Ian McEwan: Abbitte – gelesen

Abbitte“ von Ian Ewan (deutsch 2002) ist ein großer Roman, in dem der Leser das erzählte Geschehen aus der Sicht einzelner Personen miterlebt. An einem heißen Sommertag treffen bei der Familie Tallis in London (Mutter Emiliy, 46, gerne von Migräne geplagt; Tochter Cecila, 19, mit einem mäßigen Abschluss in Cambridge; Tochter Briony, 13, die sich für eine große Schriftstellerin hält) einmal die Kinder von Emilys Schwester ein (Lola, 15, dazu zwei Jungen im Alter von 9 Jahren), die sich nach Paris abgesetzt hat; ferner Emilys Sohn Leon, 23, zu dessen Ehren Briony ihr kitschiges Liebesdrama aufführen will, mit seinem gleichaltrigen Freund, einem Fabrikanten minderwertiger Schokoriegel. Zum Haus gehört praktisch Robbie Turner, 19, der Sohn einer ehemaligen Bediensteten, ein glänzender Student, den Vater Tallis gefördert hat und weiter Medizin studieren lassen will. Herr Tallis arbeitet im Kriegsministerium und ist de facto abwesend, ruft aber jeden Abend an.

Dadurch, dass so viele Leute in eine Familie kommen, die im Begriff ist, sich aufzulösen; dass Brionys Theaterstück nicht aufgeführt wird; dass Robbie sich der gleichaltrigen Cecilia stürmisch annähert; dass Lola abends im Park vergewaltigt wird; und vor allem dadurch, dass die ahnungslose Briony sich für klug hält und meint, sich zur Romanschriftstellerin entwickeln zu müssen und den großen Durchblick zu haben, kommt ein dramatische Geschehen in Gang, das einen Tag und eine Nacht umfasst.

Im zweiten Teil wird erzählt, wie der verwundete Infanterist Robbie 1940 den chaotischen Rückzug der Engländer nach Dünkirchen erlebt, immer in der Hoffnung, die auf ihn wartende Cecelia wieder zu treffen. Im dritten Teil geht es vor allem um Briony, die 1940 mit militärischem Drill zur Krankenschwester ausgebildet wird und sich bewähren muss, als die Verwundeten aus Frankreich in die Londoner Krankenhäuser eingeliefert werden, und die Ihr Vergehen, die auf Ihrer Phantasie beruhende Anschuldigung Robbies, wiedergutmachen will.

Im vierten Teil wird vom Geburtstag der erfolgreichen Autorin Briony 1999 erzählt, die erkrankt ist; sie erweist sich als die Autorin des bisher erzählten Geschehens, das aber nur eine letzte Version der Geschichte ist, deren vorherige Versionen teils tragisch endeten – man bleibt so im Ungewissen, was „wirklich“ 1940 geschehen ist.

Ein raffinierter Zug des Autors besteht darin, dass Briony 1940 von einer Zeitschrift ein Manuskript mit freundlicher Kritik zurückgeschickt bekommt, aus der hervorgeht, dass sie ihre eigene Geschichte bzw. eine Episode des Sommertages 1935 erzählt hat: ein Versuch, für Ihr Vergehen Abbitte zu leisten; der Verlag der Zeitschrift bescheinigt ihr künstlerische Qualität, aber ihrer Erzählung fehle die Handlung. Und so muss Briony sich aufraffen und zu Ihrer Schwester gehen, die als Krankenschwester arbeitet und sich von der Familie losgesagt hat, um Abbitte zu tun und anzubieten, ihre falsche eidliche Aussage von 1935 zu widerrufen.

Fazit: ein großartiger Roman, man nimmt am Geschehen wie ein Beteiligter aus verschiedenen Perspektiven teil. Auf keinen Fall sollte man vorab den Wikipedia-Artikel lesen; nur so kann man sein Lesevergnügen ungestört erhalten.

Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! (1889) – gelesen

Als ich „Die Waffen nieder!“ zu lesen begann, hatte ich aufgrund des Untertitels „Eine Lebensgeschichte“ erwartet, dass ich die Autobiografie Bertha von Suttners zu lesen bekäme. Ich merkte nach einiger Zeit, dass das nicht stimmen konnte: Die Ich-Erzählerin heißt Martha und ist offensichtlich 1840 geboren, also drei Jahre älter als Bertha von Suttner selber. Also: ein Roman, keine Biografie!

