eichendorffs „Taugenichts“. – Wenn William älter geworden ist, müsste er erkennen, dass auch die Luftgestalten zu ihm selbst gehören und dass er sich mit ihnen versöhnen muss, um Ruhe zu finden. In einem anderen Gedicht Tiecks („So wandelt sie, im ewig gleichen Kreise“, in: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst, 1799) wird zunächst der Gleichklang der fortschreitenden Zeit beschrieben. Zum Schluss heißt es:

„Von außen nichts sich je erneut,

In Dir trägst du die wechselnde Zeit,

In Dir nur Glück und Begebenheit.“ (V. 12-14)

Mit dem anschließenden Kommentar („Tirade“, s.o.) distanziert er sich halb ironisch von seinem eigenen Gedicht, aber das braucht uns jetzt nicht mehr zu interessieren: Wir lesen das Gedicht als Äußerung eines jungen Mannes, der von Zweifeln befallen ist, aber sich ermannt, den eigenen Weg zu gehen. In diesem Rückgang auf sich selbst steht er in einer großen Tradition, die letztlich von der Stoa bestimmt ist. Ich nenne einige weitere Beispiele deutscher Dichtung für diese Rückbesinnung auf sich selbst, wenn auch in jeweils verschiedenen Situationen:

Paul Fleming: An sich

Lessing: Ich

Storm: Für meine Söhne

Wie gesagt, die Toten bleiben am Rand des eigenen Weges liegen – andernfalls betrügt man sich selbst und konstruiert sich einen idealen Weg, den es in Wahrheit nie gegeben hat. Das scheint auch William am Ende seines Lebens gesehen zu haben, wie ich dem in der Wikipedia beschriebenen Inhalt entnehme: „William verspielt in Paris sein neues Vermögen, geht nach Italien zurück und sinkt zum Räuber und sodann zum Bettler herab. Er sehnt den Tod herbei. Zufällig kommt er wieder zu Geld. Karl Wilmont stellt William Lovell in Neapel und fordert ihn zum Duell. William lässt sich erschießen, nachdem er die eigene Brust mit einer Malve aus Rosalines Garten markiert hat.“

https://de.wikipedia.org/wiki/William_Lovell (der Roman)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Tieck,+Ludwig/Romane/Geschichte+des+Herrn+William+Lovell/Neuntes+Buch/27.+William+Lovell+an+Rosa (Text des Romans)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6847.html (Ludwig Tieck)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Tieck (dito)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/lebensgeschichte-und-literarisches-schaffen-3 (dito)

https://abi.unicum.de/abitur/abitur-lernen/romantik-epoche (Romantik)

https://www.schreiben.net/artikel/romantik-epoche-3771/ (Romantik)

Novalis: Fern in Osten wird es helle – Text und Analyse

Novalis: Geistliche Lieder, 2.

Fern in Osten wird es helle,
Graue Zeiten werden jung;
Aus der lichten Farbenquelle
Einen langen tiefen Trunk!
Alter Sehnsucht heilige Gewährung,
Süße Lieb‘ in göttlicher Verklärung.

Endlich kommt zur Erde nieder
Aller Himmel sel’ges Kind,
Schaffend im Gesang weht wieder
Um die Erde Lebenswind,
Weht zu neuen ewig lichten Flammen
Längst verstiebte Funken hier zusammen.

Ueberall entspringt aus Grüften
Neues Leben, neues Blut,
Ew’gen Frieden uns zu stiften,
Taucht er in die Lebensfluth;
Steht mit vollen Händen in der Mitte
Liebevoll gewärtig jeder Bitte.

Lasse seine milden Blicke
Tief in deine Seele gehn,
Und von seinem ewgen Glücke
Sollst du dich ergriffen sehn.
Alle Herzen, Geister und die Sinnen
Werden einen neuen Tanz beginnen.

Greife dreist nach seinen Händen,
Präge dir sein Antlitz ein,
Mußt dich immer nach ihm wenden,
Blüthe nach dem Sonnenschein;
Wirst du nur das ganze Herz ihm zeigen,
Bleibt er wie ein treues Weib dir eigen.

Unser ist sie nun geworden,
Gottheit, die uns oft erschreckt,
Hat im Süden und im Norden
Himmelskeime rasch geweckt,
Und so laßt im vollen Gottesgarten
Treu uns jede Knosp‘ und Blüthe warten.

Mit den Geistlichen Liedern Novalis‘ (1799/1800 entstanden) haben wir ein Zeugnis dafür, dass sich viele Romantiker wieder dem Christentum zuwandten, nachdem Schiller noch „Die Götter Griechenlands“ gepriesen hatte. Im zweiten der Geistlichen Lieder wird die Ankunft des göttlichen Kindes, Jesus Christus, gepriesen. (Zum Vergleich könnte man die fünfte „Hymne an die Nacht“ heranziehen!) Zunächst tritt der Sprecher hinter dem Blick auf dieses Ereignis ganz zurück (Str. 1 – 3); er steht sozusagen als Betrachter außerhalb der Zeit und beschreibt enthusiastisch die lange erwartete Ankunft des Erlösers und das von ihm erwirkte Heil. Dann fordert er vom neuen Standpunkt „nach Christi Geburt“ mehrfach ein nicht näher bestimmtes Du auf, sich diesem Kind und seinem Segen anzuvertrauen (Str. 4 – 5). In der letzten Strophe blickt er in der Gemeinschaft der Christ-Gläubigen auf das beschriebene Heilsereignis zurück und fordert diese Gemeinschaft („uns“, V. 36) auf, am göttlichen Segenswerk mitzuwirken.

