A. von Chamisso: Abba Glosk Leczeka – das Schicksal eines jüdischen Aufklärers

Wer war Glosk Leczeka? In der englischen Wikipedia wird die Vermutung berichtet, dass hinter dieser Figur Salomon Maimon steht. Chaim Shoham hat die Ergebnisse seines Aufsatzes „Der Ritter der Wahrheit reitet nach Berlin“ (1994) so zusammengefasst: „Abba Glosk, der als einer der frühen Aufklärer im jüdischen Ost-Europa von den Rabbinern und Gemeinden als Gefahr angesehen wurde, wird anhand von Adelbert von Chamissos Ballade und zeitgenössischen Quellen vorgestellt. In seinem ihm aufgezwungenen Wanderleben begegnete er Moses Mendelssohn in Berlin um 1768.“ Jedenfalls war Glosk Leczeka, ein Jude und Bettler, entgegen den gängigen Erwartungen „preisenswert“, wie in der Einleitung des Gedichts festgestellt wird (1. Str.). Wegen der Länge des Gedichts gebe ich nur einen Überblick über dessen Aufbau und die zentralen Stellen.

Zu Beginn wird berichtet, wie Glosk Leczeka dem großen Moses Mendelssohn begegnete (Str. 2-6): Zunächst wird er abgewiesen, doch sein „Durst nach Wahrheit“ verschafft ihm Zugang zu Moses: Als Wahrheitssucher sei er ihm „ein liebgehegter Gast“.

Es folgt ein kurzer Bericht über die ersten Gespräche (Str. 7-9); Moses fragt Glosk: „Wie haben Schul und Welt / So seltsam dich erzogen und deinen Geist erhellt?“ Darauf antwortet Glosk in einer langen Rede über seinen Werdegang als Rabbi (Str. 10-20): Er habe in Glosk den Talmud studiert; doch als er selber lehren sollte, habe sich seine Rede „wundersam verkehrt“:

„Da schallt‘ aus mir die Stimme auf Satzungen und Trug,

Dem Blitze zu vergleichen, der aus den Wolken schlug.“

So habe er sich selber gefunden und sei seiner Sendung gefolgt, habe aber die Heimat verlassen müssen. In Wilna habe man seine 13 Bücher, die Summe seines Wissens, verbrannt und ihn als Ketzer beinahe getötet. Dann sei er weitergezogen (Str. 21-24), um

„Zu lehren und zu bessern, zu sichten [= sieben, N.T.] sonder Scheu

Den Glauben von dem Wahne, den Weizen von der Spreu.“

Dann unterbreitet er Moses den Vorschlag, gemeinsam den Schleier des jüdischen Aberglaubens zu zerreißen, Jünger zu sammeln und als aufklärende Lehrer zu wirken (Str. 25-28).

Moses lehnt das ab (Str. 29-31), verweist auf Glosks Leiden und die Beständigkeit des Aberglaubens, der erst mit der Zeit überwunden werden könne: „Bleib hie und lerne schweigen so sprechen nicht am Ort; / Du magst im Stillen forschen…“ Vielleicht werden sein Enkel die Saat der Wahrheit aufgehen sehen. Darauf verabschiedet Glosk sich von Moses: „So sprich, wer soll denn reden und tun die Wahrheit kund?“ (St. 32)

Es folgt ein längerer Bericht über das, was Glosk anschließend erlebte (Str. 33 ff.): Er lehrte und wurde von den Ältesten der Juden in Berlin verhört und der Stadt verwiesen, sollte aber Strafgebühren zahlen; Moses rettete ihn davor, ausgewiesen zu werden. Glosk erzählte seinen Widersachern noch eine Geschichte von einem in Lemberg verfolgten Juden, der für einen von ihm nicht verursachten Schaden aufkommen sollte (Str. 41-47); damit erklärte er ihnen, dass er selber nichts zahlen will und kann.

Es wird berichtet, dass Glosk und Moses sich noch kurz vertraulich über die Möglichkeit, frei zu lehren, austauschen (Str. 48-52). Glosk sagt:

„Frei muß ich denken, sprechen und atmen Gottes Luft,

Und wer die drei mir raubet, der legt mich in die Gruft.“

Moses bezweifelt, dass er diese Freiheit in England oder Holland findet; Glosk dagegen beruft sich auf seine Liebe zu seinem Volk, den Glauben, es müsse zu bessern sein, und den Wunsch, dabei mitzuwirken.

