Geschichte von den zwei Träumern

Jorge Luis Borges: Geschichte von den zweien, die träumten (1935) (Adaption einer Erzählung aus 1001 Nacht)

Das Cuento handelt von einem Mann in Kairo namens Mohammed El Magrebí. Im Traum erscheint ihm ein Vermummter, der ihm sagt, sein Glück/Schicksal/Vermögen (span. „fortuna“) sei in Isfahan in Persien und er solle es suchen. Nach einer gefahrenreichen Reise wird er in Isfahan fälschlicherweise für einen Räuber gehalten und verprügelt. Der Hauptmann der Nachtwächter fragt ihn schließlich nach dem Grund seines Aufenthaltes. Als er vom Traum des Ägypters hört, lacht er ihn aus und erzählt einen eigenen Traum von einem Schatz unter einem Haus in Kairo. Der Mann kehrt zu seinem Haus zurück und findet den Schatz.(http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Historia_de_los_dos_que_so%C3%B1aron%22_(Jorge_Luis_Borges))

Geschichte von den beiden Träumern

Der arabische Geschichtsschreiber El Ixaqui berichtet diesen Vorfall: Von glaubwürdigen Menschen wird erzählt (aber Allah allein ist allwissend und allmächtig und erbarmungsvoll und schläft nicht), dass es in El Cairo einen Mann gab, der im Besitz von Reichtümern war, aber so großmütig gesinnt und so freigebig, dass er sie alle einbüßte, außer dem Haus seines Vaters, und dass er sich genötigt sah zu arbeiten, um sein Brot zu verdienen. Er arbeitete so hart, dass ihn eines Abends unter einem Feigenbaum in seinem Garten der Schlaf übermannte, und im Traum erblickte er einen vermummten Mann, der ein Goldstück aus seinem Munde zog und zu ihm sprach: „Dein Glück ist in Persien, in Isfahan, geh dorthin und suche es.“ Am folgenden Morgen machte er sich auf und unternahm die weite Reise und bot den Gefahren der Wüsten, der Schiffe, der Seeräuber, der Götzendiener und der Flüsse, der wilden Tiere und der Menschen die Stirn. Zuletzt gelangte er nach Isfahan. Jedoch im Bereich der Stadt überraschte ihn die Nacht, und er streckte sich zum Schlaf im Hof einer Moschee aus. Dicht bei der Moschee war ein Haus, und nach dem Ratschluss des Allmächtigen durchzog eine Räuberbande die Moschee und begab sich in das Haus, und die Leute, die darin schliefen, wachten bei dem Lärm der Räuber auf und schrien um Hilfe. Auch die Nachbarn schrien, bis der Hauptmann der Nachtwächter dieses Stadtviertels mit seinen Leuten herbeieilte und die Räuber über die Hofmauer der Moschee sprangen. Der Hauptmann ließ die Moschee durchsuchen, und in ihr stießen sie auf den Mann aus El Cairo und versetzten ihm mit Bambusstöcken so zahlreiche Schläge, dass er mehr tot als lebendig war. Nach zwei Tagen kam er im Gefängnis zur Besinnung. Der Hauptmann ließ ihn holen und sprach zu ihm: „Wer bist du, und welches ist deine Heimat?“ Der andere erklärte: „Ich bin aus der berühmten Stadt El Cairo und mein Name ist Mohammed el Magrebi.“ Der Hauptmann fragte ihn: „Was führte dich nach Persien?“ Der andere entschloss sich, die Wahrheit zu sagen, und sprach: „Ein Mann hieß mich im Traum nach Isfahan gehen, denn hier sei mein Glück. Nun bin ich in Isfahan und sehe ein, dass dieses Glück, das er mir verhieß, die Prügel gewesen sind, die ihr mir so freigebig gespendet habt.“ Als er diese Worte hörte, lachte der Hauptmann so, dass er seine Weisheitszähne entblößte; am Ende sagte er: „Törichter und leichtgläubiger Mann, schon dreimal habe ich von einem Haus in der Stadt El Cairo geträumt, hinter welchem ein Garten ist, und in dem Garten eine Sonnenuhr und hinter der Sonnenuhr ein Feigenbaum und hinter dem Feigenbaum ein Brunnen und am Fuße des Brunnens ein Schatz. Ich habe dieser Lüge nie den geringsten Glauben geschenkt; du jedoch, missgeborener Sohn einer Mauleselin und eines Dämons, bist von Stadt zu Stadt geirrt, einzig im Vertrauen auf deinen Traum. Lass dich in Isfahan nicht wieder blicken. Nimm diese Münzen und scher dich fort.“

Der Mann nahm die Münzen und kehrte in sein Vaterland zurück. Unter dem Brunnen in seinem Garten (es war der Garten aus dem Traum des Hauptmanns) grub er den Schatz aus. So erwies ihm Gott seinen Segen und belohnte und erhöhte ihn. Gott ist der Edelmütige, der Verborgene.

Jorge Luis Borges

(Etwas vereinfachte Version: https://www.learninginstitute.ch/pdfs/aufnahmepruefung-langgymnasium-zuerich-2015-deutsch-textblatt.pdf)

Die gleiche Geschichte, auf England bezogen, gibt es unter der Überschrift „Der Traum des Hausierers“ in „Schwänke aus aller Welt. Für Jung und Alt“ herausgegeben von Oskar Dähnhardt. Berlin/Leipzig 1908, S. 61 f. (https://archive.org/details/bub_gb_SUg9AAAAYAAJ/page/n71/mode/2up) Als Quelle nennt Dähnhardt: Jacobs, More English Fairy Tales, 1894, S. 91. Bis auf weiteres ist diese Erzählung als die Quelle von Borges anzusehen, obwohl beide letztlich auf 1001 Nacht zurückgehen.

