A. von Chamisso: Erscheinung – Interpretation: eine entlarvende Selbstbegegnung

Adelbert von Chamisso: Erscheinung

Die zwölfte Stunde war beim Klang der Becher

Und wüstem Treiben schon herangewacht,

Als ich hinaus mich stahl, ein müder Zecher.

Und um mich lag die kalte, finstre Nacht;

Ich hörte durch die Stille widerhallen

Den eignen Tritt und fernen Ruf der Wacht.

Wie aus den klangreich fest-erhellten Hallen

In Einsamkeit sich meine Schritte wandten,

Ward ich von seltsam trübem Mut befallen.

Und meinem Hause nah, dem wohlbekannten,

Gewahrt ich, und ich stand versteinert fast,

Daß hinter meinen Fenstern Lichter brannten.

Ich prüfte zweifelnd eine lange Rast,

Und fragte: macht es nur in mir der Wein?

Wie käm‘ zu dieser Stunde mir ein Gast?

Ich trat hinzu, und konnte bei dem Schein

Im wohlverschloss‘nen Schloß den Schlüssel drehen,

Und öffnete die Thür, und trat hinein.

Und, wie die Blicke nach dem Lichte spähen,

Da ward mir ein Gesicht gar schreckenreich, –

Ich sah mich selbst an meinem Pulte stehen.

Ich rief: »wer bist du, Spuk?« – er rief sogleich:

»Wer stört mich auf in später Geisterstunde?«

Und sah mich an, und ward, wie ich, auch bleich.

Und unermeßlich wollte die Sekunde

Sich dehnen, da wir starrend wechselseitig

Uns ansah‘n, sprachberaubt mit offnem Munde.

Und aus beklomm‘ner Brust zuerst befreit‘ ich

Das schnelle Wort: »du grause Truggestalt,

Entweiche, mache mir den Platz nicht streitig!«

Und er, als Einer, über den Gewalt

Die Furcht nur hat, erzwingend sich ein leises

Und scheues Lächeln, sprach erwidernd: »Halt!

Ich bin‘s, du willst es sein; – um dieses Kreises,

Des wahnsinn-droh‘nden, Quadratur zu finden,

Bist du der rechte, wie du sagst, beweis‘ es;

Ins Wesenlose will ich dann verschwinden.

Du Spuk, wie du mich nennst, gehst du das ein,

Und willst auch du zu Gleichem dich verbinden?«

Drauf ich entrüstet: »ja, so soll es sein!

Es soll mein ächtes Ich sich offenbaren,

Zu Nichts zerfließen dessen leerer Schein!«

Und er: »so laß uns, wer du sei‘st, erfahren!«

Und ich: »ein solcher bin ich, der getrachtet

Nur einzig nach dem Schönen, Guten, Wahren;

Der Opfer nie dem Götzendienst geschlachtet,

Und nie gefrönt dem weltlich eitlen Brauch,

Verkannt, verhöhnt, der Schmerzen nie geachtet;

Der irrend zwar und träumend oft den Rauch

Für Flamme hielt, doch muthig beim Erwachen

Das Rechte nur verfocht: – bist du das auch?«

Und er mit wildem, kreischend lautem Lachen:

»Der du dich rühmst zu sein, der bin ich nicht.

Gar anders ist‘s bestellt um meine Sachen.

Ich bin ein feiger, lügenhafter Wicht,

Ein Heuchler mir und andern, tief im Herzen

Nur Eigennutz, und Trug im Angesicht.

Verkannter Edler du mit deinen Schmerzen,

Wer kennt sich nun? wer gab das rechte Zeichen?

Wer soll, ich oder du, sein Selbst verscherzen?

Tritt her, so du es wagst, ich will dir weichen!«

Drauf mit Entsetzen ich zu jenem Graus:

»Du bist es, bleib‘, und laß hinweg mich schleichen!« –

Und schlich, zu weinen, in die Nacht hinaus.

In diesem Gedicht von 1828 geht es um eine Selbst-Begegnung des lyrischen Ichs bzw. des reflektierenden Ichs. Dieses ihm begegnende Selbst wird in der Erzählung als Gestalt wahrgenommen, die den eigenen Platz am Stehpult eingenommen hat und mit dem das erzählende Ich in ein Gespräch kommt (V. 21 ff.). Diese nächtliche Begegnung wird auf doppelte Weise relativiert bzw. „erklärt“: einmal durch die vorhergehende Sauferei (V. 1 f.), dann durch die Zeit der Geisterstunde (V. 1, V. 23), weshalb das begegnende Selbst denn auch als „ein Gesicht“ beschrieben und als „Spuk“ (V. 22) angesprochen wird – „Gesicht“ hier in der Bedeutung von „Vision“ (vgl. die Überschrift „Erscheinung“). Das Gesicht ist dem Ich schreckensreich und stört es in seiner Selbstgewissheit (V. 23).

Diese Selbst-Begegnung wirkt verstörend; als Anzeichen dafür werden genannt

  • das Erbleichen
  • das Anstarren
  • die Sprachlosigkeit
  • die Beklemmung (V. 24 ff.).

Wenn man nicht annehmen will, dass in Chamissos Gedicht eine Gespenstergeschichte erzählt wird, muss man die Geistererscheinung wohl als Metapher für eine seelische Selbstbegegnung verstehen. Das wird im Gespräch der beiden Figuren deutlich: Anders als in Drostes nur wenig jüngerem Gedicht „Das Spiegelbild“ geht es nicht darum, was man von sich sieht, sondern wie man sich selber sieht – und da prallen vor dem geistigen Auge zwei Bilder aufeinander, die sich gegenseitig ausschließen und deshalb einander den Platz streitig machen (V. 30).

Die beiden fechten dann einen Kampf aus, wer wirklich das Ich ist: „Ich bin‘s, du willst es sein“, sagt die fremde Gestalt (V. 34), und fordert vom erlebenden Ich den Gegenbeweis ein (V. 36); dieses lässt sich darauf ein (V.40):

„Es soll mein ächtes Ich sich offenbaren,

Zu Nichts zerfließen dessen leerer Schrein.“ (V. 41 f.)

Damit ist die Frage benannt, um die es in dieser Selbstbegegnung geht: Wer oder was ist das echte Ich? Das alte Ich stellt sich als einen Idealen Menschen dar, der immer nach dem Guten strebt, sich zwar irrt (Metapher Traum / Erwachen, V. 49 f.), aber dann doch nur das Rechte vertritt (V. 44-51). Darüber muss das „neue“ Ich lachen; es bekennt, nicht so zu sein, sondern „ein feiger, lügenhafter Wicht“, Egoist und Betrüger (V. 55-57). Es spricht das angeblich so gute Ich ironisch als „[v]erkannter Edler“ an (V. 58) und fragt: „Wer kennt sich nun?“ (V. 59) Wer macht sich etwas vor (V. 60)? Und es fordert zur Nagelprobe auf: „Tritt her, so du es wagst, ich will dir weichen!“ (V. 61)

Dieses Kriterium des echten Ichs ist nicht leicht zu verstehen; ich schlage vor, es so zu lesen: Wer hält einer Prüfung Stand? Wer kann den Platz des Ichs behaupten? Wie das Standhalten sachlich geschieht, wird nicht erklärt; nur im Bild wird eine Konfrontation der beiden Ichs an dessen Platz am Stehpult angedeutet. Das „gute“, das „alte“ Ich erkennt, dass es sich nicht behaupten kann, bekennt sich geschlagen und schleicht hinaus in die Nacht, um „zu weinen“ (V. 64). Es hat „mit Entsetzen“ (V. 62) eingesehen, dass es nicht das wahre Ich ist, und schämt sich dessen (V. 64), schämt sich seiner wahren Gestalt.

Die Form des Gedichts: Es besteht aus Terzinen, 64 Verse; der einzelne Vers besteht aus fünf Jamben, wahlweise mit einer zusätzlichen Silbe (weibliche Kadenz); beim gleichen Reim liegt jedoch immer weibliche oder immer männliche Kadenz vor, ohne dass deren Wechsel ein System erkennen ließe. Über die Terzine kann man sich im Netz informieren (s.u.).

Wenn man die Bildebene verlässt, kann man fragen, aus welchen Anlässen man zur Erkenntnis kommen kann, dass es neben dem idealen „Ich“ ein dunkles gibt, und wie diese beiden Seiten des eigenen Ichs koexistieren können – denn dass das ideale Ich davonschleicht, wie im Gedicht erzählt wird, kann ja nur bedeuten, dass man den Anspruch aufgibt, vollkommen zu sein. Das aber bedeutet nicht, dass man die Arbeit an sich, am realen Ich aufgeben muss – aber das alles steht im Gedicht nicht mehr zur Diskussion.

Text: https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n343/mode/2up = http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte/Gedichte+(Ausgabe+letzter+Hand)/Sonette+und+Terzinen/Erscheinung

Terzine:

https://de.wikipedia.org/wiki/Terzine

http://www.musengarten.com/t160f101-Terzinen.html

Gedichte und Leben Chamissos:

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

https://www.chamisso-gesellschaft.de/ (Chamisso-Gesellschaft)

A. von Chamisso: Abba Glosk Leczeka – das Schicksal eines jüdischen Aufklärers

Wer war Glosk Leczeka? In der englischen Wikipedia wird die Vermutung berichtet, dass hinter dieser Figur Salomon Maimon steht. Chaim Shoham hat die Ergebnisse seines Aufsatzes „Der Ritter der Wahrheit reitet nach Berlin“ (1994) so zusammengefasst: „Abba Glosk, der als einer der frühen Aufklärer im jüdischen Ost-Europa von den Rabbinern und Gemeinden als Gefahr angesehen wurde, wird anhand von Adelbert von Chamissos Ballade und zeitgenössischen Quellen vorgestellt. In seinem ihm aufgezwungenen Wanderleben begegnete er Moses Mendelssohn in Berlin um 1768.“ Jedenfalls war Glosk Leczeka, ein Jude und Bettler, entgegen den gängigen Erwartungen „preisenswert“, wie in der Einleitung des Gedichts festgestellt wird (1. Str.). Wegen der Länge des Gedichts gebe ich nur einen Überblick über dessen Aufbau und die zentralen Stellen.

