Georg Herwegh: Aufruf (1841)
Reißt die Kreuze aus der Erden!
Alle sollen Schwerter werden,
Gott im Himmel wird‘s verzeih‘n.
Lasst, o lasst das Verseschweißen!
Auf den Amboss legt das Eisen!
Heiland soll das Eisen sein.
Eure Tannen, eure Eichen –
Habt die grünen Fragezeichen
Deutscher Freiheit ihr gewahrt?
Nein, sie soll nicht untergehen!
Doch ihr fröhlich Auferstehen
Kostet eine Höllenfahrt.
Deutsche, glaubet euren Sehern,
Unsre Tage werden ehern,
Unsre Zukunft klirrt in Erz;
Schwarzer Tod ist unser Sold nur,
Unser Gold ein Abendgold nur,
Unser Rot ein blutend Herz!
Reißt die Kreuze aus der Erden!
Alle sollen Schwerter werden,
Gott im Himmel wird‘s verzeih‘n.
Hört er unsre Feuer brausen
Und sein heilig Eisen sausen,
Spricht er wohl den Segen drein.
Vor der Freiheit sei kein Frieden,
Sei dem Mann kein Weib beschieden
Und kein golden Korn dem Feld;
Vor der Freiheit, vor dem Siege
Seh‘ kein Säugling aus der Wiege
Frohen Blickes in die Welt!
In den Städten sei nur Trauern,
Bis die Freiheit von den Mauern
Schwingt die Fahnen in das Land;
Bis du, Rhein, durch freie Bogen
Donnerst, lass die letzten Wogen
Fluchend knirschen in den Sand.
Reißt die Kreuze aus der Erde!
Alle sollen Schwerter werden,
Gott im Himmel wird‘s verzeih‘n.
Gen Tyrannen und Philister!
Auch das Schwert hat seine Priester,
Und wir wollen Priester sein!
Den Kern des „Aufrufs“ machen die ersten drei Verse aus, die zu Beginn der vierten und der siebten Strophe wiederholt werden und so dem Gedicht seine Struktur geben. Sie sind Anfang, Mitte und Ende der Forderungen des Sprechers: „Reißt die Kreuze aus der Erden…“ Dieser Aufruf (Imperativ) ist in einem christlich geprägten Land, wie es Deutschlang um 1840 war, eine Gotteslästerung; daher ist es erforderlich, dass die Bedenken der zu solcher Tat Aufgerufenen beschwichtigt werden: „Gott im Himmel wird‘s verzeih‘n“ (V. 3), auch wenn alle seine irdischen Vertreter und Statthalter ob des Frevels laut aufheulen werden. Wozu sollen die Kreuze ausgerissen werden? „Alle sollen Schwerter werden“ (V. 2); erst später wird klar, wozu diese Schwerter gebraucht werden: zum Kampf für die Freiheit (V. 9, V. 25 ff.), zum Kampf gegen „Tyrannen und Philister“ (V. 40). Dieser Freiheitskampf ist der große Zweck, der das Mittel: aus Kreuzen Schwerter schmieden, heiligt – das besagt der dreifache Aufruf.
Es spricht ein im Text Ungenannter, der leicht als das Sprachrohr des Dichters Herwegh zu erkennen ist. Abschätzig nennt man solche Dichtung „Tendenzliteratur“: „Dichtungen mit propagandistischer Absicht, die eine eindeutige politische Richtung, Ideologie oder Moral erkennen lassen. Die Bezeichnung geht zurück auf die Zeit des Jungen Deutschland und des Vormärz, als man eine leidenschaftlich vertretene politische oder weltanschauliche Orientierung eine ‚Tendenz‘ nannte.“ (Wikipedia, 6/2020) Positiv kann man von politisch engagierter Literatur sprechen. Angesprochen sind die Deutschen („Eure Tannen“, V. 7, und direkt „Deutsche“, V. 13).
Mit diesem Aufruf ist eine Reihe von Forderungen verbunden, aber auch mehrere Prognosen: Der Sprecher blickt ausschließlich in die Zukunft und lässt die Vergangenheit, zu der auch die Kreuze gehörten, hinter sich.
