Ludwig Uhland – ein Rückblick

Ludwig Uhland: ein Rückblick

Das hier wird nur ein ganz kleiner Rückblick, nachdem ich mich intensiver mit einigen Gedichten Uhlands beschäftigt habe. Ich habe viele seiner Gedichte gelesen, wollte alle lesen, habe aber bei den ellenlangen Balladen beizeiten damit aufgehört. Uhlands Balladen befriedigten zu ihrer Zeit ein Bedürfnis, für das es heute Filme gibt und vor 50 Jahren „Heftchen“ gab. Nicht nur wegen der Bekanntheit, sondern auch wegen des Pathos gibt es zum Beispiel von „Des Sängers Fluch“ eine Reihe von Parodien; die Zeit solcher Balladen ist vorbei.

Ein Beispiel nationaler Überheblichkeit bietet die Ballade „Schwäbische Kunde“, in der von einem Kreuzzug Barbarossas erzählt wird:

Nun war ein Herr aus Schwabenland,
Von hohem Wuchs und starker Hand,
Des Rößlein war so krank und schwach,
Er zog es nur am Zaume nach,
Er hätt es nimmer aufgegeben
Und kostet’s ihn das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
Hinter dem Heereszug zurück;
Da sprengten plötzlich in die Quer
Fünfzig türkische Reiter daher,
Die huben an, auf ihn zu schießen,
Nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
Ging seines Weges Schritt vor Schritt,
Ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
Und tät nur spöttlich um sich blicken,
Bis einer, dem die Zeit zu lang,
Auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut,
Er trifft des Türken Pferd so gut,
Er haut ihm ab mit einem Streich
Die beiden Vorderfüß zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
Da faßt er erst sein Schwert mit Macht,
Er schwingt es auf des Reiters Kopf,
Haut durch bis auf den Sattelknopf,
Haut auch den Sattel noch zu Stücken
Und tief noch in des Pferdes Rücken;
Zur Rechten sieht man wie zur Linken
Einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus,
Sie fliehen in alle Welt hinaus,
Und jedem ist’s, als würd ihm mitten
Durch Kopf und Leib hindurchgeschnitten.

Als Schüler fand ich diesen tollkühnen Schwaben (Deutschen!) gut, die beiden Verse vom heruntersinkenden Türken kenne ich seitdem auswendig. Ein anderes Lied mit einer bedenklichen Passage ist das „Metzelsuppenlied“ (1815) – ich traue mich fast nicht, es zu zitieren:

Wir haben heut nach altem Brauch
Ein Schweinchen abgeschlachtet;
Der ist ein jüdisch eckler Gauch,
Wer solch ein Fleisch verachtet.
Es lebe zahm und wildes Schwein!
Sie leben alle, groß und klein,
Die blonden und die braunen!

So säumet denn, ihr Freunde, nicht,
Die Würste zu verspeisen,
Und laßt zum würzigen Gericht
Die Becher fleißig kreisen!
Es reimt sich trefflich: Wein und Schwein,
Und paßt sich köstlich: Wurst und Durst,
Bei Würsten gilt’s zu bürsten.

Auch unser edles Sauerkraut,
Wir sollen’s nicht vergessen;
Ein Deutscher hat’s zuerst gebaut,
Drum ist’s ein deutsches Essen.
Wenn solch ein Fleischchen, weiß und mild,
Im Kraute liegt, das ist ein Bild
Wie Venus in den Rosen.
(…)

Dieses Gedicht entfaltet eine witzige Idee, aber ohne heftigen Seitenhieb auf die Juden und ihre Essensgebräuche scheint das Lob der deutschen Küche nicht zu gelingen – ich würde zu Schwein und Sauerkraut übrigens ein Bier und keinen Wein trinken. Ansonsten erklingt bei Uhland das Lob des guten bürgerlichen Lebens, vielleicht auch des spießbürgerlichen Lebens, etwa in „Wanderung“ (1834/35, siehe die Analyse oben!):

Ich kam zum Bürgerhause,

Gern denk‘ ich dran zurück,

Fern vom Parteigebrause

Blüht Tugend hier und Glück.

Lebt häuslich fort, wie heute!

Bald wird vom Belt zum Rhein

Ein Haus voll guter Leute,

Ja! ein Gutleuthaus sein.

Wie gesagt, das sind nur ein paar Eindrücke, aber eben doch an Texten orientierte Eindrücke vom Dichter Ludwig Uhland.

Uhland

http://georgsatke.heimat.eu/safluch.html „Des Sängers Fluch“ – Parodie

https://www.sachsen-lese.de/index.php?article_id=1148 dito

https://www.youtube.com/watch?v=hfXG1yCuJ90 dito,

siehe auch „Des Schadchens Fluch“ u.a.

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

https://archive.org/details/bub_gb_TcYMAQAAIAAJ/page/n3/mode/2up (dito, Bd. 2)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

https://archive.org/details/bub_gb_e7s5AAAAMAAJ/page/n7/mode/2up (Uhlands Leben, von seiner Witwe, 1874)

https://www.academia.edu/40567951/Ludwig_Uhland_T%C3%BCbinger_linksradikaler_Nationaldichter_Hrsg_von_Georg_Braungart_und_Stefan_Kn%C3%B6dler_T%C3%BCbingen_2012 (Würdigung, 2012)

L. Uhland: Die Malve – Text und Analyse

Ludwig Uhland: Die Malve

Wieder hab‘ ich dich gesehen,

Blasse Malve! blühst du schon?

Ja! mich traf ein schaurig Wehen,

All mein Frühling welkt davon.

Bist du doch des Herbstes Rose,

Der gesunknen Sonne Kind,

Bist die starre, düftelose,

Deren Blüten keine sind.

Gerne wollt‘ ich dich begrüßen,

Blühtest du nicht rosenfarb,

Lögst du nicht das Roth der Süßen,

Die noch eben glüht‘ und starb.

Heuchle nicht des Lenzes Dauer!

Du bedarfst des Scheines nicht;

Hast ja schöne, dunkle Trauer,

Hast ja weißes, sanftes Licht.

Zuerst sollte man sich einige Bilder von Malven anschauen; sie blühen weiß, rosa, rot, pink bis bläulich, vom Frühsommer bis in den Oktober. Blasse Malven gibt es also (V. 2), die durchaus einen rötlichen Schimmer oder Grundton haben können (V. 11). Das lyrische Ich denkt über eine Malve nach und berichtet, dass es sie wieder gesehen hat (V. 1 f.); wieder kann ‚schon zum zweiten Mal in diesem Jahr‘ oder ‚auch in diesem Jahr schon‘ heißen. Es ist überrascht, sie „schon“ (V. 2) blühend zu sehen – es sieht die Malve als „des Herbstes Rose“ (V. 5) an; als solche sei sie unzeitig, weil ihr Erscheinen bedeutete: „All mein Frühling welkt davon.“ (V. 4) Auch „mein Frühling“ ist eher unbestimmt; es kann der Frühling dieses Jahres, es kann aber auch der Frühling des eigenen Lebens sein. Deshalb ist das Ich vom Erblühen der Malve betroffen, empfindet es „ein schaurig Wehen“ (V. 3), und im Ausdruck unangenehmer Überraschung ruft es „Ja!“ (V. 3). In den folgenden vier Versen wird der Herbst-Charakter der Malve umschrieben, wobei die Malve direkt angesprochen wird: des Herbstes Rose, die Blume der zweiten Jahreshälfte mit dem niedrigeren Sonnenstand (V. 6), die düftelose Blume, die als starr (‚tot‘) und in Wahrheit blütenlos abgewertet wird. – Wenn man schaut, was die Bücher über die Malve sagen, so ist eine Zuordnung zum Herbst richtig, aber einseitig, da sie auch im Frühsommer blüht; das Erschrecken über die ersten blühenden Malven erscheint also ein wenig gesucht: um den Herbst-Eindruck zu rechtfertigen, ähnlich wie im Gedicht „Ich sah des Sommers letzte Rose stehn“ oder im Lied „Letzte Rose in unserm Garten“.

