von Dr. Peter Brinkemper
Checkliste: Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Schauspiel 1786/7. Plädoyer für eine genaue Detailanalyse.
Voraussetzungen: Versuchen wir es einmal anders. Klammern wir uns nicht an bekannte Inhaltsangaben und Deutungsversuche zur Klassik und zur Humanität von Goethes „Iphigenie“. Goethe hat nicht umsonst lange an diesem Werk gearbeitet und gefeilt. Überlassen wir uns doch einfach mal dem Text von Goethe.
Dieser Text ist nicht nur poetisch in Versen zu lesen, er bietet in raffiniert ausgestalteten Sätzen eine Fülle von wichtigen Informationen, Details, Motiven und Hinweisen zum Verständnis der hochbewegten Geschichten und Vorgeschichten, die in diesem Drama eine so wichtige Rolle spielen.
Es folgen: die Aufgabenstellung; Themenaspekte; die fünf Textstellen (zwischen Monolog und Dialog quer durch das Werk); entsprechend detaillierte Interpretationshinweise, die weit über die Logik einer Inhaltsangabe hinausgehen; die Textstellen als Fließtext.
Aufgabenstellung: Analysieren & interpretieren Sie fünf Textstellen aus Goethes Schauspiel „Iphigenie“ in Kontext und Zusammenhang.
Achten Sie auf (a) Monolog, Dialog – (b) epische Vorgeschichte (Figuren-Perspektive, selektive Erfahrung ) und aktueller dramatischer Verlauf – (c) Logik, Lücken und Rätselhaftigkeit der erzählten Geschichte/n – (d) Entwicklung der Menschenwelt (Licht und Schatten), Götterwelt und Unterwelt – (e) Rationale und emotionale Argumente: Gesetz und Auslegung, Un/Gehorsam und Hybris – (f) Freiheit und Unfreiheit/Versklavung – Vernunft und Wille, strategischer Verstand und Gefühl – Ausnahme und Exil – (g) Idee der Klassik – (h) Normalität und Traumatisierung: Gewalt, List, Opferung und Versöhnung – (i) Der Mythos vom Fluch über Generationen zwischen Wirksamkeit und Beruhigung – Geburt, Tod und Wiedergeburt/Neugeburt des Subjektes/Individuums/Menschen – (j) Leitmotive, Bilder, Metaphern, rhetorische Figuren.
Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ – die Stellen:
I, 3. Vers 397 – 474 (Ausschnitt der Szene) Thoas im Dialog im Iphigenie.
I, 4. Vers 538 ff. (vollständige Szene) Iphigenie (allein). Monolog
III, 2. Vers 1258 ff. (vollständig) Orest (aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend). Monolog
IV, 4. Vers 1653 – 1664 (Ausschnitt) Pylades (im Dialog mit Iphigenie).
V, 3. Vers 1804 – 1864 (Ausschnitt) Iphigenie im Dialog mit Thoas.
Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ – Interpretationshinweise
I, 3. Vers 397 – 474 (Ausschnitt) Thoas – Iphigenie (Dialog)
Kontext/Text:
Situation: Die Göttin Diana/Artemis hat die fremde Iphigenie (aus anscheinend bisher ungeklärten Umständen) nach Tauris in ihr Heiligtum versetzt, wo sie sogleich eine neue Heimat fand. Thoas ist der zurückgezogene, misstrauische Herrscher von Tauris. Thoas will Iph. heiraten, aus bestimmten Gründen. Nun gut. Liebt er sie auch wirklich, oder ist Liebe für ihn nicht eher nur ein lästiges Zusatz-Gefühl? Bisher gilt Iph. als die unberührte Priesterin, sie versteht sich vor allem als Eigentum einer rettenden, letztlich die Strafe aussetzenden Göttin. Zwar soll Iph. den (der Göttin Diana eventuell nur untergeschobenen?) alten taurischen Opferkult durchführen, aber sie hat längst aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als ehemaliges Opfer und Gerettete begonnen, sich von Opferungen zu distanzieren und auf Rettung oder wenigstens Aufschub zu setzen, vorbildlich zunächst für ihren eigenen Wirkungskreis als Priesterin und bald hoffentlich auch gesetzförmig für alle anderen Inhaber weltlicher und geistlicher Macht. Aber gemäß Thoas rückwärts orientiertem Willen sollen unter Iph.s Leitung immer noch nach altem Brauch junge männliche Fremde nach unbefugtem Betreten des Landes getötet werden. Hintergrund des älteren taurischen Opfer-Brauchs ist der frühe Tod von Thoas’ Sohn: Thoas, ohne eigenen Nachfolger, beseitigt mit den Eindringlingen vor allem Konkurrenten um den Thron. Erst eine Heirat z.B. mit Iph. und neue männliche Nachkommen würden die Zukunft seiner Herrschaft festigen. Insofern ist Thoas’ Regime derzeit defensiv und konservativ der Vergangenheit verschrieben; in der Liebe zu Iphigenie leuchtet ein Stück politische Zukunftshoffnung für Tauris auf (I,2).