Zu Beginn wird berichtet, wie Glosk Leczeka dem großen Moses Mendelssohn begegnete (Str. 2-6): Zunächst wird er abgewiesen, doch sein „Durst nach Wahrheit“ verschafft ihm Zugang zu Moses: Als Wahrheitssucher sei er ihm „ein liebgehegter Gast“.

Es folgt ein kurzer Bericht über die ersten Gespräche (Str. 7-9); Moses fragt Glosk: „Wie haben Schul und Welt / So seltsam dich erzogen und deinen Geist erhellt?“ Darauf antwortet Glosk in einer langen Rede über seinen Werdegang als Rabbi (Str. 10-20): Er habe in Glosk den Talmud studiert; doch als er selber lehren sollte, habe sich seine Rede „wundersam verkehrt“:

„Da schallt‘ aus mir die Stimme auf Satzungen und Trug,

Dem Blitze zu vergleichen, der aus den Wolken schlug.“

So habe er sich selber gefunden und sei seiner Sendung gefolgt, habe aber die Heimat verlassen müssen. In Wilna habe man seine 13 Bücher, die Summe seines Wissens, verbrannt und ihn als Ketzer beinahe getötet. Dann sei er weitergezogen (Str. 21-24), um

„Zu lehren und zu bessern, zu sichten [= sieben, N.T.] sonder Scheu

Den Glauben von dem Wahne, den Weizen von der Spreu.“

Dann unterbreitet er Moses den Vorschlag, gemeinsam den Schleier des jüdischen Aberglaubens zu zerreißen, Jünger zu sammeln und als aufklärende Lehrer zu wirken (Str. 25-28).

Moses lehnt das ab (Str. 29-31), verweist auf Glosks Leiden und die Beständigkeit des Aberglaubens, der erst mit der Zeit überwunden werden könne: „Bleib hie und lerne schweigen so sprechen nicht am Ort; / Du magst im Stillen forschen…“ Vielleicht werden sein Enkel die Saat der Wahrheit aufgehen sehen. Darauf verabschiedet Glosk sich von Moses: „So sprich, wer soll denn reden und tun die Wahrheit kund?“ (St. 32)

Es folgt ein längerer Bericht über das, was Glosk anschließend erlebte (Str. 33 ff.): Er lehrte und wurde von den Ältesten der Juden in Berlin verhört und der Stadt verwiesen, sollte aber Strafgebühren zahlen; Moses rettete ihn davor, ausgewiesen zu werden. Glosk erzählte seinen Widersachern noch eine Geschichte von einem in Lemberg verfolgten Juden, der für einen von ihm nicht verursachten Schaden aufkommen sollte (Str. 41-47); damit erklärte er ihnen, dass er selber nichts zahlen will und kann.

Es wird berichtet, dass Glosk und Moses sich noch kurz vertraulich über die Möglichkeit, frei zu lehren, austauschen (Str. 48-52). Glosk sagt:

„Frei muß ich denken, sprechen und atmen Gottes Luft,

Und wer die drei mir raubet, der legt mich in die Gruft.“

Moses bezweifelt, dass er diese Freiheit in England oder Holland findet; Glosk dagegen beruft sich auf seine Liebe zu seinem Volk, den Glauben, es müsse zu bessern sein, und den Wunsch, dabei mitzuwirken.

Es folgt ein kurzer Bericht vom weiteren Leben des Rabbi Glosk (Str. 53-57): Er lehrte, es erging ihm schlecht; nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin zog er erneut in seine Heimat, wo er auch verstoßen wurde, und so zog er weiter, „fluchbeladen, unstät von Ort zu Ort“, bis ihn schließlich der Schoß der Mutter Erde aufnahm, „ihm fielen die müden Augen zu“.

„Abba Glosk Leczeka“, 1832 erschienen, ist die Ballade von einem furchtlosen Aufklärer, der als gelehrter Talmudist religiösen Aberglauben beseitigen will zugunsten des wahren Glaubens, soweit er sich ihm erschlossen hat. Der deutsche Jude Moses Mendelssohn, Aufklärer und Freund Lessings, ist der Mann, dem er sein Inneres erschließt, der ihm aber vergebens zu kluger Zurückhaltung rät. In den beiden Männern begegnen uns zwei Möglichkeit, wie man angesichts allgemeiner Verblendung mit der Wahrheit umgehen kann. Glosk scheitert, wenn man so will, an seiner unbeugsamen Aufrichtigkeit, ist es aber wert, dass er im Gedicht ein Denkmal erhält.

Text des Gedichts: https://gedichte.xbib.de/Chamisso_gedicht_Abba+Glosk+Leczeka..htm = https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n277/mode/2up

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://www.heimatjahrbuch-vulkaneifel.de/VT/hjb1983/hjb1983.76.htm (Heimatjahrbuch Vulkaneifel 1983)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

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A. von Chamisso: Das Dampfroß – ein witziges Gedicht

Adelbert von Chamisso: Das Dampfroß

Schnell! schnell, mein Schmidt! mit des Rosses Beschlag!
Derweil du zauderst, verstreicht der Tag. –
»Wie dampfet dein ungeheures Pferd!
Wo eilst du so hin, mein Ritter werth?« –

Schnell! schnell, mein Schmidt! Wer die Erde umkreist
Von Ost in West, wie die Schule beweist,
Der kommt, das hat er von seiner Müh‘,
Ans Ziel um einen Tag zu früh.

Mein Dampfroß, Muster der Schnelligkeit,
Läßt hinter sich die laufende Zeit,
Und nimmt’s zur Stunde nach Westen den Lauf,
Kommt’s gestern von Osten schon wieder herauf.

Ich habe der Zeit ihr Geheimniß geraubt,
Von gestern zu gestern zurück sie geschraubt,
Und schraube zurück sie von Tag zu Tag,
Wie einst ich zu Adam gelangen mag.

Ich habe die Mutter, sonderbar!
In der Stunde besucht, da sie mich gebar;
Ich selber stand der Kreißenden bei
Und habe vernommen mein erstes Geschrei.

Viel tausend Mal, der Sonne voran,
Vollbracht‘ ich im Fluge noch meine Bahn,
Bis heut‘ ich hier zu besuchen kam
Großvater als glücklichen Bräutigam.

Großmutter ist die lieblichste Braut,
Die je mit Augen ich noch erschaut;
Er aber, grämlich, zu eifern geneigt,
Hat ohne Weit’res die Tür mir gezeigt.

Schnell! schnell, mein Schmidt! mich ekelt schier,
Die jetzt verläuft, die Zeit von Papier;
Zurück hindurch! es verlangt mich schon
Zu sehen den Kaiser Napoleon.

Ich sprech‘ ihn zuerst auf Helena,
Den Gruß der Nachwelt bring‘ ich ihm da;
Dann sprech‘ ich ihn früher beim Krönungsfest,
Und warn‘ ihn, – o hielt‘ er die Warnung fest!

Bist fertig, mein Schmidt? nimm deinen Sold,
Ein Tausend Neunhundert geprägtes Gold.
Zu Roß! Hurrah! nach Westen gejagt,
Hier wieder vorüber, wann gestern es tagt! –

»Mein Ritter, mein Ritter, du kommst daher,
Wohin wir gehen, erzähle noch mehr;
Du weißt, o sag‘ es, ob fällt, ob steigt
Der Cours, der jetzt so schwankend sich zeigt?

Ein Wort, ein Wort nur im Vertrau’n!
Ist’s weis‘ auf Rothschild Häuser zu bau’n?« –
Schon hatte der Reiter die Feder gedrückt,
Das Dampfroß fern ihn den Augen entrückt.

Das ist ein witziges Gedicht (1830), in dem sich die Sorgen der Zeitgenossen vor dem damals ungeheuren Tempo spiegeln, mit dem ab 1830 die erste Dampf-Eisenbahn für Personen zwischen Liverpool und Manchester verkehrte. Das steht hinter der Übertreibung, dass die Eisenbahn „hinter sich die laufende Zeit“ lasse, dass man also mit ihr in die Vergangenheit reisen könne – eine Zeitreise unternehmen, heißt das in der SF-Literatur, nur eben in die Vergangenheit statt in die Zukunft. Diese Idee wird an verschiedenen Beispielen durchgespielt, und statt das Gedicht zu „analysieren“, schlage ich vor, es mit Schmunzeln zu lesen und zu genießen. – Wer hätte solches Chamisso zugetraut?

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

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https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

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A. von Chamisso: Die alte Waschfrau – Text und Analyse



Die alte Waschfrau     

Du siehst geschäftig bei dem Linnen
Die Alte dort in weißem Haar,
Die rüstigste der Wäscherinnen
Im sechsundsiebenzigsten Jahr.
So hat sie stets mit sauerm Schweiß
Ihr Brod in Ehr‘ und Zucht gegessen,
Und ausgefüllt mit treuem Fleiß
Den Kreis, den Gott ihr zugemessen.

    Sie hat in ihren jungen Tagen
Geliebt, gehofft und sich vermählt;
Sie hat des Weibes Loos getragen,
Die Sorgen haben nicht gefehlt;
Sie hat den kranken Mann gepflegt;
Sie hat drei Kinder ihm geboren;
Sie hat ihn in das Grab gelegt,
Und Glaub‘ und Hoffnung nicht verloren.

    Da galt’s die Kinder zu ernähren;
Sie griff es an mit heiterm Muth,
Sie zog sie auf in Zucht und Ehren,
Der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut.
Zu suchen ihren Unterhalt
Entließ sie segnend ihre Lieben,
So stand sie nun allein und alt,
Ihr war ihr heit’rer Muth geblieben.

    Sie hat gespart und hat gesonnen
Und Flachs gekauft und Nachts gewacht,
Den Flachs zu feinem Garn gesponnen
Das Garn dem Weber hingebracht;
Der hat’s gewebt zu Leinewand;
Die Scheere brauchte sie, die Nadel,
Und nähte sich mit eig’ner Hand
Ihr Sterbehemde sonder Tadel.

    Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es,
Verwahrt’s im Schrein am Ehrenplatz;
Es ist ihr Erstes und ihr Letztes,
Ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
Sie legt es an, des Herren Wort
Am Sonntag früh sich einzuprägen,
Dann legt sie’s wohlgefällig fort,
Bis sie darin zur Ruh‘ sie legen.

    Und ich, an meinem Abend, wollte,
Ich hätte, diesem Weibe gleich,
Erfüllt, was ich erfüllen sollte
In meinen Grenzen und Bereich;
Ich wollt‘, ich hätte so gewußt
Am Kelch des Lebens mich zu laben,
Und könnt‘ am Ende gleiche Lust
An meinem Sterbehemde haben.