Die sechs Strophen bestehen jeweils aus sechs Versen; die ersten vier sind aus vier Trochäen gebildet, die im Kreuzreim verbunden sind. Dabei fehlen dem zweiten und vierten Vers jeweils ein Silbe (männliche Kadenz), was eine kleine Pause im Sprechen erfordert, zumal da je zwei Verse eine semantische Einheit bilden und der Reim des vierten Verses die Erinnerung an den zweiten Vers aufruft und so ebenfalls zur Ruhe einlädt. Die Verse 5 und 6 einer Strophe bestehen aus fünfvollständigen Trochäen und sind im Paarreim verbunden; in der Abgrenzung von den ersten vier Versen wirken sie getragener, ruhiger; oft bilden sie einen einzigen Satz (Str. 2, 3, 4, 6; Aufzählung in Str. 1, Neben- und Hauptsatz in Str. 5); infolgedessen kann man von den Paarreimen semantisch nichts erwarten – aber auch die Reime der Verse 2 / 4 lassen nur in Strophe 2 und 4 einen semantischen Zusammenhang aufscheinen (Ankunft / Folgen in Str. 2; Forderung, sich zu öffnen / verheißene Folgen, Str. 4). Die Reime in den Versen 5 und 6 passen semantisch besser zusammen (v.a. Str. 1, 2, 5, 6).

Novalis stammte aus einer pietistischen Familie und war auch persönlich fromm. Wenn sein Sprecher in diesem Gedicht die Weltwende verherrlicht, welche durch die Ankunft des göttlichen Kindes bewirkt wird (Präsens: „Endlich kommt zur Erde nieder / Aller Himmel sel‘ges Kind“, V. 7 f.), so ist der Dichter doch längst ein Glaubender; er müsste also davon sprechen, wie das Kind kam und was es bewirkte (Präteritum). Das ist so ähnlich, wie wenn im Advent die Christen singen: „Tauet, Himmel, den Gerechten…“; dabei „wissen“ sie doch längst, dass der Gerechte da war/ist und dass man sein Ankunft höchstens feiern, nicht aber erwarten kann. Will sagen: Der Sprecher erlebt die Ankunft des göttlichen Kindes nicht real, sondern nur in seiner von christlicher Apologetik geprägten Vorstellung – entsprechend sind die prädikativen Kontraste (vorher / nachher) der christlichen Predigt entlehnt:

dunkel – lichte Flammen

grau – lichte Farben

Sehnsucht – Gewährung, Liebe

……………….. – Gesang

Grüfte – neues Leben, Lebenswind

………………. – Frieden

………………. – volle Hände (Str. 1 – 3).

Man sieht, dass die Kontrastierung nicht streng durchgeführt worden ist.

In den beiden folgenden Strophen spricht das erlöste Ich ein (jedes) Du an und fordert es auf, sich auf den Erlöser einzulassen (Imperative, verbunden mit Verheißungen des wahren Glücks): „Lasse seine milden Blicke …, Greife dreist nach seinen Händen, Präge dir sein Antlitz ein …“ Bei den Verheißungen sind das ewige Glück (V. 21) und die Treue des Erlösers (V. 29 f.) konventionelle Formeln; originell ist dagegen: „Alle Herzen, Geister und die Sinnen / Werden einen neuen Tanz beginnen.“ (V. 23 f.) Dass das Erstarrte ins Tanzen gerät, bleibt aber homiletische Verheißung, ist nicht durch Erfahrung oder Beispiele untermauert.

Der Aufruf, am Erlösungswerk gemeinsam mitzuwirken (Str. 6), arbeitet mit dem Bild von den bereits gesäten Keimen, die im Gottesgarten Knospen und Blüten treiben und der Wärter bedürfen, die sie pflegen.

Novalis legt ein Gedicht vor, das vom Ton pietistischer Prediger bestimmt ist; die christlichen Kirchen waren um 1800 weithin erstarrt, und ob die pietistisch Erweckten einen neuen Tanz begonnen haben, darf man bezweifeln – im Gedicht werden Hoffnungen eines Christen ausgedrückt, die jedoch so klingen, als würde die erlebte Wirklichkeit beschrieben. Es ist die Wirklichkeit einer einzelnen Seele, die im 6. Geistlichen Lied so spricht:

Ich habe dich empfunden,

O! lasse nicht von mir;

Laß innig mich verbunden

Auf ewig seyn mit dir.

https://de.wikipedia.org/wiki/Novalis

https://www.deutschlandfunk.de/novalis-die-romantisierung-der-welt.886.de.html?dram:article_id=295453 (Novalis)

https://www.eh-tabor.de/de/was-ist-pietismus (Pietismus)

http://www.mennlex.de/doku.php?id=top:pietismus (dito, ausführlich)

https://de.wikipedia.org/wiki/Pietismus (dito)

Novalis: Der Himmel war umzogen – Text und Analyse

Novalis: Der Himmel war umzogen (1799/1800)

Der Himmel war umzogen,
Es war so trüb und schwül,
Heiß kam der Wind geflogen
Und trieb sein seltsam Spiel.

Ich schlich in tiefem Sinnen,
Von stillem Gram verzehrt –
Was sollt ich nun beginnen?
Mein Wunsch blieb unerhört.

Wenn Menschen könnten leben
Wie kleine Vögelein,
So wollt ich zu ihr schweben
Und fröhlich mit ihr sein.

Wär hier nichts mehr zu finden,
Wär Feld und Staude leer,
So flögen, gleich den Winden
Wir übers dunkle Meer.

Wir blieben bei dem Lenze
Und von dem Winter weit
Wir hätten Frücht und Kränze
Und immer gute Zeit.

Die Myrte sproßt im Tritte
Der Wohlfahrt leicht hervor
Doch um des Elends Hütte
Schießt Unkraut nur empor.

Mir war so bang zumute
Da sprang ein Kind heran,
Schwang fröhlich eine Rute
Und sah mich freundlich an.

Warum mußt du dich grämen?
O! weine doch nicht so,
Kannst meine Gerte nehmen,
Dann wirst du wieder froh.

Ich nahm sie und es hüpfte
Mit Freuden wieder fort
Und stille Rührung knüpfte
Sich an des Kindes Wort.

Wie ich so bei mir dachte,
Was soll die Rute dir?
Schwankt aus den Büschen sachte
Ein grüner Glanz zu mir.

Die Königin der Schlangen
Schlich durch die Dämmerung.
Sie schien gleich goldnen Spangen,
In wunderbarem Prunk.

Ihr Krönchen sah ich funkeln
Mit bunten Strahlen weit,
Und alles war im Dunkeln
Mit grünem Gold bestreut.

Ich nahte mich ihr leise
Und traf sie mit dem Zweig,
So wunderbarerweise
Ward ich unsäglich reich.