Es schließt sich ein zweiter Aufruf (Imperativ) an: Die Deutschen sollen nicht Verse, sondern das Eisen schmieden (V. 4 f.); die Deutschen, sonst Dichter und Denker („Verseschweißen“, V. 4, ein Bild aus der Erzverarbeitung, in der Nähe der Schwertproduktion), sollen Freiheitskämpfer werden – das sei derzeit die höchste Forderung an jeden, sei die neue Religion. Das wird in den drei Schlussversen der genannten Strophen 1, 4, 7 bekräftigt: „Heiland soll das Eisen sein“ / Gott spricht „wohl den Segen drein“ / „Und wir wollen Priester sein“: Hier wird der alte Gott des Kreuzes dafür in Anspruch genommen, den Kampf und die Kämpfer (= „Priester“) für die neue Göttin der Freiheit zu segnen. Es ist beinahe unmöglich, hier nicht an Delacroix‘ Bild „Die Freiheit führt das Volk“ von 1830 zu denken.
Der Aufrufende spricht kraftvoll in Trochäen, er schließt seine Forderungen mit Rufzeichen (V. 1, V. 5). Die Verse bestehen aus vier Metren, der jeweils dritte und sechste Vers sind um eine Silbe verkürzt (weibliche Kadenz), was – verbunden mit einem Satzende (mindestens Semikolon) zu einem kurzen Innehalten im Sprechen führt. Die Verse 1/2 und 4/5 bilden semantisch sinnvolle Paarreime: Kreuze aus der Erden / sollen Schwerter werden (ein Vorgang); Verseschweißen [Neologismus, statt Verseschmieden] / schmieden das Eisen (zwei konträre Schmiedevorgänge). Auch die verkürzten Verse 3/6 reimen sich: Gott wird‘s verzeih‘n / Heiland soll das Eisen sein (alte und neue Religion im Bunde); die Verse 3 und 6 schmieden also die Doppelverse 1/2 und 4/5 zu einer Einheit zusammen, auch wenn alle Verse in sich geschlossene Sätze sind.
In den beiden nächsten Strophen geht es primär um das Thema: Wie sieht die nächste Zukunft aus? Die Antwort lautet: düster. Doch zunächst wird enthüllt, worum es im bevorstehenden Kampf geht: um die Freiheit (2. Str.). Der Sprecher lanciert das Thema geschickt, indem er die Tannen und Eichen metaphorisch als „die grünen Fragezeichen / Deutscher Freiheit“ (V. 8 f.) einführt und fragt, ob man deren Frage [etwa: Wie steht es um die deutsche Freiheit?] wahrgenommen habe, wobei seine Zuhörer erstmals mit dem Pronomen „ihr“ angesprochen werden. Die Tanne als immergrüner Baum ist nicht nur Weihnachtsbaum, sondern auch Symbol für ewiges Leben und Auferstehung und verweist als solche schon auf V.10-12 vor, während die Eiche mit ihrem harten Holz einmal Lebensbaum, seit dem 18. Jahrhundert auch typisch deutscher Wappenbaum bzw. Nationalbaum ist. So können beide Bäume „Fragezeichen deutscher Freiheit“ sein, wie in V. 10-12 erläutert wird – in Form einer Willenserklärung (V. 10) und einer Prognose (V. 11 f.). Dabei sind die drei Stationen: (beinahe) Tod / Höllenfahrt / Auferstehung dem im Christentum geglaubten Erlösungsweg Jesu Christi nachgebildet, womit indirekt die Hoffnung auf das Wiedererstehen der Freiheit begründet ist. Im Vordergrund der Prognose steht jedoch die angekündigte Höllenfahrt. – Die Reime sind wieder sinnvoll: V. 7/8 Identifizierung der genannten Bäume, V. 10/11 Stationen des Erlösungsweges (bzw. wenn man die Negation in V. 10 mit hinzunimmt: Gleichheit der beiden Zustände).
Wieso „uns“ (erstmals Hörer und Sprecher zusammengeschlossen) eine Höllenfahrt bevorsteht (Prognose), wird im Anschluss an die Aufforderung in V. 13 erläutert: Mit den Attributen „ehern“ und „Erz“ (V. 14 f.) wird im Anschluss an das Eisenschmieden (1. Str.) die Härte der bevorstehenden Kämpfe angedeutet und in der Auslegung der Farben Schwarz-Rot-Gold, die seit 1815 die erhoffte deutsche Einheit symbolisierten, entfaltet (V. 16-18): Schwarz steht für den drohenden Tod, Gold ist „ein Abendgold nur“, also ein bald verschwindendes Gold, und Rot steht für das blutende Herz – wobei offen bleibt, warum das Herz blutet, aus Leiden an der Unfreiheit oder im Kampf getroffen. Das Rufzeichen hinter V. 18 bekräftigt die entschiedene Prognose. – Wer die Seher sind (V. 13), wird nicht gesagt; ich halte es für wahrscheinlich, dass der Sprecher sich selbst zu diesen Sehern zählt. Die Reime schmieden die Aussagen über die Ankündigung der Seher (13/14) und die tödlichen Gefahren (V. 16/17) zusammen.