Dieses Gedicht von 1833 ist eines der bekanntesten Gedichte Chamissos; es gehörte früher zum Repertoire der deutschen Lesebücher. Das belegt ein Bericht von Hans Mühlhaus im Heimatbuch der Vulkaneifel von 1983: „Es geschah an einem Altentag. Die Senioren saßen an geschmückten Tischen bei Kaffee und Kuchen. Sie erfreuten sich des Wiedersehens und waren in ihren Gesprächen fast nicht zu unterbrechen. Als jedoch jemand an die gemeinsam verbrachte Schulzeit erinnerte, verstummten die »Tischreden» mehr und mehr, die Anregung wurde einstimmig begrüßt, und viele waren sichtlich bemüht, eine schöne Erinnerung aus längst vergangener Zeit los zu werden. Dabei siegte die Poesie! Die auswendiggelernten Gedichte waren es, die es in sich hatten, solange präsent zu bleiben. Es begann eine Rekapitulation von kleinen Werken der Dichtkunst, die einzeln oder miteinander, manchmal auch nur stückweise, jedoch mit großer Freude und ungeniert, aller Bande ledig vorgetragen wurden.“ Dann zählt Mühlhaus die vorgetragenen Gedichte auf (von Heine, Uhland, Schiller, Goethe, Storm usw.). „Aber die höchste Leistung der Stunde begann, als der älteste Teilnehmer der Altentagsrunde aufstand, wie einstens in der Schule, und zu deklamieren begann: Die alte Waschfrau.

Warum war dieses Gedicht von der alten Waschfrau so beliebt und verbreitet? Es handelt von einer einfachen Frau aus dem Volk, die auch mit 75 Jahren noch schwer arbeitet – so blickt der Erzähler zu Beginn auf sie (V. 1-4). Und dann wird sie so charakterisiert, dass stets sie „in Ehr und Zucht“ (V. 6, wiederholt in V. 19) gelebt habe und treu „den Kreis, den Gott ihr zugemessen“ (V. 8), ausgefüllt habe: mit sauerm Schweiß / mit treuem Fleiß (V. 6 / 8). Sie hat also ein gottgefälliges ehrliches Leben geführt.

In den beiden nächsten Strophen wird erzählt, wie sie als Frau und Mutter gewirkt, also „des Weibes Los getragen“ (V. 11) hat; dabei habe sie trotz aller Sorgen Glauben und Hoffnung nicht verloren und ihr Leben mit Fleiß und Ordnung gemeistert (V. 16, V. 20).

In den beiden nächsten Strophen wird erzählt, dass sie im Hinblick auf ihren Tod ihr Sterbehemd selbst genäht hat und es als ihr „Kleinod“ (V. 36) in Ehren hält, bis man sie „darin zur Ruh“ legt (V. 40)

Es folgt ein Kommentar des Erzählers in der Ich-Form: Er nimmt diese Frau als Vorbild und möchte an seinem Lebensabend erstens wie sie erfüllt haben, „was ich erfüllen sollte / In meinen Grenzen und Bereich“ (V. 43 f.); zweitens möchte er genauso zufrieden gelebt und „am Ende gleiche Lust / An meinem Sterbehemde haben“ (V. 47 f.). Und wenn der Erzähler sie zum Vorbild nimmt, dann wissen alle Kinder, die das Gedicht lernen, wie man gut zu leben hat, welchem Vorbild man nacheifern soll.

Zur Form: acht Verse pro Strophe, vierhebiger Jambus (der Ton des Erzählens); Kreuzreim; abwechselnd weibliche und männliche Kadenz, und zwar in den ersten vier Versen in der Folge w/m, in den letzten vier Versen in der Folge m/w. Oft sind die reimenden Verse auch semantisch einander verbunden, z.B. bei dem Linnen / die Wäscherinnen (V. 1/3); in weißem Haar / im 76. Jahr (V. 2/4), usw. Auf einige Aufzählungen (Doppelungen) ist schon hingewiesen worden; gleich vier Attribute bekommt ihr Sterbehemd (V. 35 f.).

Gepriesen wird also das ehrbare Leben kleiner Leute, die ihren Lebenskreis wie die Waschfrau mit Fleiß und Zufriedenheit erfüllen; denn das sei der Kreis, „den Gott ihr zugemessen“ (V. 8); dieses Idee von der schicksalhaften Bestimmung des eigenen kargen Lebens („stets mit saurem Schweiß“, V. 5) spricht aus dem Wort von „des Weibes Los“ (V. 11), Frau und Mutter zu werden – eine Idee, wogegen heute alle Feministinnen Sturm laufen. Der Erzähler bekennt sich zu dieser Idee, dass man in seinen „Grenzen und Bereich“ leben soll (V. 36) – wobei immer die Frage ist, wer diese Grenzen und diesen Bereich absteckt: Gott, sagt der gläubige Erzähler; die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, sagen heute kritische Leser. Aber auch er sollte einmal über Chamissos Gedicht „Pech“ nachdenken.

Ein Zweites, was auffällt: Diese Frau, die doch immer schwer gearbeitet und sich gesorgt hat (V. 5 f., V. 12), hat sich nach Auffassung des Erzählers am Kelch des Lebens gelabt (V. 38); hat also in allen Mühen auch Glück und Erfüllung gefunden, weil sie wusste, dass dieser Lebenskreis ihr von Gott zugemessen ist. Das ist immerhin eine Idee, über die man nachdenken könnte, Gott hin oder her: Erfüllung des Lebens gibt es jedenfalls nicht im Dschungelcamp.

Das Dritte ist der Vorausblick auf den eigenen Tod und die Vorbereitung darauf, hier in der Sorge um das eigene Sterbehemd ausgeführt; das ist eine Haltung, die dem philosophisch Denkenden gefällt, weil er das Ganze des Lebens im Blick haben möchte, und dazu gehört auch der eigene Tod.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass es ein „Zweites Lied von der alten Waschfrau“ aus dem Jahr 1838 gibt.

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://www.heimatjahrbuch-vulkaneifel.de/VT/hjb1983/hjb1983.76.htm (Heimatjahrbuch Vulkaneifel 1983)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

https://www.chamisso-gesellschaft.de/ (Chamisso-Gesellschaft)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n69/mode/2up (Zweites Lied von der alten Waschfrau, 1838) = https://www.zgedichte.de/gedichte/adelbert-chamisso/zweites-lied-von-der-alten-waschfrau.html

A. von Chamisso: „Pech“ und „Tragische Geschichte“ – Text und Bemerkungen

Chamisso: Pech (1828)

Wahrlich, aus mir hätte vieles
Werden können in der Welt,
Hätte tückisch nicht mein Schicksal
Sich mir in den Weg gestellt.

Hoher Ruhm war zu erwerben,
Wenn die Waffen ich erkor;
Mich den Kugeln preis zu geben
War ich aber nicht der Thor.

Um der Musen Gunst zu buhlen
War ich minder schon entfernt;
Ein Gelehrter wär‘ ich worden,
Hätt‘ ich lesen nur gelernt.

Bei den Frauen, sonder Zweifel,
Hätt‘ ich noch mein Glück gemacht,
Hätten sie mich aller Orten
Nicht unmenschlich ausgelacht.

Wie zum reichen Mann geboren,
Hätt‘ ich diesen Stand erwählt,
Hätte nicht vor allen Dingen
Immer mir das Geld gefehlt.

Über einen Staat zu herrschen
War vor allen ich der Mann,
Meine Gaben und Talente
Wiesen diesen Platz mir an.

König hätt‘ ich werden sollen,
Wo man über Fürsten klagt,
Doch mein Vater war ein Bürger,
Und das ist genug gesagt.

Wahrlich, aus mir hätte vieles
Werden können in der Welt,
Hätte tückisch nicht mein Schicksal
Sich mir in den Weg gestellt.

Hier lesen wir die Gedanken eines kleinen Mannes, der von einer ihm versagten Größe oder Bedeutung träumt, die zwar nicht ganz ernst gemeint sind, aber doch auch nicht völlig spinnert. In der Rückschau denkt man ja doch gelegentlich: Was wäre (aus mir) geworden, wenn ich an der ein oder anderen Stelle bessere Bedingungen gehabt hätte? Und so müßig solche Phantasien auch sind, soweit sie die eigene „versäumte“ Karriere betreffen, also die Vergangenheit, so ernst sind sie doch als politische Idee zu nehmen: Was könnte aus den vielen Benachteiligten werden, wenn sie heute oder in Zukunft bessere Startchancen bekämen – gebildetere Eltern, begüterte Eltern, mehr Wohnraum, mehr Lebensraum? Das Wichtigste kann man leider nicht herbeizaubern: bessere Eltern; denn mit Platon die Erziehung völlig dem Staat zu übertragen, verschiebt nur das Problem, weil viele staatliche Erzieher auch bloß Dienst nach Vorschrift machen, wenn sie nicht gerade in einer Fortbildung, krank oder beurlaubt sind.

Das Stichwort ist „Schicksal“ (V. 3 und V. 31) – Schicksal abschaffen kann man nicht, aber man kann versuchen, scheinbar oder wirklich schicksalhafte Beeinträchtigungen möglichst vieler Menschen zu mindern. Das Problem des Schicksals bzw. der Versuchs, einfach Gegebenes zu ändern, wird lustig im Gedicht „Tragische Geschichte“ (1822) vorgeführt. Natürlich könnte der Mann, dem der Zopf nach hinten hing, ihn nach vorne binden – aber darum geht es nicht; es geht vielmehr darum, dass er eine schlichte (und hier ziemlich bedeutungslose) Gegebenheit nicht akzeptieren will. Das Gedicht erinnert mich an Peter Bichsels Geschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“, die zwar lustig zu sein scheint (so wird sie wohl in der Sek I gelesen?), aber zutiefst tragisch endet, weil man nicht (ohne weiteres) aus der gemeinsamen Welt ausbrechen kann. Es ist zuerst lustig, aber dann eine wirklich „Tragische Geschichte“ mit symbolischem Wert für unsere Zeit.

Tragische Geschichte

’s war Einer, dem’s zu Herzen ging,
Daß ihm der Zopf so hinten hing,
Er wollt‘ es anders haben.