In der zweiten Strophe wird, wiederum in zwei Hälften, das eigene Empfinden angesichts der Malve artikuliert: Die Abneigung des Ichs (V. 9 f.) wird damit begründet , dass die Malve das Rot der Rose vortäusche, als ob noch Sommer wäre (V. 11 f.). Nach der Aufforderung, nicht über das Ende „des Lenzes“ (V. 13) hinwegtäuschen, folgt ein versöhnlicher Schluss: „Du bedarfst des Scheines nicht“ (V. 14), also der Rosenähnlichkeit, des Sommerstrahlens. Der Malve werden dann „schöne, dunkle Trauer“ (V. 15) und „weißes, sanftes Licht“ zuerkannt, wobei zwischen dunkel/weiß sich ein Widerspruch auftut. Jedenfalls wird ihr mit „dunkle Trauer“ und „sanftes Licht“ eine eigene Qualität, eben die Herbstqualität zugesprochen.

Die acht Verse einer Strophe bestehen aus vier Trochäen, deren jeder zweite um eine Silbe verkürzt ist (männliche Kadenz, kleine Pause); das kommt mit dem Kreuzreim überein. Je zwei Verse bilden auch eine kleine semantische Einheit, so dass vor allem die Reime der Verse 2/4 und 6/8 zu beachten sind: du blühst schon / mein Frühling eilt davon (2/4); Kind der gesunkenen Sonne / ohne wirkliche Blüten (6/8); du rosenfarb / die Rose starb (10/12); bedarfst des Scheines nicht / hast eigenes Licht (14/16, indirekt ein kleines Wortspiel). Beachtung verdienen die zahlreichen Adjektive, mit denen die Eigenart der Malve (verwelkter Frühling, Herbst) im Gegensatz zur rot glühenden Rose (Sommer) angedeutet wird.

Das Gedicht von 1834 ist eigentlich ein schönes Gedicht; mich stört ein wenig, dass den ersten Malven des Jahres bereits der Herbstcharakter zugesprochen wird, das finde ich ein wenig gesucht. Nun könnten natürlich die Malven vor 200 Jahren später geblüht haben als heute; die einzige Angabe zur Blütezeit, die ich in alten Lexika gefunden habe, ist die im Meyers 1908 zu einer bestimmten Malvenart: „M. crispa L. (Kohlmalve, Kohlpappel), mit tief herz-, fast schildförmigen, meist siebenlappigen, wellig-krausen Blättern und weißlichen, purpurn überlaufenen Blüten, ist ein Sommergewächs in Syrien, in Deutschland gemeines Gartengewächs und kommt auch verwildert vor.“ Zum Vergleich kann man Hebbels „Sommerbild“ von 1848 lesen.

Malve

http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Malva?hl=malve (Meyers, 1908)

https://de.wikipedia.org/wiki/Malven

https://www.hausgarten.net/pflanzen/sommerblumen/malven-pflegen.html

Malven pflanzen und pflegen – So wird’s gemacht

Uhland

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

https://archive.org/details/bub_gb_TcYMAQAAIAAJ/page/n3/mode/2up (dito, Bd. 2)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

https://archive.org/details/bub_gb_e7s5AAAAMAAJ/page/n7/mode/2up (Uhlands Leben, von seiner Witwe, 1874)

L. Uhland: Lauf der Welt – Text und Analyse

Ludwig Uhland: Lauf der Welt

An jedem Abend geh' ich aus,
Hinauf den Wiesensteg.
Sie schaut aus ihrem Gartenhaus.
Es stehet hart am Weg.
Wir haben uns noch nie bestellt,
Es ist nur so der Lauf der Welt.

Ich weiß nicht, wie es so geschah,
Seit lange küss' ich sie.
Ich bitte nicht, sie sagt nicht: ja!
Doch sagt sie: nein! auch nie.
Wenn Lippe gern auf Lippe ruht,
Wir hindern's nicht, uns dünkt es gut.

Das Lüftchen mit der Rose spielt,
Es fragt nicht: hast mich lieb?
Das Röschen sich am Thaue kühlt,
Es sagt nicht lange: gieb!
Ich liebe sie, sie liebet mich,
Doch Keines sagt: ich liebe dich!

Das 1808 veröffentlichte Gedicht erinnert mich an das „Frühlingslied des Rezensenten“, in dem die poetisch übliche Frühlingsbegeisterung nur gedämpft erklingt; so ist es hier mit der Liebe, die ganz unromantisch als ein Ergebnis vom „Lauf der Welt“ dargestellt wird. Der Erzähler berichtet, wie er abends immer einen Spaziergang unternimmt (1. Str.). Dann denkt er nach, wie es dazu gekommen ist, dass er dann regelmäßig eine Sie in ihrem Gartenhaus küsst, und was davon zu halten ist (2. Str.). In der dritten Strophe rechtfertigt er zunächst durch zwei Analogien sein sprachloses erotisches Verhältnis (Lüftchen – Rose, Röschen – Tau; ich – sie); er stellt dann ganz prosaisch fest: „Ich liebe sie, sie liebet mich“ (V. 17), um abschließend eine überraschende Tatsache festzuhalten: „Doch Keines sagt: ich liebe dich!“ (V. 18)

Die gleiche Sprachlosigkeit hat er schon vorher erwähnt: „Ich bitte nicht, sie sagt nicht: ja! / Doch sagt sie: nein! auch nie.“ (V. 9 f.) Und er rechtfertigt dieses stumme Einverständnis so: „Wenn Lippe gern auf Lippe ruht, / Wir hindern‘s nicht, uns dünkt es gut.“ (V. 11 f.) Dem Drang zu schmusen geben die beiden also einfach nach, „uns dünkt es gut“. Offensichtlich sind die beiden nicht anderweitig gebunden, da er allein spazieren geht und sie regelmäßig aus dem Gartenhaus herausschaut, zum Küssen bereit. Der Antrieb ist bei beiden – ganz gegen die romantische Vorstellung davon, füreinander bestimmt zu sein – einfach die Tatsache, dass „Lippe gern auf Lippe ruht“, dass also Knutschen Spaß macht. Und dabei bleibt es dann auch, das ist unsere Liebe, sagt der Sprecher (V. 17).

„Doch Keines sagt: ich liebe dich!“ (V. 18) Ob man hier der Neutrum-Form „Keines“ besondere Beachtung schenken muss? Ich erwartete eigentlich „Keiner“ – ob das Neutrum im Verbund mit dem stummen Knutschen und den rein ereignishaften Naturanalogien etwas zu bedeuten hat? Ich denke schon; es steht für Akteure, die als Naturwesen, also vorpersonal agieren, weil es so schön ist, die nach Freud vom Lustprinzip bestimmt sind. Nehmen wir es zur Kenntnis, dass auch solch ein Verhältnis schon 1808 den Weg ins Gedicht gefunden hat – realistisch ist es auf jeden Fall.

Die sechs Verse einer jeden Strophe bestehen aus vier Versen, die im Kreuzreim verbunden sind; dabei zählt der erste Vers vier, der zweite drei Jamben. Da je zwei Verse semantisch und syntaktisch zusammengehören, entsteht zweimal so etwas wie ein Langvers. Die Verse 5 und 6 jeder Strophe bestehen aus vier Trochäen und reimen sich im Paarreim; sie heben sich deutlich von den ersten vier Versen ab, so dass jede Strophe eigentlich aus zwei Teilen besteht. V. 5 f. und V. 11 f. stellen eine Art Kommentar zu den vorhergehenden vier Versen dar; in V. 17 f. wird die in V. 13-16 begonnene Analogie zu Ende geführt. Die Reime markieren durchweg sinnvolle semantische Zusammenhänge, z.B. ich geh‘ aus – sie schaut aus dem Haus (V. 1/3); nie bestellt – der Lauf der Welt (V. 5/6), usw.

Fazit: ein ungewöhnliches Gedicht, das man schön mit einem Gedicht romantischer Liebe vergleichen (lassen) könnte.

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

https://archive.org/details/bub_gb_TcYMAQAAIAAJ/page/n3/mode/2up (dito, Bd. 2)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

https://archive.org/details/bub_gb_e7s5AAAAMAAJ/page/n7/mode/2up (Uhlands Leben, von seiner Witwe, 1874)

L. Uhland: Auf eine Tänzerin – Text und Analyse

Ludwig Uhland: Auf eine Tänzerin

Wenn du den leichten Reigen führest,
Wenn du den Boden kaum berührest,
Hinschwebend in der Jugend Glanz;
In jedem Aug' ist dann zu lesen,
Du seiest nicht ein irdisch Wesen,
Du seiest Aether, Seele ganz.

Mir aber grauet: wenn nach oben
Du würdest plötzlich nun enthoben,
Wie wärest, Seele, du bereit? -
Wohlan! der sich auf Blumen schaukelt,
Der Schmetterling, der ewig gaukelt,
Ist Sinnbild der Unsterblichkeit.