Eine nicht greifbare, jedoch offenbar männliche Person („zu ihr schweben“, Str. 3) erzählt in der Ich-Form vor ungenannten Zuhörern, wie sie aus einer gedrückten Stimmung erlöst und beglückt wurde. Die Sprache und die Form des Gedichts sind einfach: in 13 Strophen jeweils vier Verse, im Kreuzreim verbunden, wobei oft zwei Verse eine semantische Einheit bilden (z.B. Str. 1 Himmel / Wind; Str. 2 Bericht / Frage; Str. 3 Wenn / Dann; usw.). Die reimenden Verse 2 / 4 einer Strophe stehen manchmal in einem sinnvollen Zusammenhang (z.B. von Gram verzehrt / Wunsch nicht erhört, Str. 2; hier / dort, Str. 4; Wohlfahrt / Elend, Str. 6; u.ö.).

Aufbau des Gedichts: Es beginnt mit einem Bericht von der betrüblichen Situation des Ichs (Str. 1 f.), wobei dem trüben Wetter (1) die Lage des Ichs entspricht (2). Das Adjektiv (Partizip) „umzogen“ (1) bedeutet so viel wie bedeckt. Der in (2) genannte Wunsch wird in (3) – (5) wiedergegeben (im Konjunktiv II, also irreal): Er möchte mit „ihr“ zusammen sein und eine gute Zeit verleben. (6) ist eine Art Lebensweisheit (im Präsens: So ist es immer!): Konfrontiert werden die Lage im Wohlergehen und im „Elend“, beide metaphorisch umschrieben (Tritt der Wohlfahrt, Hütte des Elends); zu ihnen gehören die Myrte (Wohlfahrt) und das Unkraut (Elend) als symbolträchtige Pflanzen. „Im alten Griechenland war die Myrte der Göttin Aphrodite geweiht, der Göttin der Liebe und Schönheit. Myrtenzweige gelten als Symbol für Jungfräulichkeit, Lebenskraft und viele gesunde Kinder, aber auch der über den Tod hinausgehenden Liebe.“ (Wikipedia) Durch die Myrte ist also die Liebe dem Wohlergehen zugeordnet.

Ab (7) berichtet das Ich dann, wie sich seine Situation verändert, d.h. in zwei Stufen verbessert hat: Zuerst begegnete ihm ein Kind (7) – (9), dann traf es auf die Schlangenkönigin (10-13). Zur Bedeutung des Kindes: „C.G. Jung, der Zürcher Arzt und Tiefenpsychologe, (…) versteht den Weg der Selbstverwirklichung als einen der Begegnung mit dem göttlichen inneren Seelen-Kern und die Unterordnung unter ihn. Er nannte ihn das Selbst und den daraus sich anordnenden Prozess: Individuationsprozess. Der Seelen-Kern erscheint individuell in unseren Träumen als ein göttliches Kind mit ganz besonderenEigenschaften. In jedem Erwachsenen steckt nämlich ein ewiges Kind, ein immer noch Werdendes, nie Fertiges, das unserer steten Achtsamkeit bedarf. (…) Der Weg wird angeordnet durch das Selbst im Symbol des göttlichen Kindes, das durch eine besondere Geburt und aussergewöhnliche Eigenschaften in unseren Träumen erscheint. Diese bewusste Begegnung mit einem inneren Du ermöglicht uns die Erfahrung, Vertrauende zu sein und zu werden.“ (Ute Karin Höllrigl, http://www.zentrum-spiritualitaet.ch/start/images/2018.01.17.A5ds.pdf) Statt ausschließlich auf das göttliche Kind zu rekurrieren (allerdings wird im zweiten der Geistlichen Lieder Jesus als das göttliche Kind gepriesen!) ist es vermutlich angebracht, ebenfalls die Neuentdeckung des Kindes in der Romantik zu beachten: „Das Kindheitsbild der Romantik speist sich aus Ideen Rousseaus: Das Kind sei der bessere Mensch, ein Wesen, das im moralischen Sinne von sich aus gut ist. Das Kind lebt – laut Rousseau – in einem arkadischen Paradies und ist frei von den Deformationen der Welt der Erwachsenen.“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-zweiten-mal-ein-kind-die-entdeckung-der-kindheit-in-der.3780.de.html?dram:article_id=463568) Die Worte des Kindes an das Ich stehen in (8); es kündet eine Wende an, „[d]ann wirst du wieder froh“. Eine erste Wirkung der Worte ist die stille Rührung des Ichs (9), ohne dass es verstände, wozu es vom Kind eine Rute bekommen hat (8 und 10).

Darauf sah das Ich einen grünen Glanz (Ende 10), ein Zeichen für den endgültigen Umschwung: Der Glanz kam von der Schlangenkönigin, deren Krönchen funkelte (11 und 12); ihr Scheinen, ihr wunderbarer Glanz, das Goldene weisen sie als Wesen des göttlichen Bereichs aus. Das Ich näherte sich der Schlange und berührte sie mit seiner Rute („Zweig“), „So wunderbarerweise / Ward ich unsäglich reich.“ (13) Leider bleibt offen, worin der von der Schlangenkönigin gewährte Reichtum besteht – vielleicht ist er auch (weil göttlich) so überaus groß, dass man ihn nicht beschreiben kann.

Das Tier, hier die Schlange ist im Märchen eine große Helferfigur, welche außer- oder übermenschliche Hilfe gewährt. Auch in „Der goldene Topf“ erfolgt am Schluss eine Begegnung mit der Schlangenkönigin (s. letzter Link); der Rückgriff auf ein Märchenmotiv ist typisch für die romantische Dichtung.

https://de.wikipedia.org/wiki/Novalis

https://www.deutschlandfunk.de/novalis-die-romantisierung-der-welt.886.de.html?dram:article_id=295453 (Novalis)

https://www.symbolonline.de/index.php?title=Kind,_g%C3%B6ttliches (Symbol: das göttliche Kind)

https://de.wikipedia.org/wiki/Romantische_Anthropologie (sehr knapp)

https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/6340/schmaus.pdf?sequence=1 (Die romantische Idee des Kindes)

https://sgipt.org/galerie/tier/schlang/schl_kult.htm (Schlange: Symbol)

https://www.symbolonline.de/index.php?title=Schlange (dito)

https://www.planet-wissen.de/natur/reptilien_und_amphibien/schlangen/pwieschlangenmystikschlangenhabenvielegesichter100.html (dito)

https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/schlange-1/ch/999994afe4902dbe51e469939be5cc03/ (dito)

http://www.maerchenatlas.de/miszellaneen/marchenfiguren/die-schlange-im-maerchen/ (Schlange im Märchen)

Lessing: Anakreontik

Lessing: Antwort eines trunknen Dichters

Ein trunkner Dichter leerte
Sein Glas auf jeden Zug;
Ihn warnte sein Gefährte:
Hör‘ auf! du hast genug.