Traum und Wirklichkeit im 2. – 5. Akt (Kleist: Prinz Friedrich von Homburg)

Traum und Wirklichkeit im 2. bis 5. Akt

Was wird aus Friedrichs Traum, der im Handschuhfund vom Glück garantiert zu sein schien (1. Akt)? Das wird in den folgenden Akten entfaltet. Vor der Schlacht ruft Friedrich den Segen Gottes auf seinen Traum herab (V. 408 ff.). Er bemerkt nebenher, er sei gestern „zerstreut – geteilt“ (V. 420) gewesen, redet sich dann aber mit dem Diktieren heraus (V. 421). Er scheint sich noch einmal an den Handschuhfund zu erinnern (V. 428, wobei er „vor sich niedergeträumt“ hat). Dann scheint er der Verwirklichung seines Traums ganz nahe gekommen zu sein: Er hat den Sieg (II,5) und Natalies Herz (II,6) gewonnen – ihm fehlt nur noch der Segen des Vaters Kurfürst (V. 610 f.). Er spricht die Kurfürstin bereits als „Mutter“ an (V. 710) und will ihr einen Herzenswunsch anvertrauen (V. 701 f.), wozu es wegen der Eile nicht kommt. „O Cäsar Divus! …“ (V. 712 f.). Doch in einem harten Schnitt verkündet der Kurfürst gleich darauf das Todesurteil über den Anführer der Reiterei (II,9). Was wird nun aus Friedrichs Traum? Friedrich kann das Urteil des Kurfürsten nicht verstehen: „Träum ich? … Bin ich bei Sinnen?“ (V. 765) Hier spricht er metaphorisch vom Träumen, wie die drei folgenden Fragen bezeugen. Er schätzt seine Situation falsch ein (III,1), er verleugnet sie einfach: „Ich denk’s mir so!“ (V. 829) Er vertraut auf sein Herz (auf mein Gefühl von ihm, V. 868) und ist ganz ruhig. Wenn Hohenzollern ihn „Du Rasender“ (V. 866; vgl. V. 69) nennt, hat das nichts mit Penthesileas Raserei zu tun; es bedeutet eher so viel wie „Du Verrückter!“ – dass Friedrich also den Verstand ausgeschaltet hat und unbeirrt an seinem Traum festhält.

Als dann die Wirklichkeit nicht mehr zu leugnen ist, kippt seine Stimmung um und er verliert klagend „Meine Hoffnung!“ (V. 910) Er muss sich verraten vorkommen, sein Traum ist geplatzt. Da geht er zur Kurfürstin und spricht sie wiederholt als „meine Mutter“ an (V. 965 ff.), jedoch nicht wie ein anerkannter Sohn, sondern wie ein verzweifeltes kleines Kind. Auf dieser Ebene erreicht er ihr Herz; sie erwidert schließlich: Mein teurer Sohn“ (V. 1020), leitet so zu Natalies Ermutigung über (s. Untersuchung zu Herz und Gesetz“). Natalie erweckt auch den Traum zu neuem Leben: Er ist in ihrem Anschaun verloren (hinter V. 1061).

Ehe sie Friedrich im Gefängnis besucht, um ihm die Botschaft des Kurfürsten zu überbringen, zieht sie ihre Handschuhe an (V. 1279) – das ist auf der symbolischen Ebene das Signal, dass sich nun das Geschehen zum Guten wendet (vgl. die Bedeutung des Handschuhs im 1. Akt!). Friedrich kann die Begnadigung zuerst nicht fassen: „Es ist ein Traum.“ (V. 1305) Auch hier wird vom „Traum“ metaphorisch gesprochen, im Sinn von unglaublich“. Als er dann zur Besinnung kommt (V. 1322 ff.), sich seiner selbst besinnt (V. 1334: Er will Prinz, nicht Schuft sein – vgl. „Schurke“ V. 492 – es geht jeweils darum, ein großes Herz zu haben!), ist er von des Kurfürsten Wort betroffen (hinter V. 1339) und unterstellt sich der Vernunft (s. Untersuchung „Herz und Gesetz“). Damit ist in seiner Person der Traum wirklich geworden: „Du Unbegreiflicher!“ (V. 1352); es steht nur noch die Verwirklichung in der Welt, im rechtlichen Bereich aus.

Nach Kottwitz’ Vortrag (V,5) schaltet Hohenzollern sich in die Diskussion um die Begnadigung ein. Es werden von ihm die Szenen I,1; I,4; und I,5 rekapituliert, wobei auch Natalies Handschuh gewürdigt wird (V. 1633 ff.). Der Kurfürst zieht das Fazit der Überlegungen (V. 1706 ff.), will aber nicht der einzige Schuldige sein (V. 1714 ff.). Jedenfalls trägt auch Hohenzollerns Traum-Deutung dazu bei, zu erweisen, dass Friedrich im Traumzustand unzurechnungsfähig war (V. 1693 ff.) Der Traum erfüllt sich dann darin, das nicht nur Kottwitz (V. 1763), sondern auch der Kurfürst ihn „mein Sohn“ nennt (V. 1784), sogar küsst (hinter V. 1783) und das Todesurteil zerreißt (hinter V. 1828).

In den beiden Schluss-Szenen wird die Ausgangssituation erneut heraufgerufen (Szene V,10: „Es ist wieder Nacht.“); dem wundersam vorhandenen Lorbeer der Szene I,1 (. 50 f.) entsprechen die wundersam blühenden Levkojen und Nelken in V,10 (V. 1840). Der Prinz von Homburg wird mit Ehre und Herrlichkeit bekränzt, wie er es sich erträumt hat… (V,11), und fällt erneut (wie in I,4) in Ohnmacht (hinter V. 1850). „Nein sagt! Ist es ein Traum?“ (V. 1855) Hier ist wieder metaphorisch vom Unglaublichen die Rede. Kottwitz antwortet: „Ein Traum, was sonst?“ Kottwitz spricht m.E. vom Traum als einer Utopie – wenn man seine Äußerung nicht so verstehen will, dass er scheinbar ironisch Friedrichs Frage abtäte, weil er dem Ungeheuren des verwirklichten Traums anders nicht standhalten kann.

Die beiden letzten Verse sind rätselhaft. Warum rufen die Offiziere angesichts des verwirklichten Traums zum Aufbruch „Ins Feld!“ (V.1856)? Liegt der neue Aufbruch in der Logik des militärischen Sieges eines Prinzen (II,5)? Liegt er in der Logik eines Kleist’schen Patriotismus?

Jedenfalls ruft nicht die Vernunft „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ (V. 1857); die Vernunft erkennt auch der Feinde Brandenburgs Daseinsberechtigung. Vielleicht lebt man besser ohne als mit Prinzen? Sicher ist die Existenz von Prinzen nicht erforderlich, um einen Ausgleich zwischen der Stimme des Herzens und dem, was die Vernunft sagt, zu suchen.