Im Roman wird das persönliche Erleben der österreichischen Gräfin Althaus, verheiratete und bald verwitwete Gräfin Dotzky, danach Baronin Tilling, zweimal mit einem Soldaten verheiratet und schon mit 19 Jahren Mutter eines kleinen verwaisten Rudolf, mit Gesprächen und Reflexionen über den Sinn bzw. Unsinn des Krieges, über die fadenscheinigen Begründungen seiner Notwendigkeit und seiner segensreichen Wirkungen geschickt verbunden. Daneben gibt es die Abscheu Marthas vor dem leeren Leben der Adeligen, die durchweg militaristisch gesinnt sind (wie ihr Vater, ein alter General), verbunden mit den Schilderungen inniger Liebe v.a. zu ihrem zweiten Mann, der ein wahrer Edelmensch ist, den Krieg verabscheut, aus Pflichtgefühl ihn mitmacht, nach dem Sieg über Dänemark 1864 seinen Abschied nehmen will, was jedoch durch den kriegsbedingten Verlust des Vermögens seiner Frau verhindert wird…

Die Ich-Erzählerin stützt sich auf alte Tagebucheinträge und blickt mit Abstand auf die Ereignisse zurück, wie gelegentlich deutlich wird. Insgesamt erzählt sie jedoch so, als ob sie zeitgleich die Jahre 1857 bis 1866 erlebte: Es ist ihre Konversion zur Pazifistin. Als Mädchen war sie von kriegerischen Helden begeistert, sie wäre am liebsten ein Mann gewesen, um ein Held werden zu können. Doch dann stellen sich Zweifel ein, religiöse und politische. Sie betrachtet die Welt mit den Augen der Wissenschaft und die sogenannten Feinde mit den Augen eines Menschen – das ist der entscheidende Aspekt: Politische und erst recht militärische Überlegungen müssen hinter humanen Aspekten zurücktreten: „Die Waffen nieder!“

Den Abschluss des Romans, in dem Österreich 1859 in Italien geschlagen wird und 1864 mit Preußen in Dänemark siegt, bilden die Spannungen zwischen Österreich und Preußen 1865/66 und schließlich der Beginn des Krieges, zu dem die verschiedenen Proklamationen beider Seiten abgedruckt werden, so dass sie sich gegenseitig entlarven: Der große Gott der Schlachten soll ihrer jeweils guten Sache zum Sieg verhelfen.

Die Liebesgeschichte Marthas ist etwas zu innig-kitschig erzählt (ihr zweiter Mann muss in dem Augenblick ausrücken, als ihre Wehen einsetzen), die Diskussionen und Reflexionen über den Krieg entlarven die gängigen (oft frommen) Phrasen, bringen auf die Dauer aber nichts Neues: Die Fortsetzung des Romans werde ich nicht lesen, da suche ich mir lieber eine Biografie. Gleichwohl habe ich das Buch lange mit Freude gelesen, bis die Schematik des Erzählens zu deutlich wurde.

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Waffen_nieder! (kurze Info)

https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/003416.html (die beste Information über den Roman)

http://www.literaturdownload.at/pdf/Bertha%20von%20Suttner%20-%20Die%20Waffen%20nieder.pdf (Text) https://archive.org/details/diewaffenniedere01suttuoft/page/n9/mode/2up (Text)

https://de.wikipedia.org/wiki/Bertha_von_Suttner (Bertha von Suttner)

Weckherlin: An das Teutschland – Text und Analyse

Georg Rodolf Weckherlin:

Sonnet. An das Teutschland

Zerbrich das schwere joch, darunder du gebunden,

o Teutschland, wach doch auf, faß wider einen mut,

gebrauch dein altes herz und widersteh der wut

die dich und die freiheit durch dich selbs überwunden.

Straf nu die tyrannei, die dich schier gar geschunden,

und lösch doch endlich aus die (dich verzehrend) glut

nicht mit dein eignem schweiß, sondern dem bösen blut,

fließend aus deiner feind und falschen brüdern wunden.

Verlassend dich auf got, folg denen fürsten nach,

die sein gerechte hand will, so du wilt, bewahren

zu der getreuen trost, zu der treulosen rach:

So laß nu alle forcht, und nicht die zeit, hinfahren,

und got wird aller welt, daß nichts dan schand und schmach

des feinds meineid und stolz gezeuget, offenbaren.

Erläuterung:

Das Gedicht ist 1641 in Amsterdam veröffentlicht worden, Weckherlin lebte in England.

denen (V. 9): den

wilt (V. 10): willst

nichts dan (V. 13): nichts als

Ein ungenannter Sprecher wendet sich „An das Teutschland“, wobei es eo ipso keine konkrete Situation geben kann, da Deutschland nicht hören kann, was der Sprecher sagt – es sei denn, man sähe durch den Aufruf eine deutsche Öffentlichkeit konstituiert.