Vorgeschichte: Iphigenie, Königstochter aus Mykene, wurde mit ihrer Mutter zur Insel Aulis durch Männerlist gelockt. Man versprach ihr eine Hochzeit mit dem gleichfalls getäuschten Helden und Halbgott Achill. Dort hatte Agamemnon, ihr machtbewusster Vater und Heerführer der Griechen (als designierter Griechen-König), auf dem Seeweg nach Troja im Übermut Diana/Artemis, des Sonnengottes Apolls nächtliche Mondschwester, auf der Jagd beleidigt: Agam. vermöge besser zu jagen, selbst gekonnter als Diana. Die griechische Flotte war unterwegs, um den Raub bzw. die Entführung von Agam.s Bruder Menelaos’ Frau, der spartanischen Königstochter Helena, durch Trojas jungen Königssohn Paris militärisch zu beantworten. Helena war wiederum die Schwester Klytämnestras, beide Töchter des spartanischen Königspaares Tyndareos und Leda (der eventuell auch Zeus in Gestalt eines Schwanes statt des alten Königs unterkam). Später werden Apollo und Diana/Artemis sowie Aphrodite, von Paris im berühmten Urteil als schönste erwählte Göttin, auf der Seite der Trojaner stehen, während u.a. Athene, Hera und Poseidon auf der Seite der Griechen wirken werden. Auf Aulis zaubert die Göttin Diana/Artemis Windstille (nach Pylades in Goethe, „Iphigenie“ II,2: „ungestüme Winde“) für die griechische Flotte herbei. Laut Seher Kalchas fordert die Göttin als Wiedergutmachung für Agam.s Beleidigung und Frevel ein Opfer: die Tötung seiner Tochter Iphigenie. Vater und König Agam. zeigt nach vielem Hin und Her den gehorsamen Willen zur Durchführung der Opferung (Wie weit…? Nach Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ bejaht Iph. am Ende selbst staatsfromm und ausschlaggebend das Opfer, um Wirrwarr und Aufruhr im griechischen Heer und in der politischen Führungsspitze loyal zu beenden). Da wird Iph. von Diana, die anscheinend mit der Opferbereitschaft genug hat, vor der Tötung oder vom Tode errettet und nach Tauris versetzt. Die Griechen erhalten wieder (schiffbaren) Wind und können nach Troja in einen für alle Seiten verderblichen langwierigen Krieg mit späterer ungewisser Heimkehr segeln. Von Tauris sehnt Iph. sich nach Mykene zurück, sie weiß anscheinend nichts über den Ausgang des Trojanischen Krieges, die Heimkehr Agam.s und die Rache(pläne) Klytämnestras, der die Rettung ihrer Tochter anscheinend unsichtbar blieb und die an das Verschollensein oder die Tötung ihrer Tochter glaubte. Agam. hatte bereits Klytämnestras ersten Mann, den König Tantalus von Pisa (griechisch), und ihren Sohn getötet, bevor er sie zur Frau nahm. In Iph.s Seele überlagern sich glückliche Kindheit, Unheil der expansiven Machtpolitik ihres Vaters, Grausamkeit der Opferung, Todesangst und abrupt-wundersame Errettung.
Auf Thoas’ Frage (in I,3) nach ihrer Herkunft antwortet Iph. teils offen und mit wichtigen Akzenten, teils verschleiernd, beschönigend, verfälschend. (Es handelt sich nicht um eine einfache Inhaltsangabe, sondern gezielte Version/Interpretation.)
1. A) Die Geschichte von Tantalos deutet sie nur an. Aber klar ist ihre Deutung von Tant.’s titanischem Seelenzustand: (für Menschen unvermeidlicher) Hochmut als überdurchschnittlich begabter Liebling auch der Götter, noch in der olympischen Ära. In der Figur des Tantalos zeichnet sich die Konfliktlinie zwischen Vätern und Söhnen sowohl im älteren titanischen wie im jüngeren olympischen Göttergeschlechte ab und artikuliert sich zugleich das für Goethe typische individuelle Rebellionsmodell des Sturm und Drang. Goethes Iph. artikuliert in IV,5 die Konfliktlinie zwischen den Titanen (Chronos/Saturn mit Mutter Gaia gegen Uranos) und den Olympiern um Chronos’ Sohn Zeus/Jovis/Jupiter, der sich und seine Geschwister aus dem Bannkreis des Vaters befreit („Saturn frisst seine eigenen Kinder“, um die Revolte der Söhne gegen den Vater zu verhindern). In I,3 wird Tant.’s Hybris am Tische der Götter angesprochen, die eigentliche Freveltat umgangen – die Speisung der Götter mit dem eigenen Sohn Pelops, eine bösartige Art Parodie des Kronos-Mythos, eine Veranstaltung, um die Allwissenheit und Gier der Götter grimmig auf die Probe zu stellen. Die Perversion eines Opfers in einer mörderischen, leichtsinnigen, hinterlistigen und hasserfüllten Tat ist das Urbild der tantalidischen Verbrechen (als Form des späten Nachbebens des einstmaligen titanischen Aufruhrs). Präziser ist Tant.’s Sturz in den Tartarus dargestellt, den die titanischen Götter insgesamt beim Sieg der Olympier erlitten: den Fall in die Zone ewiger Bestrafung weit hinter dem Hades; nur angedeutet ist der Fluch für die folgenden tantalidischen Generationen. Die für die Klassik wichtigen Tugenden „Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld“ und ihre Entartungen zu Begierde und Wut werden plastisch angeführt. Der Urkampf der Generationen, die Angst der Alten und die Furcht der Jungen voreinander sowie das Problem einer gesicherten Genealogie sind ein Grundproblem gerade auch in Thoas’ Herrscherwelt, die angesichts des ungeklärten Verlusts des einzigen, immer wieder beschworenen Sohnes um ihr Fortbestehen bangen muss. B) Auf die Tantalus-Geschichte folgt der kurze biographische Abriss zu seinem von Zeus, Hermes und Klotho wiederhergestellten Sohn Pelops. Deutlicher werden hier dessen angebliche Vergehen betont: Durch Verrat und Mord habe Pelops König Önomaos’ Tochter Hippodameia geheiratet. Das ist nur die halbe Wahrheit. Was Goethe Iph. verschweigen lässt: Der König hatte gegen zwölf Freier seiner Tochter beim Wagenrennen gewonnen und sie während beim Aufholen erstochen bzw. nach anderer Erzählung nach dem Wettkampf töten lassen. Wieder ist die wütende Angst vor unerwünschten Nachfolgern das Thema, Thoas müsste dies zutiefst beschäftigen. Pelops gelingt durch List der Sieg beim Wagenrennen (magische Flügelpferde, Manipulation an den Bolzen des Königswagen, ein wahres „Ben-Hur“-Szenario: Wagenbruch des Königs, der zu Tode geschleifte Önomaos). Dabei baut Pelops auf den Verrat des königlichen Wagenlenkers Myrtilus, Sohn des Hermes. Als dieser seinen ihm versprochenen Lohn fordert (eine Nacht mit der Braut, halbes Reich), wird er von Pelops ins Meer geworfen, kann aber Pelops und seine Familie vor seinem Tod verfluchen.