Es folgt ein kurzer Bericht vom weiteren Leben des Rabbi Glosk (Str. 53-57): Er lehrte, es erging ihm schlecht; nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin zog er erneut in seine Heimat, wo er auch verstoßen wurde, und so zog er weiter, „fluchbeladen, unstät von Ort zu Ort“, bis ihn schließlich der Schoß der Mutter Erde aufnahm, „ihm fielen die müden Augen zu“.

„Abba Glosk Leczeka“, 1832 erschienen, ist die Ballade von einem furchtlosen Aufklärer, der als gelehrter Talmudist religiösen Aberglauben beseitigen will zugunsten des wahren Glaubens, soweit er sich ihm erschlossen hat. Der deutsche Jude Moses Mendelssohn, Aufklärer und Freund Lessings, ist der Mann, dem er sein Inneres erschließt, der ihm aber vergebens zu kluger Zurückhaltung rät. In den beiden Männern begegnen uns zwei Möglichkeit, wie man angesichts allgemeiner Verblendung mit der Wahrheit umgehen kann. Glosk scheitert, wenn man so will, an seiner unbeugsamen Aufrichtigkeit, ist es aber wert, dass er im Gedicht ein Denkmal erhält.

Text des Gedichts: https://gedichte.xbib.de/Chamisso_gedicht_Abba+Glosk+Leczeka..htm = https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n277/mode/2up

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://www.heimatjahrbuch-vulkaneifel.de/VT/hjb1983/hjb1983.76.htm (Heimatjahrbuch Vulkaneifel 1983)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

https://www.chamisso-gesellschaft.de/ (Chamisso-Gesellschaft)

J. M. bin Gurion: Der Born Judas

Ich möchte auf eine Sammlung jüdischer Geschichten hinweisen, die zu Beginn des 20. Jh. erschienen ist:

Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen. Gesammelt von M. J. Bin Gurion = Micha Jozef Berdyczewski. Leipzig / im Insel-Verlag

https://archive.org/details/derbornjudaslege01berd Bd. 1 Von Liebe und Treue, 1916

https://archive.org/details/derbornjudaslege02berd Bd. 2 Vom rechten Weg, 1916

https://archive.org/details/derbornjudaslege03berd Bd. 3 Mären und Lehren, 1918

https://archive.org/details/derbornjudaslege04berd Bd. 4 Weisheit und Torheit, 1919

https://archive.org/details/derbornjudaslege05berd Bd. 5 Volkserzählungen, 1921

https://archive.org/details/derbornjudaslege06berd Bd. 6 Kabbalistische Geschichten (nach dem Tod bin Gurions 1921)

1959 gab es im Insel-Verlag eine neue Ausgabe, allerdings in anderer Anordnung der Geschichten (und vielleicht auch nicht vollständig, aber das zu prüfen scheint mir der Mühe nicht wert). Dieses Buch habe ich 1965 gekauft; damals kostete ein in Leinen gebundenes Buch von knapp 800 Seiten 12,80 DM; dieser Preis ist hinten im Buch vermerkt. – Die Geschichten sind insgesamt volkstümlich und kaum von literarischem Wert; die Hilfe Gottes wird den Frommen zuteil und denen, die von ihren Sünden ablassen. Das Studium der heiligen Schriften wird gepriesen, vor den Unkeuschheit wird gewarnt, die Frau sei dem Mann untertan und selbst Tote können ins Leben zurückkehren – da wundert es einen nicht, dass gelegentlich Elia auftaucht und dass die Zukunft in Träumen enthüllt wird.

Scholem-Alejchem: Eine Hochzeit ohne Musikanten – gelesen

„Eine Hochzeit ohne Musikanten“ ist eine Sammlung von Erzählungen Scholem-Alejchems, die 1961 im Insel-Verlag erschienen ist und die es heute noch antiquarisch zu kaufen gibt. Sie enthält drei größere und fünf kleinere Erzählungen. In „Unterwegs nach Heißin“ geht es um drei Juden, die in Begleitung eines Polizisten zum Gefängnis nach Heißin marschieren müssen; dabei werden dem hartherzigen Reichen von einem, der wegen illegaler Weinherstellung angezeigt worden war, unterwegs die Leviten gelesen und er geht in sich. „Die Erwählten“ sind sieben Männer aus Kaßrilowka, deren Stadt abgebrannt ist und die zur Stadt Jehupez unterwegs sind, um dort die reichen Juden um Hilfe zu bitten – nebst allen Abenteuern während der Fahrt und in der Stadt. In „Die ewige Seligkeit“ berichtet ein junger Ich-Erzähler, wie ihm auf der Fahrt zur Musterung eine Frauenleiche angedreht wurde und er beim Bemühen, für sie ein Begräbnis zu bekommen, sein ganzes Geld einbüßte; fortwährend wurde ihm und möglichen Helfern versichert, damit verdiene er sich die ewige Seligkeit: „Seit jener Zeit fliehe ich die ewige Seligkeit!“