Der Sprecher ruft in neun aneinander gereihten Imperativen (von „Zerbrich“, V. 1, bis „laß … hinfahren“, V. 12) das unter dem Krieg, der seit 1618 in Deutschland geführt wird, das gequälte Land auf, sich gegen die Peiniger zu erheben; diese werden jedoch nicht politisch identifiziert, sondern nur metaphorisch benannt:

  • das joch (V. 1)
  • die wut (V. 3)
  • die tyrannei (V. 5)
  • die dich verzehrend glut (V. 6)
  • falsche brüder (V. 8)
  • die treulosen (V. 11).

Die beiden letzten Imperative, die in den Terzetten stehen, stehen unter der Zusage, dass Gott dem gequälten Land beistehen wird, wenn (Partizipialkonstruktion: Verlassend dich, V. 9) das Land „auf got“ vertraut: Das Land soll den Fürsten nachfolgen, die Gottes Hand bewahren wird (V. 9-11, wieder sehr unbestimmt – die Fürsten standen ja auf Seiten verschiedener Parteien); Deutschland (und der Leser) muss von sich aus wissen, welche das sind, genau wie beim Feind (V. 14); und es soll seine Furcht fahren lassen (V. 12). Klar ist jedoch, dass Deutschland gemäß dem Sprecher nicht dem Kaiser folgen soll; der Sprecher steht also auf Seiten der protestantischen Partei, soweit man den Krieg als Religionskrieg begreifen kann. Zum Schluss steht eine Heilszusage, wie bei einem Propheten: Gott wird offenbaren , dass die Feinde Deutschlands nichts als „schand und schmach“ (V. 13) angerichtet haben – das sieht bereits jetzt jeder, der die Lage im Land kennt. In den Terzetten rekurriert der Sprecher auf Gottes Beistand, während er in den Quartetten gemahnt hat, sich zu ermannen.

Man kann eigentlich nicht von einem Thema sprechen, welches das Gedicht bestimmt (etwa: die Schrecken des Krieges, oder die Bosheit der Feinde), sondern muss die Eigenart des Gedichts im sprachlichen Handeln des Sprechers bestimmen: Er ruft Deutschland dazu auf, sich gegen seine Feinde endlich zur Wehr zu setzen.

Das Gedicht ist ein Sonett; diese Form wurde im Barock intensiv gepflegt. Die Quartette bestehen aus sechshebigen Jamben, die im umarmenden Reim miteinander verbunden sind; dabei weisen die Verse 1 und 4 jeder Strophe jeweils eine Silbe mehr auf (weibliche Kadenz), was nach dem vierten Vers zu einem ruhigen Ausklang und einer Pause führt. Die Terzette sind von Kreuzreimen bestimmt, wobei die Verse 10, 12, 14 eine weibliche Kadenz besitzen.

Unter einem Joch (V. 1) gehen Zugtiere, die für den Menschen arbeiten müssen; im Alten Orient wurden auch die Kriegsgefangenen mit Hals und Händen in ein Joch gespannt, damit sie wehrlos waren. Das Joch zerbrechen kann nur, wer den Aufstand wagt. Das Bild von Schlafen und Erwachen ist uralt; der Ruf zu erwachen wird sowohl in religiösen wie in politischen Zusammenhängen immer wieder gebraucht (V. 2). Die Imperative „fasse wieder Mut“ und „gebrauch dein altes Herz“ (V. 2 f.) bedeuten das Gleiche; sie unterstellen, 1. dass Deutschland wie ein Mensch agieren kann, 2. dass eine frühere gute Verfassung (Mut haben, beherzt sein) verloren wurde, aber durch einen Entschluss wieder gewonnen werden kann; die neue Verfassung soll wie die gute alte sein. Auch Vers 4 ist jambisch konstruiert, was aber nicht zu den normalen Wortakzenten passt (Freyhéit, normal: Fréyheit; auch „selbs“ gegen den Sinn ohne Betonung). Die Glut (V. 6) ist die Glut des Feuers, das sowohl wörtlich wie metaphorisch im Krieg erlebt wurde; dass nicht der eigene Schweiß, sondern das feindliche Blut das Löschwasser sein soll, ist ein originelles Bild (V. 7 f.). Mit dem Attribut „falschen“ (V. 8) werden angebliche Brüder entlarvt, ohne dass gesagt würde, welche der Kriegsparteien dazu zählt. Hier liegt wieder eine starke Wertung vor, genau wie bei „Joch“ und „gebunden“ (V. 1), beim unterstellten Schlafen (V. 2), beim verlust der Freiheit (V. 4), bei „Tyranney“ und „geschunden“ (V. 5), bei der verzehrenden Glut (V. 6), beim Attribut „bösen“ (V. 7), auch bei „feind“ (V. 8).

Im Kontrast dazu fallen die positiven Wertungen auf, die mit Gottes Hand (V. 10) und den Getreuen als Nutznießern (V. 11, im Kontrast zu den Treulosen) verbunden sind.