2. Noch konkreter wird Iph. im brutalen Konflikt der folgenden Generation, der Brüder Thyest und Atreus: Sie töten zunächst ihren Halbbruder Chrysippos, den Lieblingssohn des Pelops mit Axyoche (Chrysippos’ Geschichte wird angedeutet, ohne Namen; in der Überlieferung wird er ausgerechnet von Laios, dem späteren Vater von Ödipus, unterrichtet und geschändet). Die Initiatorin des Mordes ist vermutlich Hippodameia, die ebenfalls um die Erbfolge fürchtet; als man sie verdächtigt, bringt sie sich um. Im Kampf um die Macht sind Thyest und Atreus auch untereinander zu allem bedenkenlos bereit: Zunächst teilen sie sich die Herrschaft in Mykene. Atreus etabliert einen sehr götzenförmigen Artemis-Kult mit dem umstrittenen Goldenen Lamm, das er letztlich lieber für sich behält. Thyest schläft mit Aërope, der Frau des Atreus, der daraufhin Thyest vertreibt und seine Frau ins Meer werfen lässt. Der Verbindung beider Brüder mit Aërope erwachsen auf Seiten des Atreus’ Pleisthenes I, Anaxibia (die mit Strophios den Pylades bekommt), Menelaos und Agamemnon; auf Seiten des Thyest Pleisthenes II, Tantalos II und Pelopia, die mit ihrem Vater Thyest den inzestuös gebrandmarkten, feigen und intriganten Ägistheus zeugen wird. Die Verwirrung der doppelten Mutterschaft, der inzestuösen Vater-Kinder- und Adoptiv-Beziehungen und die Verdoppelung der gleichen Sohn-Namen in beiden Brüderlinien zeigt die mythologische Verwirrung zwischen frühen matrilinearen und patriarchalen Genealogien an. Sie missbrauchen, auch gemeinsam, ihre Frauen, ihre Töchter und ihre Söhne, belügen, betrügen und töten ohne jeglichen Bedenken. Goethe lässt Iph. die Aspekte der ehelichen Untreue und des Inzests im Kontext der Bruder-Rivalitäten teilweise abschwächen bzw. übergehen. – Ausgelassen, aber vorausgesetzt sind: vor allem die inzestuöse Herkunft von Ägistheus aus der Verbindung Thyests und seiner Tochter Pelopia; Ägistheus’ Adoption als unbekanntes Kind durch Atreus, mit oder ohne Aufnahme der schwangeren Pelopia; Atreus’ Entsendung des Ägistheus, um Thyest zu töten, Ägistheus diabolische Kumpanei mit dem Monstervater Thyest und seine neidisch-blutige Rache an dem „reinen“ Atreus, nachdem er von Thyest die Wahrheit über seine inzestuöse Herkunft erfahren hat; die Vertreibung von Agamemnon und Menelaos nach Sparta, die zeitweise Übernahme der Herrschaft in Mykene durch Thyest und Ägistheus, dessen spätere ehebrecherische Vereinigung mit Klytämnestra während des trojanischen Krieges, um die Ermordung des Atreussohns Agamemnon bei dessen siegreicher Heimkehr von Troja vorzubereiten: vordergründig aus Klyt.’s Rache angesichts der Opferung von Iph.; hintergründig aus der Vollendung der Rache des Schurken Ägist.’s , des „nahverwandten Meuchelmörders“, II,1, am privilegierten Hause Autreus, um die parasitäre Machtübernahme abzurunden, bei der Klyt. Interesse an weiblicher Rache nur Mittel zum Zweck ist. Aischylos’ „Orestie“, Ägistheus: „Listpläne legt man in der Frauen Hand, Ich selber war als alter Feind verschrien.“ – Iph. stellt ausgewählte Tötungsaktionen der Brüder ohne Kindesnamen als mörderische Intrigen und kannibalische Handlungen dar, die keineswegs als rituelle Opfer und symbolisch-spirituelle Zeichen im höheren Sinne verstanden werden können. Die erste Episode um Thyest kann verstanden werden als eine abgeschwächte Fassung der Thyest-Ägistheus-Intrige gegen Atreus. Dieser kann den gegen ihn entsandten jugendlichen Killer ausfindig machen, erkennt aber zu spät, dass es sich um einen eigenen, ihm entfremdeten Sohn handelt. Die zweite Episode um Atreus’ Rache: Thyest werden seine eigenen Söhne, vermutlich die Zwillinge Pleisthenes II und Tantalos III, als Speise vorgesetzt – eine Variante des kannibalischen Tantalos-Frevels gegen die Götter und eine weitere Anspielung auf den Chronos-Mythos. Dabei haben die Strategien der grausamen Aggression und der entsprechenden Rache durchaus exekutiven Opferungscharakter im außermoralischen Sinne. Die angedeuteten, veränderten, verallgemeinerten Geschichten und drakonischen Einzelbeschreibungen führen über den Abgrund des tantalidischen Familienkrieges hinweg, mit seiner „ew’gen Wechselwut“ (III,1) aus Unruhe, Wahn, Lüge, Zeugung, Entführung, Missbrauch, Mord und Gegenmord. All dies müsste Thoas eigentlich eine Lehre sein, gerade im Hinblick auf seinen melancholischen Chronos-Kult, fremde Jünglinge und potentielle Thronräuber einfangen und scheinbar religiös verbrämt töten zu lassen. Thoas’ Bewunderung der rätselhaft menschlich gebliebenen Existenz Iph.’s, seine Liebe zu Iph. und sein Abscheu gegenüber der zweiten Erzählung lassen verschiedene Deutungen zu: A) Entweder ist dies ein Hinweis, er sei keineswegs der völlige „Barbar“, wie die Griechen angesichts eigener Barbarei die Vertreter fremder Völker nennen. B) Die Erinnerung an dunkle Seiten der eigenen Familiengeschichte konstituiert ein erstes schlechtes Gewissen. C) Thoas hat weiterhin Angst um den Erhalt der Macht und um die Thronfolge, auch aus der Erinnerung an den ziemlich ungeklärten Tod seines Sohnes. D) Er selbst bezeichnet Iphigenies sonderbar himmlisch-reine Herkunft aus dem „wilden Stamm“ und ihr unberührtes Dasein als „Wunder“, als unbegriffenes, außerordentliches Ereignis, das er in seine dynastischen Pläne einsortieren will.