So denkt er denn: wie fang ich’s an?
Ich dreh mich um, so ist’s gethan –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da hat er flink sich umgedreht,
Und wie es stund, es annoch steht –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da dreht er schnell sich anders ‚rum,
’s wird aber noch nicht besser drum –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Er dreht sich links, er dreht sich rechts,
Es tut nichts Gut’s, es tut nichts Schlecht’s –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Er dreht sich wie ein Kreisel fort,
Es hilft zu nichts, in einem Wort –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Und seht, er dreht sich immer noch,
Und denkt: es hilft am Ende doch –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

https://www.chamisso-gesellschaft.de/ (Chamisso-Gesellschaft)

A. von Chamisso: Lebewohl – Text und Analyse

Adelbert von Chamisso: Lebewohl

Wer sollte fragen: wie‘s geschah?
    Es geht auch Andern eben so.
Ich freute mich, als ich dich sah,
    Du warst, als du mich sahst, auch froh.

Der erste Gruß, den ich dir bot,
    Macht‘ uns auf einmal beide reich;
Du wurdest, als ich kam, so roth,
    Du wurdest, als ich ging, so bleich.

Nun kam ich auch Tag aus, Tag ein,
    Es ging uns beiden durch den Sinn;
Bei Regen und bei Sonnenschein
    Schwand bald der Sommer uns dahin.

Wir haben uns die Hand gedrückt,
    Um nichts gelacht, um nichts geweint,
Gequält einander und beglückt,
    Und haben‘s redlich auch gemeint.

Dann kam der Herbst, der Winter gar,
    Die Schwalbe zog, nach altem Brauch,
Und: lieben? – lieben immerdar?
    Es wurde kalt, es fror uns auch.

Ich werde geh‘n ins fremde Land,
    Du sagst mir höflich: Lebe wohl!
Ich küsse höflich dir die Hand,
    Und nun ist alles wie es soll.

(Text: https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n115/mode/2up)

Laß ungestraft um uns die Kinder springen,
Vielleicht daß sie der Geist der Lieder bannt
Kein Zwang es würden mich die armen dauern,
Sie dürfen nicht um uns‘re Freude trauern.

So steht es in Chamissos Gedicht „Berlin“, das er 1831 geschrieben hat – und diesem seinem Wunsch wollen wir jetzt nachkommen:

Das Gedicht ist von 1826 und damit zeitlich der Romantik zuzuordnen – aber welch ein Unterschied zu den Liebesgedichten der Günderrode! Dabei hat Chamisso auch das Küssen gepriesen („Küssen will ich, ich will küssen“, 1829), aber in größerer Leichtigkeit und nicht mit der Absolutheit romantischer Liebe. Das Gedicht „Lebewohl“ ist sogar fast prosaisch; in ihm wird von der Liebe eines Sommers erzählt (ab V. 3), ein Ich spricht scheinbar zu einem Du, aber man darf sich das nicht als wirkliches, sondern nur als mentales Gespräch vorstellen, in dem das Ich am Ende dieser Liebeszeit innehält. Da wir hier nur die Ich-Perspektive haben, kann man nicht wissen, ob das Du die Geschichte ebenso sieht oder ob das Ich meint, sich für den bevorstehenden Abschied rechtfertigen zu müssen. Dabei wird von folgenden Stationen der Begegnung erzählt:

  • Als ich dich sah (V. 3 f.) → froh
  • Der erste Gruß (V. V. 5 ff.) → erröten
  • Tag aus, Tag ein (V. 9 ff.) → gelacht und geweint, gequält und beglückt
  • Dann kam der Herbst, der Winter (V. 17 ff.) → lieben (immerdar)???
  • (jetzt, Präsens) Du sagst mir höflich: Lebe wohl! Ich küsse höflich dir die Hand (V. 22 f.)

Es ist die Geschichte einer „normalen“ Sommerliebe, die mit dem Verliebtsein begonnen hat, als Verhältnis weitergeführt wurde (Präteritum) und so zur Frage führte „lieben? – lieben immerdar?“ (V. 19) Das ist hier beinahe eine rhetorische Frage, jedenfalls ist klar: Nein! Dass diese Antwort die einzig mögliche ist, dafür werden keine Gründe angegeben außer dem metaphorischen, dass nach dem Sommer inzwischen der Winter mit seiner Kälte gekommen war (und die Liebe nicht mehr wärmte, ist zu ergänzen) – man muss sich damit begnügen, wie das Verhältnis „Tag aus, Tag ein“ geführt wurde; allerdings wurde nur „um nichts“ gelacht und geweint (V. 14) – vom Ernst des Lebens war das harmlose Verhältnis nicht berührt. Sicher, wir „haben‘s redlich auch gemeint“ (V. 16) – aber „lieben immerdar?“ (V. 19)

Hier hilft der Blick auf die beiden einleitenden Verse weiter: „Wer sollte fragen: wie‘s geschah?“ (V. 1) Wie es geschah, dass die Sommerliebe so sang- und klanglos endete. Und der Ich-Erzähler, der die Frage nicht beantwortet, sagt zur Erklärung: „Es geht auch Andern eben so.“ (V. 2) Dieser Blick auf das eigene Verhältnis ist bemerkenswert nüchtern: So geht es in der Welt zu, so ergeht es anderen auch. Einen solchen Blick hat man erst, wenn man ans Ende der Liebe gekommen ist. Vorher fragt man: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke…?“ Dass das alte Verhältnis endgültig beendet ist, macht der höfliche Handkuss (V. 23) besonders deutlich – er tritt an die Stelle der ehedem zärtlichen oder leidenschaftlichen Küsse auf den Mund; die Freude am Umgang miteinander (Strophe 1 und 2) ist fort, man geht nur noch „höflich“ miteinander um (V. 22, 23).

Dass man sich am Ende höflich trennt (V. 22 f.), ist nicht selbstverständlich, auch wenn der Erzähler sagt, dass nun alles ist, „wie es soll“ (V. 24). Wer sich von dem oder der Geliebten, vormals auch Liebenden nicht trennen kann, der stimmt jetzt „Die eine Klage“ (Günderrode) an und verzehrt sich in Sehnsucht; denn er oder sie sieht sich vom Einzigen verlassen, dem man in der großen einzigen Liebe verbunden war. Aber der Erzähler hat sich in der Welt umgeblickt und gesehen: „Es geht auch Andern eben so.“ (V. 2) Und deshalb ist er für neue Pläne und Begegnungen (Futur) offen: „Ich werde geh‘n ins fremde Land“ (V. 21), was so viel wie „fortgehen“ heißt; vom romantischen Pathos der Fremde ist hier nichts zu spüren.

Formal ist zu beobachten: Vier Verse zu vier Jamben pro Strophen; Kreuzreim, oft ohne semantischen Bezug der Verse (Ausnahmen etwa V. 5/7; V. 13/15; V. 18/20; letzte Strophe).; Chiasmus in V. 3 f.; Kontrast roth/bleich, V. 7 f.; Aufzählungen V. 9-20; Sommer und Herbst/Winter (V. 17) sind auch metaphorisch gefärbt; Wiederholung „höflich“ V. 22 f.; Kontrast zwischen dem zärtlichen Händedruck und dem höflichen Handkuss (V. 13/23); rahmende Kommentare V. 1 f. und V. 24.

Eine Sommerliebe wird auch in Liliencrons Gedicht „Einen Sommer lang“ beschrieben, eine Sommerliebe zwischen Jugendlichen, die sich vor den Eltern nicht zeigen darf; aber da lebt der Sprecher noch mitten im Sommer, Herbst und Winter sind noch nicht gekommen – und so kann er ganz anders von der Liebe „Einen Sommer lang“ sprechen, ohne auf ihr Ende zu schauen.

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

https://www.chamisso-gesellschaft.de/ (Chamisso-Gesellschaft)

Ein anderes Gedicht Chamissos von 1820 zeigt den gleichen prosaischen Blick auf die Liebe:

Adelbert von Chamisso: Zur Unzeit

Ich wollte, wie gerne, dich herzen,
Dich wiegen in meinem Arm,
Dich drücken an meinem Herzen,
Dich hegen so traut und so warm.

Man verscheuchet mit Rauch die Fliegen,
Mit Verdrießlichkeit wohl den Mann;
Und wollt‘ ich an dich mich schmiegen,
Ich thäte nicht weise daran.

Wohl zieht vom strengen Norden
Ein trübes Gewölk herauf,
Ich bin ganz stille geworden,
Ich schlage die Augen nicht auf.

Beachtung verdient auch das witzige Gedicht „Eid der Treue“ (1827), wo sie ein Pfand der Treue von ihm fordert, worauf er bereit ist, einen völlig sinnlosen und inhaltsleeren Eid zu schwören. Ebenfalls erheitert mich die Ballade „Ein Lied von der Weibertreue“ (1830), wo die trauernde Witwe sich mit einem Landsknecht zusammentut, weil der zu essen hat, und dann … – aber das muss man selber lesen!

A. von Chamisso im frühen Vormärz

Aus meiner Schulzeit erinnere ich mich an zwei Gedichte Adelbert von Chamissos: „Das Riesenspielzeug“ und „Die Sonne bringt es an den Tag“. Diese Gedichte kenne ich seit der Sexta oder Quinta, das erste vielleicht auch schon aus der Grundschule; es waren für mich recht harmlose Gedichte, Balladen mit einem moralisierenden (Unter)Ton, so recht für die deutsche Schule geschaffen. Dass im „Riesenspielzeug“ ein durchaus kritischer Ton anklingt, haben wir als Kinder nicht gehört. Da belehrt nämlich der Vater die Riesen-Tochter, die sich einen Bauern zum Spielen eingefangen hat:

„Der Alte wird gar ernsthaft und wiegt sein Haupt und spricht:
Was hast du angerichtet? das ist kein Spielzeug nicht!
Wo du es hergenommen, da trag‘ es wieder hin,
Der Bauer ist kein Spielzeug, was kommt dir in den Sinn!