Es folgt eine Wiederholung der ersten drei Verse (V. 19-21), wobei diesmal die Voraussage über des alten Gottes Handeln erweitert wird: Er wird nicht nur das Ausreißen verzeihen (V. 21), sondern das Tun der Kämpfer auch segnen (V. 24); die Begründung dieser Hoffnung steht in V. 22 f.: Wenn er „sein heilig Eisen“ (= unsere aus den Kreuzen geschmiedeten Schwerter) sausen hört, erkennt er das Recht der Kämpfer, denen er deshalb seinen Segen nicht verweigern kann. In V. 22/23 wird im Reim die Einheit des Schmiedens und der Kämpfer hergestellt; die Verse 21/24 bezeichnen auch im Reim die Einheit des göttlichen Handelns („verzeih‘n / Segen drein“).
Den zweiten Zwischenraum zwischen den Aufforderungen, die Kreuze auszureißen (4. und 7. Strophe), füllt der Sprecher mit einer ganzen Reihe von Forderungen, die entweder im Konjunktiv I (Wunsch, 5. Str. und V. 31 f.) oder im Imperativ „lass“ (V. 35) formuliert sind. Der Tenor dieser Forderungen ist: Das ganze normale Leben muss vor dem Sieg im Freiheitskampf (V. 32 f.) eingestellt werden, weil es in diesem Kampf um alles geht. Die Fahnen schwingende Freiheit (V. 32 f.) und der fluchende deutsche Rhein (V. 36) werden als Personen eingeführt; was mit den freien Bogen gemeint ist, bleibt offen – ich vermute, dass es parallel zu V. 35 f. die großen Windungen des mäandrierenden Flusses sind.
In den Versen 28/29 und 31/32 kann man wegen der Enjambements keine sinnvollen Reime erwarten; in 25/26 sind Entsagungen des Kampfes, in 34/35 Bewegungen des Rheins im Reim aneinander gebunden – 34/35 nur die betreffenden Wörter, keine ganzen Aussagen (Enjambements); ähnliche Zusammenhänge kann man in 27/30 und in 33/36 entdecken. Dass der Rhein im Kampf mit den Franzosen seit den Eroberungskriegen Napoleons als „freier deutscher Rhein“ gefeiert und gefordert wird, sei nur am Rand erwähnt: „Die Wacht am Rhein“ von Max Schneckenburger sei genannt, aber auch Herweghs relativierende Antwort „Protest“ (1841): „Und singt die Welt: Der freie Rhein! / So singet: Ach! Ihr Herren, nein! / Der Rhein, der Rhein könnt‘ freier sein, / Wir müssen protestieren.“ Auch der seit 1800 aufkommenden Rheinromantik kann man nachspüren, um zu verstehen, dass der Rhein in die im Kampf notwendige Einschränkung des Lebens einbezogen wird.
Nach der zweiten Wiederholung der ersten drei Verse (V. 37-39) werden erstmals die Gegner im Freiheitskampf benannt: Tyrannen und Philister, bzw. es wird zum Kampf gegen sie aufgerufen (Rufzeichen, V. 40). Tyrannen sind alle, die die Freiheit unterdrücken: die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Vereinigung von Studenten, die kritischen Professoren (Karlsbader Beschlüsse 1819). Philister sind in der Sprache der Studenten die Spießer, die nicht über den Tellerrand ihres Lebens im Städtchen hinausblicken – Herwegh war Jahrgang 1817 und hatte nach kurzem Studium sich auch als Dichter dem politischen Kampf verschrieben.
