Übersicht über das Geschehen:
Im 1. Akt wird als Thema die Frage vorgegeben, ob des Prinzen Träume von Ruhm und Glück verwirklicht werden. Dem steht entgegen, dass die Stimme des Herzens nicht das Gleiche sagt wie der Befehl, das Gesetz des Krieges. Die beiden ersten Schritte zum Glück sind der Sieg in der Schlacht bei Fehrbellin und die Verlobung mit Natalie. Erst als der trotz seines Sieges zum Tod verurteilte Friedrich von Homburg durch Natalies Hilfe (III,5) und das Entgegenkommen des Kurfürsten (Brief IV,4), also durch die Kraft der Herzen zur Vernunft kommt und sich aus eigener Entscheidung, also frei dem Gesetz unterordnet und das Todesurteil bejaht, wird er begnadigt, ist der Weg zur vollkommenen Verwirklichung seines Traums frei.
Deutung (Interpretation)
Bei der Deutung (Interpretation) des Stücks „Prinz Friedrich von Homburg“ sollte man vier Fragen auseinander halten, ohne sie voneinander zu trennen:
1. Wie kann man bzw. Friedrich von Homburg Wunsch (Traum) und Wirklichkeit miteinander verbinden? „Traum“ ist ja das thematische Stichwort, welches das Stück von I,1 bis V,11 beherrscht.
2. Wie kann sich der Anspruch des „Sohnes“ (Friedrich) auf Selbständigkeit mit dem Anspruch des „Vaters“ (Kurfürst) auf Gehorsam vor dem vom Vater vertretenen „Gesetz“ vertragen? Und darf der Sohn noch zu Lebzeiten des Vaters nach dessen Halskette (Symbol der Macht) greifen? [Ist das nicht die psychoanalytisch verengte Formulierung der dritten Frage?]
3. Wie steht es um das Recht des Herzens gegenüber dem Gebot des Gesetzes?
4. Verändern sich die Figuren (oder Friedrich allein) in den durch die drei Fragen benannten Bereichen im Verlauf des dramatischen Geschehens?
Was hiermit noch nicht bedacht ist, ist die fünfte Frage, wie das Stück in die damaligepolitische Situation Preußens passt (bzw. hineinwirken sollte).
Homburgs Traum und Natalies Handschuh im 1. Akt
Zweifellos beherrschen der Traum und der Handschuh als Themen oder eher Motive den 1. Akt des Schauspiels „Prinz Friedrich von Homburg“. Der Prinz wird als „halb wachend halb schlafend“, sich einen Kranz windend, eingefuührt (vor V. 1). Hohenzollern beschreibt, dass er Friedrich als „Nachtwandler“ (V. 24) beschäftigt sieht, „Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich, / Den prächtgen Kranz des Ruhmes einzuwinden“ (V.27 f.), und zwar bereits in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht (vgl. den Schlachtplan, V. 12 und I,5). Er erklärt dieses Agieren „als eine bloße Unart seines Geistes“ (V. 39).
Der Kurfürst, der zuerst das Geschehen nicht glaubt und nicht versteht (V. 30, 40, 45), meint mit Hohenzollern zu wissen, „was dieses jungen Toren Brust bewegt“ (V. 55) – die Bezeichnung „Tor“ erkläre ich mir aus dem (für den Kurfürsten) unglaublichen Vorgang vorzeitiger Ruhmeskranzflechterei. Der Kurfuürst selbst stachelt nun Friedrich an, über den Kranz hinaus noch weiter zu träumen, indem er seine Halskette und Natalie als Botin ins Spiel bringt: „Ich muss doch sehn, wie weit er’s treibt!“ (V. 64). Das bezeugt auch seine persönliche Neugier – dramaturgisch wird so jedenfalls die Fülle von Friedrichs Wünschen entfaltet.
Als Friedrich dann Natalie „Meine Braut!“ (V. 65) nennt, den Kurfürsten als Vater und dessen Frau als Mutter bezeichnet, weicht der Hofstaat erschrocken zurück; Friedrich jedoch erhascht einen Handschuh Natalies. Der Kurfürst weist Homburgs Träume zurück: „Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg!“ (V. 74) Dem Traum stellt es das „Gefild der Schlacht“ (V. 75) als einzigen Ort entgegen, wo man solche Dinge erringen kann. Das „Nichts“ ist kein absolutes Nichts, sondern eine bestimmte Negation: nicht im Traum, mein Lieber!