Schiller und Morgenstern haben ein Gedicht über den Tanz geschrieben, Uhland wendet sich direkt an eine Tänzerin („du“, V. 1), ohne dass sie diese Worte hören müsste. Das Gedicht ist wohl 1825 entstanden und 1829 veröffentlicht worden. In der ersten Strophe werden zuerst die leichten Bewegungen der Tänzerin, die man sich wohl als eine Ballerina vorstellen kann, beschrieben oder eher angedeutet (V. 1-3), wobei „schwebend“ bzw. „Hinschwebend“ das Partizip des Verbs ist, welches die Bewegung der Tänzerin an besten charakterisiert. Den leichten Reigen führen (V. 1), das kann anführen oder ausführen bedeuten; da keine anderen Tänzerinnen erwähnt sind, halte ich „ausführen“ für die plausiblere Lesart. In der zweiten Hälfte der ersten Strophe wird berichtet, wie sie auf die Zuschauer wirkt: wie ein überirdisches Wesen, wie „Äther“ oder „Seele“, also ohne Stoff, ohne Körper. Das ist natürlich paradox, dass körperliche Bewegung den Eindruck des Körperlosen erweckt; deshalb liest man die Konjunktive I („seiest“, V. 5 und 6) wohl am besten wie Konjunktive II, so dass man zu einem irrealen Vergleich käme, womit dann die Paradoxie behoben wäre – es sei denn, man bestände darauf, gerade dieses Paradoxe der körperlosen Körperbewegung festhalten zu wollen.

Syntaktisch ist Strophe 1 eigentlich ein einziger Satz (Wenn – dann, mit zwei Objektsätzen zum Hauptverb „lesen“). Die sechs Verse bestehen aus vier Jamben, wobei in dem Reimschema a – a – b – c – c – b die b-Reime eine männliche Kadenz aufweisen, während die anderen Reime eine zusätzliche Silbe besitzen. Das führt zu einem klaren Einschnitt im Sprechen hinter V. 3 und V. 6 (entsprechend dem Satzbau), während die anderen Verse leicht und schwebend ausklingen. Die reimenden Verse passen auch semantisch zueinander, a: der Tanz, c: lesen + Inhalt, b: das Schwebende.

Auch die zweite Strophe ist formal wie die erste aufgebaut, nur dass sie aus zwei selbständigen Sätzen besteht. In der ersten Hälfte grenzt sich der Ich-Sprecher von dem ab („aber“, V. 7), was in jedem Auge zu lesen ist (vgl. V. 4): Ihn ergreift beim Betrachten immer (so muss man das Präsens „grauet“, V. 7, lesen) ein Grauen, also ein das Innerste berührender Schrecken, dass die Tänzerin tatsächlich als Seele „nach oben“ entschwinden könnte (V. 7 f.), und er fragt sie: „Wie wärest, Seele, du bereit?“ (V. 9) Aber er erwartet keine Antwort von ihr, wie es in einem persönlichen Gespräch der Fall wäre, sondern gibt sich selber eine beruhigende Antwort (V. 10-12); daran sieht man, dass es sich insgesamt nur um ein fiktives Gespräch im Inneren des lyrischen Ichs handelt. Die Interjektion „Wohlan!“ (V. 10) zeigt schon, dass der Sprecher eine gute Antwort gefunden hat; er hat zwischen der schwebenden Tänzerin und dem leicht gaukelnden Schmetterling eine Gleichheit oder zumindest Ähnlichkeit erkannt und tröstet sich in seiner Befürchtung damit, dass der Schmetterling „Sinnbild der Unsterblichkeit“ (V. 12) ist.

„Schmetterling heißt im Griechischen Psyche und ist damit das gleiche Wort für die menschliche Seele. Das altgriechische Seelentier war ein Nachtfalter, während in der hellenistischen Zeit ein Tagfalter gemeint war. Dies zeigt an, dass für seelische Prozesse und Wandlungen der Schmetterling als ein geeignetes Symbol erschien. Besonders beeindruckt hat den Menschen die Tatsache, dass sich eine eher unattraktive Raupe durch den Verpuppungsprozess in ein solch schönes, ätherisches Gebilde verwandeln konnte, dass sich dann frei in die Luft und in die Sonne erheben konnte. So wurde dieser Verwandlungsprozess häufig zu einem Bild der Verwandlungskraft des Menschen vom Gebundensein im Materiellen hin zur inneren Freiheit und zur Göttlichkeit.“ Das ist ein Auszug aus dem Artikel „Schmetterling“ auf symbolonline. Die wesentliche Ähnlichkeit zwischen der Tänzerin und dem Schmetterling, die beim Sprecher zur Hoffnung auf „Unsterblichkeit“ führt, beruht auf dem leichten Schweben und verkennt oder übersieht den Gedanken der Verwandlung; die Analogie trifft also nicht den Kern des Schmetterlingsymbols, wie ja auch die Befürchtung, die Tänzerin könnte „enthoben“ werden, reichlich gesucht ist. Ich befürchte, dass aus dem alten Symbol die Befürchtung herausgesponnen ist, um sie dann entkräften zu können. Das macht das schöne Gedicht zu einem verkopften Gebilde – schade für ein Gedicht „Auf eine Tänzerin“!

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

https://archive.org/details/bub_gb_TcYMAQAAIAAJ/page/n3/mode/2up (dito, Bd. 2)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

https://archive.org/details/bub_gb_e7s5AAAAMAAJ/page/n7/mode/2up (Uhlands Leben, von seiner Witwe, 1874)

Ludwig Uhland: Wanderung

Ludwig Uhland: Wanderung

Ich nahm den Stab zu wandern,
Durch Deutschland ging die Fahrt,
Man pries mir ja vor andern
Der Deutschen Sinn und Art.
Dem Lande blieb ich ferne,
Wo die Orangen glühn;
Erst kennt ich jenes gerne,
Wo die Kartoffeln blühn.

Ich kam zum Fürstenhofe,
Wo man die Künste kränzt,
Wo Prunksaal und Alkove
Von Götterbildern glänzt.
Ein Baum, der nicht im groben
Volksboden sich genährt,
Nein einer, der nach oben
Sogar die Wurzeln kehrt!

Ich ging zur Hohenschule,
Da schöpft ich reines Licht,
Wo vom Prophetenstuhle
Die wahre Freiheit spricht;
Wo uns der Meister täglich
Den innern Sinn befreit,
Indes ihm selbst erträglich
Der ird’sche Leib gedeiht.

Ich schritt zum Sängerwalde,
Da sucht ich Lebenshauch;
Da saß ein edler Skalde
Und pflückt‘ am Lorbeerstrauch;
Nicht hatt er Zeit, zu achten
Auf eines Volkes Schmerz,
Er konnte nur betrachten
Sein groß, zerrissen Herz.

Ich ging zur Tempelhalle,
Da hört ich christlich Recht:
Hier innen Brüder alle,
Da draußen Herr und Knecht!
Der Festesrede Giebel
War: duck dich! schweig dabei?
Als ob die ganze Bibel
Ein Buch der Kön’ge sei.

Ich kam zum Bürgerhause,
Gern denk ich dran zurück,
Fern vom Parteigebrause
Blüht Tugend hier und Glück.
Lebt häuslich fort wie heute!
Bald wird vom Belt zum Rhein
Ein Haus voll guter Leute,
Ja! ein Gutleuthaus sein.

Ich ging zum Hospitale,
Da fand ich alles nett,
Viel Grütz und Kraut zum Mahle
Und reinlich Krankenbett;
Auch sorgt ein schön Erbarmen
Für manch verwahrlost Kind.
Wer denkt des Volks von Armen,
Die altverwahrlost sind?

Ich saß im Ständesaale,
Da schlief ich ein und träumt,
Ich sei noch im Spitale,
Den ich doch längst geräumt.
Ein Mann, der dort im Fieber,
Im kalten Fieber lag,
Er rief: nur nichts, mein Lieber,
Nur nichts vom Bundestag!

Ich mischte mich zum Volke,
Das nach dem Festplatz zog,
Wo durch die Staubeswolke
Manch dürrer Renner flog;
Da lernt es, daß die Eile
Den Reiter überstürzt
Und daß man gut die Weile
Mit Wurst und Bier sich kürzt.

Ein Adler, flügelstrebend,
War Reichspanier hievor,
Ich sah ihn noch, wie lebend,
Zu Nürnberg an dem Tor.
Jetzt fliegt man nicht zum Zwecke,
Der Wahlspruch ist: Gott geb’s!
Das Wappen ist die Schnecke,
Schildhalter ist der Krebs.