Die fünf kleinen Erzählungen sind Miniaturen. In „Pessach im Dorf“ spielen zwei kleine Jungen, ein Jude und ein Russe, gern miteinander und sind am Vortag von Pessach lange gemeinsam unterwegs, so dass sie vermisst werden und die Bürger sich schon anschicken, gegen die Juden vorzugehen, weil diese vermeintlich den Christenjungen in einem Ritualmord beseitigt haben. In der titelgebenden Geschichte „Eine Hochzeit ohne Musikanten“ verpassen Leute, die zu einem Pogrom unterwegs sind, vor lauter Schnapsseligkeit die Weiterfahrt im Zug, so dass die zu Hilfe gerufenen Kosaken rechtzeitig vor den mordlustigen Gesellen im Dorf eintreffen.

Dem Verständnis dient eine Erklärung jiddischer Wörter am Ende des Buches, wobei die Schreibweise dort nicht immer mit der im Text übereinstimmt; das kann natürlich daran liegen, dass es eine „richtige“ deutsche Lautung für jiddische Wörter nicht gibt (man denke etwa an Chruschtchow / Chruschtchew nebst weiteren Alternativen vor 50 Jahren!). Wenn man wissen will, was das Manifest vom 17. Oktober oder wer Gapon war, muss man das allerdings selber nachschauen.

Das Buch gibt es online im Projekt Gutenberg; man liest es leicht und auch mit Vergnügen, weil die Erzähler nicht ohne Selbstironie und mit gelegentlichen satirischen Seitenhieben (etwa zur Bestechlichkeit russischer Beamter) ihre Sachen vortragen. Das Inselbuch Nr. 624 ist übrigens in viel besserem Zustand als die gleichaltrigen Fischer-Taschenbücher, weil bei Insel besseres Papier bedruckt wurde.

Jakob Fromer: Judentum und Antisemitismus

Über Jakob Fromer habe ich keinen Lexikonartikel gefunden – anscheinend unterliegt er der damnatio memoriae. Zu der von ihm herausgegebenen Auswahl aus dem Babylonischen Talmud heißt es in der Reklame des Verlagshauses Römerweg: „Die Grundlagen jüdischer Religionsgesetze, die bis heute für das Judentum Gültigkeit haben, wurden in rabbinischer Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels verbindlich festgelegt. Das erste schriftlich kodifizierte Werk, die hebräische Mischna, wurde ab dem 3. Jahrhundert weitgehend auf Aramäisch kommentiert und nahm im babylonischen Talmud autoritative Gestalt an, die in der Folge alle jüdischen Lebenswelten nachhaltig prägen sollte. Jakob Fromer (1865-1938), der Übersetzer und Herausgeber einer in ihren Kontexten und Inhalten immer noch repräsentativen Auswahl aus dem babylonischen Talmud, die zuerst 1924 in Berlin erschien, war vor seinem Studium noch selbst im traditionellen Rahmen der Talmudausbildung erzogen worden. Sein erklärtes Ziel, das er mit seiner philologischen Erschließung des Talmuds verband, war der Zugang zur wichtigsten Quelle der jüdischen Religion für eine westeuropäische Öffentlichkeit, der die detaillierte Gesetzespraxis, die teilweise fantastischen Traditionen und ein Lebensentwurf, der Alltagsfrömmigkeit mit dem Lernen heiliger Schriften verband, fremd geblieben war.“