Homburgs Traum und Natalies Handschuh im 1. Akt (Prinz Friedrich von Homburg)

Übersicht über das Geschehen:

Im 1. Akt wird als Thema die Frage vorgegeben, ob des Prinzen Träume von Ruhm und Glück verwirklicht werden. Dem steht entgegen, dass die Stimme des Herzens nicht das Gleiche sagt wie der Befehl, das Gesetz des Krieges. Die beiden ersten Schritte zum Glück sind der Sieg in der Schlacht bei Fehrbellin und die Verlobung mit Natalie. Erst als der trotz seines Sieges zum Tod verurteilte Friedrich von Homburg durch Natalies Hilfe (III,5) und das Entgegenkommen des Kurfürsten (Brief IV,4), also durch die Kraft der Herzen zur Vernunft kommt und sich aus eigener Entscheidung, also frei dem Gesetz unterordnet und das Todesurteil bejaht, wird er begnadigt, ist der Weg zur vollkommenen Verwirklichung seines Traums frei.

Deutung (Interpretation)

Bei der Deutung (Interpretation) des Stücks „Prinz Friedrich von Homburg“ sollte man vier Fragen auseinander halten, ohne sie voneinander zu trennen:

1. Wie kann man bzw. Friedrich von Homburg Wunsch (Traum) und Wirklichkeit miteinander verbinden? „Traum“ ist ja das thematische Stichwort, welches das Stück von I,1 bis V,11 beherrscht.

2. Wie kann sich der Anspruch des „Sohnes“ (Friedrich) auf Selbständigkeit mit dem Anspruch des „Vaters“ (Kurfürst) auf Gehorsam vor dem vom Vater vertretenen „Gesetz“ vertragen? Und darf der Sohn noch zu Lebzeiten des Vaters nach dessen Halskette (Symbol der Macht) greifen? [Ist das nicht die psychoanalytisch verengte Formulierung der dritten Frage?]

3. Wie steht es um das Recht des Herzens gegenüber dem Gebot des Gesetzes?

4. Verändern sich die Figuren (oder Friedrich allein) in den durch die drei Fragen benannten Bereichen im Verlauf des dramatischen Geschehens?

Was hiermit noch nicht bedacht ist, ist die fünfte Frage, wie das Stück in die damaligepolitische Situation Preußens passt (bzw. hineinwirken sollte).

Homburgs Traum und Natalies Handschuh im 1. Akt

Zweifellos beherrschen der Traum und der Handschuh als Themen oder eher Motive den 1. Akt des Schauspiels „Prinz Friedrich von Homburg“. Der Prinz wird als „halb wachend halb schlafend“, sich einen Kranz windend, eingefuührt (vor V. 1). Hohenzollern beschreibt, dass er Friedrich als „Nachtwandler“ (V. 24) beschäftigt sieht, „Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich, / Den prächtgen Kranz des Ruhmes einzuwinden“ (V.27 f.), und zwar bereits in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht (vgl. den Schlachtplan, V. 12 und I,5). Er erklärt dieses Agieren „als eine bloße Unart seines Geistes“ (V. 39).

Der Kurfürst, der zuerst das Geschehen nicht glaubt und nicht versteht (V. 30, 40, 45), meint mit Hohenzollern zu wissen, „was dieses jungen Toren Brust bewegt“ (V. 55) – die Bezeichnung „Tor“ erkläre ich mir aus dem (für den Kurfürsten) unglaublichen Vorgang vorzeitiger Ruhmeskranzflechterei. Der Kurfuürst selbst stachelt nun Friedrich an, über den Kranz hinaus noch weiter zu träumen, indem er seine Halskette und Natalie als Botin ins Spiel bringt: „Ich muss doch sehn, wie weit er’s treibt!“ (V. 64). Das bezeugt auch seine persönliche Neugier – dramaturgisch wird so jedenfalls die Fülle von Friedrichs Wünschen entfaltet.

Als Friedrich dann Natalie „Meine Braut!“ (V. 65) nennt, den Kurfürsten als Vater und dessen Frau als Mutter bezeichnet, weicht der Hofstaat erschrocken zurück; Friedrich jedoch erhascht einen Handschuh Natalies. Der Kurfürst weist Homburgs Träume zurück: „Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg!“ (V. 74) Dem Traum stellt es das „Gefild der Schlacht“ (V. 75) als einzigen Ort entgegen, wo man solche Dinge erringen kann. Das „Nichts“ ist kein absolutes Nichts, sondern eine bestimmte Negation: nicht im Traum, mein Lieber!

Auf Anweisung des Kurfürsten lässt man Friedrich mit seinem Traum allein (V. 83 f.) – der Text legt nahe, dass der Kurfürst sich geniert, zu weit gegangen zu sein (hat sich einen Scherz erlaubt). Friedrich weiß, als er geweckt wird, sich in der Situation nicht zurechtzufinden (V. 94 ff.); sich selbst gesteht er, dass er wieder (!) unbewusst im Mondschein gewandelt ist (V. 115 f.), während er Hohenzollern eine andere Geschichte erzählt (V. 117 ff.).

Er hat dabei Natalies Handschuh bemerkt (V. 105), sich den Besitz nicht erklären können, ihn weggeworfen (hinter V. 108), ihn stutzend wieder aufgenommen (hinter V. 139); dabei scheint ihm sein Traum einzufallen (V. 140), den er Hohenzollern erzählt – den Traum von „Menschen, die mein Busen liebt“ (V. 145). Doch fällt ihm partout nicht der Name Natalie ein – wir würden sagen, er habe ihn verdrängt (V. 155 f., ab V. 146). Als Zweck der Traum- Veranstaltung sieht er die Absicht des Kurfürsten, „mir ganz die Seele zu entzünden“ (V. 161), und zwar für den bevorstehenden Kampf. Er erinnert sich jedenfalls, dass er der süßen Traumgestalt einen Handschuh abgenommen hat (V. 189 f.), und „Da ich erwache, halt ich ihn in der Hand!“ (V. 191) Damit sind im Handschuh Traum und Wirklichkeit miteinander verflochten – es gilt also, diesen Knoten so weit zu entflechten, dass Friedrich versteht, wie die Verbindung zwischen Traum und Wirklichkeit bestehen kann und was sie bedeutet. – Als er wieder ins Träumen versinkt (hinter V. 204), fällt ihm „natürlich“ gleich die Identität Natalies ein (V. 208).