Der vorliegende Text ist die dritte Erzählung und enthält deutlich Lücken und nur vage Umrisse (im Stil wie die Wolke, von der häufig metaphorisch die Rede ist), die entweder Iph. ebenfalls gestörtem Bewusstsein entsprechen oder eine strategische Variante der Erzählung darstellen. Es geht um die (anfängliche, vorübergehende) Harmonie von Agam.s Familie durch die Geburt und Erziehung zweier Töchter Iph. und Elektra. Der Fluch wird erst wieder aktiviert, als der Sohn Orest geboren wird (die Regel von den jeweils zwei Siths bei „Star Wars“ scheint zuzutreffen) und der Feldzug gegen Troja ansteht, – das Opfer, der Betrug an den Frauen, Klytämnestra und Iph. (kurz angedeutet), der Schrecken der möglichen blutigen Opferung und die wundersame Rettung durch die Göttin Diana. Seit I,1 ist Kritik an der männlichen Ordnung von Unrecht, Hinterlist, Macht, Gewalt und Krieg überall spürbar sowie die Utopie einer anderen, freieren, weiblichen Ordnung von Gerechtigkeit, Vernunft, Frieden und solidarischem Mitgefühl.
– Das Leitmotiv der Wolke steht zwischen Natur, Mensch und Gott: Trübung, Verhüllung und Verrückung von Leben und Bewusstsein. Hier könnte die dramaturgische Logik diskutiert werden: Das Drama ist zwar äußerlich klassisch und hält Ort und Zeitraum in überschaubarer Einheit ein, aber die Rückblenden sind von großen Raum- und Zeit-Spannen erfüllt, damit eher episch und analytisch (Was geschah früher?) als gegenwartsorientiert und dramatisch und wurden von Schiller, zunächst davon unmittelbar hingerissen, sogar als „romantisch“, „sentimental“ und „modern“ bezeichnet. Wieso hat Iphigenie immer noch ein angeblich positives Vaterbild? Ist dies nur noch ein nachklingendes Ideal oder eine zukunftsweisende ethische Idee? Wieso weiß sie, im Kontakt mit dem Himmel, nichts über den Ausgang eines so berühmten Krieges und die Heimkehr des Vaters und Heerführers? Sie sieht sich, in einem dissonanten Dreiklang, in dreifacher Identität: als Enkelin des Mörders Atreus; als Tochter des Kriegers, Machtpolitikers und Lügners Agamemnon; als Eigentum einer außergewöhnlichen, rettenden Göttin. Gerade der dritte und letzte Titel ist eine Randposition und Fluchtperspektive in ihrer Identifizierungskette, die sie schon fast über den Rand des alten Fluches hinweg bringt, aber dennoch die Verbindung mit den alten Mächten noch nicht ganz abbricht. Sie werden ihr auch noch im Dialog mit Thoas von Nutzen sein, wenn sie ihn durch die Technik der vorsichtigen Anknüpfung für ihre neuen Ideen zu gewinnen sucht (eine Art Marquis-Posa-und-Elisabeth-Synthese aus Schillers „Don Karlos“, um die königliche Einsamkeit, Freundes- und Liebesbedürfigkeit von Vater und Sohn in ein vages Modernisierungsversprechen zu verwandeln).
– Göttin, Tempel, Vaterbild und Familienvision (utopische Träume statt krude Realität) als Schutzräume gegen eine tiefere Bindung in Tauris; dort ist nur vorübergehend ihr Ort, Asyl, Exil der Hoffnung auf Rückkehr. Thoas gibt ihr – enttäuscht, aber nicht einsichtig – die prinzipielle Erlaubnis zur Rückkehr und betont – diskriminierend – die angebliche Wankelmütigkeit/Unentschlossenheit der Frauen.
– Anschließender Kontext: Thoas und Iph. beginnen um die wahre Diana und den wahren Götterkult theologisch und politisch zu disputieren. Außerhalb dieses hier erläuterten Abschnittes kündigt Thoas in der Rolle des Herrschers bei Rückkehr von Iph. in ihre Heimat die Wiederaufnahme des alten Opferkultes an. Er testet damit ihre Loyalität als Priesterin. Sie wirft ihm nun offen die Projektion der eigenen Grausamkeit auf die Göttin vor. Er verbittet sich die humanisierende „vernünftige“ Interpretation alter religiöser Gebräuche. Außerdem drängt er auf die Exekution zweier soeben an der Küste ergriffener unbekannter junger Fremder.
I, 4. Vers 538 ff. (vollständig) Iphigenie (allein). Dieser Monolog verdeutlicht:
Bei Goethe sind die lyrischen Bewusstseinszustände der Figuren, Charaktere, Personen wichtiger als die äußere Handlung (im Unterschied zu Schiller, bei dem die realistischere Figurenpsychologie und die stärkere Handlungsdynamik gleichberechtigt sind).
Handlung, Vorgeschichte, Mythos und Geschichte werden in ihre Elemente (gleichgültig ob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) zerlegt und gleichsam in der Person als Zustand der überzeitlichen Gleichzeitigkeit zwischen Vernunft, Verstand und Gefühl gespeichert.
Bei Iph. liegt eine Art göttlicher Ausweitung des Bewusstseins vor, zwischen Götter- und Menschenwelt, aber ohne falschen Hochmut wie bei Tantalos, sondern eher im Sinne eines gesteigerten Wahrnehmung und philosophisch-mystisch-religiösen Reflexion.
Dabei bereitet sich eine Art Erleuchtung Iph.s vor; sie ist aber noch nicht vollendet, sondern paart sich in der Folge mit menschlicher bodenständiger Klugheit und Vorsicht (unterstützt, später aber auch provoziert u.a. durch Orests Vergegenwärtigung des alten Familienwahnsinns und Pylades’ doppelsinnig-weltlichen Umgang mit Götterorakel und Götterbild).
Hier stellt sich das Problem der Klassik mehrfach, in der Haltung der einzelnen Figuren, in den Dialogen und in Form von Beziehungen: Die Frage nach dem Verhältnis von einseitiger Spannung oder ausgewogener Balance und Harmonie der Ideen von Vernunft und Gefühl – von menschlicher Kraft und übermenschlichem/göttlichen Funken/Eingebung; die Frage nach der umfassenden Überwindung von Barbarei und die Ermöglichung von Zivilisation oder jederzeit möglichem Rückfall. – Die Wolke als Leitmotiv zwischen Rettung, Veränderung und Wandel. – Die innerste Erfahrung Iphigenies: Sie möchte in Zukunft die Opferung vermeiden, da sie selbst einer solchen entronnen ist. Sie begreift für sich bereits die Zufälligkeit der Opferung und des Opfers als Töten und als Morden. Es besteht, vor allem in der geläuterten Rückschau (eine existentielle und geistige Katharsis ist in der Vorgeschichte vorausgesetzt und wirkt im Drama als innerster Antrieb weiter fort) keineswegs eine blinde Ergebenheit in den Kult des Opfers wie noch in Gustav Schwabs zusammenfassender Darstellung.