Ich habe von ihm „Vom Ghetto zur modernen Kultur“ (1906) gelesen. Darin erzählt er, wie er als armer Junge im Ghetto aufgewachsen ist und wie er den Talmud studieren musste; wie er über der Bekanntschaft mit Spinoza Gott verloren hat; wie er im Alter von 15 Jahren verheiratet wurde und wie die beschissene Ehe mit einer viel älteren Frau geschieden wurde; wie er mühsam Deutsch lernte, nach Berlin reiste und in Ketten zurückkam; wie er als Lehrer in Krakau arbeitete, schließlich nach Paris reiste und dort verhaftet wurde; wie er in Oswiecim als Lehrer arbeitete, nach Jahren einen österreichischen und schließlich sogar einen preußischen Pass bekam; wie er durch die Abiturprüfung fiel, aber doch studieren konnte und schließlich Bibliothekar einer jüdischen Bibliothek wurde – bis er aufgrund eines ketzerischen Aufsatzes 1904 entlassen wurde. Die Ereignisse der letzten zehn Jahre werden nicht erzählt, sondern durch Tagebucheintragungen und Briefe dokumentiert. Er legt dann seinen Plan einer Real-Konkordanz der talmudisch-rabbinischen Literatur vor und bringt weitere Auszüge aus seinen Tagebüchern (ab 1903), in denen er seine Zweifel am Existenzrecht des Judentums schildert, bis er sich entschließt, seinen Aufsatz über „Das Wesen des Judentums“ (1904) anonym zu veröffentlichen.

Dieser Aufsatz (S. 193 ff.), „das Ergebnis eines jahrzehntelangen Studiums, Prüfens und Ringens“, ist außerordentlich interessant; in ihm wird der Antisemitismus aus dem Wesen des Judentums abgeleitet. Die Pointe ergibt sich aus der Gegenüberstellung der modernen Zivilisation und der Eigenart eines vermeintlich von Gott erwählten Volkes. In der Zivilisation bemühe man sich darum, eine Harmonie zwischen dem Wahren, Guten und Schönen herzustellen. „Die Grundidee oder das Wesen des Judentums besteht in dem Streben, die Alleinherrschaft der Ethik zu begründen und die Logik und die Aesthetik, sofern sie nicht ethischen Zwecken dienen, rücksichtslos zu bekämpfen.“ (S. 208) Er skizziert dann, wie sich die Idee von der eigenen Auserwählung durch die Jahrhunderte gegen alle Erfahrung behauptet hat und immer wieder zu antisemitischen Ausschreitungen geführt hat; wie das moderne Judentum ein leere Hülle ist; und gibt seinen Volksgenossen den Rat, in den Wirtsvölkern aufzugehen und die verbohrte Idee der Auserwählung aufzugeben. – Es wird bekannt, wer den Aufsatz geschrieben hat; ihm wird gekündigt, den Prozess um das ausstehende Gehalt verliert er.

Der Weg aus dem Ghetto zur modernen Kultur war ein Leidensweg. Jakob Fromer verdient die Sympathie, die allen Ketzern gebührt: Sie stellen die von ihnen erkannte Wahrheit höher als Anpassung an die Konventionen der Umgebung, höher als die Aussichten auf Beförderung und gesicherte Lebensverhältnisse.

https://archive.org/details/vomghettozurmod00fromgoog/page/n9/mode/2up (Vom Ghetto zur modernen Kultur, 1906)

Man kann heute noch mehrere Bücher von Jakob Fromer kaufen. Auf archive.org kann man nachlesen:

https://archive.org/details/jakobfromerdaswesendesjudentums1905196s.scan/page/n3/mode/2up (Das Wesen des Judentums, 1905; verschiedene Ausgaben. In diesem Buch skizziert J. Fromer auf S. 2-4 ganz unpathetisch seinen Lebensweg.)

https://archive.org/details/salomonmaimonsle00maim/page/n7/mode/2up (Salomon Maimons Lebensgeschichte, 1911)

P.S. Wenn man bedenkt, dass Deutschland und die deutsche Sprache für die Ostjuden der Inbegriff der modernen Kultur waren und dass es große deutsche Sprachinseln in Russland und auf dem Balkan gab, sieht man mit Bedauern, welche ungeheuren Verluste die verbrecherische Judenpolitik der Nazis für deutsche Sprache und Kultur bewirkt hat.

In „Das Wesen des Judentums“ (1905) entfaltet Fromer die Gedanken seines Aufsatzes von 1904 etwas breiter; teilweise hat er Passagen des Aufsatzes wörtlich übernommen. Er polemisiert darin gegen die jüdischen Reformer Abraham Geiger, Heinrich Graetz, Leopold Zunz, Zacharias Frankel (eher konservativ) und Samuel Holdheim, über die man sich in der Wikipedia informieren kann.