Auf Anweisung des Kurfürsten lässt man Friedrich mit seinem Traum allein (V. 83 f.) – der Text legt nahe, dass der Kurfürst sich geniert, zu weit gegangen zu sein (hat sich einen Scherz erlaubt). Friedrich weiß, als er geweckt wird, sich in der Situation nicht zurechtzufinden (V. 94 ff.); sich selbst gesteht er, dass er wieder (!) unbewusst im Mondschein gewandelt ist (V. 115 f.), während er Hohenzollern eine andere Geschichte erzählt (V. 117 ff.).
Er hat dabei Natalies Handschuh bemerkt (V. 105), sich den Besitz nicht erklären können, ihn weggeworfen (hinter V. 108), ihn stutzend wieder aufgenommen (hinter V. 139); dabei scheint ihm sein Traum einzufallen (V. 140), den er Hohenzollern erzählt – den Traum von „Menschen, die mein Busen liebt“ (V. 145). Doch fällt ihm partout nicht der Name Natalie ein – wir würden sagen, er habe ihn verdrängt (V. 155 f., ab V. 146). Als Zweck der Traum- Veranstaltung sieht er die Absicht des Kurfürsten, „mir ganz die Seele zu entzünden“ (V. 161), und zwar für den bevorstehenden Kampf. Er erinnert sich jedenfalls, dass er der süßen Traumgestalt einen Handschuh abgenommen hat (V. 189 f.), und „Da ich erwache, halt ich ihn in der Hand!“ (V. 191) Damit sind im Handschuh Traum und Wirklichkeit miteinander verflochten – es gilt also, diesen Knoten so weit zu entflechten, dass Friedrich versteht, wie die Verbindung zwischen Traum und Wirklichkeit bestehen kann und was sie bedeutet. – Als er wieder ins Träumen versinkt (hinter V. 204), fällt ihm „natürlich“ gleich die Identität Natalies ein (V. 208).
Im Saal des Schlosses (I,5) verfließt dann ineinander, dass der Schlachtplan diktiert wird und dass die Kurfürstin und Natalie abreisen [also die Realität der kommenden Schlacht und die Figuren des „gegenwärtigen“ Traums]. Dem Schlachtplan wendet Friedrich sich mit Stift und Tafel zu, gleichzeitig aber fixiert er die Damen (vor V. 248); Natalies Anblick entfernt ihn aus der Realität der Schlachtplanung, in die ihn Hohenzollern und andere immer wieder zurückrufen (z.B. V. 271); doch er sieht gleich wieder nach den Damen… (hinter V. 280). Friedrich wechselt also zwischen „Traum“ und Wirklichkeit hin und her, von sich aus tendiert er mit dem Herzen zum Traum.
Dann passiert es: Natalie sucht ihren Handschuh (V. 286) – und Friedrich beschließt zu prüfen, „ob er’s ist“ (V. 298), nämlich ob es der Handschuh ist, den er aufbewahrt hat, und damit: ob Natalie die Frau ist, deren Namen (als den des Genius des Ruhms, V. 172) er gesucht hat. Er lässt ihn auf den Boden fallen, wo der Kurfürst ihn entdeckt (V. 315); Friedrich hebt ihn auf und gibt ihn der Prinzessin; die bestätigt ausdrücklich die Identität des Handschuhs (V. 319) und damit ihre eigene als der Besitzerin. Der Prinz ist zuerst verwirrt (V. 318), dann wie vom Blitz getroffen (hinter V. 321), „dann wendet er sich mit triumphierenden Schritten“ wieder zu den Offizieren und übernimmt zu seiner Stimmung passend den letzten Satz des Feldmarschalls: „Dann wird er die Fanfare blasen lassen!“ (V. 322, vgl. V. 313, 323, 339). – Das letzte Träumen des Prinzen (hinter V. 332) dient dazu, ihn den Befehl noch einmal überhören und von der Fanfare träumen zu lassen (V. 336).