Mit „So“ (V. 12) zieht der Sprecher das Fazit aus seinen Aufrufen; Furcht und nicht die Zeit hinfahren lassen: ein Zeugma. Zum Schluss wird angekündigt, was Gott offenbaren wird: das Böse, in Form von Schande und Schmach beim Opfer, Deutschland, in Form von Meineid und Stolz bei den Feinden (V. 13 f.); Stolz ist schon in den Psalmen die Haltung der Feinde Gottes (Ps. 10,4; 17,10 usw.). Die Zusage in V. 13 f. ist für ein verwüstetes Land ein bisschen dürftig: Ruhe und Frieden wären mehr als nur die Offenbarung, dass die Bösen böse sind.

Verwandte Gedichte:

Heinrich Hudemann: Teutschland

Andreas Gryphius: Tränen des Vaterlandes (https://de.wikipedia.org/wiki/Tr%C3%A4nen_des_Vaterlandes)

Sigmund von Birken: Kriegstränen

Johann Klaj: Teutschland

Dreißigjähriger Krieg:

https://www.xn--dreissigjhriger-krieg-e2b.de/

https://de.wikipedia.org/wiki/Drei%C3%9Figj%C3%A4hriger_Krieg

Weckherlins Leben:

https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Weckherlin,_Georg_Rudolph

https://www.deutsche-biographie.de/sfz75070.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Rodolf_Weckherlin

Werke:

https://de.wikisource.org/wiki/Georg_Rodolf_Weckherlin (Übersicht)

https://archive.org/details/bub_gb_6WAZAAAAYAAJ/page/n5 (Gedichte, hrsg. von Karl Goedecke)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Weckherlin,+Georg+Rodolf/Gedichte/Gedichte (Gedichte)

https://archive.org/details/bub_gb_AyZLAAAAcAAJ/page/n15 (Geistliche und weltliche Gedichte, 1648)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/26/BLV_199_Georg_Rudolf_Weckherlins_Gedichte_Band_1.pdf?uselang=de (Gedichte, Bd. 1)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/45/BLV_200_Georg_Rudolf_Weckherlins_Gedichte_Band_2.pdf?uselang=de (Gedichte, Bd. 2)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/ae/BLV_245_Georg_Rudolf_Weckherlins_Gedichte_Band_3.pdf (Gedichte, Bd. 3)

Kurt Tucholsky: Gebet nach dem Schlachten – Text und Analyse

Gebet nach dem Schlachten

Kopf ab zum Gebet!

Herrgott! Wir alten vermoderten Knochen
sind aus den Kalkgräbern noch einmal hervorgekrochen.
Wir treten zum Beten vor dich und bleiben nicht stumm.
Und fragen dich, Gott:
Warum –?

Warum haben wir unser rotes Herzblut dahingegeben?
Bei unserm Kaiser blieben alle sechs am Leben.
Wir haben einmal geglaubt… Wir waren schön dumm…!
Uns haben sie besoffen gemacht…
Warum –?

Einer hat noch sechs Monate im Lazarett geschrien.
Erst das Dörrgemüse und zwei Stabsärzte erledigten ihn.
Einer wurde blind und nahm heimlich Opium.
Drei von uns haben zusammen nur einen Arm…
Warum –?

Wir haben Glauben, Krieg, Leben und alles verloren.
Uns trieben sie hinein wie im Kino die Gladiatoren.
Wir hatten das allerbeste Publikum.
Das starb aber nicht mit…
Warum –? Warum –?

Herrgott!
Wenn du wirklich der bist, als den wir dich lernten:
Steig herunter von deinem Himmel, dem besternten!
Fahr hernieder oder schick deinen Sohn!
Reiß ab die Fahnen, die Helme, die Ordensdekoration!
Verkünde den Staaten der Erde, wie wir gelitten,
wie uns Hunger, Läuse, Schrapnells und Lügen den Leib zerschnitten!
Feldprediger haben uns in deinem Namen zu Grabe getragen.
Erkläre, dass sie gelogen haben! Läßt du dir das sagen?
Jag uns zurück in unsre Gräber, aber antworte zuvor!
Soweit wir das noch können, knien wir vor dir – aber leih uns dein Ohr!
Wenn unser Sterben nicht völlig sinnlos war,
verhüte wie 1914 ein Jahr!
Sag es den Menschen! Treib sie zur Desertion!
Wir stehen vor dir: ein Totenbataillon.
Dies blieb uns: zu dir kommen und beten!
Weggetreten!