Im Saal des Schlosses (I,5) verfließt dann ineinander, dass der Schlachtplan diktiert wird und dass die Kurfürstin und Natalie abreisen [also die Realität der kommenden Schlacht und die Figuren des „gegenwärtigen“ Traums]. Dem Schlachtplan wendet Friedrich sich mit Stift und Tafel zu, gleichzeitig aber fixiert er die Damen (vor V. 248); Natalies Anblick entfernt ihn aus der Realität der Schlachtplanung, in die ihn Hohenzollern und andere immer wieder zurückrufen (z.B. V. 271); doch er sieht gleich wieder nach den Damen… (hinter V. 280). Friedrich wechselt also zwischen „Traum“ und Wirklichkeit hin und her, von sich aus tendiert er mit dem Herzen zum Traum.

Dann passiert es: Natalie sucht ihren Handschuh (V. 286) – und Friedrich beschließt zu prüfen, „ob er’s ist“ (V. 298), nämlich ob es der Handschuh ist, den er aufbewahrt hat, und damit: ob Natalie die Frau ist, deren Namen (als den des Genius des Ruhms, V. 172) er gesucht hat. Er lässt ihn auf den Boden fallen, wo der Kurfürst ihn entdeckt (V. 315); Friedrich hebt ihn auf und gibt ihn der Prinzessin; die bestätigt ausdrücklich die Identität des Handschuhs (V. 319) und damit ihre eigene als der Besitzerin. Der Prinz ist zuerst verwirrt (V. 318), dann wie vom Blitz getroffen (hinter V. 321), „dann wendet er sich mit triumphierenden Schritten“ wieder zu den Offizieren und übernimmt zu seiner Stimmung passend den letzten Satz des Feldmarschalls: „Dann wird er die Fanfare blasen lassen!“ (V. 322, vgl. V. 313, 323, 339). – Das letzte Träumen des Prinzen (hinter V. 332) dient dazu, ihn den Befehl noch einmal überhören und von der Fanfare träumen zu lassen (V. 336).

Wieso triumphiert Friedrich, als er Natalie als Besitzerin des Handschuhs ausgemacht hat? Was der Handschuh als Handschuh Natalies dem Prinzen bedeutet, wird in seinem kleinen Monolog in I,6 offenbar. Er wendet sich dort dem Glück zu, das er nun zu erkennen glaubt (Schleier heute gelüftet, V. 355 f.) und das ihm die Locken schon gestreift habe (V. 358): Es möge kommen: „Ein Pfand schon warfst du, im Vorüberschweben, / Aus deinem Füllhorn lächelnd mir herab: [nämlich den Handschuh!] / Ich hasche dich im Feld der Schlacht und stürze / Ganz deinen Segen mir zu Füßen um“ (V. 359 ff.). Das Glück wird ihm also den Sieg in der Schlacht bringen und noch mehr, seinen ganzen Segen wird es ihm geben müssen, das heißt mit dem Handschuh auch Natalies Hand (und das kurfürstliche Paar als „Vater“ und „Mutter“). – Wie er den Sieg erringt und die Verwirklichung seiner Träume einleitet, wird dann in II,5 berichtet; Natalies Herz gewinnt er in II,6, dringt in II,8 bis zur Anrede „Mutter“ (V. 710) vor. In II,9 wird jedoch das Todesurteil verkündet – damit ist der Traum vom Glück gefährdet.

Fazit: Im 1. Akt nehmen wir Friedrich von Homburg als einen „Träumer“ wahr und lernen seine Glückstr.ume kennen; sie werden mit der Realität durch den Handschuh Natalies verbunden, welchen Friedrich erhascht hat. Friedrichs Träumen entfernt ihn jedoch aus der gegenwärtigen Realität, nämlich der Erklärung des Plans der kommenden Schlacht. Im Besitz des Glückspfandes ist er sich im Herzen vorab des Sieges sicher, ohne dass sein Verstand den Plan der Schlacht begriffen hätte. Aus der Differenz zwischen gegenwärtigen Befehlen und künftigen Siegen [und der Frage, was sie wirklich miteinander verbindet: der Plan oder das Glückspfand] ergibt sich die Gefahr des Scheiterns.

Material: Was man zu Kleists Zeiten vermutlich von „Traum“ und „Handschuh“ wusste

Der Traum, […] der Zustand verworrener Vorstellungen im Schlafe, ein mittlerer Zustand zwischen Schlafen und Wachen. (Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801)

Die Nachtwandler, Mondsüchtigen. Mit diesem Namen belegt man gewisse Personen, welche in der Nacht, ohne es sich bewußt zu sein, alles das und noch weit mehr verrichten, was ein gesunder Mensch am hellen Tage unternehmen kann. […] Es fehlt bis jetzt noch an einer gründlichen Erklärung dieses Phänomens. (Brockhaus Conversations- Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809)

Mondsucht, jener krankhafte Zustand, in welchem Menschen durch lebhafte Träume und Einflüsse besonderer Art so aufgeregt erscheinen, daß sie im Schlafe herumwandeln, wobei Auge und Ohr schlafen, und nur die innern Sinne, der Geist und besonders die Unterleibsnerven thätig sind (s. Gehirn, Magnetismus, Nerven). […] Sind solche Kranke in ihrem Zimmer, wo sie nicht Schaden nehmen können, so wecke man sie auf sanfte Weise, gebe ihnen Wasser zu trinken und lasse Augen und Stirn kalt waschen; dagegen ist bekannt, daß man Nachtwandler nicht erschrecken darf, wenn sie sich an gefährlichen Stellen befinden. (Damen Conversations Lexikon, Bd. 7, 1836)