Als ich mir das entnommen,
Kehrt ich den Stab nach Haus;
Wann einst das Heil gekommen,
Dann reis ich wieder aus:
Wohl werd ich’s nicht erleben,
Doch an der Sehnsucht Hand
Als Schatten noch durchschweben
Mein freies Vaterland.

Das Gedicht, 1834 geschrieben, wurde 1835 veröffentlicht. Es ist in der Zeit der schlimmsten politischen Restauration bzw. Reaktion in Deutschland entstanden und gehört so mit seiner beinahe dezenten Kritik in den Vormärz. Poetisch ist es als politisch-kritisches eher anspruchslos; hier sollen nur für Schüler einige Hinweise zum Verständnis gegeben werden, nach Strophen sortiert:

Überschrift: Die „Wanderung“ macht es möglich, verschiedene Stationen Deutschlands zu besuchen und zu prüfen, was sie zum Allgemeinwohl des Volkes beitragen.

(1) Das Land, wo die Orangen glühn, ist Italien; Uhland spielt auf Goethes Gedicht „Kennst du das Land…“ an. Orangen-Kartoffeln ist ein hübscher Kontrast, etwa im Sinn von edel-bodenständig.

(2) Den hervorragenden Dichtern wurden Kränze verliehen; die Götterbilder sind Statuen, welche Kunstsinn demonstrieren. Die Metapher vom Baum für Fürstenhof ermöglicht es, die Perversion des feinen Lebens dort anzudeuten.

(3) Die Beschreibung der Universität ist voller Ironie (reines Licht der Wahrheit, Lehrstuhl = Prophetenstuhl, Befreiung des Geistes), markiert durch den Kontrast ‚innerer Sinn / irdischer Leib‘, also durch die Banalisierung des Erhabenen.

(4) Der Sängerwald ist der Ort der Dichter; der alte Skalde ist nur um seinen Ruhm bemüht (um den Lorbeerkranz), s. Str. 2; der Kontrast ‚des Volkes Schmerz / sein „zerrissen“ Herz‘ offenbart die egozentrische Beschränktheit des Dichters, der nicht am Wohlergehen des Volkes interessiert ist.

(5) Die Tempelhalle ist der christliche Dom bzw. eine Kirche; wieder offenbart der Kontrast ‚drinnen (angeblich) Brüder / draußen (in Wahrheit) Herr und Knecht‘, wie es um die Glaubwürdigkeit der frommen Reden bestellt ist, die nur dem Bündnis von Thron und Altar dienen. Dazu passt die „christliche“ Aufforderung „duck dich!“; die bloßen Namen der zwei bzw. vier biblischen Bücher der Könige (AT) werden hier zur Charakterisierung des „christlichen“ Umgangs mit der Bibel als Mittel der Unterdrückung genommen.

(6) Das Haus der einfachen Bürger erscheint als Ort des guten Lebens, weshalb die Bürger zum häuslich-einträchtigen Leben aufgefordert werden und die Einheit des Vaterlands metaphorisch als „ein Gutleuthaus“ gesehen wird.

(7) Das Hospital wird als Vorbild für die Fürsorge für das „arme“ Volk erkannt; Kontrast ‚Kind – altverwahrlost‘ (Neologismus).

(8) Der Ständesaal ist der Ort, wo die Ständeversammlung tagt. Über die Landstände muss man sich bei den Historikern informieren: https://historisches-lexikon.li/Landst%C3%A4nde oder http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Landst%C3%A4nde oder https://de.wikipedia.org/wiki/Landschaft_(Landst%C3%A4nde). Ob das Einschlafen des Sprechers damit zu tun hat, dass im Ständesaal nichts mehr passiert? Zumindest dient es dazu, den Traum mit dem fiebernden Mann zu rechtfertigen, mit seinem Ruf „Nur nichts vom Bundestag!“. Der Bundestag des Deutschen Bundes versagte als Organ in den Augen Uhlands offensichtlich, s. https://www.geschichte-abitur.de/restauration-und-vormarz/deutscher-bund oder https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/parlamentarismus/anfaenge.

(9) Durch das Bild vom stürzenden Reiter wird angeblich klar, dass man „[m]it Wurst und Bier“ in aller Seelenruhe besser lebt; ich lese das als ironische Kritik am Spießbürger, dem alles egal ist, wenn er bloß Kirmes und Karneval feiern darf. Man muss auf die Spannung zu (6) achten, ebenso darauf, dass Uhland selber (nicht nur) mit seinem Metzelsuppenlied in eine gefährliche Nähe zu den Spießbürgern gerät.

(10) „Reichsadler nennt man den Adler derjenigen Staatsgebilde, die sich durch das Adlersymbol auf eine Reichsidee beziehen und – mittelbar oder unmittelbar – an die Tradition des Römischen Reiches anknüpfen oder diesen Anspruch verfolgen.“ (Wikipedia) Im Wappen der Stadt Nürnberg befindet sich ein Adler, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Wappen_der_Stadt_N%C3%Bcrnberg. Dem früheren fliegenden Adler werden als Symbole des gegenwärtigen Zustands des Reiches Schnecke (langsam) und Krebs (rückwärts gehen) gegenübergestellt. Der Wahlspruch „Gott geb‘s!“ verschleiert nicht einmal die eigene Faulheit und Untätigkeit, vgl. (9).

(11) Das Demonstrativum „das“ fasst alle Erlebnisse der Reise zusammen: Die Gegenwart ist in Deutschland politisch heillos, dazu steht die Hoffnung im Kontrast („einst“), dass der Sprecher irgendwann nach seinem Tod als Schatten noch die Freiheit Deutschlands erleben wird.

Die Form des Gedichtes ist schlicht. Jede Strophe besteht aus acht Versen zu drei Jamben, wobei jeweils der erste, dritte, fünfte und siebte Vers eine Silbe zusätzlich haben (weibliche Kadenz); das passt zumKreuzreim. Jeweils zwei Verse bilden eine semantische und oft auch syntaktische Einheit, so dass man nur von den Reimen der jeweils zweiten Verse einen semantischen Bezug erwarten darf. Ich spiele das für Str. 1 durch: Fahrt durch Deutschland – der Deutschen Art (Entsprechung); wo die Orangen glühn – die Kartoffeln blühn (Kontrast).

Das Ziel des Gedichtes ist weniger poetisch als politisch: eine deutliche Kritik (allerdings nur wenig über Stammtischniveau) an den verbreiteten Missständen (besser Mißständen), ohne eine Anleitung zum Handeln oder gar die Idee eines Aufstandes – außer der sehnsüchtigen Hoffnung (11) auf Besserung hat der Sprecher nichts zu bieten, siehe auch (6)! Der Vormärz zeichnet sich in seiner Radikalität erst am Horizont ab. Trotzdem bietet das Gedicht einen Anlass, sich mit der bleiernen Zeit 1815–1848 und den Fragen der nationalen Einheit und der Freiheit zu befassen.

Text

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n101/mode/2up (Original) = http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte/Gedichte+(Ausgabe+letzter+Hand)/Vaterl%C3%A4ndische+Gedichte/15.+Wanderung

Vormärz

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch/artikel/vormaerz-und-junges-deutschland

https://www.inhaltsangabe.de/wissen/literaturepochen/vormaerz/

Uhland

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

https://archive.org/details/bub_gb_TcYMAQAAIAAJ/page/n3/mode/2up (dito, Bd. 2)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

https://archive.org/details/bub_gb_e7s5AAAAMAAJ/page/n7/mode/2up (Uhlands Leben, von seiner Witwe, 1874)

Ludwig Uhland: Entschuldigung – Text und Analyse

Ludwig Uhland: Entschuldigung

Was ich in Liedern manchesmal berichte
Von Küssen in vertrauter Abendstunde,
Von der Umarmung wonnevollem Bunde,
Ach! Traum ist, leider, Alles und Gedichte.

Und du noch gehest mit mir in‘s Gerichte,
Du zürnest meinem prahlerischen Munde:
Von nie gewährtem Glücke geb‘ er Kunde,
Das, selbst gewährt, zum Schweigen stets verpflichte.

Geliebte, laß den strengen Ernst sich mildern
Und lächle zu den leichten Dichterträumen,
Dem unbewußten Spiel, den Schattenbildern!

Der Sänger ruhet schlummernd oft im Kühlen,
Indes die Harfe hänget unter Bäumen
Und in den Saiten Lüfte säuselnd wühlen.