Bereit vom Stuhl zu sinken,
Sprach der: Du bist nicht klug;
Zu viel kann man wohl trinken,
Doch nie trinkt man genug.

Das ist ein schönes Preislied auf das Trinken und damit ein Beispiel für eines der großen Themen der Anakreontik: das Lob des Weines; die erste Fassung des Gedichts stand unter der Überschrift „Die Antwort des trunkenen Dichters“. Eine andere witzige Gestaltung des gleichen Themas ist „Das Erdbeben“:

Das Erdbeben

Bruder, Bruder, halte mich!
Warum kann ich denn nicht stehen?
Warum kannst du denn nicht gehen?
Bruder geh, ich führe dich.

Sachte Bruder, stolperst du?
Was? Du fällst mir gar zur Erden?
Halt! ich muß dein Retter werden.
Nu? Ich falle selbst dazu?

Sieh doch Bruder! Siehst du nicht,
Wie die lockern Wände schwanken?
Sieh, wie Tisch und Flasche wanken!
Greif doch zu! das Glas zerbricht!

Himmel, bald, bald werden wir
Nicht mehr trinken, nicht mehr leben!
Fühlst du nicht? des Grunds Erbeben
Droht es Bruder mir und dir.

Limas Schicksal bricht herein!
Bruder, Bruder, wenn wir sterben,
Soll der Wein auch mit verderben?
Der auf heut bestimmte Wein?

Nein, die Sünde wag ich nicht.
Bruder, wolltest du sie wagen?
Nein, in letzten Lebenstagen
Tut man gerne seine Pflicht.

Sieh, dort sinket schon ein Haus!
Und hier auch! Nun muß man eilen!
Laß uns noch die Flasche teilen!
Hurtig! Hurtig! trink doch aus!

Limas Schicksal war ein Erdbeben, das 1746 die Stadt zerstörte.

Das andere große Thema in Lessings anakreontischer Frühzeit ist das Küssen; dieses Thema behandelt Lessing eher in den traditionellen Formen. Es gibt mindestens zwei Gedichte unter der Überschrift „Die Küsse“. Eines davon ist:

Die Küsse

Der Neid, o Kind,
Zählt unsre Küsse:
Drum küß‘ geschwind
Ein Tausend Küsse;
Geschwind du mich,
Geschwind ich dich!
Geschwind, geschwind,
O Laura, küsse
Manch Tausend Küsse:
Damit er sich
Verzählen müsse.

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,%20Gotthold%20Ephraim/Gedichte/Lieder%20(Ausgabe%201771) (Lessing: Lieder)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anakreontik (Anakreontik)

https://wiki.zum.de/wiki/Anakreontik (dito)

http://www.wmelchior.com/archive/own/literatur/thesenpapiere/anakreontik.pdf (dito, von W. Melchior)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/anakreon (Anakreon – Anakreontik)

Lessing: Ich – Text und Analyse

G. E. Lessing: Ich

Die Ehre hat mich nie gesucht;
Sie hätte mich auch nie gefunden.
Wählt man, in zugezählten Stunden,
Ein prächtig Feierkleid zur Flucht?

Auch Schätze hab ich nie begehrt.
Was hilft es sie auf kurzen Wegen
Für Diebe mehr als sich zu hegen,
Wo man das wenigste verzehrt?

Wie lange währts, so bin ich hin,
Und einer Nachwelt untern Füßen?
Was braucht sie wen sie tritt zu wissen?
Weiß ich nur, wer ich bin.

Lessing hat dieses Sinngedicht am 11. Oktober 1752 in das Stammbuch eines seiner Wittenberger Universitätsbekannten geschrieben. Es wurde 1804 in den Obersächsischen Provinzialblättern veröffentlicht; heute steht es im Anhang der Lieder. Man kann es kaum wie andere frühe Gedichte unter „Anakreontik“ einordnen – es spielt zwischen altkluger Lebensweisheit und ruhiger Selbstbesinnung: ein eindrucksvolles Gedicht. Es greift in Kurzform die drei Aspekte auf, die Schopenhauer 1851 in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ reflektiert hat und für deren Formulierung er (offensichtlich zu Unrecht) den Primat beanspruchte: Was einer ist – Was einer hat – Was einer darstellt; bei Lessing werden sie in umgekehrter Reihenfolge bedacht.

Die drei Strophen stehen jede für sich und werden doch durch einen Grundgedanken zusammengehalten, eine Variation des barocken Vanitas-Motivs. Da steht also, dass wir nur zugezählte Stunden haben (V. 3), die uns zur Flucht bleiben, also eine kurze Zeit, um zu leben; da steht, dass uns nur kurze Wege zur Verfügung stehen (V. 6), um etwas zu genießen; da steht drittens, dass es nicht lange währt (dauert), bis wir begraben sind (V. 9 f.). Das ist also die Grundtatsache unseres Lebens: dass unsere Zeit sehr knapp bemessen ist. Von dieser Tatsache aus bedenkt das reflektierende Ich die drei Fragen, die verschiedene Wege zum Glück bezeichnen. Lessing war damals 23 Jahre alt – wie weit er sich mit dem sprechenden Ich identifiziert, muss offen bleiben.