Traum, Traumdeuterei […] Wenn bei der durch den Schlaf verursachten Unthätigkeit des Gehirns und Rückenmarkes und der von ihnen abhängigen Nerven die Functionen der Sinne, das Bewußtsein, Bewegung etc, gebunden sind, so bleiben die Nerven der Ganglien (Nervenknoten), welche vitale Handlungen des Körpers, Athmen, Umlauf des Blutes etc, bedingen, immer noch thätig, sowie die an diese Nerven gebundenen Seelenvermögen, das unwillkührliche Gedächtniß, die Einbildungskraft und das Begehrungsvermögen. Aus dem Walten dieser von der Außenwelt und den Sinneseindrücken abgewendeten Seelenthätigkeiten entsteht der T., welcher sich gewöhnlich in Bildern und Allegorien ausspricht, zu denen die Erinnerungen aus der Sinnenwelt meistens nur die Form geben. […] Die meisten T’e sind am Morgen vergessen; zum Bewußtsein gelangen dagegen diejenigen, welche an der Grenze des Schlafens und Wachens oder während eines nicht allzu tiefen Schlafes sich bilden; denn dann ist die Thätigkeit des Gehirns nicht ganz eingestellt, und das Gangliensystem steht mit dem Cerebralnervensysteme noch in Verbindung. Die wunderbare Bildersprache und unergründliche Phantastik der Traumwelt deutete am tiefsinnigsten der große Naturforscher Schubert in seiner »Symbolik des Traums.«. (Damen Conversations Lexikon, Bd. 10, 1838)

Der Kruenitz (http://www.kruenitz1.uni-trier.de) hat große Artikel zu „Traum“ und „Nachtwanderer“.

Handschuhe […] Der Handschuh wurde häufig auch in symbolischer Bedeutung genommen. Als Zeichen der Herausfoderung zum Zweikampf warf der Ritter dem Gegner seinen Handschuh hin, Dasselbe that bei ehrenrührigen Beschuldigungen der Angeklagte, indem er Jeden zum Kampf auffoderte, der jene Beschuldigung für wahr halte; wer den Handschuh aufhob, nahm den Zweikampf an. Auch wurde die Fehde durch Übersendung eines Handschuhs (daher Fehdehandschuh) angekündigt. Schenkungen, Privilegien, Bewilligungen von Seiten der Fürsten (namentlich zur Anlegung einer Stadt, des Münzrechts, der Marktfreiheit) wurden sinnbildlich durch Übergebung von einem oder von ein Paar Handschuhen bestätigt. (Brockhaus Bilder- Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838, S. 328.)

Er hat einen Handschuh bekommen. Bei den alten Sachsen bezeichnete die Sendung eines Handschuhs eine Schenkung, Uebergabe, Zueignung. Wenn sich eine Stadt das Marktrecht vom Kaiser erbat, so sandte er ihr einen Handschuh zum Zeichen, dass ihre Bitte gewährt sei. (Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter- Lexikon, Band 2. Leipzig 1870.)

Handschuh als Rechtssymbol. Mit dargereichtem oder hingeworfenem Handschuh wurden bei Franken, Alamannen, Langobarden und Sachsen Güter übergeben, gleichsam ausgezogen und abgelegt. Zum Zeichen ausgebrochenen Bannes warf der König oder Richter den Handschuh hin und erklärte damit den Verbrecher alles seines Gutes für verlustig. Verbreiteter als die beiden genannten Anwendungen des Handschuhes ist der im ganzen Mittelalter gebräuchliche Wurf des Handschuhes als Aufforderung zum Kampf. Endlich bezeichnet der Handschuh Verleihung einer Gewalt von seiten der Höheren auf einen Geringeren; Boten wurden durch Überreichung des Handschuhes und Stabes von Königen entsendet. Städten, welchen der Kaiser Marktrecht giebt, sendet er seinen Handschuh. (Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885, S. 362)

Der Brauthandschuh hatte gerade im Mittelalter eine sehr große Bedeutung. Wenn ein Mann den Handschuh einer Frau erhielt, galt das als besondere Auszeichnung und Zeichen der Zuneigung. Bei Hochzeiten wurden teilweise auch die Handschuhe beider Ehepartner, Braut und Bräutigam getauscht, ein Symbol gegenseitiger Liebe. (http://www.brautideal.de/Handschuhe)

Das Deutsche Rechtswörterbuch (http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/) nennt unter „Handschuh“ Belege, dass beim Ehegelöbnis Handschuhe überreicht wurden.

Kleist: Prinz Friedrich von Homburg – Thema Herz / Gesetz

Über den Widerspruch zwischen der Stimme des Herzens und dem Gebot des Gesetzes, der Pflicht

Eines der großen Themen des Stücks ist der Gegensatz zwischen dem, was das Herz sagt, und dem, was die Regel oder das Gesetz befiehlt. Über das „Herz“ ist dieses Thema mit einem anderen verbunden: dem problematischen Verhältnis von Traum und Wirklichkeit; das Herz des Prinzen von Homburg hat nämlich in seinem schlafwandlerischen Traum gesprochen (V. 65 ff.) und die Menschen benannt, die er liebt (V. 145). Dass die Traum-Sprache des Herzens noch keine Ansprüche begründet, macht der Kurfürst deutlich: „Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, ins Nichts, ins Nichts! (…) Im Traum erringt man solche Dinge nicht!“ (V. 74 ff.) Homburg „weiß“ jedoch, dass die nächtliche Begebenheit vom Kurfürsten inszeniert wurde, „mir ganz die Seele zu entzünden“ (V. 161). Als er den zurückbehaltenen Handschuh als den der Prinzessin Natalie identifiziert (V. 318 f.), kehrt er mit triumphierenden Schritten (!) in den Kreis der Offiziere zurück und nimmt des Feldmarschalls letzten (V. 313) bzw. nächsten Satz (V. 323) doppeldeutig auf bzw. vorweg: „Dann wird er die Fanfare blasen lassen!“ (V. 322, vgl. V. 339) Homburg ist sich seines Sieges, auch bei Natalie, sicher. Das zeigt er im Glücksmonolog (I,6): Der Handschuh ist ihm das vom Glück verliehene „Pfand“ (Unterpfand, Zeichen) des militärischen Sieges (V. 359 f.), wie er als Dingsymbol auch die ihm überlassene Hand der Prinzessin vorweg bedeutet.