Nach der intensiven Arbeit am Gedicht „Der Mohn“ ist erstens auch das Gedicht „Entschuldigung“ (entstanden 1811, veröffentlicht 1815) leicht zu verstehen, weil es die gleiche Idee ausdrückt; es braucht zweitens daher nur eine kurze Analyse. Es handelt sich um ein Sonett; die Verse bestehen aus fünf Jamben plus einer Silbe (weibliche Kadenz, winzige Pause); die Quartette reimen sich in umarmendem Reim, die Terzette in der Form a – b – a c – b – c, sind also in einander verschlungen.

Ein dichterisches Ich reflektiert seine Liebesgedichte (V. 1-3) und kommt zu dem enttäuschenden (leider, V. 4) Ergebnis, dass alles bloß „Traum“ ist, nur „Gedichte“ (V. 4), aber eben nicht erlebte Wirklichkeit. Die reimenden Verse passen gut zusammen: was ich berichte / sind nur Gedichte (V. 1/4); Küsse und Umarmungen (V. 2/3).

Dann wird überraschend ein Du angesprochen (V. 5) und dabei von dessen Vorwurf berichtet, dass das Erdichtete alles nicht wahr sei (V. 5-7), und gerade wenn es wahr wäre, aus Diskretion nicht beschrieben werden dürfte (V. 8). Das sind also zwei Vorwürfe, die sich gegen die eigenen Liebesgedichte richten. Die reimenden Verse 6/7 passen gut zusammen.

In den Terzetten verteidigt der Dichter sein Dichten gegen besagte Vorwürfe. Das angesprochene Du wird als „Geliebte“ identifiziert (V. 9), ihre Kritik bekommt damit nachträglich eine persönliche Note – man könnte die Kritik eimal so lesen, dass die geliebte Frau sich darüber beklagt, dass der Ich-Dichter seine Erotik eher verbal als praktisch auslebe (V. 6 f.); man kann aber auch in Anlehnung an V. 8 stärker den Vorwurf der Indiskretion hören; vielleicht aber sollte man trotz der Anrede „Geliebte“ die Vorwürfe weniger persönlich als sachlich nehmen: Liebesgedichte seien luftiges Geschwätz, wäre dann der Tenor der Kritik.

Im ersten Terzett bittet das Ich versöhnlich um Nachsicht, um ein weniger strenges Urteil ( lasse sich mildern, V. 9; lächle, V. 10); zur Begründung verweist er auf den Charakter der Liebesgedichte – das seien schließlich [zu ergänzen: nur] leichte Dichterträume, unbewusstes Spiel, Schattenbilder. Diese drei Bestimmungen des gedichteten Liebesgeschehens sind die gleichen Charakteristika, die im Gedicht „Der Mohn“ jeglicher Dichtung zugesprochen werden. Wichtig sind hier noch die Attribute „leicht“, „unbewußt“ und das Bestimmungswort „Schatten“ (V. 10 f); sie geben den ohnehin schon relativierenden Nomina „Träume, Spiel, Bilder“ noch einmal einen leichten spielerischen Hauch – solche Gedichte soll und darf man nicht für Erlebnislyrik halten, sagt der Romantiker Ich/Uhland, sondern eben für Dichtung.

Zur erklärenden Begründung seiner Bitte um Nachsicht fügt das sprechende Ich einen Hinweis darauf hinzu, wie solche Gedichte (angeblich) zustande kommen (V. 12-14): Während der Sänger draußen in der Natur schlummert, bewegt der säuselnde Wind die Saiten der Harfe und entlockt ihnen die Liebeslieder; die entstehen also quasi von selbst, ein Naturgeschehen, das man keinem Ich zurechnen darf – wobei der Traumcharakter (V. 10) sich aus dem Schlummern des Dichters (V. 12) ergibt, der Spielcharakter (V. 11) aus dem Säuseln des Windes (V. 14). – Was nicht zum Säuseln passt, ist das Verb „wühlen“ (V. 14), das sich dem Reimzwang (zu „im Kühlen“, V. 12) verdankt. Von den übrigen Reimen sind nur V. 9/11 sinnvoll, bei den anderen bleibt es beim Gleichklang.

Auch „Entschuldigung“ ist ein poetologisches Gedicht Uhlands, hier speziell auf die Liebeslyrik bezogen. Aber im Zusammenhang mit „Der Mohn“ und „In ein Stammbuch“ darf man die Idee getrost auf die ganze Lyrik ausweiten. Zum poetischen Programm Uhlands sollte man noch „Freie Kunst“ (1813) zur Kenntnis nehmen, wo mich nur „der deutsche Gott“ im letzten Vers ein wenig irritiert.

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L. Uhland: Der Mohn – Text und Analyse

Ludwig Uhland: Der Mohn

Wie dort, gewiegt von Westen,
Des Mohnes Blüthe glänzt!
Die Blume, die am besten
Des Traumgotts Schläfe kränzt;
Bald purpurhell, als spiele
Der Abendröthe Schein,
Bald weiß und bleich, als fiele
Des Mondes Schimmer ein.

Zur Warnung hört‘ ich sagen,
Daß, der im Mohne schlief,
Hinunter ward getragen
In Träume, schwer und tief;
Dem Wachen selbst geblieben
Sei irren Wahnes Spur,
Die Nahen und die Lieben
Halt‘ er für Schemen nur.

In meiner Tage Morgen,
Da lag auch ich einmal,
Von Blumen ganz verborgen,
In einem schönen Thal.
Sie dufteten so milde!
Da ward, ich fühlt‘ es kaum,
Das Leben mir zum Bilde,
Das Wirkliche zum Traum.

Seitdem ist mir beständig,
Als wär‘ es so nur recht,
Mein Bild der Welt lebendig,
Mein Traum nur wahr und ächt;
Die Schatten, die ich sehe,
Sie sind, wie Sterne, klar.
O Mohn der Dichtung! wehe
Um‘s Haupt mir immerdar! 

Dieses Gedicht aus dem Jahr 1829 hat mich überrascht und gibt mir zu denken, weil es eines der großen Themen des Philosophierens streift: die Frage nach dem, was wirklich ist. Dabei fängt es ganz harmlos an, mit einem begeisterten Ausruf des erlebenden lyrischen Ichs: „Wie dort … glänzt!“ (V. 1 f.) Das erinnert direkt an Goethes „Maifest“: „Wie herrlich leuchtet …“. Es ist die im Sonnenschein glänzende Blüte des Mohns (V. 2), die bald purpur, bald weiß erscheint (V. 5 ff.); diese Farbspiele bringt das Ich in zwei irrealen Vergleichen mit der Abendröte und dem Mondschimmer in eine gedankliche Verbindung und bereitet so auf die Assoziation Nacht-Schlaf-Traum vor, welche schon durch das Attribut der Blume (V. 3 f.) zart angedeutet wird: „die am besten / Des Traumgotts Schläfe kränzt“.

Schließlich unterteilt sich die Gattung Mohn in Arten, die medizinisch stark wirksame – insbesondere schlafbringende und schmerzlindernde – Inhaltsstoffe enthalten, wie z. B. der Schlafmohn (Papaver somniferum), und Arten, die diese Inhaltsstoffe so gut wie nicht aufweisen, wie z. B. der Klatschmohn (Papaver rhoeas). […] Eine Reihe von symbolischen Aussagen in der bildenden Kunst stehen in direktem Zusammenhang mit den bekannten Wirkungen des Mohns bzw. des Opiums. Dazu gehören insbesondere der Schlaf, der Traum, das Vergessen, der Trost und der Tod. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Mohn auf Bildern im Zusammenhang mit entsprechenden Gottheiten, insbesondere auf Bildern der antiken Götterfamilie Nyx (Göttin der Nacht) mit ihren Söhnen Thanatos (Gott des Todes) und Hypnos (Gott des Schlafes) und dessen Sohn Morpheus (Gott der Träume), symbolische Verwendung findet. Oft kommt auf diesen Bildern nicht die Mohnpflanze oder Mohnblüte zur Abbildung, sondern die Mohnkapsel, aus der das Opium gewonnen wird. (P. Schmersahl: Mohn in der bildenden Kunst – Eine Pflanze zwischen Traum und Tod. In: Deutsche Apothekerzeitung 5/2003) Der Traumgott ist Hypnos, zu ihm gehört (V. 4) der Mohn als schlafbringende Blume und Arznei. Dieses Attribut zu „Blume“ (V. 3) ist eine Art Kommentar des lyrischen Ichs und bereitet zusammen mit den irrealen Vergleichen das Thema „Wirklichkeit und Traum“ vor.

