Georg Rodolf Weckherlin:
Sonnet. An das Teutschland
Zerbrich das schwere joch, darunder du gebunden,
o Teutschland, wach doch auf, faß wider einen mut,
gebrauch dein altes herz und widersteh der wut
die dich und die freiheit durch dich selbs überwunden.
Straf nu die tyrannei, die dich schier gar geschunden,
und lösch doch endlich aus die (dich verzehrend) glut
nicht mit dein eignem schweiß, sondern dem bösen blut,
fließend aus deiner feind und falschen brüdern wunden.
Verlassend dich auf got, folg denen fürsten nach,
die sein gerechte hand will, so du wilt, bewahren
zu der getreuen trost, zu der treulosen rach:
So laß nu alle forcht, und nicht die zeit, hinfahren,
und got wird aller welt, daß nichts dan schand und schmach
des feinds meineid und stolz gezeuget, offenbaren.
Erläuterung:
Das Gedicht ist 1641 in Amsterdam veröffentlicht worden, Weckherlin lebte in England.
denen (V. 9): den
wilt (V. 10): willst
nichts dan (V. 13): nichts als
Ein ungenannter Sprecher wendet sich „An das Teutschland“, wobei es eo ipso keine konkrete Situation geben kann, da Deutschland nicht hören kann, was der Sprecher sagt – es sei denn, man sähe durch den Aufruf eine deutsche Öffentlichkeit konstituiert.
Der Sprecher ruft in neun aneinander gereihten Imperativen (von „Zerbrich“, V. 1, bis „laß … hinfahren“, V. 12) das unter dem Krieg, der seit 1618 in Deutschland geführt wird, das gequälte Land auf, sich gegen die Peiniger zu erheben; diese werden jedoch nicht politisch identifiziert, sondern nur metaphorisch benannt:
- das joch (V. 1)
- die wut (V. 3)
- die tyrannei (V. 5)
- die dich verzehrend glut (V. 6)
- falsche brüder (V. 8)
- die treulosen (V. 11).
Die beiden letzten Imperative, die in den Terzetten stehen, stehen unter der Zusage, dass Gott dem gequälten Land beistehen wird, wenn (Partizipialkonstruktion: Verlassend dich, V. 9) das Land „auf got“ vertraut: Das Land soll den Fürsten nachfolgen, die Gottes Hand bewahren wird (V. 9-11, wieder sehr unbestimmt – die Fürsten standen ja auf Seiten verschiedener Parteien); Deutschland (und der Leser) muss von sich aus wissen, welche das sind, genau wie beim Feind (V. 14); und es soll seine Furcht fahren lassen (V. 12). Klar ist jedoch, dass Deutschland gemäß dem Sprecher nicht dem Kaiser folgen soll; der Sprecher steht also auf Seiten der protestantischen Partei, soweit man den Krieg als Religionskrieg begreifen kann. Zum Schluss steht eine Heilszusage, wie bei einem Propheten: Gott wird offenbaren , dass die Feinde Deutschlands nichts als „schand und schmach“ (V. 13) angerichtet haben – das sieht bereits jetzt jeder, der die Lage im Land kennt. In den Terzetten rekurriert der Sprecher auf Gottes Beistand, während er in den Quartetten gemahnt hat, sich zu ermannen.
Man kann eigentlich nicht von einem Thema sprechen, welches das Gedicht bestimmt (etwa: die Schrecken des Krieges, oder die Bosheit der Feinde), sondern muss die Eigenart des Gedichts im sprachlichen Handeln des Sprechers bestimmen: Er ruft Deutschland dazu auf, sich gegen seine Feinde endlich zur Wehr zu setzen.
Das Gedicht ist ein Sonett; diese Form wurde im Barock intensiv gepflegt. Die Quartette bestehen aus sechshebigen Jamben, die im umarmenden Reim miteinander verbunden sind; dabei weisen die Verse 1 und 4 jeder Strophe jeweils eine Silbe mehr auf (weibliche Kadenz), was nach dem vierten Vers zu einem ruhigen Ausklang und einer Pause führt. Die Terzette sind von Kreuzreimen bestimmt, wobei die Verse 10, 12, 14 eine weibliche Kadenz besitzen.