Theobald Tiger, in: Die Weltbühne, 07.08.1924, Nr. 32, S. 233

Erläuterungen:

Kopf ab zum Gebet (V. 1): Abwandlung des Befehls „Helm ab zum Gebet!“

Weggetreten! (V. 39): Abwandlung des Befehls „Wegtreten!“

Das Gedicht ist ein Gebet es spricht entweder ein Soldat im Namen aller anderen, vermutlich aber der ganze Chor gemeinsam („Wir“, V. 2 ff.) zum „Herrgott“ (V. 2, V. 22) oder „Gott“ (V. 5); wenn es hier traditionell „der Sprecher“ heißt, ist der sprechende Chor gemeint. Er spricht in den ersten vier Strophen von den Leiden aller Soldaten. Es folgt eine weitere große Strophe (V. 22 ff.), in der er Gott bittet oder auffordert, etwas gegen den Krieg zu unternehmen. Gerahmt sind diese fünf Strophen von zwei Kommandos: „Kopf ab zum Gebet!“ (V. 1) und „Weggetreten!“ (V. 39). Wer diese Kommandos gibt, ist nicht klar; sie können als militärische Kommandos aber nur an die Soldaten gerichtet sein, die dann beten oder eben wegtreten. In den Fragen zu Beginn und den Imperativen in der zweiten Hälfte zeigt sich die Erregung des Sprechers, der von der Frage nach dem Sinn des Soldatenschicksals umgetrieben wird.

Man kann eine Reihe von Paarreimen erkennen, die in der prosaischen Sprachweise kaum auffallen. Sie verbinden die Verse durchweg sinnvoll: vermoderte Knochen – aus den Gräbern gekrochen (V. 2/3); Blut dahingegeben – sechs am Leben (V. 7/8), usw. Man kann auch über die Strophen hinweg einen Reim feststellen: bleiben nicht stumm – waren schön dumm – einer nahm Opium – wir hatten bestes Publikum (V. 4/9/14/19), was sich immer auf „Warum“ reimt (V. 6/11/16/21). Dazwischen steht dann jeweils ein Vers ohne Reimwort; wenn man diesen Vers aber als ersten Teil des Warum-Verses ansieht oder spricht, hätte man auch in diesem Fall einen Paarreim. Paarreime beherrschen auch den Rest des Gedichts; der einzige Vers ohne reimendes Pendant ist V. 1. Meistens macht ein Satz einen Vers aus, die Ausnahmen davon sind nicht wichtig. Der Sprecher gebraucht die Standardsprache, wobei naturgemäß eine große Anzahl von Wörtern dem Bereich des Militärischen angehört.

Thema des Gedichts sind die Leiden der Soldaten im und am Krieg; da das Gedicht 1924 veröffentlicht wurde, denkt man zuerst an die Soldaten des Ersten Weltkriegs, aber diese Einschränkung ist nicht zwingend.

Schon die Überschrift überrascht mit der Datierung „nach dem Schlachten“ (statt „nach der Schlacht“); geschlachtet werden Tiere, Menschen werden geschlagen, wobei „schlachten“ und „schlagen“ sprachlich verwandt sind. Schon durch die Überschrift zeigt der Autor Tucholsky, dass die Soldaten im Krieg wie Vieh behandelt wurden. Der erste Befehl persifliert den normalen Befehl „Helm ab zum Gebet!“; da dem Befehl ein Gebet folgt, ist die radikale Abänderung „Kopf ab…“ (Helm → Kopf, Teil → Ganzes) vermutlich eine Aufforderung an Tote, mit dem Beten anzufangen – Eindeutigkeit gibt es bei Montagen von Textfragmenten nicht.

Mit der bekannten Anrede „Herrgott“ (aus „Herr“ und „Gott“, V. 2 – wenn es nur einen Gott gibt, hat er keinen Namen) stellt der Sprecher sich zunächst vor und rechtfertigt sein Gebet (V. 2-6). Er spricht als ein Toter für die anderen Toten (aus den Gräbern „noch einmal hervorgekrochen“, V. 3) oder zusammen mit ihnen; sie treten vor Gott mit einem einzigen Anliegen, sie suchen die Antwort auf die Frage „Warum –?“ (V. 6); worauf dieses Warum abzielt, wird in den nächsten Strophen gesagt. Die Frage nach dem Warum bewegt die Toten so sehr, dass sie auch in den folgenden drei Strophen, in denen ihre Leiden beklagt werden, am Ende wiederholt wird.