Danach fällt dem Ich etwas ein und es berichtet, was es vom Mohn hat sagen hören (V. 9 ff., 2. Str.): Wer im Mohn(feld) schlafe, werde in tiefe Träume (Alliteration) getragen und verfalle dem Wahn, so dass er die „Nahen und Lieben“ nur für Schemen halte. Schemen: eine nur undeutlich erkennbare, verschwommene Gestalt, Schatten; eine farblose unkörperliche Figur. Wer im Mohnfeld schlafe, dem entziehe sich also die Wirklichkeit; sie löse sich in eine farbloses Bild auf. Das hat man dem Ich „[z]zur Warnung“ (V. 9) gesagt, um es vor dem so drohenden Verlust zu bewahren. Die Erinnerung stellt sich wohl als Assoziation zum Stichwort „Traumgott“ (V. 4) → „Träume“ (V. 12) ein.

Das Ich erinnert sich dann, wiederum assoziativ, an eine Episode aus seiner Kindheit oder Jugend („Morgen“ der Tage, V. 17, deutet eher auf Kindheit hin): Wie es in einem Tal in einem Feld duftender Blumen lag (V. 18 ff.). Da wurde unmerklich „Das Leben mir zum Bilde, / Das Wirkliche zum Traum“ (V. 23 f.). Dieses Kindheitserleben ist der Punkt, den das Gedicht in einem ersten Schritt ansteuert. Leben und Wirklichkeit gehören in diesen parallelen Aussagen zusammen, ebenso Bild und Traum; Bild und Traum erhellen sich gegenseitig und bezeichnen etwas Un-Wirkliches, was sich dem Zugriff entzieht, worauf schon mit der Warnung vor den Schemen (V. 16) hingewiesen wurde. Diesem Erleben eignet jedoch entgegen der Warnung nichts Bedrohliches; es ereignete sich in einer Situation, die mit Blumen / schön / milde (V. 19 ff.) umschrieben wird.

Abschließend erklärt das Ich, welche Folgen dieses Erleben gehabt hat: Es erscheint ihm seitdem als die einzig richtige Form des Erlebens (V. 25 f.), als wäre (irrealer Vergleich, Konjunktiv II, V. 26) „Mein Bild der Welt lebendig, / Mein Traum nur wahr und ächt“ (V. 27 f.). Entgegen der Warnung sind also Bild und Traum ihm nicht schemenhaft, sondern lebendig, farbig, nahe (und das „Wirkliche“ farblos, blass, unbedeutend). Die Bewertungen von Traum und Wirklichkeit sind vertauscht worden – wobei zunächst noch offen ist, was das Ich mit Traum und Bild meint. In den beiden nächsten Versen (V. 29 f.) bestätigt es noch einmal diese neue Sicht: Die von ihm gesehenen „Schatten“ seien nicht undeutlich, sondern klar wie die Sterne. Und dann kommt im zweiten großen Schritt das Gedicht an sein Ziel, die Rätsel lösen sich auf: „O Mohn der Dichtung! Wehe / Um‘s Haupt mir immerdar!“ (V. 31 f.) Das Ich verbindet in einer Metapher (Mohn der Dichtung) Dichtung und Traumgesichte, die wahrer als die Wirklichkeit sind, offenbart sich damit als Dichter und bittet den (ungreifbaren) Mohn der Dichtung, es immer zu umfangen und damit zu inspirieren („wehe …“, V. 31 f.: Bild des Windes, des Geistes).

Wir haben hier ein poetologisches Gedicht vor uns, das die Idee der romantischen Dichtung in einer Folge von drei oder vier Schritten (wenn man die Erinnerung an die Warnung als eigenen Schritt zählt) entfaltet. Die vier Strophen bestehen aus acht Versen zu je drei Trochäen, wobei – passend zum Kreuzreim – die ungeraden Verse immer eine Silbe mehr aufweisen (weibliche Kadenz). Jeweils zwei Verse bilden eine (kleine) semantische Einheit, so dass man nur von Reimen mit der männlichen Kadenz einen semantischen Bezug erwarten kann. Der ist tatsächlich gegeben, wie ich exemplarisch an der ersten Strophe zeige: die Blüte glänzt, sie kränzt des Traumgotts Schläfe; die Farben gleichen dem Schein der Abendröte, des Mondes Schimmer. Von der zweiten Hälfte der dritten Strophe an entfällt dieser Bezug, zweimal wegen des bloß modifizierenden Einschubs (V. 22 und V. 26), einmal wegen des Themenwechsels (ab V. 31).

Thematisch mit dem Gedicht „Der Mohn“ verwandt ist eines aus dem Jahr 1826, das ich zur Verdeutlichung der romantischen Poetologie zitiere – beide Gedichte erhellen sich gegenseitig:

In ein Stammbuch

Die Zeit in ihrem Fluge streift nicht bloß

Des Feldes Blumen und des Waldes Schmuck,

Den Glanz der Jugend und die frische Kraft:

Ihr schlimmster Raub trifft die Gedankenwelt.

Was schön und edel, reich und göttlich war

Und jeder Arbeit, jeden Opfers wert,

Das zeigt sie uns so farblos, hohl und klein,

So nichtig, daß wir selbst vernichtet sind.

Und dennoch wohl uns, wenn die Asche treu

Den Funken hegt, wenn das getäuschte Herz

Nicht müde wird, von Neuem zu erglühn!

Das Echte doch ist eben diese Glut,

Das Bild ist höher als sein Gegenstand,

Der Schein mehr Wesen als die Wirklichkeit.

Wer nur die Wahrheit sieht, hat ausgelebt;

Das Leben gleicht der Bühne: dort wie hier

Muß, wann die Täuschung weicht, der Vorhang fallen.

https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2003/daz-5-2003/uid-9092 (P. Schmersahl zur Kulturgeschichte des Mohns, DAZ 2003)

https://de.wikipedia.org/wiki/Hypnos (Art. „Hypnos“)

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

https://archive.org/details/bub_gb_TcYMAQAAIAAJ/page/n3/mode/2up (dito, Bd. 2)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

https://archive.org/details/bub_gb_e7s5AAAAMAAJ/page/n7/mode/2up (Uhlands Leben, von seiner Witwe, 1874)

Schade, ich hatte ein so schönes Mohnbild gefunden (vecteezy_coloful-poppy-flowers_2030404.jpg), das man wiedergeben durfte, aber ich kriege es nicht richtig in den Post gebannt.

L. Uhland: Frühlingslied des Rezensenten – Text und Analyse

L. Uhland: Frühlingslied des Recensenten

Frühling ist's, ich laß es gelten
Und mich freut's, ich muß gestehen,
Daß man kann spazieren gehen,
Ohne just sich zu erkälten.

Störche kommen an und Schwalben,
Nicht zu frühe, nicht zu frühe!
Blühe nur, mein Bäumchen, blühe!
Meinethalben, meinethalben!

Ja! ich fühlen wenig Wonne,
Denn die Lerche singt erträglich,
Philomele nicht alltäglich,
Nicht so übel scheint die Sonne.

Daß es Keinen überrasche,
Mich im grünen Feld zu sehen!
Nicht verschmäh' ich auszugehen,
Kleistens Frühling in der Tasche.

U. galt 100 Jahre lang quer durch die sozialen Schichten und parteipolitischen Lager als Idealgestalt: im Politischen durch sein lebenslanges unerschütterliches Eintreten für staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten sowie seinen glaubwürdigen, unpathetischen Patriotismus, im Poetischen durch seine volkstümlich-schlichte, formal gebändigte, klare und ethisch fundierte Romantik. (...) U. zählt maßgeblich zu jenen dt. Dichtern, die mit ihren Werken zur inneren Nationwerdung der Deutschen im 19. Jh. beitrugen.“ Mit dieser Würdigung durch Friedrich Max Uhle fangen wir an und schauen auf das 1813 veröffentlichte Frühlingsgedicht Uhlands, in dem das Frühlingsmotiv ganz untypisch, aber witzig behandelt wird.

Empfangt mich heilige Schatten! ihr Wohnungen süsser Entzückung

Ihr hohen Gewölbe voll Laub und dunkler schlafender Lüfte!

Die ihr oft einsahmen Dichtern der Zukunft Fürhang zerrissen

Oft ihnen des heitern Olymps azurne Thoren eröfnet

Und Helden und Götter gezeigt...