III, 2. Vers 1258 ff. (vollständig) Orest (aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend). (Monolog)
Kontext/Text: Bei der Begegnung zwischen Iph. und Orest in III,1 ist es zur weiteren schrittweisen Enthüllung gekommen:
Pylades hatte, trotz verschlüsselter Erzählungen über seine und Orests Herkunft, bereits in II,2 den Mord an Agam. durch Klytämnestra und Ägistheus aufgrund des geglaubten und verabscheuten Opfertodes der Iph. in Aulis berichtet. Die Rettung Iph.s scheint also unsichtbar für bestimmte Zeugen oder bedeutungslos für bestimmte egoistische Akteure gewesen zu sein.
Iph. fürchtet deshalb die Reaktivierung des grausigen Fluches der Tantalidenfamilie für die eigene, wenn noch lebende Generation. Sie bangt darum, ob die Familie bzw. ihre Geschwister dem Fluch entgangen sind oder entgehen werden.
Orest tritt zunächst als ein weiterer neutraler Bote und fremder Zeuge auf, gibt aber endlich seine Identität als Orest preis.
Iph. freut sich über das Wiedersehen mit dem Bruder. Dieser will diese Begegnung und die ihm enthüllte Verwandtschaft mit der Schwester nicht akzeptieren. Er versteht sich als Verfluchter und sieht in Iphigenie nur die Priesterin der Artemis, der Schwester Apolls.
Iph. muss ertragen, dass Orest sich unter dem wiedererweckten Fluch nur als Muttermörder sieht (aufgrund der Einflüsterungen Elektras, an Klytämnestra Rache für den Vater auszuüben). Er begreift sich nach diesem rächenden Mord als wahnsinnig, verfolgt von den Erinnyen und Familiengeistern. Er will schon in III, 1 seinen eigenen Tod durch den Dolch der Priesterin und sieht den völligen Untergang der restlichen Nachkommen vor seinem inneren Auge voraus, bevor er schließlich zusammenbricht.
Zu III, 2: Orest glaubt zu sterben, aber zugleich erholt er sich, trifft bei dieser Phase des Übergangs in einer Hadesvision seine toten Ahnen und Verwandten. Diese Vision ist aber kein Ergebnis seines vollzogenen Todes, sondern ein verblassendes Nachbild seines Todeswunsches, eine Art „Fade out“ und ein erster Schritt der Heilung: Seine Seele ist über ihren eigenen Zustand unklar, trifft nun auf die Erscheinung der toten Verwandten. Die Begegnung hat zunächst einen friedlichen und harmonischen Charakter, die Tantaliden haben den Tartarus verlassen und wandeln (fast wie in den elysischen Gefilden) friedlich nebeneinander her, aber diese Friedlichkeit besteht auch nur zum Schein. Wenn alle tot sind, hat das bekannte Leiden, Freveln und Morden aus den Mythen keinen Sinn mehr. Nur wie Schatten und Nachbilder treten die Figuren im Hades auf. Was jedoch ist das für ein Frieden? Orest will Agam. wiedersehen, den er nur kurz in seiner Jugend sah, bevor er nach Troja aufbrach; er will an die Seite seiner Mutter treten; er sieht auch wohl den angeketteten Urahn Tantalus. Noch einmal wird dieser der „Göttergleiche“ genannt; damit ist wiederum in milder Form die Hybris, der Frevel angesprochen. In der Hadesvision wird auch das Motiv der Unfreiheit deutlich: Der typische Urzustand der von den Olympiern in den Hades verstoßenen Titanen (Ursprung der Tantaliden). Die Vision der Harmonie stellt sich als eine qualvolle Täuschung und Fesselung in der Unterwelt heraus (Ketten, Heldenbrust, Tantalos- und Prometheus-Motive). Hier also wird Orest keine Ruhe finden, sondern erst durch Rückkehr seiner Seele in den Tag und eine Läuterung in der Menschenwelt und in der erneuten Begegnung mit seiner wiedergefundenen Schwester.
IV, 4. Vers 1653 – 1664 (Ausschnitt) Pylades. In diesem sehr kurzen Ausschnitt lobt und kritisiert Pylades Iph.s zurückhaltendes Taktieren in der Rolle der Priesterin (sowie als Schützling von Thoas) und mahnt ein aktiveres Verhalten in der neuen Rolle der Schwester an, die nun erfolgreich mit Bruder und Freund flüchten könnte. Pylades steht also für Egoismus, Klugheit und Strategie, nicht aber für eine gemeinsame Vernunft, bei deren Entscheidungen auch Thoas beteiligt und miteinbezogen wäre. Der priesterlichen und ethischen Reinheit von Iph. unter Dianas Schutz setzt er die (trübe und befleckende) Verschlungenheit des Lebens und die Notwendigkeit rascher praktischer Entscheidungen entgegen, wodurch zur Not auch Flucht und Verrat gegenüber Thoas nötig seien. Iph. wiederum warnt im Kontext vor einer vorschnellen Rettungsaktion (oberflächliche „Action“). Sie vermutet auch im folgenden Monolog IV, 5 die Gefahr, dass sich durch Fortwirken des Fluches neue Hindernisse auch in den wieder aktivierten taurischen Opferriten (von Thoas für den Fall der Nichtheirat Iph.s angekündigt) für sie selbst (und ihre neuen Gefährten) bei treuloser Flucht ergäben. Sie bezieht sich in dieser Sorge vor allem auf die innere, seelische Befindlichkeit, nicht nur auf die äußere Situation.