Unter einem Joch (V. 1) gehen Zugtiere, die für den Menschen arbeiten müssen; im Alten Orient wurden auch die Kriegsgefangenen mit Hals und Händen in ein Joch gespannt, damit sie wehrlos waren. Das Joch zerbrechen kann nur, wer den Aufstand wagt. Das Bild von Schlafen und Erwachen ist uralt; der Ruf zu erwachen wird sowohl in religiösen wie in politischen Zusammenhängen immer wieder gebraucht (V. 2). Die Imperative „fasse wieder Mut“ und „gebrauch dein altes Herz“ (V. 2 f.) bedeuten das Gleiche; sie unterstellen, 1. dass Deutschland wie ein Mensch agieren kann, 2. dass eine frühere gute Verfassung (Mut haben, beherzt sein) verloren wurde, aber durch einen Entschluss wieder gewonnen werden kann; die neue Verfassung soll wie die gute alte sein. Auch Vers 4 ist jambisch konstruiert, was aber nicht zu den normalen Wortakzenten passt (Freyhéit, normal: Fréyheit; auch „selbs“ gegen den Sinn ohne Betonung). Die Glut (V. 6) ist die Glut des Feuers, das sowohl wörtlich wie metaphorisch im Krieg erlebt wurde; dass nicht der eigene Schweiß, sondern das feindliche Blut das Löschwasser sein soll, ist ein originelles Bild (V. 7 f.). Mit dem Attribut „falschen“ (V. 8) werden angebliche Brüder entlarvt, ohne dass gesagt würde, welche der Kriegsparteien dazu zählt. Hier liegt wieder eine starke Wertung vor, genau wie bei „Joch“ und „gebunden“ (V. 1), beim unterstellten Schlafen (V. 2), beim verlust der Freiheit (V. 4), bei „Tyranney“ und „geschunden“ (V. 5), bei der verzehrenden Glut (V. 6), beim Attribut „bösen“ (V. 7), auch bei „feind“ (V. 8).
Im Kontrast dazu fallen die positiven Wertungen auf, die mit Gottes Hand (V. 10) und den Getreuen als Nutznießern (V. 11, im Kontrast zu den Treulosen) verbunden sind.
Mit „So“ (V. 12) zieht der Sprecher das Fazit aus seinen Aufrufen; Furcht und nicht die Zeit hinfahren lassen: ein Zeugma. Zum Schluss wird angekündigt, was Gott offenbaren wird: das Böse, in Form von Schande und Schmach beim Opfer, Deutschland, in Form von Meineid und Stolz bei den Feinden (V. 13 f.); Stolz ist schon in den Psalmen die Haltung der Feinde Gottes (Ps. 10,4; 17,10 usw.). Die Zusage in V. 13 f. ist für ein verwüstetes Land ein bisschen dürftig: Ruhe und Frieden wären mehr als nur die Offenbarung, dass die Bösen böse sind.
Verwandte Gedichte:
Heinrich Hudemann: Teutschland
Andreas Gryphius: Tränen des Vaterlandes (https://de.wikipedia.org/wiki/Tr%C3%A4nen_des_Vaterlandes)
Sigmund von Birken: Kriegstränen
Johann Klaj: Teutschland
Dreißigjähriger Krieg:
https://www.xn--dreissigjhriger-krieg-e2b.de/
https://de.wikipedia.org/wiki/Drei%C3%9Figj%C3%A4hriger_Krieg
Weckherlins Leben:
https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Weckherlin,_Georg_Rudolph
https://www.deutsche-biographie.de/sfz75070.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Rodolf_Weckherlin
Werke:
https://de.wikisource.org/wiki/Georg_Rodolf_Weckherlin (Übersicht)
https://archive.org/details/bub_gb_6WAZAAAAYAAJ/page/n5 (Gedichte, hrsg. von Karl Goedecke)
http://www.zeno.org/Literatur/M/Weckherlin,+Georg+Rodolf/Gedichte/Gedichte (Gedichte)
https://archive.org/details/bub_gb_AyZLAAAAcAAJ/page/n15 (Geistliche und weltliche Gedichte, 1648)
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/26/BLV_199_Georg_Rudolf_Weckherlins_Gedichte_Band_1.pdf?uselang=de (Gedichte, Bd. 1)
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/45/BLV_200_Georg_Rudolf_Weckherlins_Gedichte_Band_2.pdf?uselang=de (Gedichte, Bd. 2)
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/ae/BLV_245_Georg_Rudolf_Weckherlins_Gedichte_Band_3.pdf (Gedichte, Bd. 3)