Diese Frage ist eine der menschlichen Fragen schlechthin. Hinter der Frage steht die Überzeugung, dass alles, was geschieht, nach dem Willen eines Gottes (oder einer obersten Instanz) geschieht und damit zu etwas gut sein muss; dass es so etwas wie eine verlässliche Weltordnung gibt; dass also alles, was geschieht, verstanden werden kann. Deshalb müsste auch die oberste Instanz als lenkende Macht die Frage beantworten können: „Wir fragen dich, Gott: Warum?“ (V. 5 f.) Bemerkenswert ist, dass die „alten vermoderten Knochen“ (V. 2) sprechen können; bemerkenswert ist ferner, dass sie dem Befehl zum Beten gehorchen (V. 1 und V. 4), dass sie ihre Stimme aber nicht zum Gotteslob erheben, sondern nur nach dem Warum fragen. Damit drücken sie möglicherweise aus, dass es eine glaubwürdige Antwort auf ihre Frage gibt; vielleicht aber zeigen sie jedoch damit, dass sie die Frage lange nach ihrem Tod stellen, auch, dass sie eben nicht an eine plausible Antwort glauben.

In der zweiten Strophe stellt der Sprecher die Frage nach dem Sinn des eigenen Todes der Soldaten gegen die Tatsache, dass die sechs Söhne des Kaisers Wilhelm II. am Leben geblieben sind (V. 7 f.) – insgesamt gab es im Krieg knapp 10.000.000 Gefallene (und knapp 9.000.000 getötete Zivilisten), davon etwa 2.037.000 deutsche Soldaten (neben etwa 2.463.000 Verletzten). Aus diesem Gegensatz zwischen dem Schicksal der Kaiserfamilie und dem eigenen Tod ergibt sich, dass die Soldaten ihren Glauben verloren haben; woran sie geglaubt haben, wird nicht gesagt – zu ergänzen ist wohl: an das Vaterland und die Notwendigkeit, es zu „verteidigen“. Dass sie so etwas geglaubt haben, erkennt der Sprecher jetzt als Folge davon, dass man sie „besoffen gemacht“ habe mit großen Parolen und Gefühlen (V. 10); sie waren damals „schön dumm“ (V. 4), weiß und wertet er jetzt aus Erfahrung.

In der nächsten Strophe berichtet er von einzelnen Soldaten und ihren Leiden (V. 12-15) und fragt wieder nach dem Warum. In der vierten Strophe berichtet er von den Folgen der Kriegserlebnisse für die Soldaten, genauer: für die Gefallenen. Sie hätten „alles“ verloren (V. 17),

  • Glauben,

  • Krieg ,

  • Leben,

eine umfassende Zusammenstellung höchster Werte. Mit einem Film-Vergleich zeigt er, wie verächtlich die Soldaten behandelt wurden: wie im Kinofilm die Gladiatoren (V. 18); ein Gladiatorenfilm, das ist eine andere Welt – Gladiatoren sind Sklaven, deren Leben nichts zählt, die zur Unterhaltung der Bürger (in Rom echt, im Kino auf Zelluloid) kämpfen und sterben. Der Vergleich wird dann weitergeführt: „Wir hatten das allerbeste Publikum.“ (V. 19) Publikum waren der Kaiser und die Generäle, für welche die Soldaten nur Klötzchen im Sandkasten waren. Diese Strophe schließt der Sprecher mit einem doppelten „Warum – ?“ (V. 21).

Mit der erneute Anrede „Herrgott!“ (V. 22) wechselt der Sprecher zu den Bitten, die er angesichts seiner Verzweiflung an Gott richtet – mit der Einschränkung zu Beginn: „Wenn du wirklich der bist, als den wir dich [als Kinder kennen] lernten“ (V. 23), nämlich gütig und mächtig zugleich (eine Kombination, die zur Theodizee-Frage führt); man weiß nicht aus eigener Anschauung, wie es um Gott bestellt ist – das rechtfertigt die Einschränkung, wobei aus dem Modalwort „wirklich“ auch herausgehört werden kann, dass es vielleicht nicht so ist, wie man es offiziell von den Predigern gehört hat. Die Bitten sind im Imperativ vorgetragen (ab V. 24):

  • Steige vom Himmel herab!

  • Reiße die militärischen Symbole weg!

  • Verkünde den Staaten unsere Leiden!

  • Erkläre, dass wir nicht in deinem Namen gestorben sind, dass die Feldprediger gelogen haben!

  • Höre uns an und antworte!

  • Verhüte ein weiteres Jahr wie 1914 (einen neuen Krieg)!

  • Treibe die Menschen zur Desertion!

Bei den Bitten fällt die zweite auf: „Fahr hernieder oder schick deinen Sohn“ (V. 25). Nach dem christlichen Glauben hat Gott bereits seinen Sohn geschickt; wenn der Sprecher nun darum bittet, jenen zu schicken, kann das heißen:

a) Schicke ihn noch einmal, damit er selber die Sache mit den Kriegen in Ordnung bringt.

b) Schicke ihn wirklich, denn sein erstes (angebliches?) Kommen hat offenbar nichts genützt, wie es in Kästners Gedicht „Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag“ heißt.