V, 3. Vers 1804 – 1864 (Ausschnitt) Iphigenie – Thoas (Dialog) Es kommt zur offenen Konfrontation zwischen Iphigenie und Thoas (hier ebenfalls ausschnitthaft pointiert). Thoas respektiert die zuvor anerkannte Rolle der Priesterin kaum noch (der Unterschied zwischen Göttergesetz und Herrscherrecht bleibt aber weiterhin als Argumentationsformel wichtig). Er betont ihren Eigennutz bei der Rettung der Verwandtschaft (Bruder und Cousin). Er scheint als Herrscher rückfällig zu werden, scheint unbelehrbar, befiehlt und klagt das Opfer ein. Iph., nun unerhört stark und selbstbewusst, auch als Königstochter eines mächtigen mykenischen Herrschers, beruft sich auf das Gast- und Asylrecht als ältestes und universales Recht – noch vor jeder partikularen Aufspaltung in Eigenes und Fremdes und der Einführung von willkürlichen Fremden-Opfern und Fremden-Hinrichtungen. In gewisser Weise findet man den harten Sophokleischen Konflikt zwischen Antigone und Kreon komplizierter, philosophischer und flexibler nachgebildet und in Richtung der Versöhnbarkeit weiter ausgestaltet. Iph. behandelt Thoas nie als unterlegenen Barbaren, sondern, trotz aller Differenzen, als emotionalen und rationalen Gesprächspartner, der zugleich mild getadelt bzw. konsequent erzogen und dabei gleichberechtigt ernst genommen werden will. Sie bezieht sich auf Thoas’ offensichtlich durch die unerfüllte Liebe geschärfte Einfühlsamkeit in ihre sprechende oder stumme Seele: Er solle nachvollziehen, wie sie selbst auf dem Opferstein das Messer des Todes in schrecklicher Weise auf sich zukommen sah. Der Wille der Göttin Diana sei nun als Zurücknahme des alten Opferrechtes zu deuten; darin liege auch ihr zentraler Auftrag als Priesterin einer Modernisierung, die human ihres Amtes walte. Was Götter zurückgäben, sollten auch Menschen gewähren: Leben statt Tod. Iph. klagt die Schuld aller Herrscher an, sich immer wieder für Tötung und Gewalt als „Konfliktlösung“ zu entscheiden, auch dann, wenn sich die Männer nicht selbst die Hände schmutzig machten, sondern ihre Helfershelfer die grausame Vollstreckung und die Verschleierung der Taten übernähmen. Sie versucht ihr eigenes todesnahes Erleben und ihre wunderbare Rettung von Aulis in Thoas’ Vernunft und in sein Herz zu „versenken“, damit er vom Tode seines Sohnes, von seiner königlichen Furcht und den damit verbundenen alten Opferriten rational und emotional Abstand nimmt. Iph. argumentiert also hier vor allem auf der allgemeinen Ebene der Vernunft einer humanen Politik, nicht nur im Sinne der partikular-egoistischen Familien-Ethik oder Bruder-Schwester-Solidarität. Iph. fordert ihr Menschenrecht als Frau ein und erhebt ihren politischen Anspruch als Königstochter Agam.s (freilich mit einem Erbe, das über den Machtmenschen Agamemnon weit hinaus geht), wobei sie sich mit Worten, friedlich, statt mit Waffen verteidige und wofür sie sich als Botschafterin einen neuen Logos einsetze. Die Rückkehr zur entsühnten Familie kann nur als von allen gewollter menschheitlicher Entschluss erfolgen, als ein universales, allgemeines Gesetz, das alle bejahen können (im Sinne von Kants kategorischem Imperativ). Es soll um gemeinsame Beteiligung und Wahrhaftigkeit an der Konfliktlösung gehen, nicht aber um hinterlistige Flucht in eine Gruppennische. Hier wird die Idee der Klassik und der Humanität (s.o.) in einem dramatisch-philosophischen Höhe- und Finalpunkt als komplexer Appell und Dialog inszeniert. Das Gesetz soll nicht mehr eine willkürliche Regelung der Barbarei, sondern ein vernünftiger Entwurf, ein nachhaltiges Fundament der Zivilisation werden, für alle und überall, in Griechenland wie in Tauris und anderswo.
Ausblick: Es gibt zahlreiche Interpretationsangebote zu diesem Paradestück deutscher Klassik. Viele lassen bis heute die Komplexität von Goethes Vision außer Acht. Gerade im Detail der einzelnen Szenen berührt Goethe immer wieder ein Netzwerk an wichtigen Motiven. Das spricht dagegen, dass hier nur ein langweiliges „klassisches“ oder „klassizistisches“ Werk mit einer veralteten Humanitätsbotschaft vorliegt. Statt pauschale Aussagen abzufragen, sollte die Aufgabenstellung für die genaue Lektüre eingesetzt werden, um festzustellen, wie Mythologie, Religion, Familie, Politik, Ethik, Recht und die Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche der Philosophie fließend ineinander übergehen. Daraus speist sich eine reichhaltige Argumentation zwischen Segen und Fluch, Überheblichkeit und Unterwerfung, Götzentum und Götterglaube, Abbild und lebendiges Wesen, Rache und Gewaltverzicht, Lüge und Wahrhaftigkeit, Versklavung und Menschenrecht, Gefangennahme und Befreiung, Opfer und Rettung, Barbarei und Zivilisation, Hass und Liebe, Familien- und Freundschaftsbande, Gefühl und Vernunft, Einfühlung und Einsicht, Distanz und Annäherung, Vereinnahmung und Respekt, Unterdrückung und Würde, Männlichkeit und Weiblichkeit, Neigung und Pflicht, Egoismus und Gemeinwohl, Gesetzgebung und Gehorsam, Emanzipation und Freiheit.
Empfehlenswerte Vergleichstexte:
– Aischylos’ „Orestie“ und Euripides’ „Iphigenie“-Zweiteiler zwischen bewegter Tragödie und mechanischem Göttergericht.
– Die gegensätzlichen Gestalten der Margarethe in Goethes „Faust I“ und der Helena in „Faust II“.
– Christa Wolfs „Kassandra“ (1983), in der die trojanische Königstochter Kassandra als Kriegsbeute unglücklicherweise mit dem Schicksal des Eroberers Agamemnon bei seiner Heimkehr nach Mykene verstrickt wird.
– Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums (eine Synthese aus verschiedenen Quellen).