So beginnt Ewald von Kleists 459 Verse langes Gedicht „Der Frühling“, 1750 veröffentlicht; so beginnt ein Frühlingsgedicht aus der Zeit der Empfindsamkeit: mit einem Jubel über den Frühling, voll Enthusiasmus. Ganz anders spricht der Rezensent, die sprechende Ich-Rolle in Uhlands Gedicht, den man kaum ein lyrisches Ich nennen mag, weil er als ein Bücherwurm so prosaisch denkt und empfindet. Er befindet sich offensichtlich draußen, in der freien Natur; er spricht ein Bäumchen an (V. 7) und bekennt sogar, „ein wenig Wonne“ (V. 9) zu fühlen – aber insgesamt ist er dem Frühling gegenüber doch sehr reserviert:

  • er lässt es gelten, dass Frühling ist (V. 1);
  • er freut sich, dass er spazieren gehen kann, ohne sich zu erkälten (V. 3);
  • zum Blühen des Bäumchens sagt er „Meinethalben, meinethalben!“ (V. 8);
  • er verspürt nur „ein wenig Wonne“ (V. 9), denn
  • Lerche, Nachtigall und Sonne sind „erträglich“, „nicht so übel“ (V. 10-12);
  • doch für alle Fälle hat er Kleists Gedicht „Der Frühling“ bei sich (V. 16), die große Frühlingsbegeisterung steckt bloß in einem Buch.

Die Leute kennen ihn auch nicht als Spaziergänger (V. 13 f.), aber mit „Kleistens Frühling in der Tasche“ (V. 16) wagt er sich ins grüne Feld (V. 14). Dass man Uhland zu den Romantikern zählt, überrascht angesichts dieses bürgerlich-behäbigen Frühlingserleben doch ein wenig. Soll man die Distanz vom üblichen poetischen Frühlingsjubel ironisch nenne? Oder biedermeierlich? Oder wird hier einfach das Frühlingsjubilieren der Dichter ein wenig auf die Schippe genommen, da Lerchen- und Nachtigallengesang zwar ganz erträglich, aber doch nicht berauschend sind – und steckt in den 459 Versen von Kleists Gedicht ein so wunderbarer Frühling, dass die reale Natur im Frühling dagegen verblasst? Für die letzte Lesart spricht auch die Tatsache, dass Uhland in zwei Glossen die Glossen zeitgenössischer jubilierender Dichter parodiert, also verspottet hat.

Die vier Strophen bestehen aus vier Versen zu je vier Trochäen, sie sind durch einen umarmenden Reim verbunden. Die reimenden Verse der dritten Strophe und die Verse 14 f. Stehen auch in einer semantischen Beziehung, die anderen eher nicht – aber das ist bei einem so prosaischen Gedicht auch gar nicht nötig.

Ich habe mich jedenfalls gefreut, das Gedicht kennenzulernen; man kann es auch zwei- und dreimal lesen, ohne dass es als Anti-Gedicht seinen Reiz verlöre. Es gehört zu den Frühlingsliedern, einer kleinen Sammlung, zu der auch der „Frühlingsglaube“ gehört, ebenfalls 1813 veröffentlicht. Des Kontrastes halber sei dieses typische Frühlingsgedicht ebenfalls zitiert:

Uhland: Frühlingsglaube

Die linden Lüfte sind erwacht,

Sie säuseln und weben Tag und Nacht,

Sie schaffen an allen Enden.

O frischer Duft, o neuer Klang!

Nun, armes Herze, sei nicht bang!

Nun muß sich Alles, Alles wenden.

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,

Man weiß nicht, was noch werden mag,

Das Blühen will nicht enden.

Es blüht das fernste, tiefste Thal:

Nun, armes Herz, vergiß der Qual!

Nun muß sich Alles, Alles wenden.

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

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http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

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Ludwig Tieck: Glosse – ein Beispiel für Intertextualität, Analyse

Ludwig Tieck: Glosse

Liebe denkt in süßen Tönen,
Denn Gedanken stehn zu fern,
Nur in Tönen mag sie gern
Alles, was sie will, verschönen.

Wenn im tiefen Schmerz verloren
Alle Geister in mir klagen,
Und gerührt die Freunde fragen:
»Welch ein Leid ist Dir geboren?«
Kann ich keine Antwort sagen,
Ob sich Freuden wollen finden,
Leiden in mein Herz gewöhnen,
Geister, die sich liebend binden
Kann kein Wort niemals verkünden,
Liebe denkt in süßen Tönen.

Warum hat Gesangessüße
Immer sich von mir geschieden?
Zornig hat sie mich vermieden,
Wie ich auch die Holde grüße.
So geschieht es, daß ich büße,
Schweigen ist mir vorgeschrieben,
Und ich sagte doch so gern
Was dem Herzen sei sein Lieben,
Aber stumm bin ich geblieben,
Denn Gedanken stehn zu fern.

Ach, wo kann ich doch ein Zeichen,
Meiner Liebe ew‘ges Leben
Mir nur selber kund zu geben,
Wie ein Lebenswort erreichen?
Wenn dann alles will entweichen
Muß ich oft in Trauer wähnen
Liebe sei dem Herzen fern.
Dann weckt sie das tiefste Sehnen,
Sprechen mag sie nur in Thränen,
Nur in Tönen mag sie gern.

Will die Liebe in mir weinen,
Bringt sie Jammer, bringt sie Wonne,
Will sie Nacht seyn, oder Sonne,
Sollen Glückessterne scheinen?
Tausend Wunder sich vereinen,
Ihr Gedanken schweiget stille,
Denn die Liebe will mich krönen,
Und was sich an mir erfülle,
Weiß ich das, es wird ihr Wille
Alles, was sie will, verschönen.

Zur Form: Laut den „Epochen der deutschen Lyrik“, hrsg. von Walter Killy. Bd. 7 (dtv 1970) stammt das Gedicht aus Tiecks „Phantasus“ (1816) und hat dort die ersten vier Verse (das Motto) nicht gesondert, sondern nur in den vier Dezimen die Schlussverse kursiv gesetzt. Ich habe also einen Kompromiss gewählt, da es zur Form der Glosse gehört, dass die vier Schlussverse als kleines Gedicht den vier Strophen vorangestellt werden. In dieser Form steht es in Tiecks „Gedichte“, 1821/23, wie Paul Gerhard Klussmann es auch wiedergibt (Bewegliche Imagination oder Die Kunst der Töne. In: Gedichte und Interpretationen, Band 3: Klassik und Romantik. Hrsg. von Wulf Segebrecht. Reclam 1984 = 1998, S. 342 ff.).

Die „Glosse“ steht in einem Geflecht von Texten, das man ohne fremde Hilfe nicht durchschaut; ich verlasse mich auf die Hinweise Klussmanns. Ausgangspunkt ist folgendes Gedicht Tiecks (1799), das in seinem Essay „Die Töne“ steht (s. den Link unten!):

Weht ein Ton vom Feld herüber
Grüßt mich immerdar ein Freund,
Spricht zu mir: was weinst du Lieber?
Sieh, wie Sonne Liebe scheint:
Herz am Herzen stets vereint
Gehn die bösen Stunden über.

Liebe denkt in süßen Tönen,
Denn Gedanken stehn zu fern,
Nur in Tönen mag sie gern
Alles, was sie will, verschönen.
Drum ist ewig uns zugegen,
Wenn Musik mit Klängen spricht,
Ihr die Sprache nicht gebricht
Holde Lieb‘ auf allen Wegen,
Liebe kann sich nicht bewegen
Leihet sie [die Musik, N.T.] den Othem [Odem, N.T.] nicht.

Die ersten vier Verse der zweiten Strophe haben Friedrich Schlegel und Tiecks Schwester Sophie Bernhardi-Tieck jeweils zum Thema einer Glosse gemacht, die 1803 unter der Überschrift "Variationen“ in der Zeitschrift "Europa“ erschienen sind (s. Link unten!). Schlegel sei es gewesen, der die programmatische Bedeutung der vier Verse erkannt habe. Es folgen dort zwei weitere Glossen, von denen zumindest eine August Wilhelm Schlegel geschrieben hat. Tieck hat seine Glosse "Töne“ vermutlich bald nach den "Variationen“ geschrieben, dann im "Phantasus“ 1816 mit vier kursiv markierten Schlussversen veröffentlicht; in der Ausgabe seiner Gedichte 1821/23 hat er die vier Verse als Motto vorangestellt, wie bereits Schlegel in den "Variationen“. Ludwig Uhland hat, wobei er den ersten Vers des Mottos leicht verändert hat, die gefühlvolle Dichtung der Variationen“ 1815 in der Parodie "Der Rezensent“ auf die Schippe genommen:

Liebtet ihr nicht, stolze Schönen!
Selbst die Logik zu verhöhnen,
Würd ich zu beweisen wagen,
Daß es Unsinn ist zu sagen:
Süße Liebe denkt in Tönen.