Zunächst lehnt das Ich es ab, nach Ehre und Ansehen zu streben – hier in der originellen Formulierung, dass die (personifizierte) Ehre „mich nie gesucht“ hat (V. 1 – statt: Ich habe sie nicht gesucht), mit der noch originelleren Fortsetzung des Bildes: Sie hätte mich nicht gefunden (V. 2). Es folgt in einem Vergleich mittels einer rhetorischen Frage (V. 3 f.) die Begründung dafür, dass der Ich-Sprecher keine Ehre gesucht hat: Die Ehre gleicht einem prächtigen Feierkleid, das man angesichts der kurzen Zeit bis zur Flucht (übertragen: bis zum Tod) nicht anzieht, weil es bei der Flucht hinderlich ist und weil es einfach nicht lohnt, sich für die kurze Zeit besonders schön zu machen.

Der Sprecher spricht in gebundener Form: Vier Verse im Jambus mit vier Hebungen, die Verse im umfassenden Reim miteinander verbunden; die beiden Mittelverse haben eine Silbe zusätzlich (weibliche Kadenz) – man erwartet eine Fortsetzung, während die männliche Kadenz den Vers ziemlich hart abschließt. Durch den Aufbau der Strophe (zwei Verse Bericht, zwei Verse Begründung) kommen keine sinnvollen Reime zustanden; trotzdem klingt die Strophe auch aufgrund der Reime melodisch. In der Spitzenstellung ist „Wählt“ (V. 3) gegen den Takt betont; in allen anderen Versen ist solches nicht der Fall, nur die Fragewörter „Wie“ (V. 9) und „Was“ (V. 11) bekommen einen (unterschiedlich) kleinen Akzent, „Was“ stärker als „Wie“, welches eigentlich „Wie lange“ ist, mit dem Akzent auf a.

Ganz anders geht es in der zweiten Strophe zu: Der Bericht, dass das Ich keine Schätze begehrt hat, macht nur einen Vers aus (V. 5). Die Begründung umfasst dann drei Verse, wieder in einer rhetorischen Frage: dass man von den aufgehäuften Schätzen „das wenigste“ selbst verzehren könnte (V. 8), da die Wege kurz sind (V. 6), dass man also im Prinzip nur für potenzielle Diebe Schätze gesammelt hätte (V. 7). Hier sind die Reime sinnvoll: nicht begehrt / das wenigste selbst verzehrt (V. 5/8); auf kurzen Wegen / Schätze hegen (V. 6/7).

In der dritten Strophe geht es um die entscheidende Frage, wer ich bin. Das Ich beginnt mit zwei rhetorischen Fragen (V. 9-11), um kraftvoll mit der These zu schließen: [Es genügt,] wenn ich selber weiß, wer ich bin (V. 12). Die erste Frage greift noch einmal das Vanitas-Motiv auf und kann so primär zur Begründung des Verzichts auf Ehre und Schätze dienen (V. 9 f.). Mit dem Stichwort „Nachwelt“ wird dann aber doch zur These in V. 12 übergeleitet, indem das Desinteresse der Nachwelt, die auf dem später Toten bloß herumtrampelt (V. 10 f.), in einen Kontrast zu meinem Interesse an mir selber gestellt wird („ich“ betont, V. 12). Der Gedankenzusammenhang ist weithin nicht ausgesprochen, er stellt sich mir etwa so dar: Die Mitwelt hätte nur auf das geschaut, was ich habe (Schätze) und was ich darstelle (Ehre); die Nachwelt interessiert sich dafür nicht mehr, wenn ich begraben bin (V. 10) – aber ich selber, ich muss im Gegensatz zur Mitwelt jetzt wissen, wer ich bin, weil nur dieses für mich zählt – die kurze Zeit, die ich da bin; und wegen der Kürze der Zeit zählt nichts anderes, auch die Nachwelt nicht.

Der unsaubere Reim „untern Füßen / … zu wissen“ (V. 10/11) verbindet die Verse durch das Todesmotiv; die Verse 9/12 stehen im Verhältnis These (V. 12) – Begründung (V. 9) zueinander. Die zentrale These steht, wie gesagt, kraftvoll im letzten Vers und klingt so nach, wenn man das Gedicht gelesen hat.

Entfernt verwandt mit dem Gedicht „Ich“ ist „Der Sonderling“ aus den Liedern. Da bekennt der Ich-Sprecher, dass ihm im Gegensatz zu den anderen egal ist, ob ihm von den Mitmenschen attestiert wird, er sei kein Narr oder sei weise. In der letzten Strophe bekennt er:

Ein jeder, der mich kennt,
Spricht: Welcher Sonderling!
Nur diesem ists ein Ding,
Wie ihn die Welt auch nennt.

Dahinter steht unausgesprochen: Mir genügt es, wenn ich selber weiß, wer oder was ich bin – egal was die Leute sagen.

https://gedichte.xbib.de/Lessing_gedicht_Der+Sonderling.htm (Lessing: Der Sonderling)

In Tucholskys Gedicht „Das Ideal“ findet man am Schluss die bekannte Dreiheit wieder: „Etwas ist immer. / Tröste dich / Jedes Glück hat einen kleinen Stich. / Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. / Daß einer alles hat: / das ist selten.“

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,%20Gotthold%20Ephraim/Gedichte/Lieder%20(Ausgabe%201771) (Lessing: Lieder)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anakreontik (Anakreontik)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/anakreon (Anakreon – Anakreontik)

Lessing: An die Leier – Text und Analyse

G. E. Lessing: An die Leier (1753)

Töne, frohe Leier,
Töne Lust und Wein!
Töne, sanfte Leier,
Töne Liebe drein!

Wilde Krieger singen,
Haß und Rach und Blut
In die Laute singen,
Ist nicht Lust, ist Wut.

Zwar der Heldensänger
Sammelt Lorbeern ein;
Ihn verehrt man länger.
Lebt er länger? Nein.

Er vergräbt im Leben
Sich in Tiefsinn ein:
Um erst dann zu leben,
Wann er Staub wird sein.

Lobt sein göttlich Feuer,
Zeit und Afterzeit!
Und an meiner Leier
Lobt die Fröhlichkeit.

Dieses Gedicht Lessings eröffnet heute die Sammlung der „Lieder“, welche meistens älter als „An die Leier“ sind und deren erste Sammlung 1751 erschienen ist. Die Lieder sind Fingerübungen des jungen Lessing (Jahrgang 1729), der in seiner anakreontischen Jugendphase Liebe und Wein besingt – ganz dem neuen Ton der deutschen Dichtung entsprechend.