– Wolfgang Petersens „Troja“-Film (2004) und seine Heldin Briseis, in der verschiedene Frauenfiguren aus Homers „Ilias“ und Wolfs „Kassandra“ zusammengeschweißt sind.
Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ – die Stellen:
I, 3. Vers 397 – 474 (Ausschnitt) Thoas: Verbirg sie schweigend auch. Es sei genug Der Gräuel! Sage nun, durch welch ein Wunder Von diesem wilden Stamme Du entsprangst.
Iphigenie: Des Atreus ält’ster Sohn war Agamemnon: Er ist mein Vater. Doch ich darf es sagen, In ihm hab ich seit meiner ersten Zeit Ein Muster des vollkommnen Manns geseh’n. Ihm brachte Klytämnestra mich, den Erstling Der Liebe, dann Elektren. Ruhig herrschte Der König, und es war dem Hause Tantals Die lang entbehrte Rast gewährt. Allein Es mangelte dem Glück der Eltern noch Ein Sohn, und kaum war dieser Wunsch erfüllt, Dass zwischen beiden Schwestern nun Orest Der Liebling wuchs, als neues Übel schon Dem sichern Hause zubereitet war. Der Ruf des Krieges ist zu euch gekommen, Der, um den Raub der schönsten Frau zu rächen, Die ganze Macht der Fürsten Griechenlands Um Trojens Mauern lagerte. Ob sie Die Stadt gewonnen, ihrer Rache Ziel Erreicht, vernahm ich nicht. Mein Vater führte Der Griechen Heer. In Aulis harrten sie Auf günst’gen Wind vergebens: denn Diane, Erzürnt auf ihren großen Führer, hielt Die Eilenden zurück und forderte Durch Kalchas’ Mund des Königs ält’ste Tochter. Sie lockten mit der Mutter mich in’s Lager; Sie rissen mich vor den Altar und weihten Der Göttin dieses Haupt. Sie war versöhnt: Sie wollte nicht mein Blut und hüllte rettend In eine Wolke mich; in diesem Tempel Erkannt ich mich zuerst vom Tode wieder. Ich bin es selbst, bin Iphigenie, Des Atreus Enkel, Agamemnons Tochter, Der Göttin Eigentum, die mit dir spricht.
Thoas.: Mehr Vorzug und Vertrauen geb‘ ich nicht Der Königstochter als der Unbekannten. Ich wiederhole meinen ersten Antrag: Komm, folge mir, und teile was ich habe.
Iphigenie: Wie darf ich solchen Schritt, o König, wagen? Hat nicht die Göttin, die mich rettete, Allein das Recht auf mein geweihtes Leben? Sie hat für mich den Schutzort ausgesucht, Und sie bewahrt mich einem Vater, den Sie durch den Schein genug gestraft, vielleicht Zur schönsten Freude seines Alters hier. Vielleicht ist mir die frohe Rückkehr nah; Und ich, auf ihren Weg nicht achtend, hätte Mich wider ihren Willen hier gefesselt? Ein Zeichen bat ich, wenn ich bleiben sollte.
Thoas: Das Zeichen ist, dass du noch hier verweilst. Such‘ Ausflucht solcher Art nicht ängstlich auf. Man spricht vergebens viel, um zu versagen; Der and’re hört von allem nur das Nein.
Iphigenie: Nicht Worte sind es, die nur blenden sollen; Ich habe dir mein tiefstes Herz entdeckt. Und sagst du dir nicht selbst, wie ich dem Vater, Der Mutter, den Geschwistern mich entgegen Mit ängstlichen Gefühlen sehnen muss? Dass in den alten Hallen, wo die Trauer Noch manchmal stille meinen Namen lispelt, Die Freude, wie um eine Neugeborne, Den schönsten Kranz von Säul’ an Säulen schlinge. O sendetest du mich auf Schiffen hin! Du gäbest mir und allen neues Leben.
Thoas: So kehr‘ zurück! Tu‘ was dein Herz dich heißt, Und höre nicht die Stimme guten Rats Und der Vernunft. Sei ganz ein Weib und gib Dich hin dem Triebe, der dich zügellos Ergreift und dahin oder dorthin reißt. Wenn ihnen eine Lust im Busen brennt, Hält vom Verräter sie kein heilig Band, Der sie dem Vater oder dem Gemahl Aus langbewährten, treuen Armen lockt; Und schweigt in ihrer Brust die rasche Glut, So dringt auf sie vergebens treu und mächtig Der Überredung goldne Zunge los.
I, 4. Vers 538 ff. (vollständig) Iphigenie (allein). Du hast Wolken, gnädige Retterin, Einzuhüllen unschuldig Verfolgte, Und auf Winden dem eh’rnen [eisernen] Geschick sie Aus den Armen, über das Meer, Über der Erde weiteste Strecken Und wohin es dir gut dünkt zu tragen. Weise bist du und siehest das Künftige; Nicht vorüber ist dir das Vergangne, Und dein Blick ruht über den Deinen Wie dein Licht, das Leben der Nächte, Über der Erde ruhet und waltet. O enthalte vom Blut meine Hände! Nimmer bringt es Segen und Ruhe; Und die Gestalt des zufällig Ermordeten Wird auf des traurig-unwilligen Mörders Böse Stunden lauern und schrecken. Denn die Unsterblichen lieben der Menschen Weit verbreitete gute Geschlechter, Und sie fristen das flüchtige Leben Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne Ihres eigenen, ewigen Himmels Mitgenießendes fröhliches Anschau’n Eine Weile gönnen und lassen.
