Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe…
Text: http://www.textlog.de/6670.html
Meistens wird zur Entstehung des Gedichts geschrieben, dass es auf von Rodin angeregte Besuche Rilkes im Jardin des Plantes in Paris 1902/03 zurückgehe. Katharina Schubert („Der Panther“ von Rainer Maria Rilke, 2015) schreibt mit Berufung auf Engel, Manfred; Fülleborn, Ulrich: Rainer Maria Rilke. Gedichte. 1895 – 1910. Band 1. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1996: „Zur Entstehung des Werkes hat außerdem ein Gipsabdruck einer kleinen antiken Tigerfigur, welche sich im Besitz Rodins befunden hat, beigetragen.“ Außerdem habe ich vor einigen Jahren in einer Arbeit der Uni Braunschweig gelesen, das Gedicht verdanke sich dem Betrachten einer Ansichtskarte, nicht eines Tieres. Was davon stimmt, muss hier offen bleiben.
„Der Panther“, 1903 erstmals veröffentlicht, 1907 in „Neue Gedichte“ erschienen, ist eines der deutschen Gedichte schlechthin. Es gilt als Dinggedicht, was von Eric Boerner heftig bestritten wird. Hans Kügler schreibt dazu: „Dinggedicht heißt: ein »Ding«, d. h. Mensch, Tier, Kunst- oder Naturgebilde dichtend so anzusprechen, daß es sein Wesen von sich her enthüllt und in solch objektiver Gestaltung auch sinnlich-leuchtend erscheinen läßt. Vgl. dazu die Dinggedichte Rilkes: Die Erblindeten, Römische Fontäne, Das Karussell. Die Dinggedichte Rilkes stellen, nach seiner bedeutsamen Begegnung mit den Plastiken Rodins, den Versuch dar, die Phänomene der Umwelt, d. h. durch ihre plastische Erscheinung hindurch zugleich ihre Wesensart transparent zu machen. Der Dichter wird so zum Sprecher der »stummen Dinge« , das Gedicht der Ort, an dem sich die Phänomene selbst zu Wort melden.“ Man wird nicht fehlgehen, wenn man in der Konzeption der Dinggedichte die gleiche Idee wie in der Phänomenologie am Werke sieht: dass sich dem vorbehaltlosen Schauen das Wesen eines Dinges enthüllt.
Der Panther wird nur in der Überschrift genannt; im Gedicht ist er, darauf bezogen, nur in Pronomina präsent. Er ist „Der Panther“ schlechthin, ohne jede nähere Bestimmung – abgesehen von der Ortsangabe „Im Jardin des Plantes, Paris“, was ihn als ein Zootier ausweist. Der Sprecher tritt selber nicht in Erscheinung, denkt oder fühlt sich aber in das Tier hinein. Er weiß, wovon dessen Blick müde geworden ist (V. 1 f.) und wie jener sich fühlt, wie ihm zu Mute ist (V. 3 f., irrealer Vergleich). Das zeigt sich auch in der Metapher „Vorübergehn der Stäbe“ (V. 1), worin sich das Erleben des Panthers spiegelt; „in Wirklichkeit“ geht ja der Panther an den Stäben vorüber, aber es kommt ihm so vor, als zögen diese an ihm vorüber. Dass sein Blick „nichts mehr hält“ (V. 2), erweist ihn als ein gebrochenes Tier: Es gibt für ihn in dem, was er sieht, keine möglichen Ziele mehr. Im nächsten Satz (V. 3 f.) wird der damit verbundene „seelische“ Zustand des Panthers, seine Gestimmtheit, sein Lebensgefühl in einem irrealen Vergleich beschrieben – der Beobachter schaut oder fühlt sich in die Seele des Panthers ein: hinter tausend Stäben sein, keine Welt außerhalb des Käfigs haben. Das eindringlich wiederholte Zahlwort „tausend“ (V. 3 f.) wird man nicht als Übertreibung bezeichnen können, da es ja in einem irrealen Vergleich (Konjunktiv II, Sicht des Panthers) gebraucht wird. Weil sein Blick „nichts mehr hält“ (V. 2), gibt es für ihn „hinter tausend Stäben keine Welt“ (V. 4) – diese beiden Sachverhalte sind im Kreuzreim sinnvoll aneinander gebunden; dagegen passen die Reimwörter „Stäbe / Stäbe gäbe“ (V. 1/3) nur vordergründig zusammen: nur klanglich als einzelne Wörter, nicht die zugehörigen Gedanken oder Sachverhalte.