Gesetzt wird das Thema durch Friedrich von Homburg. Gegen den fünffachen ausdrücklichen Befehl des Feldmarschalls bzw. des Kurfürsten und seines Schlachtplans (V. 293-473) beruft Friedrich sich auf die Order des Herzens, setzt sich über den Schlachtplan hinweg und greift die Schweden an (V. 474 f.); so reißt er Kottwitz mit (V. 478 ff.). Als neue „Parole“ gibt er aus: Ein Schuft, wer seinem General zur Schlacht nicht folgt (V. 492 f.). Der siegreiche todesmutige Angriff des Prinzen auf die schwedischen Schanzen kommt ebenfalls aus der Wut seines Herzens; er will den vermeintlich gefallenen Kurfürsten rächen (V. 545 ff.). Er wäre sogar bereit, sein Herzblut für das Leben des Kurfürsten hinzugeben (V. 568 f.; vgl. V. 873 sein Herz, das ihn treu liebt).

Danach folgt eine entscheidende Szene (II,6), die man nicht leicht würdigt, weil man die Regieanweisungen gern überliest: Friedrich begegnet Natalie allein (die Kurfürstin ist in Ohnmacht gefallen), legt ihre Hand gerührt an sein Herz (hinter V. 567); er nimmt erneut ihre Hand (hinter V. 580 – und sie lässt sie ihm, bis hinter V. 587) und verspricht ihr, ihre Sache zu übernehmen (V. 581) und des Kurfürsten Aufgabe zu verwirklichen (V. 585 f.). Dann schlägt er seinen Arm um sie (hinter V. 599), während sie sich an seine Brust lehnt (hinter V. 606): Er küsst sie zum ersten Mal (hinter V. 608). Diese Nähe kann man nur würdigen, wenn man bedenkt, wie die Hohenzollern in I,1 vor Friedrichs Wünschen zurückgewichen sind (hinter V. 64). Friedrich vergleicht sein Glück bereits mit dem Cäsars (V. 713 f.).

Über den ungehorsamen Angreifer verhängt der Kurfürst nach dem Sieg das Todesurteil (V. 715 ff.); denn er will nicht zufällig errungene Siege, sondern „dass dem Gesetz Gehorsam sei“ (V. 734). Er ist allerdings „betroffen“, als er hört, dass Friedrich die Reiterei angeführt hat (hinter V. 741). Als dieser völliges Unverständnis über das Todesurteil gegen einen Sieger äußert („Träum ich?“,V. 765; „verrückt“, V. 772), wiederholt Hohenzollern trotzig des Kurfürsten Begründung (V. 774). Dessen vermeintlich starrem römischem Pflichtideal setzt Friedrich „ein deutsches Herz“ entgegen (V. 777 ff. bzw. 784 ff.), um den Kurfürsten als herzlos zu bedauern.

Im Gefängnis glaubt Homburg noch an den Sieg des Herzens im Kurfürsten über das Bewusstsein der Pflicht (V. 820 f., V. 868), wobei er sich auf sein „Gefühl“ für den Kurfürsten verlässt (V. 868), sodass er und Hohenzollern eine sachfremde „Erklärung“ für des Kurfürsten Starrsinn suchen müssen und entsprechend finden: Friedrich werde als Liebster Natalies abgestraft, der ihrer Verheiratung nach Schweden im Weg stehe (V. 911 ff.). In einem Gespräch mit dem um sein Leben wimmernden, sogar auf Natalie verzichtenden Friedrich (III,5) ermutigt Natalie ihn: Sie nähert sich ihm trotzdem (legt ihre Hand in die seine), ermutigt ihn („Geh, junger Held…“, V. 1053), verspricht ihm Treue (V. 1058) und Fürsprache (V. 1060) und deutet erstmals den Tod als „Lebensmöglichkeit“ an: Der Tapfere wisse auch im Tod zu siegen (V. 1072 ff.). Diese Ermutigung durch Natalie, also durch die Sprache des Herzens und die Anrede an den jungen „Helden“ (V. 1053 ff.), leitet die Umkehr Friedrichs zu Mut und Vernunft ein, die er im zweiten Gespräch mit Natalie vollzieht (s.u.). Die Kurfürstin ist Natalie in dieser Weise, Friedrich anzusprechen, vorangegangen; sie hat ihn als „Mein teurer Sohn!“ (V. 1020) angesprochen und dann eine Forderung an ihn gestellt (V. 1038 f.): Die Stimme des Herzens ruft zur Erfüllung der Pflicht. – Es folgen drei große Gespräche, in denen der Widerspruch von Herz und Gesetz das Thema ist.

Natalie bittet beim Kurfürsten um Gnade (IV,1) für Friedrich, der die Schranke des Gesetzes durchbrochen hat (V. 1104). Der Kurfürst fragt dagegen, ob er den Spruch des Gerichts unterdrücken dürfe, ohne Tyrann zu sein (V. 1112 ff.). Während Natalie mit der Dialektik von Unordnung und Ordnung operiert (V. 1125 ff.), wo neben dem Kriegsgesetz auch die lieblichen Gefühle herrschen sollen, beruft der Kurfürst sich auf den Gegensatz von Willkür und Satzung (V. 1144). Als Natalie ihm berichtet, dass Friedrich geknickt ist („Ach, welch ein Heldenherz hast du geknickt!“, V. 1155), lenkt er ein: Falls dieser das Urteil für ungerecht hält, ist Friedrich frei (V. 1175 ff.), was er zum Schluss noch einmal bekräftigt (V. 1206 f.); denn er trage „die höchste Achtung“ für Friedrichs Gefühl (V. 1183 f.). Natalie selbst ist es, die die Kräfte seines Herzens erweckt hat: „Mein Töchterchen“ (V. 1092) hat er sie genannt, „Mein sü.es Kind!“ (V. 1122). Ich halte es für abwegig, hier ödipale oder ähnliche Dreiecke zu konstruieren, in denen der Kurfürst der besitzende Vater und Konkurrent Friedrichs wäre – in der Logik des Schauspiels ist hier Friedrichs Herz erwacht.