„An die Leier“ war auch die erste Ode Anakreons gerichtet; dort berichtet der Sänger, dass er Heldenlieder singen wollte, doch die Leier spielte ein Liebeslied: „Drum, Heroen, freut euch künftig / Nur mit uns, denn meine Leier / Weiß zu singen nur von Liebe.“ Lessings Sänger wendet sich unmittelbar an seine Leier und bittet sie oder fordert sie viermal auf, von Lust und Wein und Liebe zu tönen (V. 1-4). Die Attribute seiner Leier sind „froh“ und „sanft“ (V. 1, V. 3); damit stehen die Töne der Leier im Gegensatz zu den wilden Liedern der Krieger (V. 5-8). Der Sänger benennt die gegensätzlichen Motive der Musizierenden: Lust – Wut (V. 8). Die beiden ersten Strophen sind also als Kontraste miteinander verbunden. In der zweiten Strophe sollte man V. 5 als abgeschlossenen Satz lesen; die Infinitivkonstruktion in V. 6 f. ist das Subjekt des Satzes in V. 8.

Die fünf Strophen bestehen aus jeweils vier Versen im Trochäus mit jeweils drei Versfüßen, wobei die Verspaare zuerst eine weibliche, dann ein männliche Kadenz aufweisen; nach jedem zweiten Vers tritt also eine kleine Pause ein, die auch (bis auf die zweite Strophe) dem Ende eines Satzes entspricht. Die vier Verse sind im Kreuzreim verbunden. Als bedeutsame Reime der Verspaare kommen jeweils die Verse 2/4 einer Strophe in Betracht; in den Versen 1/3 sind dreimal die Reimwörter gleich. In der ersten Strophe sind die Verspaare streng parallel aufgebaut: Imperativ, Anrede an die Leier, Aufforderung an die Leier; im Reim von „Lust und Wein / Liebe drein“ (V. 2/4) sind die wichtigsten Themen der Lieder benannt. Diese Lieder sind ein literarisches Spiel; sie drücken nicht unbedingt das Lebensgefühl oder die persönliche Einstellung des Dichters aus. Die Lieder der Krieger werden nach ihren Themen und dem Antrieb der Sänger charakterisiert: Hass, Rache, Blut / nicht Lust, sondern Wut (V. 6/8).

In den beiden nächsten Strophen beschreibt und bewertet der Sänger den „Heldensänger“ (als Typus, nicht als Individuum), welcher im Gegensatz zu ihm Heldenepen vorträgt: In der dritten Strophe wird zunächst beschrieben, dass er für seine Lieder Ruhm erntet (V. 9-11); als entscheidendes Kriterium der Bewertung folgt dann die Frage, ob er länger lebt: Nein (V. 12). Damit ist gesagt, dass seine Gesänge im Wesentlichen ihm nichts einbringen. Das führt zum Kontrast von den vielen Lorbeeren und dem gleichwohl begrenzten Leben (V. 10/12). In der vierten Strophe wird die Lebensweise des Heldensängers untersucht, wobei die beiden Verspaare in einem eigenartigen Kontrast stehen: Das Leben des Heldensängers sei mühselig (er gräbt sich in Tiefsinn ein, V. 13 f.), er lebe erst richtig in seinem Ruhm, wenn er tot ist (V. 15 f., ein Paradox) – wovon er eigentlich also nichts hat, da er ja Staub ist – woraus sich als Folgerung ergibt: Lieber so leben und so singen, dass man sich des wirklichen Lebens jetzt erfreut. Die Inversion in V. 9 f. (Prädikat „Sammelt“ hinter dem Subjekt) ist dem Metrum geschuldet; das „Aber“ zu „Zwar“ bildet V. 12.

In der letzten Strophe wendet der Dichter sich an alle Hörer (und Leser) der Gegenwart und der Zukunft (Afterzeit, V. 18): Sie sollen den Heldensänger mit seinem göttlichen Feuer und ihn mit seiner Fröhlichkeit loben (zwei Imperative). Was wie eine Parallele aussieht, weist zugleich einen untergründigen Kontrast auf: Dem Heldensänger wird „sein göttlich Feuer“, seine Begeisterung zugebilligt, auch wenn das in V. 13 f. anders klang. Diese Aufforderung, ihn zu loben, hat einen ironischen Unterton; denn der Heldensänger hat ja nichts mehr von diesem Lob, weil er Staub ist. Der Sänger selber aber singt in Fröhlichkeit (V. 20), und auch dafür verdient man ein Lob.

Durch die Imperative sind die erste und die letzte Strophe miteinander verbunden: Die Aufforderung an die Leier und an das Publikum bilden den Rahmen, in dem die beiden Arten des Singens einander gegenübergestellt werden.

Als Parallele sei Lessings Gedicht „Für wen ich singe“ genannt. In den ersten sechs Strophen wird erklärt, für der Sänger nicht singt. Dann folgt:

Ich singe nur für euch, ihr Brüder,
Die ihr den Wein erhebt, wie ich.
Für euch, für euch sind meine Lieder.
Singt ihr sie nach: o Glück für mich!

Ich singe nur für meine Schöne,
O muntre Phyllis, nur für dich.
Für dich, für dich sind meine Töne.
Stehn sie dir an, so küsse mich.

https://de.wikipedia.org/wiki/Leier_(Zupfinstrument) (Leier, mit Bildern)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,%20Gotthold%20Ephraim/Gedichte/Lieder%20(Ausgabe%201771) (Lessing: Lieder)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anakreontik (Anakreontik)

https://wiki.zum.de/wiki/Anakreontik (dito)

http://www.wmelchior.com/archive/own/literatur/thesenpapiere/anakreontik.pdf (dito, von W. Melchior)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/anakreon (Anakreon – Anakreontik)

Zur Deutung der Anakreontik

Die Monotonie anakreontischer Oden entwirft das Bild eines hedonistischen Individuums:

– als symbolische Absage an jede Transzendenz

– „Wein und Liebe“ begründen allein Sinn und Gluck des menschlichen Lebens

– dabei wird implizit alles, was dem Menschen zur Erreichung seines Glückideals im Wege steht, kritisiert (moralische Einwände).