Sollst gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot;
Denn, wäre nicht der Bauer, so hättest du kein Brod;
Es sprießt der Stamm der Riesen aus Bauernmark hervor,
Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!“

Wir haben als Kinder das Gedicht wie eine Sage oder wie ein Märchen gelesen. Dabei ist der Satz „Der Bauer ist kein Spielzeug, was kommt dir in den Sinn!“ durchaus kritisch gegen die deutsche Obrigkeit zu lesen, „die Riesen“ sind in Wahrheit die Fürsten, deren einige mit den Bauern, allgemein: mit den kleinen Leuten ihre Spielchen trieben. Und denen wird gesagt gesagt:

„Es sprießt der Stamm der Riesen aus Bauernmark hervor,
Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!“

Auf solche Lesarten kommt man, wenn man andere Gedichte Chamissos zur Kenntnis nimmt, die es nicht in die Lesebücher geschafft haben. Ich beginne mit dem Nachtwächterlied (1826).

Nachtwächterlied

                              Eteignons les lumie`res
                               Et rallumons le feu.
                                                  Béranger.

Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen,
Was die Glocke hat geschlagen:
    Geht nach Haus und wahrt das Licht,
    Daß dem Staat kein Schaden geschicht.
        Lobt die Jesuiten!

Hört, ihr Herrn, wir brauchen heute
Gute, nicht gelehrte Leute;
    Seid ihr einmal doch gelehrt,
    Sorgt, daß keiner es erfährt.
        Lobt die Jesuiten!

Hört, ihr Herrn, so soll es werden:
Gott im Himmel, wir auf Erden,
    Und der König absolut,
    Wenn er unsern Willen thut.
        Lobt die Jesuiten!

Seid, ihr Herrn, es wird euch frommen,
Von den gutgesinnten Frommen;
    Blase jeder, was er kann,
    Lichter aus, und Feuer an.
        Lobt die Jesuiten!

Feuer, ja, zu Gottes Ehren,
Um die Ketzer zu bekehren,
    Und die Philosophen auch,
    Nach dem alten, guten Brauch.
        Lobt die Jesuiten!

Hört, ihr Herrn, ihr seid geborgen,
Geht nach Haus, und ohne Sorgen
    Schlaft die lange, liebe Nacht,
    Denn wir halten gute Wacht.
        Lobt die Jesuiten!

In dieser Parodie des Nachtwächterliedes kaschiert die Ironie des Sprechers, des Nachtwächters, dass er gegen die Dummheit bzw. die Volksverdummung, das Duckmäusertum der Frommen und die Intoleranz der Ketzerjäger zu Felde zieht: „Lobt die Jesuiten!“ Die nämlich waren als Feinde der Aufklärung und als Stützen des Gottesgnadentums bekannt.

Im Gedicht „Kleidermacher-Muth“ (1831) werden die Schneider, also die Kleinbürger verspottet, weil sie mit ihrer Revolution nichts anzufangen wissen und bloß fordern, die Schneidermamsell abzuschaffen und auf der Straße Pfeife rauchen zu dürfen – eine dritte Forderung wissen und haben sie nicht, aber auch auf diese dritte wollen sie den König schwören lassen. Hier grüßt schon deutlich der deutsche Vormärz!

Eine köstliche Satire ist „Die goldene Zeit“ (1822), wo die Bürger ihre Freiheit feiern, alles zu denken und zu schreiben, „was die hohe Polizei erst geprüft hat und erlaubt“:

Die goldene Zeit

                              Oh le bon siécle, mes fréres,
                               Que le siécle oú nous vivons!
                                        Armand Charlemagne.
                                           (Fliegendes Blatt.)

    Füllt die Becher bis zum Rand,
Thut, ihr Freunde, mir Bescheid:
Das befreite Vaterland,
Und die gute gold‘ne Zeit!
Denn der Bürger denkt und glaubt,
Spricht und schreibt nun alles frei,
Was die hohe Polizei
Erst geprüft hat und erlaubt.

    Du eröffnest mir den Mund,
Du geschwätz‘ger Traubensaft,
Und die Wahrheit mach‘ ich kund
Rücksichtslos mit freud‘ger Kraft.
Steigt die Sonne, wird es Tag,
Sinkt sie unter, wird es Nacht.
Nehm‘ vor Feuer sich in Acht,
Wer sich nicht verbrennen mag.

    Ungeschickt zum Löschen ist,
Wer da Oel gießt, wo es brennt;
Noch ist drum kein guter Christ,
Der zu Mahom sich bekennt.
Scheut die Eule gleich das Licht,
Fährt sich‘s doch vorm Winde gut,
Besser noch mit Wind und Fluth,
Aber gegen beide nicht.

    Wer nicht sehen kann, ist blind,
Wer auf Krücken geht, ist lahm;
Mancher redet in den Wind,
Mancher geht, so wie er kam.
Grünt die Erde weit und breit,
Glaube nicht den Frühling fern;
Rückwärts geh‘n die Krebse gern,
Aber vorwärts eilt die Zeit.

    Zwar ist nicht das Dunkle klar,
Doch ist nicht, was gut ist, schlecht;
Denn, was wahr ist, bleibt doch wahr,
Und, was recht ist, bleibt doch recht.
Goldes-Ueberfluß macht reich,
Aber Lumpen sind kein Geld.
Wer mit Steinen düngt sein Feld,
Macht gar einen dummen Streich.

    An der Zeit, ist nicht zu spät,
Doch Gescheh‘nes ist gescheh‘n,
Und wer Disteln hat gesä‘t,
Wird nicht Weizen reifen seh‘n.
Gestern war‘s, nun ist es heut‘,
Morgen bringt auch seinen Lohn;
Kluge Leute wissen‘s schon,
Nur sind Narren nicht gescheut.

    Und am besten weiß, wer klagt,
Wo ihn drückt der eig‘ne Schuh;
Wer zuerst nur A gesagt,
Setzt vielleicht noch B hinzu;
Denn, wie Adam Riese spricht,
Zwei und zwei sind eben vier – – –
Gott! wer pocht an uns‘re Thür?
Ihr, verrathet mich nur nicht.

    „Hebt auf das verruchte Nest,
Sie mißbrauchen die Geduld.
Setzt den Jakobiner fest,
Wir sind Zeugen seiner Schuld;
Er hat öffentlich gelehrt:
Zwei und zwei sind eben vier.“ –
Nein, ich sagte….. „Fort mit dir
Daß die Lehre Keiner hört!“

Direkt kritisch ist auch „Das Gebet der Wittwe“ (1831), diese betet in später Nacht: „Laß unsern gnädigen Herrn, o Herr! Recht lange leben, ich bitte dich sehr.“ Im Verlauf des Gesprächs stellt sich dann heraus, dass in der Abfolge der Herren die Unterdrückung, die Beraubung der Witwe immer mehr zugenommen hat und dass sie nun fürchtet, der nächste Herr würde ihr gewiss die letzte Kuh wegnehmen – weshalb die Herrschaft des jetzigen Herrn als das kleinere Übel ein Segen Gottes wäre.

Der Invalid im Irrenhaus (1827)

Leipzig, Leipzig! arger Boden,
    Schmach für Unbill schafftest du.
Freiheit! hieß es, vorwärts, vorwärts!
    Trankst mein rothes Blut, wozu?

Freiheit! rief ich, vorwärts, vorwärts!
    Was ein Thor nicht alles glaubt!
Und von schwerem Säbelstreiche
    Ward gespalten mir das Haupt.

Und ich lag, und abwärts wälzte
    Unheilschwanger sich die Schlacht,
Ueber mich und über Leichen
    Sank die kalte, finst‘re Nacht.

Aufgewacht zu grausen Schmerzen,
    Brennt die Wunde mehr und mehr;
Und ich liege hier gebunden,
    Grimm‘ge Wächter um mich her.

Schrei‘ ich wüthend noch nach Freiheit,
    Nach dem bluterkauften Glück,
Peitscht der Wächter mit der Peitsche
    Mich in schnöde Ruh‘ zurück.

Der Invalide blickt auf die Völkerschlacht von Leipzig zurück (1813), wo er dem Ruf „Vorwärts“ des Marschalls Blücher folgte, für die Freiheit kämpfte und sein Blut ließ. Jetzt aber ist er als Invalide im Irrenhaus, und wenn er Freiheit fordert, wird er niedergeknüppelt. Ich sehe im Irrenhaus eine Metapher für das Leben in Deutschland; denn rückblickend sieht der Soldat seinen Glauben, für die Freiheit zu kämpfen, als etwas an, was man ihm vorgegaukelt, was man ihm weisgemacht hat („Was ein Thor nicht alles glaubt!“). Wenn das keine Kritik an der politischen Reaktion ist, die 1827 jegliche Freiheitsregung erstickt, dann weiß ich es nicht.

Auch im „Don Quixote“ (1826) offenbart die letzte Strophe, wie das Verhältnis von Herr und Knecht es nicht zulässt, dass das Offensichtliche als wahr vertreten werden kann. Sancho Pansa widerspricht seinem Herrn, der meint, gegen Riesen gekämpft zu haben, nicht mehr und sagt (subjektiv ehrlich, objektiv ironisch):

    „Mit den Herr‘n es halten,
    Bleibt das Klügste noch;
    Was von solchen Dingen
    Wissen Knechte doch!“

Aber der Leser weiß natürlich, dass der Herr spinnt und dass Sancho Pansa recht hat.

Es ist gegenüber der alten Lesebuchtradition ein neuer Chamisso zu entdecken, den man auch zum Vormärz rechnen muss und dem man mit dem einfachen Etikett „Romantik“ nicht gerecht wird.

http://gedichte.eu/kl/chamisso/gedichte.php (Chamissos Gedichte)

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

Aus dem zweiten Teil der Gedichte könnte man vielleicht berücksichtigen:

An die Apostolischen (1821/22), darin

  • Die öffentliche Meinung schreit und klagt
  • Wer hat zum Schreier also dich bedungen?

Memento (1830)

(Der vertriebene König, 1831)

Die Ruine (1832)

Bemerkenswert ist darin das Gedicht „Die Predigt des guten Britten“ (1833), das einfacher in W. Schnurres Parabel „Die schwierige Lage Gottes“ als Kritik religiöser Egozentrik fortgeführt ist:

Die Predigt des guten Britten

(Wahre Anekdote)

Als Anno dreiundachtzig sich zum Krieg

Gerüstet Engeland und Niederland,

Ward beiderseits gebetet um den Sieg.

Ein ausgeschriebner Buß- und Bettag fand

In beiden Ländern statt, doch um acht Tage

Früher in Holland, als in Engeland.

Hier stand ein Prediger vom alten Schlage,

Nach kräft‘ger Predigt betend am Altar,

Und führte vor dem Höchsten seine Klage:

»Du wirst dich noch erinnern, Herr, es war

Am letzten Sonntag, die Holländer brachten,

Wie heute wir, dir Bußgebete dar.