Danach wendet der Beobachter sich dem Gang des Tieres zu (2. Str.). Dieser Gang ist durchaus ein Gang „geschmeidig starker Schritte“ (V. 5), also nicht gebrochen wie der Blick, sondern nur eingeengt „im allerkleinsten Kreise“ (V. 6); dieses Adverbial muss nicht das Erleben des Panthers wiedergeben, sondern umschreibt eher in einer Übertreibung den Eindruck des Beobachters von der Größe des Käfigs, die wir nicht kennen. Hier zeigt sich in der Spannung zwischen der Stärke der Schritte und dem Radius der Bewegung, was die Gefangenschaft des Panthers ausmacht. Das wird im prädikativen Vergleich („ist wie …“, V. 7 f.) in dem paradoxen Verhältnis von „Tanz von Kraft“ / Betäubung eines großen Willens ausgesagt. Der Tanz von Kraft spricht aus dem Gang, die Betäubung haben wir bereits in seinem leeren Blick kennen gelernt. Es ist die Paradoxie eines Lebens in Gefangenschaft, eines Lebens auf kleinstem Raum. Der Kreuzreim bindet diesmal alle vier Aussagen sinnvoll aneinander: Der Gang starker Schritte ist ein Tanz von Kraft um eine Mitte (Stärke, V. 5/7); dass er sich im kleinsten Kreis dreht, legt das Bild von einer Mitte oder Achse der Bewegung nahe: der betäubte große Wille (V. 6/8). Viele Leser erkennen hinter V. 6 einen Bruch oder ein Kippen der Beschreibung; dem kann ich nicht folgen, weil einmal die 2. Str. aus einem einzigen Satz besteht (mit Subjekt und Prädikativ in den beiden Teilen), weil zweitens die Paradoxie von Stärke und Behinderung in beiden Teilen der Strophe vorhanden ist. Es besteht allerdings eine Spannung zwischen dem leeren Blick und dem kraftvollen Gang des Panthers (1./2. Str.).
Der Sprecher hat in zwei präsentischen, also einfach gültigen Aussagen beschrieben, wie der Blick und der Gang des im Käfig gefangenen Tieres ist. Danach wendet er sich noch einmal dem Blick zu und berichtet (3. Str.), dass dieser manchmal anders als zunächst beschrieben ist: Manchmal nimmt er doch ein Bild von etwas auf. Die Metapher vom Vorhang der Pupille, der sich aufschiebt, geht wohl darauf zurück, dass Katzentiere tagsüber nur durch einen schmalen Pupillenschlitz sehen; die passivische Wendung „schiebt sich auf“ zeigt dagegen nicht das Tier, das starke Tier als handelnde Größe, sondern die selbsttätige Pupille, welche entsprechend „lautlos“ agiert, das Auge. Auch dass ein Bild der Welt hineingeht (V. 10, Metapher), zeigt das Bild und nicht den Panther aktiv; entsprechend geht es weiter durch die Glieder, wird aber nicht ergriffen oder verarbeitet und hört deshalb „im Herzen auf zu sein“ (V. 12). Der Weg des Bildes wird mit den Stationen Pupille – Glieder – Herz bezeichnet (V. 9, 11, 12). Der Kreuzreim ist mit diesem Weg befasst (Vorhang der Pupille / der Glieder angespannte Stille, V. 9/11; Bild hinein / hört auf zu sein, V. 10/12). Auch in den Gliedern ist die Stille (V. 11, vgl. „lautlos“, V. 10), aber es ist eine angespannte Stille – da zeigt sich noch etwas von der Kraft des Ganges. Im Untergang des Bildes siegt freilich die Lethargie des Blicks, die Übermacht der Stäbe, welche das Leben ersticken.
Wenn man den Rhythmus und die Sprache des Gedichtes betrachtet, bemerkt man einen fünfhebigen Jambus mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen. Die weiblichen Kadenzen (V. 1, 3 usw.) erzeugen als unfertige Versfüße eine ganz kleine Pause, vor allem wenn dies vom Satzbau unterstützt wird (V. 3, 5, 7, 11). Die männlichen Kadenzen markieren dagegen zusammen mit dem Satzbau eine größere Pause mit Senkung der Stimme (nur in V. 6, wo noch das Prädikat von V. 5 f. fehlt, und V. 10 etwas schwächer). Hinter V. 1, 5, (7), 9 geht der Satz unmittelbar weiter (Enjambement), hinter V. 3 und V. 11 ist eine mehr oder weniger große Pause zu machen. Zum Rhythmus gehört auch die Abfolge der Betonungen, welche durchaus nicht so klar ist, wie Boerners Schema (s.u.) nahelegt; so könnte man z.B. in V. 8 erwägen, „betäubt“, „großer“ oder „Wille“ stark zu betonen – wie sich das anhört, muss man ausprobieren oder aufgrund der Aufnahmen unterschiedlicher Vorträge entscheiden. Neben den Alliterationen (m- in V. 2; sch- in V. 5 und V. 11) fällt eine Häufung bestimmter Laute auf (ä in der 1. Str.; ei in der 2. Str.; a in V. 5, 7); die Metaphern und die beiden Vergleiche sind bereits genannt worden – sie markieren eine gehobene Sprachebene.