Dies geschieht indirekt durch Aufforderungen zu unbeschwertem Genuss und unreflektiertem Vergnügen. Mit der Anakreontik – wie auch der gesamten aufklärerischen Dichtung – ist ein gesellschaftliches Programm verknüpft, das seine Hauptstoßrichtung in der religionsgeschichtlichen Tradition von Literatur und Gesellschaft findet. Kritisiert wird:

1. die Morallehre der Orthodoxie und des Pietismus, die die Handlungen des weltlichen Genusses ächten und verbieten

2. der Begriff des schuldhaften Handelns und des Schuldgewissens

3. die christliche Vergeltungslehre in Verbindung mit ihrer Transzendenzlehre. Stattdessen wird mit provokatorischem Impetus ein weltimmanenter Glücksbegriff entworfen und zu einem Prinzip neuen gesellschaftlichen Handelns erhoben. (Wolfgang Melchior, s.o.)

Aufklärung: Lessings Sinngedichte

„Lessings Sinngedichte entstanden hauptsächlich in den Jahren 1751 und 1752 in Berlin und Wittenberg. Einzelne Gedichte wurden erstmals in der Berlinischen privilegirten Zeitung abgedruckt oder ab 1751 in Sammelwerke aufgenommen. 1771 erschien der Band G. E. Lessings Sinngedichte als Sonderabdruck aus G. E. Lessings vermischte Schriften. Erster Theil (ebenfalls 1771).“ Das steht als Einleitung vor der Auswahl der Sinngedichte bei Wikisource (s.u.).

Die Sinngedichte stehen zwischen Witz und Belehrung, sind Unterhaltung in der Zeit der Aufklärung. Um das zu demonstrieren, stelle ich eine kleine Auswahl vor:

26. Auf Frau Trix

Frau Trix besucht sehr oft den jungen Doktor Klette.

Argwohnet nichts! Ihr Mann liegt wirklich krank zu Bette.

Das ist schlichte Unterhaltung, wie sie auch heute geboten wird.

37. Auf den Sanktulus

Dem Alter nah, und schwach an Kräften,

Entschlägt sich Sanktulus der Welt

Und allen weltlichen Geschäften,

Von denen keins ihm mehr gefällt.

Die kleine trübe Neige Leben

Ist er in seinem Gott gemeint,

Der geistlichen Beschauung zu ergeben;

Ist weder Vater mehr, noch Bürger mehr, noch Freund.

Zwar sagt man, daß ein trauter Knecht

Des Abends durch die Hintertüre

Manch hübsches Mädchen zu ihm führe.

Doch, böse Welt, wie ungerecht!

Ihm so was übel auszulegen!

Auch das geschieht bloß der Beschauung wegen.

Hier wird mit zwei Wortspielen gearbeitet: Sanctulus ist der, der ein klein wenig heilig (sanctus) ist. Und Beschauung oder Betrachtung bedeutet beim ersten Mal die geistige Vertiefung ist die Geheimnisse der Religion, beim zweiten Mal spielt die wörtliche Bedeutung ironisch in die religiöse Bedeutung hinein.

65. Hänschen Schlau

»Es ist doch sonderbar bestellt«,

Sprach Hänschen Schlau zu Vetter Fritzen,

»Daß nur die Reichen in der Welt

Das meiste Geld besitzen.«

Hier wird die Definition des Reichen (analytisches Urteil) wie ein synthetisches Urteil bzw. wie eine erstaunliche Erfahrungstatsache eingeführt – ein kleiner Witz um eine schon bemerkenswerte Tatsache: dass nämlich nur wenige viel mehr als andere besitzen.

91. Auf einen gewissen Dichter

Ihn singen so viel mäß‘ge Dichter,

Ihn preisen so viel dunkle Richter,

Ihn ahmt so mancher Stümper nach,

Ihm nicht zum Ruhm, und sich zur Schmach.

Freund, dir die Wahrheit zu gestehen,

Ich bin zu dumm es einzusehen,

Wie sich für wahr Verdienst ein solcher Beifall schicket.

Doch so viel seh‘ ich ein,

Das Singen, das den Frosch im tiefen Schlamm entzücket,

Das Singen muß ein Quaken sein.

Lessing als Kunstrichter oder Kollege – sein Urteil geht wie eine Fabel in den Bildbereich der Tiere, um aus der Analogie zu verstehen, wie schwache Produkte große Anerkennung finden können; das Gedicht gilt auch heute noch.

102. Auf Dorinden

Sagt nicht, die ihr Dorinden kennt,

Daß sie aus Eitelkeit nur in die Kirchen rennt;

Daß sie nicht betet, und nicht höret,

Und andre nur im Beten störet.

Sie bat, (mein eignes Ohr ist Zeuge;

Denn ihre Schönheit geht allmählig auf die Neige)

Sie bat mit ernstlichen Gebärden:

»Laß unser Angesicht, Herr, nicht zu Schanden werden!«

Hier liegt wieder ein Wortspiel vor: Das Gebet Dorindens erinnert an Psalm 31: „HERR, bei dir habe ich mich geborgen. / Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit; rette mich in deiner Gerechtigkeit!“ (Ps. 31,2) Was im Psalm für die gefährdete Person erbeten wird, gilt bei Dorinden nur für die Schönheit des alternden Gesichts.

105. Auf einen gewissen Leichenredner

O Redner! dein Gesicht zieht jämmerliche Falten,

Indem dein Maul erbärmlich spricht.

Eh du mir sollst die Leichenrede halten,

Wahrhaftig, lieber sterb‘ ich nicht!

Der Witz liegt auf der Hand: als ob zu sterben im Belieben eines Menschen stände!

108. Auf Lorchen

Lorchen heißt noch eine Jungfer. Wisset, die ihrs noch nicht wißt:

So heißt Lucifer ein Engel, ob er gleich gefallen ist.