Im zweiten Gespräch, das Natalie mit Friedrich führt, erfolgt dessen entscheidende Veränderung (IV,4). Natalie bringt ihm die frohe Botschaft von seiner Begnadigung, was ihm wie ein Traum vorkommt (V. 1305). Doch dann kommt er zur Besinnung und zerreißt sein bereits aufgesetztes Bittgesuch, weil er begriffen hat: „Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!“ (V. 1342) Im Zögern und erneuten Lesen zeigt sich, dass er bereits zur Vernunft gekommen ist (V. 1322 ff.). So wird es ihm möglich, in Freiheit das selber zu wollen, was das Gesetz befiehlt – er unterwirft sich also dem Kategorischen Imperativ, wenn man es philosophisch sagen will: „Mir ziemt’s hier zu verfahren, wie ich soll!“ (V. 1375). Er erkennt seine Schuld an und will nicht um Begnadigung streiten (V. 1382 ff.). Da nennt Natalie ihn, der Herz und Vernunft in sich vereint: „Du Unbegreiflicher!“ (V. 1322), und küsst ihn zum ersten Mal: „du gefällst mir!“ (V. 1388). [Eine seltsame Verwechslung nicht seinem Herzen, sondern der Vernunft, zu der sie selber ihn geführt hat, vgl. V. 1053 ff.] – Der Kurfürst, Vertreter des Gesetzes, ist überhaupt nicht herzlos: Sein Herz ist bei den Dragonern, die scheinbar ohne Befehl ihre Stellungen verlassen haben, um bei ihm die Begnadigung Friedrichs zu erwirken (V. 1442). Bereits vorher hat Prinz Friedrich ihm bescheinigt, dass er ein großes Herz hat und entsprechend handelt, weil er Homburg selber zur ethischen, also vernünftigen Entscheidung ruft (V. 1342/44); hier verweisen also das Herz des Kurfürsten und die Vernunft des Prinzen, auf die der Kurfürst vertraut (vgl. V. 1156 ff.), aufeinander. Natalie dagegen folgt der Stimme ihres (kleinen) Herzens und kann den Schritt zur Vernunft zunächst nicht mitmachen (ab V. 1314), bis schließlich auch bei ihr Vernunft und Herz zueinander finden (Kuss und V. 1386 ff.).

Das dritte Gespräch führt der Kurfürst mit Kottwitz (V,5). Zunächst argumentiert Kottwitz, der die Bittschrift überreicht hat, militärisch, dass Homburgs Angriff sinnvoll gewesen sei, was der Kurfürst sowohl militärtaktisch (V. 1537 ff.) wie prinzipiell (V. 1561 ff.) zurückweist. Kottwitz setzt neu an und bringt vor, dass das höchste Gesetz nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern das Vaterland und der Kurfürst selbst sei (dem zu dienen dann nicht verwerflich sein könne, V. 1570 ff.); sodann verteidigt er die Empfindung (der folgend Homburg ungehorsam war) als das letzte Prinzip des Soldatischen, weil nur aus der Empfindung der Soldat sein Leben einsetzt (V. 1579 ff.). Gegen die zweite Argumentation ist der Kurfürst machtlos: „Es besticht dein Wort mich (…)“ (V. 1610 f.), auch wenn er dem theoretisierenden Kottwitz einen spitzfindigen Freiheitsbegriff vorwirft (V. 1619 f.). Im gleichen Gespräch wirft ihm Hohenzollern sogar vor, der Kurfürst selber sei daran schuld, dass Homburg die ganze Nacht in seinem Traumzustand befangen gewesen sei, weshalb er den Schlachtplan nicht habe aufnehmen können (V. 1623 ff.); der kontert, Hohenzollern seinerseits sei schuld, weil der ihn in den Garten gerufen habe (V. 1714 ff.). Dieses kleine Scharmützel am Rande zeigt nur, durch wie viele Ursachen unsere Entscheidungen mitbedingt sind – woraus sich die Frage ergibt, ob solche Teilursachen nicht unsere Freiheit beeinträchtigen, also unsere Schuld vermindern. Diese Frage wird aber nicht mehr diskutiert.

Gegen Kottwitz ruft der Kurfürst nun Homburg als seinen Rechtsbeistand auf: Der Prinz vom Homburg will den verhängten Tod erdulden (V. 1745), er will „das heilige Gesetz des Kriegs (…) durch einen freien Tod verherrlichen“ (V. 1750 ff.). Er bittet ausdrücklich den Kurfürsten um Vergebung (V. 1765 ff.) und erbittet als einzige Gnade, dass Natalie nicht um des Friedens willen nach Schweden weggegeben wird (V. 1779 ff.); das sichert der Kurfürst ihm zu, was Homburg metaphorisch als Geschenk des Lebens bewertet (V. 1794). Danach wird Homburg wieder ins Gefängnis geschickt; er reißt sich von Natalie los, und selbst der Appell an sein Herz kann ihn nicht daran hindern, der Stimme der Vernunft bis zum Ende zu folgen (V. 1804 ff.). Doch der Kurfürst kündigt das Ende des Waffenstillstands an und zerreißt das Todesurteil, nachdem er noch symbolisch die Zustimmung seiner Offiziere eingeholt hat (V. 1818 ff.). Diese Entscheidung hatte der Kurfürst aber bereits vor dem Gespräch mit Kottwitz getroffen, nachdem er Homburgs Brief gelesen hat – warum er so entschieden hat, bleibt letztlich unklar, wenn es vermutlich auch durch Homburgs Brief und die darin anerkannte Geltung des Gesetzes (mit) bestimmt ist (V. 1479 ff.). Vermutlich hat auch sein Herz, das ja auf Seiten der um Begnadigung bittenden Soldaten steht (V. 1442, s.o.), ein Wort mitgesprochen, sodass in seiner Entscheidung Gesetz (Brief Homburgs) und Herz (Brief der Soldaten) miteinander versöhnt wären.

Diese Entscheidung und die große, zu Beginn erträumte Ehrung Friedrichs kann der Prinz von Homburg nicht verstehen – ihm kommt sie wie ein Traum vor (V. 1855). Muss sie deshalb auch dem Leser wie ein Traum, also als nicht zureichend begründetes happy end vorkommen? Da in dieser Entscheidung das Herz sich mit der Vernunft einigen muss, bleibt das Wort des Herzens unwägbar. Dass Kants rigoroser Kategorischer Imperativ auch im Konflikt sich mit der Stimme des Herzens versöhnen kann, ist philosophisch in der Tat ein Wunder – oder, mit Homburg und Kleist zu sprechen – in der Wirklichkeit ein Traum: eine Utopie des gelingenden Lebens wie auch des menschlichen Herrschens, die am Schluss des Stücks wie ein Märchenende sich zeigt.