Nun geht der Streit unter Juden, was ein richtiger Jude ist, andere zunächst nichts an, zumal da es ein Streit am Ende des 19. Jahrhunderts war. Inzwischen sind die schrecklichen Verbrechen der Nazis passiert, inzwischen ist der Staat Israel gegründet worden. Da er sich heute als jüdischer Staat versteht, in dem auch Nichtjuden leben, und da laut Angela Merkel Israels Existenz zur Staatsräson Deutschlands (was ist das eigentlich?) gehört, ist die Frage „Was ist ein Jude?“ auch für uns interessant. Außerdem ist die Frage Fromers, ob die jüdische Eigenart nicht Antisemitismus hervorruft oder fördert (wenn auch nicht rechtfertigt), auch heute noch relevant – wenn man so etwas nach den Naziverbrechen auch kaum fragen kann, ohne schon in den Verdacht des Antisemitismus zu geraten: Der Anspruch, ein vom einzigen Gott auserwähltes Volk zu sein, das eine Mission für die ganze Welt habe (Gen 12,1 ff.), ist für Nichtjuden schon eine Zumutung.

„Die Auffassung, daß das Judentum der Verbreitung einer religiösen Idee wegen ins Leben gerufen worden, die den Völkern, sobald sie sie erkannt haben werden, Hochachtung und Bewunderung einflößen und zum Segen gereichen werde“, die sich in der ganzen jüdischen Literatur finde (J. Fromer: Das Wesen des Judentums, 1905, S. 25), sei schlicht eine Lüge (S. 78), zu deren Stützung man immer weitere Lügen habe erfinden müssen (das Kommen des Messias, die jenseitige Belohnung), behauptet Fromer. Dass man unter dieser Prämisse wie Fromer die Bemühungen um eine Reform des traditionellen Judentums als ein Kurieren an Symptomen ansehen muss, leuchtet ein. Vielleicht sollte man auch die 34 Vorlesungen Abraham Geigers über „Das Judentum und seine Geschichte“ als Gegenstimme zu Fromer zur Kenntnis nehmen.

Ein ganz anderes Judentum als Fromer vertrat Max Brod, etwa in den beiden Bänden „Heidentum Christentum Judentum“, München 1921 = https://archive.org/details/heidentumchriste01brod/page/n5/mode/2up und https://archive.org/details/heidentumchriste02brod/page/n5/mode/2up

Vgl. auch https://archive.org/details/judischetheolog00webe/page/n13/mode/2up (F. Weber: Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften, 2. Aufl. 1897)

P.S. Am 2. Januar 2021 bekam ich einen Hinweis auf einen Aufsatz Fromers, in dem er darlegt, wie es ihm nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes erging – nämlich so wie allen „Ketzern“, die noch stärker als „die Ungläubigen“ gehasst werden:

Sehr geehrter Herr Tholen,

für Ihre Forschungen zu Fromer ist vielleicht noch dessen autobiographische Darstellung „Moderne Fehme“ aus M. Hardens Zeitschrift „Die Zukunft“ von Interesse (Die Zukunft, 3. September, Jahrg. XVIII, Bd. 72, Nr 49, S. 335ff.). Online verfügbar unter Our Digital Library (bibliotekaelblaska.pl)  – https://dlibra.bibliotekaelblaska.pl/dlibra/publication/60355/edition/55714/content (dort S. 335 ff.)

MfG Hans-Ulrich Seifert

Karl Emil Franzos: Der Pojaz (1905) – vorgestellt

Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten“ ist ein Roman, den Karl Emil Franzos‘ Witwe erst 1905 veröffentlicht hat, obwohl dieser ihn schon Jahre vorher vollendet hatte. Erzählt werden im Wesentlichen die beiden letzten Lebensjahre des jungen Juden Sender, der in einem Kaff in Galizien streng jüdisch aufgewachsen ist, der aus Begeisterung für den Schauspielerberuf mühsam Deutsch lernt und sich damit aus der jüdischen Tradition löst: „Deutsch“ war ein Schimpfwort für einen Juden, der sich der europäischen Bildung öffnete. – Die Figur weist einige Anklänge an des Autors Leben auf.