Wie Jakob einst den Bruder Esau, dachten

Sie uns um deinen Segen zu betrügen,

Wenn sie die ersten an dein Ohr sich machten.

Glaub ihnen nicht! trau nicht den Winkelzügen

Der falschen Otterbrut; ihr gutes Recht

Und frommes Tun sind eitel, eitel Lügen!

Glaub uns und mir, ich bin dein treuer Knecht,

Ich habe mit der Lüge nichts zu schaffen;

Wir Engeländer sind ein fromm Geschlecht;

Sei du mit uns und segne unsre Waffen!«

Chamisso: Die Sonne bringt es an den Tag – Klassenarbeit

Ballade als Klassenarbeit (Kl. 7)

Chamisso: Die Sonne bringt es an den Tag

Aufgabenstellung:
1. a) Verschaffe dir einen Überblick über die Ereignisse:
Welche werden (wo) erzählt? Wie lange dauern sie?
[drei Ereignisse in Str. 1-5, … in Str. 6-12, zwei Ereignisse in Str. 13-14]
b) Welche Ereignisse werden nicht erzählt: in Vers 51,
zwischen Vers 65/66?
2. Zeichne ein Spannungskurve für das ganze Gedicht, erläutere sie (beziehe dich dabei auf den Text!).
Du kannst die entscheidenden Punkte in der Kurve nummerieren.
3. Eine Eigentümlichkeit des Gedichtes ist der 5. Vers jeder Strophe, der leicht abgewandelt wird:
a) Benenne denjenigen, der jeweils diesen Vers ausspricht.
b) Woran kannst du erkennen, wann der Erzähler der Sprecher des Verses ist?
Zusatzaufgaben:
4. Wessen Worte werden in V. 68 f. berichtet? An wen sind sie gerichtet?
5. Der Mann sagt, er merke, was die Sonne meint, wenn sie flimmert (V. 55-59). Woher weiß er das oder woran erkennt er das wohl?

Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Analysen und InterpretationSeiten/Zeilenzählung nach der neuen Ausgabe bei Reclam, 2003, vermutlich gleich der von 1993.

Wenn ein Mensch linkische und ungeschickte Manieren hat, so sagt man im Ghetto von ihm: Er ist ein Schlemiel! Einem Schlemiel fällt das Butterbrot immer auf die fette Seite, und wenn andere Leute eine Gelegenheit beim Schopf erfassen, so bekommt sie der Schlemiel höchstens bei der kleinsten Fußzehe, und sie entwischt ihm! Auf seinem Handel und Wandel liegt fingerdick das Pech; er steigt gleichsam durch sein ganzes Leben mit dem linken Fuß aus dem Bett.“ Leopold Gompert: Schlemiel, in: Aus dem Ghetto. Sechs Erzählungen. Leipzig 1900, S. 46

1. Analysen

Zeitstruktur in Kap. I – IV

Unter diesem Begriff wird erfasst, welche Bedeutung der Erzähler welchem Ereignis schenkt, indem er relativ knapp oder breit von ihm berichtet. Im Erzählerbericht kann man episodisches (szenisches) und summarisches Erzählen unterscheiden.

In Kap. I werden episodisch erzählt

– Einkehr im Wirtshaus (9/8 ff.),

– Empfang im Haus des Herrn John, Gespräch mit diesem (9/28 ff.),

– verschiedene Leistungen des grauen Mannes (10/29 ff.),

– Begegnung Peters mit dem Grauen, Schattenverkauf (13/29 ff.)

Die Ereignisse dieses ersten Tages enden damit, dass Peter (in Kap. II) im Gold wühlt und darüber einschläft (17/34).

Die meiste Zeit nimmt der Erzähler sich, wenn er Gespräche wörtlich (zeitgleich) berichtet: das Gespräch mit Herrn John (10/3-16) und vor allem das Gespräch Peters mit dem Grauen (14/6 – 15/31). Relativ viel Zeit nimmt der Erzähler sich für den Bericht von den wunderbaren Taten des Grauen und vom Eindruck, den dieser auf Peter macht (10/35 – 13/17).

In Kap. I werden summarisch erzählt

– die Landung (9/5 ff.),

– der Gang zum Haus des Herrn John (9/20 ff.),

– der Gang zum Rosenhügel (10/20 ff. – relativ breit),

– Peters Flucht vom Rosenhügel (13/25-27).

Am nächsten Tag (18/7 ff.) richtet Peter sich ein und lernt Bendel kennen; am übernächsten Tag (19/34 ff.) schickt er Bendel auf die Suche nach dem Grauen und erfährt, dass dieser sich „über Jahr und Tag“ (21/12) wieder melden wird; dies tut der auch am Tag vor der geplanten Hochzeit (39/32). Für die Ereignisse des ersten Tages braucht der Erzähler also etwa ‚11 Seiten‘ unserer RUB-Ausgabe (er braucht natürlich Zeit – wir rechnen der Einfachheit halber in Seiten!), für den zweiten Tag knapp 2 Seiten, für den Rest des Jahres 20 Seiten (davon 10 für die Mina-Geschichte).

Weitere Episoden werden eingeleitet mit „einst“ (22/22), „an einem schönen Abend“ (25/22); die erste Begegnung mit Mina wird relativ zur Vorgeschichte datiert (27/14-22), die zweite Begegnung erfolgt am nächsten Abend (29/31 ff.); es folgt eine kleine Episode („einst“ 31/23 ff.) und ein halbes Bekenntnis gegenüber Mina („einst“ 34/21 ff.), wonach Peter dem Vater seinen Heiratsantrag ankündigt. „Am nächsten Abend“ (35/31 ff.) begegnet er Mina kurz. Die Zeit bis zum Vorabend des entscheidenden Tages (36/9) wird durch einen kurzen Sammelbericht („öfters“ 36/5) überbrückt.

Unbestimmt wird Zeit durch verschiedene Wendungen überbrückt: „die Tag‘ und Nächte“ (22/12); „seitdem“ (24/16); „eine Zeit lang“ (24/37); „seither“ (25/11); „ununterbrochen“ (26/15); an die Vorgeschichte anknüpfend „sobald“ (27/20); „oft“ (32/26); „öfters“ (36/5). Die Formel „über Jahr und Tag“ wird wiederholt (21/12; 24/28; 33/3 -> 39/33).

Das ganze Kap. IV ist dem Thema gewidmet, wie er sich in dem Badeort jenseits des Gebirges (26/16 ff.) einrichtet und in die, wie schon sogleich gesagt wird (27/4 ff.), schließlich gescheiterte Liebe zu Mina verfällt (26/34 ff.)

Die Orte des Geschehens scheinen (in I – IV) in Hamburg zunächst konkret und lokalisierbar zu sein (Norderstraße 9/23; Breitestraße 16/25), doch sind sie bald ganz allgemein: Hotel (17/16), (in der Welt 24/23,) in einem Garten (25/28), Badeort (26/19), mein Haus (28/29 f.), unter den Bäumen vor meinem Haus (29/20), im Förstergarten (32/34).

Peter Schlemihl als Mensch (I und Anfang Kap. II)

Peter Schlemihl ist ein armer Schlucker: Er bringt von der Fahrt nur eine kleine Habseligkeit mit, die er auch noch selbst trägt, statt einen Diener zu engagieren (9/6 f.); von einem Wohn- oder Heimatort spricht er nicht. Er geht in das billigste Hotel am Platz (9(8 f.), wird selbst dort noch skeptisch gemustert (9/10 f.) und bekommt auchnur ein billiges Zimmer unterm Dach. Er weiß jedoch, was sich gehört, wenn man einen Besuch macht, und kleidet sich reinlich (9/17 ff.).

In der Welt der Reichen ist er ein Fremder: Er muss im Haus John „ein Verhör“ bestehen, ehe er eingelassen wird (9/29 f.); nicht ohne subtile Ironie erzählt er, wie er von herrn John herablassend behandelt wird. Der empfängt ihn nämlich „sehr gut wie ein Reicher einen armen Teufel“ (9/34; ähnlich bereits 9/30: hatte die Ehre…) und spricht nur ganz nebenbei mit Peter (9/34 – 10/2); dass Peter dem Diktum von der Selbstverständlichkeit, reich zu sein, beipflichtet („mit vollem überströmenden Gefühl“, 10/11 f.), ist objektiv ironisch. Seine Fremdheit in dieser Umgebung drückt er noch einmal ironisch aus, dass er hinterherschleicht, „ohne jemandem beschwerlich zu fallen“ (10/20 f.): Er gehört schlicht nicht zu den Schönen und Reichen.

In der Begegnung mit dem grauen Mann wächst bei dessen Kunststücken von Mal zu Mal seine Betroffenheit: Auf das Pflasterbesorgen reagiert Peter noch nicht (10/37 ff.); dass der Graue das Fernrohr hervorholt, verwundert Peter (11/21-23); den Teppichzauber sieht er betroffen (12/5 ff.), während die Gesellschaft überhaupt nicht darauf reagiert – wie auch beim Zeltzauber, wo Peter „unheimlich, ja graulich zu Mute“ ist (13/1), erst recht beim Pferdezauber (13/2 ff.). Der Schauder, der ihn ergriffen hat, hat sich ins Unerträgliche gesteigert (13/16 f.); er beschließt wegzugehen. [Mit dem sorgsam zum Schauder gesteigerten Grauen entstehen der abgrundtiefe Hass (50/13) und das letzte Entsetzen Peters (59/24), in dem er endgültig dem grauen Mann abschwört.]

Als dann der Graue sich ihm nähert, erschrickt er und hat Angst (13/29; 13/37 f.; 14/10), ohne sich ihm jedoch entziehen zu können: Nach dem Angebot des Schattenverkaufs ist er verwirrt (14/24 f.); der Hinweis auf die Tasche mit den unmöglichsten Inhalten erzeugt wieder einen kalten Schauder (14/36). Als ihm dann „Fortunati Glückssäckel“ angeboten wird, nimmt der Graue seinen „ganzen Sinn gefangen“ (15/19 f.): „Ich bekam einen Schwindel…“ In diesem Schwindel schließt er das Geschäft ab, und auch danach ist in ihm „noch keine Besinnung“ (16/4).