Die Frage (V. 31), ob Gott sich sagen lässt, dass seine Feldprediger gelogen haben, brauchte den Sprecher eigentlich nicht zu beunruhigen; sowohl im Alten wie im Neuen Testament ist bekannt, dass falsche Propheten auftreten, und in Dostojewskijs Parabel vom Großinquisitor wird erzählt, wie der Kardinal erklärt, dass der erneut gekommene Jesus den Betrieb der Kirche nur stört. Da dürfte es Gott nicht schwerfallen, sich von seinen deutschen Feldpredigern zu distanzieren,

Worum der Sprecher nicht bittet: dass die Toten wieder zum Leben erweckt werden (V. 32); wichtiger als das Leben ist den Soldaten die Antwort auf die Frage nach dem Warum des massenhaften Sterbens. Und falls es darauf eine Antwort gibt („nicht völlig sinnlos“, V. 34), dann soll Gott einen neuen Weltkrieg verhindern; man könnte auch umgekehrt sagen: Wenn er ihn verhindert, dann war der Tod der Soldaten nicht völlig sinnlos. Die nächste Bitte „Sag es den Menschen!“ (V. 36) ist dunkel, falls man sie nicht auf V. 31 f. bezieht (dass die Feldprediger gelogen haben, solle Gott feststellen); „es“ hat keinen direkten Bezugspunkt. Die letzte Bitte („Treib sie zur Desertion!“) zeigt Gott auf, wie er ein neues 1914 verhindern könnte; da aber die Menschen auch nicht recht auf sein Gebot hören, man solle nicht morden, ist es wohl fraglich, ob sie seinen Aufruf zur Desertion hören würden.

Zum Schluss blickt der Sprecher auf das Heer der noch einmal aufgestandenen Toten („ein Totenbataillon“, V. 37) bzw. der Chor auf sich selbst. Der letzte Satz „Dies blieb uns…“ (V. 38) kann sowohl Verzweiflung wie auch Geborgenheit ausdrücken – Verzweiflung, wenn man liest: Uns ist nichts geblieben; Geborgenheit, wenn man liest: Du bist uns als unser letzter Halt geblieben. Formal legt das Gebet als Gebet die zweite Lesart nahe; dem Tenor des Gebetes nach halte ich die erste Lesart für richtig (vgl. auch die Einschränkung in V. 23), zumindest für möglich – dann wäre das Gebet nur die Sprachform, in der sich die völlige Verzweiflung oder Verlassenheit der Toten ausdrückt.

Zur Kommandosprache einer Truppe gehört der Befehl „Wegtreten!“, wonach der Platz schnellen Schrittes zu verlassen ist. „Weggetreten“ als Partizip II kann kein Befehle sein, auch wenn ihm ein Rufzeichen folgt. So gibt der Befehl am Ende ebenso Fragen auf wie der zu Beginn des Gedichts, zumal unklar bleibt, wer zu wem „Weggetreten!“ sagt. Könnte ein eintelner Sprecher den anderen vermoderten Knochen diesen Quasi-Befehl geben, denen man das Partizip II zumuten kann, weil sie ja bereits tot, also von der Erde abgetreten sind? Oder ist „Weggetreten!“ trotz allem gleich „Wegtreten!“?

Wolfgang Borchert lässt in seinem Drama „Draußen vor der Tür“ (1947) Gott auftreten, der sich vor Beckmann verantworten muss, dass er nicht „lieb“ war (https://de.wikipedia.org/wiki/Drau%C3%9Fen_vor_der_T%C3%Bcr). Man darf sicher sagen, dass die Theodizee-Frage, wie ein gütiger und zugleich allmächtiger Gott das Böse in der Welt zulassen könne, nicht beantwortet werden kann.

Sönke Neitzel – Harald Welzer: Soldaten – Besprechung

Untertitel des 2011 bei S. Fischer erschienenen Buches: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben

Das Buch beruht auf Gesprächen, welche deutsche Kriegsgefangene in alliierten Lagern geführt haben; diese wurden abgehört und protokolliert. Daraus ergibt sich ein Bild von dem, was deutsche Soldaten im Krieg getan und erlitten haben. Die zweite Komponente ist die sozialpsychologische Erklärung dieser Handlungen und ihrer Deutungen und Bewertungen; für die zweite Komponente ist sicher Harald Welzer verantwortlich, für die erste Sönke Neitzel.