Wieso triumphiert Friedrich, als er Natalie als Besitzerin des Handschuhs ausgemacht hat? Was der Handschuh als Handschuh Natalies dem Prinzen bedeutet, wird in seinem kleinen Monolog in I,6 offenbar. Er wendet sich dort dem Glück zu, das er nun zu erkennen glaubt (Schleier heute gelüftet, V. 355 f.) und das ihm die Locken schon gestreift habe (V. 358): Es möge kommen: „Ein Pfand schon warfst du, im Vorüberschweben, / Aus deinem Füllhorn lächelnd mir herab: [nämlich den Handschuh!] / Ich hasche dich im Feld der Schlacht und stürze / Ganz deinen Segen mir zu Füßen um“ (V. 359 ff.). Das Glück wird ihm also den Sieg in der Schlacht bringen und noch mehr, seinen ganzen Segen wird es ihm geben müssen, das heißt mit dem Handschuh auch Natalies Hand (und das kurfürstliche Paar als „Vater“ und „Mutter“). – Wie er den Sieg erringt und die Verwirklichung seiner Träume einleitet, wird dann in II,5 berichtet; Natalies Herz gewinnt er in II,6, dringt in II,8 bis zur Anrede „Mutter“ (V. 710) vor. In II,9 wird jedoch das Todesurteil verkündet – damit ist der Traum vom Glück gefährdet.
Fazit: Im 1. Akt nehmen wir Friedrich von Homburg als einen „Träumer“ wahr und lernen seine Glückstr.ume kennen; sie werden mit der Realität durch den Handschuh Natalies verbunden, welchen Friedrich erhascht hat. Friedrichs Träumen entfernt ihn jedoch aus der gegenwärtigen Realität, nämlich der Erklärung des Plans der kommenden Schlacht. Im Besitz des Glückspfandes ist er sich im Herzen vorab des Sieges sicher, ohne dass sein Verstand den Plan der Schlacht begriffen hätte. Aus der Differenz zwischen gegenwärtigen Befehlen und künftigen Siegen [und der Frage, was sie wirklich miteinander verbindet: der Plan oder das Glückspfand] ergibt sich die Gefahr des Scheiterns.
Material: Was man zu Kleists Zeiten vermutlich von „Traum“ und „Handschuh“ wusste
Der Traum, […] der Zustand verworrener Vorstellungen im Schlafe, ein mittlerer Zustand zwischen Schlafen und Wachen. (Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801)
Die Nachtwandler, Mondsüchtigen. Mit diesem Namen belegt man gewisse Personen, welche in der Nacht, ohne es sich bewußt zu sein, alles das und noch weit mehr verrichten, was ein gesunder Mensch am hellen Tage unternehmen kann. […] Es fehlt bis jetzt noch an einer gründlichen Erklärung dieses Phänomens. (Brockhaus Conversations- Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809)
Mondsucht, jener krankhafte Zustand, in welchem Menschen durch lebhafte Träume und Einflüsse besonderer Art so aufgeregt erscheinen, daß sie im Schlafe herumwandeln, wobei Auge und Ohr schlafen, und nur die innern Sinne, der Geist und besonders die Unterleibsnerven thätig sind (s. Gehirn, Magnetismus, Nerven). […] Sind solche Kranke in ihrem Zimmer, wo sie nicht Schaden nehmen können, so wecke man sie auf sanfte Weise, gebe ihnen Wasser zu trinken und lasse Augen und Stirn kalt waschen; dagegen ist bekannt, daß man Nachtwandler nicht erschrecken darf, wenn sie sich an gefährlichen Stellen befinden. (Damen Conversations Lexikon, Bd. 7, 1836)