Danach macht er verwirrende Erfahrungen: Ohne Schatten ist er auch unter den normalen Menschen ein Fremder, was ihn zur verzweifelten Frage führt: „was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden!“ (17/10 f.). Nachdem er ausgiebig geweint hat (17/4), wechselt er in ein nach Norden gelegenes Hotel, wo er vom Sonnenlicht verschont ist (17/16 ff.), und wühlt dort rauschhaft in seinem Gold (17/20 ff.). Nach seinem Traum vom forschenden Chamisso, der tot ist, was durch das Stehenbleiben der Uhr unterstrichen wird (17/33 ff.), erfasst ihn jedoch ein Überdruss am Gold (18/11 ff.) und er bezeichnet das Tauschgeschäft nur noch als törichten Handel (20/1, vgl. 18/12: törichtes Herz). Ein neuer Test, wie er als Schattenloser auf andere wirkt (19/6 ff.), lässt ihn den Plan fassen, den törichten Handel rückgängig zu machen (20/1 ff.), und setzt damit das weitere Handeln Peters (II – IV) wie das weitere Geschehen (Versuche des Grauen, ihn zum Teufelspakt zu bewegen, Kap. V – VIII) in Bewegung: als Versuche, mit der Schattenlosigkeit so oder so fertig zu werden.

Du-Anreden an Chamisso

Eine der Eigentümlichkeiten der Novelle besteht darin, dass der Ich-Erzähler Peter sich häufig an seinen Freund Chamisso als den Leser (oder Zuhörer – das wird in den beiden Briefen an Julius Eduard Hitzig klar: 4/28 ff.) seiner Geschichte wendet. Das sind einmal Stellen, an denen das Erzählen durch solche Hörer-Anreden lebendiger wird (13/4 f. und 13/10-12; 17/35 ff.); auch erklärt Peter manchmal, warum er sich im Erzählen an diesen Stellen kurz fassen möchte, weil Chamisso solches ohnehin kennt (19/16 f.; 25/16-18); gelegentlich kommentiert Peter aus „heutiger“ Sicht damit vergangenes Geschehen, dass er sich etwa schämt, so etwas seinem Freund zu beichten (17/21-23; 29/17-19). An den zuletzt genannten Stellen nähert sich die Du-Anrede-Passage dem Kommentar an.

Erzählerkommentare in I – IV

Es ist nicht immer klar zu entscheiden, ob ein echter Kommentar aus heutiger Sicht oder eine erzählte Einschätzung aus vergangener Zeit vorliegt (z. B. 17/4-10).

Oft sind die Kommentare ganz harmlos (13/23 f.; 31/32 f.; 33/16-18), auch zum Zeitgeschehen (31/18-20). Bedeutsam ist der Kommentar, mit dem die Mina-Erzählung eingeleitet wird (26/22 ff. und 27/4 ff.). Da bekennt Peter einmal, dass die Liebe vorbei ist und auch im Erzählen nicht mehr lebendig wird (26/22 ff.); der Begriff „Wahn“ (26/29 und 27/11) deutet vielleicht darauf hin, dass er nach heutiger Einschätzung Mina nicht wirklich geliebt hat, im Gegensatz zur früheren Beurteilung des Verhältnisses (32/ 11 ff.; vgl. auch 27/4 ff.). Das hängt offensichtlich mit seinem Alter (und der Herrschaft der Vernunft heute, 27/9) zusammen, könnte also auch einfach auf das „normale“ Vergehen jeglicher Liebe anspielen (27/8 ff.). – Insgesamt sagen die beiden Kommentare, dass nun nicht eine Liebesgeschichte erzählt wird, sondern eine bedeutsame Episode aus Peters Lebensgeschichte, die zur Entscheidung in der Frage des Teufelsbundes drängt.

Auch Minas Brief verdient Beachtung – sie hat in Peter den Adeligen gesehen, den sie liebt und auf den sie schweren Herzens verzichten will (33/19 ff).

Zeitstruktur in Kap. V – VIII

Am Morgen des Tages, wo Peter den Heiratsantrag machen will,

kündigt Rascal den Dienst wegen Peters Schattenlosigkeit auf (36/25ff.),

stellt der Förster ihm ein Ultimatum (3 Tage), mit Schatten zu erscheinen (37/27 ff.),

entflieht Peter (39/24-27). -> (unbestimmte Zeitlücke)

Am gleichen Tag (so wegen 44/14 f.)

begegnet Peter in der Heide dem Grauen (39/29 ff.);

er erhält dessen 1. Angebot: Tausch des Schatten gegen die Seele (40/10 ff.);

– Disput über den Wert der Seele (40/35 ff.);

dessen 2. Angebot, durch die Tarnkappe geschützt Mina von Rascal bedroht zu sehen 
(41/10 ff.), lehnt Peter ab;

der Graue zeigt Peter dessen Schatten als den Schatten des Grauen (42/9 ff.);

Bendel trifft ein, verprügelt und verfolgt den Grauen (42/34 ff.).

– Peter ist einsam (43/17 f.); // Ende Kap. V

er steht im Konflikt, ob er Minas wegen auf die Seele verzichten soll (43/21 ff.).

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Neuer Tag beginnt (44/9), es vergehen zwei Tage.

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Am vierten Tag (so 44/14 f., vgl. das Ultimatum des Försters!)

kommt ein Schatten allein daher (44/21 ff.),

erkämpft Peter sich das unsichtbarmachende Vogelnest (45/18 ff.)

und geht zum Forsthaus (46/7 ff.), von einem Unsichtbaren begleitet;

er erkennt den Grauen (47/1, mit Tarnkappe), der ihm das Vogelnest abnimmt (47);

er erhält dessen 3. Angebot: Schatten plus Mina (inklusive Bestrafung Rascals) plus Kappe gegen die Seele tauschen (47/27 ff.);

Peter sieht Rascal als Bräutigam und die verzweifelte Mina (48 f.) und ist deswegen drauf und dran, den Teufelspakt zu unterschreiben (49/17 ff.; 50/35 f.).

[Großer Kommentar, mit Anrede Chamissos 49/25 ff.] (wirkt wie Zeitdehnung!)

Peter fällt in Ohnmacht, statt zu unterschreiben (50/29-37). // Ende Kap. VI

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Am nächsten Tag, als er zu sich kommt, ist Mina verheiratet (51/1 ff.) [oder geschah das am gleichen Morgen?];

vom Grauen beschimpft, geht Peter nach Hause (bis 52/11);

Peter trifft Bendel, der ihm die Ereignisse „zu Hause“ erzählt (52/22 ff.),

er trennt sich von Bendel (53/17 ff.).

Es ist Nacht (53/34), er reitet los, er ist am Tiefpunkt seines Lebens angekommen (53/36 f.). // Ende Kap. VII

Ein Spaziergänger begleitet ihn.
[Kommentar 54/17-25, über die Bedeutung der inneren Stimme]

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Am anderen Morgen (55/2) erkennt er den Grauen als seinen Begleiter;
der leiht ihm seinen Schatten (55/20 ff.);

Peter will diesen entführen, was aber scheitert (bis 56/23);

er setzt die Reise mit Schatten und dem Grauen fort;

Peter berichtet, dass er damals erkannt hat, in welchen Konflikt er durch die Abhängigkeit vom verhassten Schattenverleiher gekommen ist (57/2-15).

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[unbestimmte Dauer] ->

„Einst“ führt(e) der Graue wieder verführerische Reden (57/16 ff.);

Peter erklärt in der Rückschau, dass so der entscheidende Kampf begann (57/31):

In einem Streitgespräch eröffnet der Graue ihm die Möglichkeit, ihn jederzeit mittels des Geldsäckels zu rufen;

als der Graue ihm auf Peters Frage Thomas John als arme Seele zeigt, ist Peter entsetzt, beschwört den Bösen und wirft den Geldsäckel fort (59/15 ff.). // Ende Kap. VIII

Auswertung: Es wird ein Geschehen erzählt, das sich über sechs Tage und einen weiteren („einst“) erstreckt, von denen aber zwei nur gestreift werden; insgesamt geht es darum, ob Peter den Teufelspakt abschließt, um seinen Schatten wieder zu bekommen, sei es um Minas oder seiner neuen Stellung in der Welt willen. Beim ersten Mal rettet ihn die Ohnmacht, beim zweiten Mal der Anblick des in die Hölle gefahrenen Thomas John. Beide Male findet er so die „richtige“ Lösung in seinem Konflikt.

[Erzähltechnisch sollte man die Steigerung in den Versuchen des Grauen, Peter zu verführen, würdigen; der zweite Konflikt ist notwendig, weil der erste ja nicht von Peter entschieden, sondern er durch ein gütiges Schicksal vor einer falschen Entscheidung bewahrt wurde.]

Zeitstruktur in Kap. IX – XI

– Fortsetzung: Ruhe und Heiterkeit nach der Beschwörung des Grauen (59/32 – 60/9);

– Peter träumt von schattenlosen Menschen (60/10-24)

————— (neuer Tag)

– Peter überlegt, was er tun soll, und geht los (60/25 ff.);

– Begegnung mit einem Bauern, der sich von ihm abwendet (61/8 ff.);

– Peter setzt die Wanderung zum Gebirge fort, über Stunden (61/35 ff.).

—————

ein paar Regentage (62/11-15)

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– Peter kauft auf einer Kirmes Stiefel und geht los (62/15 ff.),

– bemerkt, dass er nicht normal vorankommt (62/32),

– geht weiter durch viele Landschaften

– und erkennt, dass er Siebenmeilenstiefel besitzt (63/36 f.). // Kapitel IX zu Ende

– Er beginnt dankbar zu weinen und erkennt seine Lebensaufgabe (64/1 ff.).

[Kommentar 64/10-14]

– Er geht weiter und siedelt sich in der Thebais an (64/15 ff.), geht weiter…

– und versucht mehrfach vergeblich, nach Australien zu kommen (65/13 ff.).

[Kommentar 65/26-29]

–> Vorgriff: Oft hat er später diesen Versuch vergeblich wiederholt (65/30 – 66/6)

– kommt in der Nacht in die Thebais zurück, hat die Morgendämmerung überholt!

————— (neuer Tag)

– Peter schafft an, was er als Forscher alles braucht, und beginnt seine neue Lebensweise (66/13-36).