Sender ist das Kind eines „Schnorrers“, der unstet umhergezogen und vor Senders Geburt gestorben war. Seine Pflegemutter hat ihn selbstlos erzogen, aber ihm seine wahre Herkunft verschwiegen, weil diese als unehrenhaft galt. Doch die spielerischen Talente seines Vaters schlagen auch bei Sender durch. Er hat einen Teil seiner sprachlichen Kompetenz in der ungeheizten Bibliothek eines Dominikanerklosters erworben, wo er sich mühsam durch die Schauspiele Schillers gequält und sich eine Lungenkrankheit zugezogen hat; die große Rolle, die ihn fasziniert, ist Shakespeares Shylock. Als er sich unter seelischen Qualen heimlich aufmacht, um Schauspieler zu werden, ist er schon todkrank; er schließt sich widerwillig einer kleinen Truppe von Komödianten an, wird jedoch von seiner Pflegemutter zurückgeholt, erfährt die Wahrheit über seine Herkunft und stirbt schließlich.

Auch die Liebe hat ihn bewegt, obwohl er gegen die jüdische Pflicht und Tradition nie heiraten wollte: Er hat sich in die schöne Malke verliebt und glaubt, sie erwidere seine Gefühle; aber die hatte ihr Herz bereits an ihren Vetter Bernhard verloren, und dass die schöne und gutherzige Jütte ihn liebt, bemerkt er nicht, obwohl dank des auktorialen Erzählers für den Leser die Signale deutlich genug sind. Gleichwohl sagt er direkt vor seinem Tod: „Mein Leben. So schön…, so schön…“

Dennoch ist die Liebesgeschichte nicht das Hauptthema; vielmehr geht es darum, dass ein junger Mensch sich gegen Tradition und soziales Umfeld durchsetzen will, um sein Lebensziel (hier: Schauspieler werden) zu erreichen, dass er dafür härteste Strapazen auf sich nimmt, die Gesundheit verliert und im Gewissenskonflikt seine (Pflege)Mutter verlässt… Was auffällt: Es sind die Außenseiter der verschiedenen Großgruppen (Sender bei den Juden, Heinrich Wild bei den Soldaten, der strafversetzte Dominikaner), die den Schritt über die sozialen Grenzen wagen.

Erzählerisch ist der Roman eher melodramatische Unterhaltungsliteratur, und schon früh ahnt man, dass der junge Mann bald sterben wird. Der Wert des Romans liegt meines Erachtens darin, dass er uns die Welt des Ostjudentums um 1850 vor Augen führt: eine Welt der armen Außenseiter, die sich fanatisch gegen die moderne Kultur abgrenzen und dank ihres Glaubens und des strengen Regiments ihres Rabbis in einer feindlichen Umwelt als Juden überleben; wo der Heiratsvermittler nach dem Rabbi die wichtigste Person war; und wo lesen, schreiben und Deutsch sprechen lernen – Voraussetzung dafür, als Schauspieler auftreten zu können – den Abfall vom Glauben und den Ausschluss aus der Gemeinde bedeutet. Es geht im Ostjudentum zu wie im Mittelalter. Die Deutschen haben diese Welt und ihre Bewohner vernichtet – hier lebt sie literarisch weiter.

Was ich auch gelernt habe: dass die Chassidim (in der Sicht von Franzos‘ Erzähler) ziemlich engstirnige Fanatiker waren. Vor 50 Jahren galten sie unter fortschrittlichen Theologen dank Martin Bubers Buch „Die Erzählungen der Chassidim“ als Muster religiöser Weisheit. Meine Empfehlung: Karl Emil Franzos lesen (https://archive.org/details/derpojazeinegesc00fran/page/n9), bei archive.org gibt es eine Reihe Bücher von ihm. Ich bin auf das Buch in den Erinnerungen Golo Manns gestoßen.

Karl Emil Franzos:

http://www.lexikus.de/bibliothek/Die-Deutsche-Literatur-und-die-Juden/Karl-Emil-Franzos (ausführlich)

https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Emil_Franzos = https://austria-forum.org/af/AustriaWiki/Karl_Emil_Franzos

https://www.deutsche-biographie.de/sfz16988.html#ndbcontent

https://de.wikisource.org/wiki/Karl_Emil_Franzos

https://archive.org/details/diegeschichtedes00fran/page/212 (K. E. Franzos: Die Geschichte meines Erstlingswerks)

Außer K. E. Franzos sind vor allem Leopold Kompert, daneben noch Berthold Auerbach und Aaron Bernstein als Autoren von Geschichten der Ostjuden zu nennen.