Wieder ein Wortspiel mit dem Partizip „gefallen“ in einem Vergleich („So“); den Jüngeren heute muss man wohl erklären, dass ein „gefallenes“ Mädchen seine sexuelle Unschuld verloren hatte, also nicht mehr Jungfrau war, was früher als Schande galt, wie man an Gretchen im „Faust“ sehen kann. Vermutlich muss man ihnen ebenfalls erklären, dass im biblischen Mythos der Engel Lucifer („Lichtträger“) sich gegen Gott empörte (also gefallen oder abgefallen war), von Michael im Kampf besiegt besiegt und aus dem Himmel in die Hölle gestürzt wurde, wo er dann als Teufel Dienst tat.

141. An einen Autor

Mit so bescheiden stolzem Wesen

Trägst du dein neustes Buch – welch ein Geschenk! – mir an.

Doch, wenn ichs nehme, grundgelehrter Mann,

Mit Gunst: muß ich es dann auch lesen?

Mit Gunst“ heißt so viel wie „mit Verlaub“. Hier spielt Lessing mit einer Differenz: dem Stolz eines Autors auf sein Werk und der Einschätzung dieses Werks durch einen damit Beschenkten. Um das kleine Gedicht würdigen zu können, muss man vielleicht schon einmal derart beschenkt worden sein.

144. Abschied an den Leser

Wenn du von allem dem, was diese Blätter füllt,

Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden:

So sei mir wenigstens für das verbunden,

Was ich zurück behielt.

Das ist ein würdiger Abschluss der Sinngedichte und ein ironisches Spiel mit der Drohung, noch viel schlechtere Gedichte dem undankbaren Leser präsentieren zu können.

Im Anhang der Sinngedichte finden sich noch ein paar schöne Exemplare:

Auf den Herrn M den Erfinder der Quadratur des Zirkels

Der mathematsche Theolog,
Der sich und andre nie betrog,
Saß zwischen zweimal zweien Wänden,
Mit archimedscher Düsternheit,
Und hatte – – welche Kleinigkeit!
Des Zirkels Vierung unter Händen.
Kühn schmäht er auf das x + z
(Denn was ist leichter als geschmäht?)
Als ihn der Hochmut sacht und sachte
Bei seinen Zahlen drehend machte.
So wie auf einem Fuß der Bube
Sich dreht, und dreht sich endlich dumm,
So ging die tetragonsche Stube,
Und Stuhl und Tisch mit ihm herum.
O Wunder, schrie er, o Natur!
Da hab ich sie, des Zirkels Quadratur.

Die Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal ist ein unlösbares mathematisches Problem, dessen „Lösung“ der Mathematiker hier am eigenen Leib erfährt, indem das quadratische Zimmer um ihn zu kreisen beginnt.

In ein Stammbuch, dessen Besitzer versicherte, daß sein Freund ohne Mängel und sein Mädchen ein Engel sei

Trau keinem Freunde sonder Mängel

Und lieb ein Mädchen, keinen Engel.

sonder“ heißt „ohne“.

In den Sinngedichten finden sich auch solche, die in der Tradition der Frauenschelte bzw. der Misogamie fallen – in einer von Männern dominierten literarischen Kultur muss man derartige Produkte insgesamt eher zu den Scherzen zählen, die es in ähnlicher Weise (als Spiel mit Klischees) auch heute als (vermeintlich) witzig vielfach gibt:

[Doppelter Nutzen einer Frau]

Zweimal taugt eine Frau – für die mich Gott bewahre! –

Einmal im Hochzeitsbett, und einmal auf der Bahre.

Diese Tendenz gab es auch schon in den Sinngedichten:

82. Das Mädchen

Zum Mädchen wünscht‘ ich mir – und wollt‘ es, ha! recht lieben –

Ein junges, nettes, tolles Ding,

Leicht zu erfreun, schwer zu betrüben,

Am Wuchse schlank, im Gange flink,

Von Aug‘ ein Falk,

Von Mien‘ ein Schalk;

Das fleißig, fleißig liest:

Weil alles, was es liest,

Sein einzig Buch – der Spiegel ist;

Das immer gaukelt, immer spricht,

Und spricht und spricht von tausend Sachen,

Versteht es gleich das Zehnte nicht

Von allen diesen tausend Sachen:

Genug, es spricht mit Lachen,

Und kann sehr reizend lachen.

Solch Mädchen wünscht‘ ich mir! – Du, Freund, magst deine Zeit

Nur immerhin bei schöner Sittsamkeit,

Nicht ohne seraphin‘sche Tränen,

Bei Tugend und Verstand vergähnen.

Solch einen Engel

Ohn‘ alle Mängel

Zum Mädchen haben:

Das hieß‘ ein Mädchen haben? –

Heißt eingesegnet sein, und Weib und Hausstand haben.

Die seraphin‘schen Tränen sind die Tränen der Engelsorte Seraphim, die zur Langeweile des tugendhaften Lebens passen. Die zweite Strophe muss man ab „Du“ als Antwort des Freundes auf den törichten Wunsch lesen. Nicht so eindeutig ist die Nr. 110:

110. Der spielsüchtige Deutsche

So äußerst war, nach Tacitus Bericht,

Der alte Deutsch‘ aufs Spiel erpicht,

Daß, wenn er ins Verlieren kam,

Er endlich keinen Anstand nahm,

Den letzten Schatz von allen Schätzen,

Sich selber, auf das Spiel zu setzen.

Wie unbegreiflich rasch! wie wild!

Ob dieses noch vom Deutschen gilt?

Vom deutschen Manne schwerlich. – Doch,

Vom deutschen Weibe gilt es noch.

Was genau ist damit gemeint, dass die deutsche Frau sich selber aufs Spiel setzt, wenn‘s ans Verlieren geht? Heißt es, dass sie wild entschlossen blind heiratet, ehe sie als alte Jungfer endet? Die Frauenschelte ist ein weites Feld, auf dem auch Legenden wie die von Aristoteles und Phyllis wachsen und das gesondert zu erforschen wäre.

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,+Gotthold+Ephraim/Gedichte/Sinngedichte+(Ausgabe+1771)

https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/sinnged/sinnged.html

https://de.wikisource.org/wiki/Sinngedichte (eine Auswahl)

https://literaturkritik.de/id/19300 (Frauenbild)

https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/963774 (Misogynie = Frauenschelte)