Ob man aus dem Gedicht eine Anklage gegen unseren Umgang mit Tieren heraushört oder gar im gefangenen Panther ein Bild des in den ehernen Käfigen seiner Institutionen eingesperrten Menschen sieht, kann man keinem Leser vorschreiben. Auch das Bild des gefangenen und beinahe ganz bezwungenen Panthers ist als solches eindrucksvoll.
http://illeguan.de/panther.htm (Eric Boerner: Der Wortrhythmus des Panthers – über manches kann man streiten!))
http://illeguan.de/panther2.htm (Eric Boerne: Der Inhalt des Panthers, sprachlich salopp, sachlich gebildet und anregend – und über manches kann man streiten)
http://www.hubertus-wilczek.de/index.php?id=165 (Lehrer)
http://www.litde.com/gedichte-aus-sieben-jahrhunderten-interpretationen/der-panther-rainer-maria-rilke.php (Hans Kügler, Lehrer)
http://home.bn-ulm.de/~ulschrey/literatur/rilke/rilke_panther.html (Lehrer)
https://www.hausarbeiten.de/document/301433 (K. Schubert, Schülerin oder Studentin)
http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Panther (mit Text)
Vortrag
http://www.br.de/unternehmen/inhalt/menschen/jerzy-may-hoerbeispiel-102.html (Jerzy May)
http://dongxi.magix.net/alle-alben/!/oa/5162069-41672393/ (Otto Sander, von Musik untermalt und eingerahmt)
http://vorleser.net/rilke_panther/hoerbuch.html (A. Mann, gut)
http://www.sprechbude.de/?s=Der+Panther (vier verschiedene Vorträge)
http://www.deutschelyrik.de/index.php/der-panther.html (Fritz Stavenhagen)
https://www.youtube.com/watch?v=10FRoGDoWHk (J. Hentsch)
http://kulturagent.eu/erlesenes/rainer_maria_rilke/ (H. J. Große)
https://www.youtube.com/watch?v=pFFZKG5Yq_w (W. Quadflieg)
https://www.youtube.com/watch?v=n6OWP5mDZM8 (C. Petmecky)
https://www.youtube.com/watch?v=xPO_ZOV0vaA (M. Ploderer)
https://www.youtube.com/watch?v=tJ9hId31FRc (ruzickaw, gut)
https://www.youtube.com/watch?v=nSIdzAdCU_A (Rilke selbst?)
http://www.lutzgoerner.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1192&Itemid=513 (Lutz Görner)
https://archive.org/details/de-der_panther-wikis (2 Versionen)
https://www.youtube.com/watch?v=iDG2BbNbJbk (mit Musik unterlegt)
https://www.youtube.com/watch?v=ngY1mU6ooGI (Oliver Kahn, ehrlich)
http://www.myfreemp3.cc/music/Ulrich+Tukur+Rainer+Maria+Rilke+-+Der+Panther (Ulrich Tukur, zu schnell gesprochen)
https://www.youtube.com/watch?v=V2UMGVTcX3Q (Mädchen)
http://lesung.podspot.de/post/rmrilke-la-panthere-der-panther/ (mit Vortrag des franz. Textes)
http://vimeo.com/2573774 (mit Visualisierung)
https://www.youtube.com/watch?v=yM3xZjF3G2A (dito)
http://www.dailymotion.com/video/xctq3h_mister-iceberg-der-panther-rilke_creation (Mr. Iceberg, mit Musik unterlegt, mit Effekten)
http://www.podcast.de/episode/115773/Rainer%2BMaria%2BRilke%253A%2BDer%2BPanther/
https://www.youtube.com/watch?v=TiXA_MnUbQk (Schné Ensemble, gesungen)
https://www.youtube.com/watch?v=ilsSU4KcgA8 (gesungen von Jill Gaylord)
Auf youtube gibt es noch viel mehr Titel zu „Der Panther“! Unbeholfene filmische Bearbeitungen wurden nicht beachtet.
Unterricht
http://loesener.de/wp-content/uploads/2012/11/hochform_panther.pdf (Unterichtsideen)
http://www.lehrer-online.de/panther.php (U-einheit)
http://144.65.2.179/02_cont/03content/03_deutsch/laptop6a/literarische_texte/rilke_panther.htm (dito)
http://mediathek.bildung.hessen.de/material/deutsch/lyrik/panther/index.html (eine Anleitung zur Analyse, mit Lösungen)
http://www.deutschunddeutlich.de/contentLD/GD/GT61abPanther.pdf (mit zweimal Lückentext)
http://users.skynet.be/lit/rilke.htm (Fragen zum Text)
http://www.turmfalken.de/hp/ex/006/daten/ex006_index.htm (Abwandlung des Textes auf andere Themen, „produktiv“)
http://www.gymnasium-warstein.de/aktuelles/details/klassische-lyrik-neu-verfasst-nach-rainer-maria-rilke-der-panther.html (dito)