Wir haben ein großes Beispiel für Intertextualität vor uns, die hier natürlich nicht in den Feinheiten entfaltet werden kann; dazu muss man mindestens Klussmanns Aufsatz lesen.
Das Motto, die ersten vier Verse, sind das romantische "Programm der Musikalisierung, das in Dichtung, Malerei und Musik den romantischen Weg nach Innen noch entschiedener vorantreiben sollte“ (Klussmann, S. 346); Schlegel hat mit seiner literarischen Partnerin die Form der Glosse in die deutsche Literatur eingeführt. Tieck hat, anders als Schlegel und seine Schwester, auf konkrete Bilder in seiner Glosse verzichtet und auf die Musikalität der Sprache gesetzt und durch das Spiel der Reime und die Elemente des Wortklangs die Verbindung zwischen den Sätzen hergestellt (Klussmann, S. 350).
Im Motto werden die süßen Töne der Musik den Gedanken gegenübergestellt: In Tönen denke die Musik, Gedanken als solche ständen ihr fern; mit Tönen verschöne sie "alles, was sie will“ (V. 4). Der etymologische Rückgriff auf „denken“ verbindet trotzdem die Gegensätze, die Laute "-önen“ beherrschen das Motto und seinen Kreuzreim.
Die vier Dezimen, die ich mit lateinischen Ziffern bezeichne, stehen unter dem Strukturprinzip von Frage und Antwort; dabei fällt auf, dass es keine Antwort auf die Fragen gibt: Kein Wort kann vom Inneren des Ichs künden (I 9), ihm ist Schweigen vorgeschrieben (II 6); ein Lebenswort hört das sprachlose Ich nur in Tränen und Tönen (III 9 f.). Die Gedanken haben zu schweigen, wenn die Liebe ihr Werk "krönen / verschönen“ vollbringt (IV 6 ff.). Gesangessüße und Lebenswort, zwei Neologismen, sind nach Klussmann die zentralen Begriffe, mit denen das Wirken des Liebesmusik umschrieben wird. 
Man sollte nicht versuchen, sachlich-logische Beziehungen zwischen den verschiedenen Aussagen herzustellen. Solche Versuche scheitern: Warum hat sich die Gesangessüße etwa vom Ich "geschieden“ (II 2), während gleichzeitig die Gedanken fernstehen (II 10)? Woher weiß das Ich, dass es von der Liebe gekrönt werden soll (IV 7)? Solche Fragen darf man an dieses Gedicht nicht stellen, man muss einfach dem Strom der Laute zuhören, die Abfolge der unanschaulichen Topoi hinnehmen – oder eben wie Uhland die Glossen über die Liebesmusik parodieren.
Die Dezimen bestehen aus vierfüßigen Trochäen. Das Reimschema ist a – b – b – a – b – c – d – c – c – d; in der Mitte der Dezime ist also bei der Lautung ein Einschnitt, während für die Fragen vier bzw. zwei Verse (so nur in II) vorgesehen sind. Die "Glosse“ ist eines der Programmgedichte der Romantik, vielleicht sogar das entscheidende.

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6847.html (Ludwig Tieck)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Tieck (dito)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/lebensgeschichte-und-literarisches-schaffen-3 (dito)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Wackenroder,+Wilhelm+Heinrich/Schriften+und+Dichtungen/Phantasien+%C3%BCber+die+Kunst+f%C3%BCr+Freunde+der+Kunst/Zweiter+Abschnitt/8.+Die+T%C3%B6ne (Tieck: Die Töne, in Wackenroder: Phantasien über die Kunst…, 1799)

http://homepage.univie.ac.at/konstanze.fliedl/VO_Gedichte_WS_2013/Gedichte-04.ppt (Präsentation zu Tiecks „Glosse“)

https://archive.org/details/bub_gb_pRJGAAAAcAAJ/page/n81/mode/2up („Variationen“, in: Europa. Eine Zeitschrift, 1803, S. 78 ff.)

https://www.babelmatrix.org/works/de/Schlegel%2C_Friedrich_von-1772/S%C3%BCsse_Liebe_denkt Schlegels Glosse

https://gedichte.xbib.de/Uhland_gedicht_1.+Der+Rezensent.htm (Uhland: Der Rezensent)

https://de.wikipedia.org/wiki/Glosa_(Kunst) (Gedichtform Glosse)

https://www.jewiki.net/wiki/Glosse_(Gedichtform) (dito)

https://wortwuchs.net/gedichtformen/ (Gedichtformen)

https://abi.unicum.de/abitur/abitur-lernen/romantik-epoche (Romantik)

https://www.schreiben.net/artikel/romantik-epoche-3771/ (Romantik)

Uhland: Einkehr – Analyse der Bildersprache

In diesem Gedicht erzählt ein Ich-Sprecher von seinem Gang zu einem Apfelbaum, dessen köstliche Früchte er genossen hat; er überträgt diese Erzählung aber vollständig in das Bild des Besuchs einer Gaststätte. In diesem Bild, das durch personifizierendes und metaphorisches Sprechen gezeichnet wird, erkennt man die Freundlichkeit und Großzügigkeit der Natur, die umsonst ihre Gaben gewährt.
Das Gedicht ist ganz einfach aufgebaut. Zunächst nennt der Erzähler das Thema (V. 1 f.); dann erzählt er chronologisch seine Erlebnisse in der „Wirtschaft“ des Apfelbaums. Den Schluss bildet ein Segenswunsch (V. 19 f.), der dem großzügigen Wirt gilt.
Die Wirtschaft und ihre Einrichtung, der Wirt und sein Handeln, die Gäste und ihre Erlebnisse, das sind die drei Bereiche, die man gesondert untersuchen kann. Der Erzähler beginnt also seinen Bericht damit, dass er den Wirt und das Aushängeschild seiner Wirtschaft erwähnt, die demgemäß „Zum goldenen Apfel“ heißen muss. Gleich danach wird der Wirt als „der gute Apfelbaum“ identifiziert, womit endgültig die Differenz von Bild- und Sachebene konstituiert ist. Diese Identifizierung ist in V. 3 f. vorbereitet worden; denn dass der goldene Apfel, das Wahrzeichen dieser Wirtschaft, „an einem langen Aste“ (V. 4) statt an einer soliden Stange hängt, verwundert den Leser möglicherweise ein wenig. Das Bett des grünen Hauses (Metapher für den Baum) für die Ruhe nach dem Essen wird nicht eigens genannt, aber in der parallel geführten Bildebene werden die „weichen, grünen Matten“ (V. 14), die Wiese unter dem Baum, problemlos als Bett verstanden.
Der Wirt präsentiert die saftigen Apfel metaphorisch als Speis und Trank (V. 7 f.), deckt (personifiziert) den Gast mit seinem Schatten zu (V. 15 f.) und verzichtet darauf, eine Rechnung auszustellen (V. 17 f.). Der Apfelbaum ist also durchgehend als Wirt personifiziert. Neben dem Ich-Erzähler treten noch andere „leichtbeschwingte Gäste“ auf, wie die Vögel in einem kleinen Wortspiel personifiziert werden; auch sie schmausen und singen in ihrer Freude.
Neben der Freigebigkeit des Wirtes, neben dem ausgezeichneten Service (4. Strophe) fallen die Qualität des Essens (V. 7 f.) sowie die ausgelassene Stimmung in der Wirtschaft (3. Strophe) auf. Die Natur übertrifft das menschliche Wirtschaften in allen Belangen – der Segenswunsch als Dank ist die angemesse Antwort.

Eine der Adressen, wo der Text des Gedichtes zu finden ist: http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/uhl_l05.html

Das Bild von Wirt und Gast wird im folgenden Sinnpruch ganz anders gebraucht, so dass man mit einer guten Klasse untersuchen könnte, wie die verschiedenen Dichter mit dem Bildmaterial spielen:

Lebens-Genuss

Auf dieser Welt ein Gast, musst du für Willen nehmen,

Was dir der Wirt beschieden hat;

Nicht allzu ekel sein, noch dich zu blöde schämen:

Sonst gehst du fort, und – wirst nicht satt.

(K. F. Kretschmann: Letzte Sinngedichte)