III, 2. Vers 1258 ff. (vollständig) Orest (aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend). Noch Einen! reiche mir aus Lethe’s Fluten Den letzten kühlen Becher der Erquickung! Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen Hinweggespült; bald fließet still mein Geist, Der Quelle des Vergessens hingegeben, Zu euch, ihr Schatten, in die ew’gen Nebel. Gefällig lasst in eurer Ruhe sich Den umgetrieb’nen Sohn der Erde laben! — Welch ein Gelispel hör‘ ich in den Zweigen, Welch ein Geräusch aus jener Dämm’rung säuseln?— Sie kommen schon, den neuen Gast zu sehn! Wer ist die Schar, die herrlich mit einander Wie ein versammelt Fürstenhaus sich freut? Sie gehen friedlich, Alt‘ und Junge, Männer Mit Weibern; göttergleich und ähnlich scheinen Die wandelnden Gestalten. Ja, sie sind’s, Die Ahnherrn meines Hauses!—Mit Thyesten Geht Atreus in vertraulichen Gesprächen; Die Knaben schlüpfen scherzend um sie her. Ist keine Feindschaft hier mehr unter euch? Verlosch die Rache wie das Licht der Sonne? So bin auch ich willkommen, und ich darf In euer’n feierlichen Zug mich mischen. Willkommen, Väter! euch grüßt Orest, Von euer’m Stamm der letzte Mann; Was ihr gesät, hat er geerntet: Mit Fluch beladen stieg er herab, Doch leichter träget sich hier jede Bürde: Nehmt ihn, o nehmt ihn in euern Kreis!— Dich, Atreus, ehr‘ ich, auch dich Thyesten: Wir sind hier alle der Feindschaft los.— Zeigt mir den Vater, den ich nur einmal Im Leben sah!—Bist du’s, mein Vater? Und führst die Mutter vertraut mit dir? Darf Klytämnestra die Hand dir reichen; So darf Orest auch zu ihr treten Und darf ihr sagen: sieh deinen Sohn! — Seht euer’n Sohn! Heißt ihn willkommen. Auf Erden war in unserm Hause Der Gruß des Mordes gewisse Losung, Und das Geschlecht des alten Tantalus Hat seine Freuden jenseits der Nacht. Ihr ruft: Willkommen! und nehmt mich auf! O führt zum Alten, zum Ahnherrn mich! Wo ist der Alte? dass ich ihn sehe, Das theure Haupt, das vielverehrte, Das mit den Göttern zu Rathe saß. Ihr scheint zu zaudern, euch wegzuwenden? Was ist es? Leidet der Göttergleiche? Weh mir! es haben die Übermächt’gen Der Heldenbrust grausame Qualen Mit eh’rnen [eisernen] Ketten fest aufgeschmiedet.
IV, 4. Vers 1653 – 1664 (Ausschnitt) Pylades. So hast du dich im Tempel wohl bewahrt; Das Leben lehrt uns, weniger mit uns Und andern strenge sein; du lernst es auch. So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet, So vielfach ist’s verschlungen und verknüpft, Dass keiner in sich selbst, noch mit den andern Sich rein und unverworren halten kann. Auch sind wir nicht bestellt uns selbst zu richten; Zu wandeln und auf seinen Weg zu sehen Ist eines Menschen erste, nächste Pflicht: Denn selten schätzt er recht was er getan, Und was er tut weiß er fast nie zu schätzen.
V, 3. Vers 1804 – 1864 (Ausschnitt) Iphigenie: Du forderst mich! Was bringt dich zu uns her?
Thoas: Du schiebst das Opfer auf; sag an, warum?
Iphigenie: Ich hab an Arkas alles klar erzählt.
Thoas: Von dir möcht ich es weiter noch vernehmen.
Iphigenie: Die Göttin gibt dir Frist zur Überlegung.
Thoas: Sie scheint dir selbst gelegen, diese Frist.
Iphigenie: Wenn dir das Herz zum grausamen Entschluss Verhärtet ist, so solltest du nicht kommen! Ein König, der Unmenschliches verlangt, Find’t Diener g’nug, die gegen Gnad und Lohn Den halben Fluch der Tat begierig fassen; Doch seine Gegenwart bleibt unbefleckt. Er sinnt den Tod in einer schweren Wolke, Und seine Boten bringen flammendes Verderben auf des Armen Haupt hinab; Er aber schwebt durch seine Höhen ruhig, Ein unerreichter Gott, im Sturme fort.
Thoas: Die heil’ge Lippe tönt ein wildes Lied.
Iphigenie: Nicht Priesterin! nur Agamemnons Tochter. Der Unbekannten Wort verehrtest du, Der Fürstin willst du rasch gebieten? Nein! Von Jugend auf hab ich gelernt gehorchen, Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit, Und folgsam fühlt ich immer meine Seele Am schönsten frei; allein dem harten Worte, Dem rauhen Ausspruch eines Mannes mich Zu fügen, lernt ich weder dort noch hier.
Thoas: Ein alt Gesetz, nicht ich, gebietet dir.
Iphigenie: Wir fassen ein Gesetz begierig an, Das unsrer Leidenschaft zur Waffe dient. Ein and’res spricht zu mir, ein älteres, Mich dir zu widersetzen: das Gebot, Dem jeder Fremde heilig ist.
Thoas: Es scheinen die Gefangnen dir sehr nah Am Herzen, denn vor [Variante: „für“] Anteil und Bewegung Vergissest du der Klugheit erstes Wort, Dass man den Mächtigen nicht reizen soll.
Iphigenie: Red’ oder schweig ich, immer kannst du wissen, Was mir im Herzen ist und immer bleibt. Löst die Erinnerung des gleichen Schicksals Nicht ein verschloss’nes Herz zum Mitleid auf? Wie mehr denn meins! In ihnen seh’ ich mich. Ich habe vor’m Altare selbst gezittert, Und feierlich umgab der frühe Tod Die Knieende; das Messer zuckte schon, Den lebensvollen Busen zu durchbohren; Mein Innerstes entsetzte wirbelnd sich, Mein Auge brach, und – ich fand mich gerettet. Sind wir, was Götter gnädig uns gewährt, Unglücklichen nicht zu erstatten schuldig? Du weißt es, kennst mich, und du willst mich zwingen!
Thoas: Gehorche deinem Dienste, nicht dem Herrn!
Iphigenie: Lass ab! Beschönige nicht die Gewalt, Die sich der Schwachheit eines Weibes freut. Ich bin so frei geboren als ein Mann. Stünd’ Agamemnons Sohn dir gegenüber Und du verlangtest, was sich nicht gebührt, So hat auch er ein Schwert und einen Arm, Die Rechte seines Busens zu verteid’gen. Ich habe nichts als Worte, und es ziemt Dem edlen Mann, der Frauen Wort zu achten.
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Siehe auch die Linksammlung https://norberto42.wordpress.com/2011/09/19/goethe-iphigenie-auf-tauris-inhalt-aufbau-mythos-kommentierte-links-zur-interpretation/ zu „Iphigenie auf Tauris“!