Über den Unterschied zwischen Herz und Vernunft

Ein Problem des 18. Jahrhunderts ergab sich aus der allmählichen Auflösung der Ständegesellschaft: Da waren Gelehrte und dann „Schöngeister“ bemüht, einen tragenden Grund für die Außenseiter zu finden, die nicht mehr in den Gewissheiten eines Standes leben konnten. Als solche Grund-Begriffe kam man auf Vernunft und Natur (was auch immer das sein mochte), dann auch auf das Herz (in der Zeit der so genannten Empfindsamkeit“). Mit „Herz“ ging man auf persönliche Beziehungen und das Leben im kleinen Kreis zurück, auf „Gemeinschaft“, nach deren Vorbild man das Leben im Großen, in der Gesellschaft gestalten wollte.

Zunächst ist zu unterstreichen, dass Herz und Vernunft nicht zwei Dinge sind, die irgendwo im Menschen sitzen – Herz ist der Mensch selber, soweit er persönliche Neigungen hat, Abneigung und Zuneigung; Vernunft ist der Mensch selber, soweit er für das Allgemeine, das Ganze offen ist und vernimmt, was gültig ist. In dem Sinn ist das Herz „jung“, warm und spontan, die Vernunft „alt“, kühl und bedächtig abwägend. Man kann sich vom Herzen oder von der Vernunft leiten lassen; dann tut man das, was man möchte (der Neigung folgen), oder das, was man tun soll (dem Gesetz als dem allgemein Geltenden folgen); man tut, wozu man Lust hat, oder man erfüllt seine Pflicht. Den Unterschied erkennt man daran, dass man sich zwar auf „mein Herz“, aber nicht auf meine Vernunft“, sondern immer auf „die Vernunft“ beruft. Die Hochschätzung des Herzens war das Markenzeichen der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang; Verteidigung des Verstandes bzw. der Vernunft (dazu unten mehr) war Merkmal der Aufklärung. Zudem war das Herz der privaten Menschlichkeit, das Gesetz der Sphäre des Hofes zugeordnet (Karl Eibl zu Lessings „Emilia Galotti“: „Im Herrschaftszentrum bleibt das Herz ein Verwirrung stiftender Fremdling.“) – In der Deutschen Klassik suchten Goethe und Schiller einen Ausgleich von Vernunft und Herz zu gestalten; bekannt ist Schillers vordergründige Polemik gegen Kant und dessen Pflichtbegriff, die er ironisch „Gewissensskrupel“ überschreibt:

Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

In der Romantik bemerkte man die (Un)Tiefen von Herz und Vernunft, ihre Dissonanzen.

Die Stichwortsuche (+ Empfindsamkeit +Herz) ergab:

http://www.momo-lyrik.de/history.htm#D1 (dort: Empfindsamkeit, dort: Entdeckung des Herzens)

http://www.goethezeitportal.de/digitale-bibliothek/forschungsbeitraege/autorenkuenstler-

denker/oeser-adam-friedrich/john-oeser/john-oeser-empfindsa.html (Oeser als Autor der Empfindsamkeit – interessante Details und Hintergründe)

http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/h-k/2003/lauer_ueber_klopstock.pdf (Klopstock und die Literatur der Empfindsamkeit)

Um 1800 unterschied man auch (bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter) zwischen Verstand und Vernunft: Der Verstand ist das Vermögen, seinen eigenen Zielen (Neigungen) die passenden Mittel und Wege der Verwirklichung zu suchen und zu schaffen (wie Kottwitz in V. 1578) – egal, was die Vernunft über ihre Berechtigung sagt. Die Vernunft ist dann das Vermögen, auch die Verstandesurteile und -leistungen noch einmal zu bedenken sowie zu prüfen, ob das allgemein Geltende auch das wirklich Gültige ist. Im Stück „Prinz Friedrich von Homburg“ übernimmt teilweise das Herz diese kritische Aufgabe der Vernunft: Das Herz des Prinzen setzt sich über die Satzung (Vorschrift) des Kurfürsten hinweg, weil sie ihm in der Schlacht nicht mehr als gültig erscheint. Die Kritik des Geltenden muss jedoch nicht immer zu vernünftigen, gültigen Ergebnissen kommen, sie kann auch zu Willkür und Eigensinn führen (vgl. V. 1112 ff. und V. 1125 ff.). Die Verteidiger des Herzens meinen dagegen, „die lieblichen Gefühle“ (V. 1130) hätten ihre eigene Logik und ihre eigene Wahrheit aus Intuition (heute sagt man Bauchgefühl). Die Wünsche des Menschen Friedrich von Homburg bestimmen auch sein Handeln als General oder Soldat – dagegen wehrt sich der Kurfürst zunächst mit guten Gründen – das Problem des Stücks besteht auch darin, aus welchem Grund der Kurfürst seine Kritik an Homburg aufgibt.

Die Überlegenheit der tierhaft-leibhaften Intuition über den bloßen Kopf-Verstand (nicht über die Vernunft!) zeigt Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater“. Dort geht es um die Frage, ob in der Geschichte der Menschheit Verstand und Intuition zusammenkommen können. – Kleist unterscheidet, soweit ich sehe, nicht zwischen Verstand/Vernunft, was dann leider die Diskussion nicht klarer macht. Auch im Stück Prinz Friedrich von Homburg“ nennt er nicht (wie ich) die Vernunft, sondern das, was sich ihr darbietet: das Gesetz, und die entsprechende Verpflichtung (was ich tun darf, V. 1105 f., was ich tun soll, V. 1375 f.).

P.S. Die einfache Gegenüberstellung von Herz-Gesetz reicht philosophisch nicht aus, man muss das Verhältnis dialektisch denken. Die Berufung auf Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ ist nicht genug durchdacht: Dem zweiten Stadium folgt das künftige dritte Endstadium, in dem die reflektierte Naivität gewonnen wird. Zu diesem Problem lese man Michael Landmann: Primum und Iterum. In: Das Ende des Individuums. Klett: Stuttgart 1971, S. 87 ff.Thema

Vgl. http://www.weissenseeverlag.de/autoren/Askarian/Askarian_153/askarian_153_kurz.pdf