Traum, Traumdeuterei […] Wenn bei der durch den Schlaf verursachten Unthätigkeit des Gehirns und Rückenmarkes und der von ihnen abhängigen Nerven die Functionen der Sinne, das Bewußtsein, Bewegung etc, gebunden sind, so bleiben die Nerven der Ganglien (Nervenknoten), welche vitale Handlungen des Körpers, Athmen, Umlauf des Blutes etc, bedingen, immer noch thätig, sowie die an diese Nerven gebundenen Seelenvermögen, das unwillkührliche Gedächtniß, die Einbildungskraft und das Begehrungsvermögen. Aus dem Walten dieser von der Außenwelt und den Sinneseindrücken abgewendeten Seelenthätigkeiten entsteht der T., welcher sich gewöhnlich in Bildern und Allegorien ausspricht, zu denen die Erinnerungen aus der Sinnenwelt meistens nur die Form geben. […] Die meisten T’e sind am Morgen vergessen; zum Bewußtsein gelangen dagegen diejenigen, welche an der Grenze des Schlafens und Wachens oder während eines nicht allzu tiefen Schlafes sich bilden; denn dann ist die Thätigkeit des Gehirns nicht ganz eingestellt, und das Gangliensystem steht mit dem Cerebralnervensysteme noch in Verbindung. Die wunderbare Bildersprache und unergründliche Phantastik der Traumwelt deutete am tiefsinnigsten der große Naturforscher Schubert in seiner »Symbolik des Traums.«. (Damen Conversations Lexikon, Bd. 10, 1838)
Der Kruenitz (http://www.kruenitz1.uni-trier.de) hat große Artikel zu „Traum“ und „Nachtwanderer“.
Handschuhe […] Der Handschuh wurde häufig auch in symbolischer Bedeutung genommen. Als Zeichen der Herausfoderung zum Zweikampf warf der Ritter dem Gegner seinen Handschuh hin, Dasselbe that bei ehrenrührigen Beschuldigungen der Angeklagte, indem er Jeden zum Kampf auffoderte, der jene Beschuldigung für wahr halte; wer den Handschuh aufhob, nahm den Zweikampf an. Auch wurde die Fehde durch Übersendung eines Handschuhs (daher Fehdehandschuh) angekündigt. Schenkungen, Privilegien, Bewilligungen von Seiten der Fürsten (namentlich zur Anlegung einer Stadt, des Münzrechts, der Marktfreiheit) wurden sinnbildlich durch Übergebung von einem oder von ein Paar Handschuhen bestätigt. (Brockhaus Bilder- Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838, S. 328.)
Er hat einen Handschuh bekommen. Bei den alten Sachsen bezeichnete die Sendung eines Handschuhs eine Schenkung, Uebergabe, Zueignung. Wenn sich eine Stadt das Marktrecht vom Kaiser erbat, so sandte er ihr einen Handschuh zum Zeichen, dass ihre Bitte gewährt sei. (Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter- Lexikon, Band 2. Leipzig 1870.)
Handschuh als Rechtssymbol. Mit dargereichtem oder hingeworfenem Handschuh wurden bei Franken, Alamannen, Langobarden und Sachsen Güter übergeben, gleichsam ausgezogen und abgelegt. Zum Zeichen ausgebrochenen Bannes warf der König oder Richter den Handschuh hin und erklärte damit den Verbrecher alles seines Gutes für verlustig. Verbreiteter als die beiden genannten Anwendungen des Handschuhes ist der im ganzen Mittelalter gebräuchliche Wurf des Handschuhes als Aufforderung zum Kampf. Endlich bezeichnet der Handschuh Verleihung einer Gewalt von seiten der Höheren auf einen Geringeren; Boten wurden durch Überreichung des Handschuhes und Stabes von Königen entsendet. Städten, welchen der Kaiser Marktrecht giebt, sendet er seinen Handschuh. (Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885, S. 362)
Der Brauthandschuh hatte gerade im Mittelalter eine sehr große Bedeutung. Wenn ein Mann den Handschuh einer Frau erhielt, galt das als besondere Auszeichnung und Zeichen der Zuneigung. Bei Hochzeiten wurden teilweise auch die Handschuhe beider Ehepartner, Braut und Bräutigam getauscht, ein Symbol gegenseitiger Liebe. (http://www.brautideal.de/Handschuhe)
Das Deutsche Rechtswörterbuch (http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/) nennt unter „Handschuh“ Belege, dass beim Ehegelöbnis Handschuhe überreicht wurden.