Zum Schluss wird noch einmal die religiöse Metaphorik des Freiheitskampfes ausgeweitet: „Auch das Schwert hat seine Priester“ (V. 41), nämlich uns Kämpfer (V. 42) – damit werden die zum Kampf Aufgeforderten ins große WIR eingebunden, sie erhalten eine Weihe und Auszeichnung. Rhetorisch geschickt ruft der Sprecher: „Wir wollen…“ – können sich die Aufgerufenen da noch dem Kampf versagen? „Philister/Priester“ (V. 41 f.) bezeichnet einen Gegensatz, während 39/42 im Reim den verzeihenden Gott und seine Priester zusammenschließt.
Es gibt eine anonyme Replik zu Herweghs Gedicht (Reaction und Adel. Eine Mahnung. Nebst einem Anhange aus dem Tagebuche eines Royalisten, Berlin 1843, S. 24)
An Georg Herwegh
„Reißt die Kreuze aus der Erden! –“
Ward durch deutsche Lieder kund,
Schwerter sollen alle werden
Flammend durch der Erde Rund.
„Reißt die Kreuze aus der Erden! –“
Sang ein deutscher Dichtermund, —
Soll‘n wir alle Heiden werden?
Soll‘n zerreißen Christi Bund?
Dichter, der du so gesungen,
Hast du niemals Ihn geschaut,
Der von Liebe nur durchdrungen
Mild die Kirche uns erbaut?
Ward in Nächten Schmerz durchrungen
Nie die Seele dir bethaut,
Durch den Trost, der einst erklungen
Von dem Kreuze hell und laut?
Freiheit mußt vom Kreuz du flehen.
Freiheit ist am Kreuz allein,
Nur am Kreuze kann entstehen
Freiheit wahrhaft hell und rein,
Dichter laß die Kreuze stehen,
Steck die Schwerter ruhig ein,
Willst zum Freiheitskampf du gehen,
Laß das Kreuz die Waffe sein!
Hier ahnt man, was das Bündnis von Thron und Altar bedeutet.
https://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/350470_0237_Herwegh_Aufruf.pdf (Text)
http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/herwegh_gedichte01_1841?p=59 (Text, Original)
https://lyrik.antikoerperchen.de/georg-herwegh-aufruf,textbearbeitung,131.html (schülerhafte Analyse, hilflos)
https://www.youtube.com/watch?v=gGfsvZQgXcg (Stefan Höning singt)
https://www.youtube.com/watch?v=lv8KwGqf2vI (Die Liederarchäologen: Georg Herwegh – Geschichte in Liedern)
Georg Herwegh
https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Herwegh
https://gedichte.xbib.de/gedicht_Herwegh.htm
https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Literatur/Georg_Herwegh
https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/127236126
http://oberrhein-projekte.de/poet-mit-dem-flammenwort/
https://www.swr.de/swr1/importe/migration/redaktion/download-swr-2752.pdf (Emma Herwegh)
Welches Ansehen Herwegh genoss, zeigt Robert E. Prutz‘ Gedicht „Wilde, wilde Rosen.“ Seinem Georg Herwegh, September 1842 https://archive.org/details/bub_gb_OvoPAAAAYAAJ/page/n79/mode/2up
Vormärz
https://www.geschichte-abitur.de/restauration-und-vormarz/vormarz
https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch/artikel/vormaerz-und-junges-deutschland
https://praxistipps.focus.de/vormaerz-die-epoche-einfach-erklaert_112306
https://www.inhaltsangabe.de/wissen/literaturepochen/vormaerz/
Sonstiges
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Freiheit_f%C3%BChrt_das_Volk (Delacroix)
https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarz-Rot-Gold (Schwarz-Rot-Gold)
https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinromantik (Rheinromantik)
https://de.wikipedia.org/wiki/Karlsbader_Beschl%C3%BCsse (Karlsbader Beschlüsse)
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/vormaerz-und-revolution/deutscher-bund/karlsbader-beschluesse-1819.html (dito)
P.S. Im Vormärz überschnitten sich wie so oft religiöse und politische Reformbestrebungen; so ist auch das Phänomen des Deutschkatholizismus zu verstehen (wo z.B. Robert Blum aktiv war), was man bei der Interpretation politisch-religiöser Motive in Gedichten wissen und beachten sollte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschkatholizismus
https://deacademic.com/dic.nsf/meyers/30848/Deutschkatholiken
https://de.unionpedia.org/i/Deutschkatholizismus
https://de.wikipedia.org/wiki/Ultramontanismus