Wer war Glosk Leczeka? In der englischen Wikipedia wird die Vermutung berichtet, dass hinter dieser Figur Salomon Maimon steht. Chaim Shoham hat die Ergebnisse seines Aufsatzes „Der Ritter der Wahrheit reitet nach Berlin“ (1994) so zusammengefasst: „Abba Glosk, der als einer der frühen Aufklärer im jüdischen Ost-Europa von den Rabbinern und Gemeinden als Gefahr angesehen wurde, wird anhand von Adelbert von Chamissos Ballade und zeitgenössischen Quellen vorgestellt. In seinem ihm aufgezwungenen Wanderleben begegnete er Moses Mendelssohn in Berlin um 1768.“ Jedenfalls war Glosk Leczeka, ein Jude und Bettler, entgegen den gängigen Erwartungen „preisenswert“, wie in der Einleitung des Gedichts festgestellt wird (1. Str.). Wegen der Länge des Gedichts gebe ich nur einen Überblick über dessen Aufbau und die zentralen Stellen.
Zu Beginn wird berichtet, wie Glosk Leczeka dem großen Moses Mendelssohn begegnete (Str. 2-6): Zunächst wird er abgewiesen, doch sein „Durst nach Wahrheit“ verschafft ihm Zugang zu Moses: Als Wahrheitssucher sei er ihm „ein liebgehegter Gast“.
Es folgt ein kurzer Bericht über die ersten Gespräche (Str. 7-9); Moses fragt Glosk: „Wie haben Schul und Welt / So seltsam dich erzogen und deinen Geist erhellt?“ Darauf antwortet Glosk in einer langen Rede über seinen Werdegang als Rabbi (Str. 10-20): Er habe in Glosk den Talmud studiert; doch als er selber lehren sollte, habe sich seine Rede „wundersam verkehrt“:
„Da schallt‘ aus mir die Stimme auf Satzungen und Trug,
Dem Blitze zu vergleichen, der aus den Wolken schlug.“
So habe er sich selber gefunden und sei seiner Sendung gefolgt, habe aber die Heimat verlassen müssen. In Wilna habe man seine 13 Bücher, die Summe seines Wissens, verbrannt und ihn als Ketzer beinahe getötet. Dann sei er weitergezogen (Str. 21-24), um
„Zu lehren und zu bessern, zu sichten [= sieben, N.T.] sonder Scheu
Den Glauben von dem Wahne, den Weizen von der Spreu.“
Dann unterbreitet er Moses den Vorschlag, gemeinsam den Schleier des jüdischen Aberglaubens zu zerreißen, Jünger zu sammeln und als aufklärende Lehrer zu wirken (Str. 25-28).
Moses lehnt das ab (Str. 29-31), verweist auf Glosks Leiden und die Beständigkeit des Aberglaubens, der erst mit der Zeit überwunden werden könne: „Bleib hie und lerne schweigen so sprechen nicht am Ort; / Du magst im Stillen forschen…“ Vielleicht werden sein Enkel die Saat der Wahrheit aufgehen sehen. Darauf verabschiedet Glosk sich von Moses: „So sprich, wer soll denn reden und tun die Wahrheit kund?“ (St. 32)
Es folgt ein längerer Bericht über das, was Glosk anschließend erlebte (Str. 33 ff.): Er lehrte und wurde von den Ältesten der Juden in Berlin verhört und der Stadt verwiesen, sollte aber Strafgebühren zahlen; Moses rettete ihn davor, ausgewiesen zu werden. Glosk erzählte seinen Widersachern noch eine Geschichte von einem in Lemberg verfolgten Juden, der für einen von ihm nicht verursachten Schaden aufkommen sollte (Str. 41-47); damit erklärte er ihnen, dass er selber nichts zahlen will und kann.
Es wird berichtet, dass Glosk und Moses sich noch kurz vertraulich über die Möglichkeit, frei zu lehren, austauschen (Str. 48-52). Glosk sagt:
„Frei muß ich denken, sprechen und atmen Gottes Luft,
Und wer die drei mir raubet, der legt mich in die Gruft.“
Moses bezweifelt, dass er diese Freiheit in England oder Holland findet; Glosk dagegen beruft sich auf seine Liebe zu seinem Volk, den Glauben, es müsse zu bessern sein, und den Wunsch, dabei mitzuwirken.
Es folgt ein kurzer Bericht vom weiteren Leben des Rabbi Glosk (Str. 53-57): Er lehrte, es erging ihm schlecht; nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin zog er erneut in seine Heimat, wo er auch verstoßen wurde, und so zog er weiter, „fluchbeladen, unstät von Ort zu Ort“, bis ihn schließlich der Schoß der Mutter Erde aufnahm, „ihm fielen die müden Augen zu“.
„Abba Glosk Leczeka“, 1832 erschienen, ist die Ballade von einem furchtlosen Aufklärer, der als gelehrter Talmudist religiösen Aberglauben beseitigen will zugunsten des wahren Glaubens, soweit er sich ihm erschlossen hat. Der deutsche Jude Moses Mendelssohn, Aufklärer und Freund Lessings, ist der Mann, dem er sein Inneres erschließt, der ihm aber vergebens zu kluger Zurückhaltung rät. In den beiden Männern begegnen uns zwei Möglichkeit, wie man angesichts allgemeiner Verblendung mit der Wahrheit umgehen kann. Glosk scheitert, wenn man so will, an seiner unbeugsamen Aufrichtigkeit, ist es aber wert, dass er im Gedicht ein Denkmal erhält.
Text des Gedichts: https://gedichte.xbib.de/Chamisso_gedicht_Abba+Glosk+Leczeka..htm = https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n277/mode/2up
https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)
https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)
https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)
http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)
https://www.heimatjahrbuch-vulkaneifel.de/VT/hjb1983/hjb1983.76.htm (Heimatjahrbuch Vulkaneifel 1983)
https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)
https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)
https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)
https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)
https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)
https://www.chamisso-gesellschaft.de/ (Chamisso-Gesellschaft)