Wenn auch teilweise erschreckend ist, zu lesen, was die Soldaten mit Zivilisten oder Kriegsgefangenen gemacht haben, war für mich die zweite Komponente die interessantere; denn dort habe ich Erklärungsmuster gefunden, die weit über den Bereich des Militärischen hinausgehen. Der zunächst relevante theoretische Begriff ist der des Referenzrahmens, in dem man das Handeln der Soldaten verstehen. Dabei zeigt sich, dass der Rahmen „Drittes Reich“ im Wesentlichen irrelevant war; entscheidend war der Referenzrahmen „Krieg“, innerhalb dessen auch noch der Referenzrahmen „Vernichtung“ vorgestellt wird. Das Resümee wird unter der Überschrift „Der Referenzrahmen des Krieges“ (S. 390 ff.) gezogen: Für Wehrmachtsoldaten waren „das militärische Wertesystem und die soziale Nahwelt“ von entscheidender Bedeutung (S. 391), nicht aber Ideologie, Lebensalter, Bildung usw. „Rollenmodelle und –anforderungen prägen das Verhalten der Soldaten mehr als alles andere.“ (S. 392) Der letzte Absatz hier lautet: „Der Krieg und das Handeln der Arbeiter und Handwerker des Krieges sind banal, so banal, wie es das Verhalten von Menschen unter heteronomen Bedingungen – also im Betrieb, in einer Behörde, in der Schule oder in der Universität – immer ist. Gleichwohl entbindet diese Banalität die extremste Gewalt der Menschheitsgeschichte …“ (S. 394).

Das Schlusskapitel befasst sich mit der Frage: Wie nationalsozialistisch war der Krieg der Wehrmacht? (S. 395 ff.) Ganz simpel geantwortet: Er war nicht nationalsozialistisch. Krieg war Arbeit. „Genau deshalb bedarf es keines tiefgreifenden psychischen Umbaus, auch keiner Selbstüberwindung oder Sozialisation zum Töten, wenn Krieg ist: Dann hat sich lediglich der Zusammenhang verschoben, in dem man tut, was man ohnehin tut.“ (S. 412) Und der letzte Absatz des Buches: „Wenn man aufhört, Gewalt als Abweichung zu definieren, lernt man mehr über unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert, als wenn man ihre Illusionen über sich selbst teilt. Wenn man also Gewalt in ihren unterschiedlichen Gestalten in das Inventar sozialer Handlungsmöglichkeiten menschlicher Überlebensgemeinschaften zurückordnet, sieht man, dass diese immer auch Vernichtungsgemeinschaften sind. Das Vertrauen der Moderne in ihre Gewaltferne ist illusionär. Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil das ihre Aufgabe ist.“ (S. 422)

Wie gesagt, man lernt einiges über unsere Gesellschaft und eigenes Handeln (resp. ich habe es gelernt): „Man muss dabei im Auge behalten, dass gerade Entscheidungen und Erfahrungen, die mit erheblichen Schwierigkeiten und Belastungen einhergehen, ungern im Nachhinein in Frage gestellt werden, weil dann die damit verbundenen Mühen entwertet würden. Außerdem neigen Menschen dazu, etwas, das sie mit einem ambivalenten Gefühl getan haben, vor sich selbst zu legitimieren, um es mit ihrem Selbstbild in Einklang zu bringen. Deshalb erscheint  es subjektiv oft sinnvoller, eine Handlung zu wiederholen, als sie durch eine Korrektur in Frage zu stellen. Wenn man also ein erstes Mal Zweifel wider besseres Wissen abgeschüttelt hat, wächst im Sinne der Pfadabhängigkeit die Wahrscheinlichkeit, dies in analogen Situationen ein zweites, drittes, viertes Mal zu tun.“ (S. 255) Für die, die mich gut kennen, nenne ich dazu nur das Datum 25. Juli 1967.

In diesem Zitat stoßen wir auf einen Begriff, den ich bis dato nicht kannte: Pfadabhängigkeit. „Das Konzept der Pfadabhängigkeit hat sich zu einem sehr häufig verwendeten, in den letzten Jahren aber auch zunehmend kritisierten Erklärungsansatz in der wirtschaftshistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung entwickelt. Pfadabhängigkeit bezeichnet einen vergangenheitsdeterminierten Prozess relativ kontinuierlicher bzw. inkrementeller Entwicklungen. Die jeweils erreichten Zustände können kollektiv ineffizient oder suboptimal sein, ohne dass der Prozess deshalb notwendigerweise zum Erliegen kommt oder radikal geändert wird.“ (Abstract eines Buches von Raymund Werle, dazu notiere ich noch ein paar Links:)

http://www.soziologiker.de/wiki/index.php/Pfadmodelle (gute Einführung)

http://www.hwiesenthal.de/projekte/polrat/doering_rose.pdf (in Bezug auf die Möglichkeit von Reformen)

http://www.mpifg.de/people/we/links/werle_pfadabhaengigkeit.pdf (umfangreich, kritisch)

http://de.wikipedia.org/wiki/Pfadabh%C3%A4ngigkeit (sich verzweigend)