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Sammelbericht vom Forscherleben: unbestimmte Dauer (66/37 – 67/14); Ankündigung eines letzten Abenteuers (67/14 f.) // Kap. X zu Ende

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– Peter begegnet dem Eisbären, Unfall, Erkrankung; er fällt (67/17 – 68/10)

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– [unbestimmte Zeit später] Peter erwacht im Schlemihlium (68/11 ff.), hört einiges;

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– Sammelbericht („einige Zeit“): Genesung; er erfährt auch die Vorgeschichte des Schlemihliums und den Stand Bendels und Minas (68/32 – 69/21);

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– Peter hört die Unterhaltung seiner Freunde, schreibt zum Abschied einen Brief und bricht auf nach Hause (69/21 – 70/32).

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– Er setzt seine Arbeit fort (Sammelbericht: länger als ein Jahr, 70/32-36)

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Peter kommt im Heute des Erzählens an (71/1 ff.),

– blickt auf seine Arbeit als Forscher zurück und kurz voraus (71/7-27)

– und wendet sich mit den Schlussworten an Chamisso als den Bewahrer seiner Geschichte (71/28-35).

Auswertung: Die Geschichte mit dem Grauen ist glücklich überstanden, aber es gibt für Peter noch keine Perspektive (2 Tage) – er will sich mit der Schattenlosigkeit arrangieren. Der entscheidende Tag ist der des Stiefelkaufs; Peter erhält die Möglichkeit und das Verständnis einer neuen Lebensaufgabe und findet in der Wüste der Einsiedler sein Zuhause (S. 62/15 ff.). Vom nächsten Tag, an dem er die Vorbereitungen fürs Forscherleben trifft, geht es zum Sammelbericht von diesem Leben (66/13 – 67/14).

Das Bärenabenteuer mit anschließender Erkrankung bereitet auf wundersame Weise die Rückkehr ins Schlemihlium vor (67/17 – 68/10); die Art und Weise, wie Peter dorthin kommt, bleibt offen. Verschiedene Episoden (68/11-31; 69/21 – 70/5, mit eingeschobenem Sammelbericht) lassen ihn die alten Freunde unerkannt wieder erleben und die gute Wendung ihres Lebens begreifen; der Bericht von der Heimkehr leitet zur unbestimmten Fortsetzung seines Forscherlebens über.

Im Heute gibt Peter seine Einschätzung der eigenen systematisch betriebenen Arbeit preis und auch seinen Auftrag und Rat an Chamisso als den Leser seines Berichts (und damit indirekt an die Leser der Novelle, die ja „später“ von Fouqué herausgegeben wird, der das Stichwort „bewahren“ aufgreift, vgl. 71/29 f. mit S. 4 f. und 6/2 ff.).

2. Interpretation

Die Interpretation dieser Erzählung muss beim Schlusskapitel ansetzen. Der Erzähler sagt seinem Freund Chamisso (vgl. 13/9 ff.; 17/21 ff. usw.), er solle seine wundersame Geschichte aufbewahren, damit sie noch manchen Menschen „zur nützlichen Lehre gereichen könne“ (71/28 ff.). Seinen Freund (Chamisso) stellt er dann vor eine Wahl: Willst du „unter den Menschen leben“ oder willst du „nur Dir und Deinem besseren Selbst leben“ (71/32 ff.)? Für beide Fälle hat er etwas zu sagen: 
Im Fall a) lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld! Diese Lehre ergibt sich aus dem, was er in Kap. I – VIII erzählt hat; denn ohne „Schatten“ nützt das schönste Geld nichts – Gangster wie Rascal schnappen einem selbst eine liebende Frau vor der Nase weg. 
Für den Fall b) gilt: Du brauchst keinen Rat. Diesen Weg hat Schlemihl selber beschritten (Kap. IX ff.).

Das bessere Selbst ist jenes Urbild des eigenen Lebens (64/10), was bei Platon „die Idee“ heißt und das einem erscheinen kann, wenn man wie Peter bereit ist, es  aufzunehmen; es ist das eigene Selbst, zu dem man aus seinem „Schlafen“ erwachen kann oder erweckt werden muss, wie später Mina und Bendel bekennen (69/25 ff. – siehe unten!). Die Heiterkeit der Seele bezeugt, dass man sein besseres Selbst gefunden hat.

Woher weiß man aber, was zu tun ist, wenn man meinem besseren Selbst leben will? Das weiß einmal der Erzähler selber, das sagen dann auch Mina und Bendel im Schlemihlium in einem Gespräch, dem der Erzähler wunderbarerweise unerkannt zuhören darf. Der Erzähler erklärt, wie er dem teuflischen Angebot widerstehen konnte, seine Seele für den Schatten herzugeben, was ihm der graue Mann intellektuell brillant nahelegte (54/12 ff.: „das Wort aufzufinden, das aller Rätsel Lösung sei“). Der Erzähler vertraute gegen die intellektuellen Spiele seinem geraden Sinn und folgt wie auch sonst „der Stimme in mir, so viel es in meiner Macht gewesen, auf dem eigenen Wege“, womit er auch einen Rat Chamissos befolgte (54/22 ff.). Das führt dazu, dass er schließlich ohne Geld und Schatten dasitzt, aber heiter ist (59/31 ff.).

Ferner sagt er selber es in einem großen Kommentar, in dem er die Bedeutung seiner Ohnmacht reflektiert (49/25 ff., der Anfang von Kap. VII); in dieser Ohnmacht trat „ein Ereignis an die Stelle einer Tat“ (54/18). Das erklärt er später so: „Es war nicht ein Entschluss, den ich fasste.“ (64/9) Vielmehr „stand plötzlich meine Zukunft vor meiner Seele. Durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen Garten gegeben, das Studium zur Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft.“ Er hat das Urbild seines wahren Lebens gesehen (64/3 ff.). Diese Einsicht ist ihm aus dem zufälligen Kauf der Siebenmeilenstiefel aufgegangen.

Die passivische Wendung („ward [bzw. wurde] gewiesen“) weist auf die frühere Äußerung Schlemihls im Kommentar zurück: Ein Ereignis bringt es mit sich, dass man sich ihm beugen muss („Notwendigkeit“); wenn man diese Notwendigkeit „als eine weise Fügung“ verehren lernt, dann kann man sich mit sich selber versöhnen (50/18 ff.). Dadurch erreicht man jene Heiterkeit, die Schlemihl findet (59/33), wie Mina sie längst gefunden hat (69/28).

Damit kommen wir zur zweiten Stimme, welche dem Freund sagt, was zu tun ist: Durch eine erneute Ohnmacht (!) ist Schlemihl ins Schlemihlium gekommen und darf das Gespräch seiner Lebensgefährten Mina und Bendel anhören. Mina legt dar, dass sie einen Traum (was der Inhalt des Traums war, bleibt ungesagt – Goldbesitz? vielleicht auch die Traumexistenz der noch nicht Erwachten?) „ausgeträumt“ hat „und in mir selber erwacht bin“ (69/26). Sie bescheinigt Bendel die gleiche Heiterkeit, die daraus fließt, „dass Sie jetzt auf so gottselige Weise Ihrem Herrn und Freunde dienen“, nämlich durch seine Arbeit als Anstaltsleiter und Pfleger im Schlemihlium (69/29 ff.). Beide leben sie jetzt ihrem besseren Selbst; sie haben, wie Bendel sagt, „das erste Gaukelspiel“ ihres Lebens abgeschlossen – eine Analogie zur von Mina genannten Traumexistenz (69/31 ff.). Indem er darlegt, dass sie nun „den wirklichen Anfang erwarten“ (69/36), begibt Bendel sich auf die Bahn des christlichen Glaubens.

Es ist richtig, mit der Literaturgeschichte von Wolfgang Beutin u. a. (Metzler, 3. Aufl. 1989) in der Schlemihl-Erzählung die Entfremdungsproblematik zu sehen (S. 195). Durch das Fehlen des Schattens ist man nur den anderen fremd; die wahre Selbstfindung (oder Selbstverwirklichung) müssen jedoch auch jene leisten, welche sowohl Geld wie Schatten haben – bzw. auch im Besitz des Schattens kann man selbstentfremdet leben, wie Rascal zeigt und wie Mina und Bendel bezeugen.

Damit habe ich die großen Linien einer Interpretation gezeichnet. Man versteht also die Erzählung Chamissos (noch) nicht, wenn man literarturgeschichtlich die Zeugnisse von Doppelgängern und Schattenexistenzen erforscht, das Motiv des Teufelspaktes (den Schlemihl ja gerade nicht schließt!) identifiziert oder die Geldgier als anfänglich treibendes Motiv Peter Schlemihls im historischen Kontext des frühen Kapitalismus untersucht. Ein methodischer Fehler wäre es, wenn man „das bessere Selbst“ oder „das höhere Selbst“ (Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I 629) nur aus seinem eigenen Verständnis oder gar aus dem heutigen Sprachgebrauch aberwitziger Esoteriker oder Reiki-Anhänger erklärte, die auf einem ganz anderen Weg als Peter Schlemihl und Mina zu ihrem höheren Selbst finden.

Für die Metaphorik von „schlafen/erwachen“ verweise ich auf meinen Aufsatz unter http://norberto42-2.blog.de/2005/07/ bzw. http://also.kulando.de/post/2007/01/05/schlafen_-_erwachen_-_aufstehen_ein_metaphernfeld; dass man zuletzt auf sich selbst verwiesen bleibt (oder sein sollte), sagt Theodor Storm im Gedicht „Für meine Söhne“ (http://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/Storm/soehne.htm) in der letzten Strophe:

„Wenn der Pöbel aller Sorte

Tanzet um die goldnen Kälber,

Halte fest: du hast vom Leben

Doch am Ende nur dich selber.“

Zum ursprünglich religiösen Motiv „seine Seele verkaufen“ (vgl. Mt 6,19 ff.) siehe http://www.amertin.de/aufsatz/2002/simpsons.htm; Goethes „Zauberlehrling“ erhält vom holden Knaben eine ganz andere Lehre als Chamisso von Schlemihl (man könnte diese aber durchaus zur Deutung des Schattens heranziehen!). Eine moderne Anwendung (Auslegung) des Bildes vom grauen Mann findet sich in dem Aufsatz http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2002/0831/magazin/0001/index.html. Eine eher nette Glosse steht in der FAZ.

Schlemihls Bekenntnise

Chamissos Novelle wird durchweg in die beiden formalen Kategorien „Märchen“ und „Novelle“ oder eine Kombination beider eingeordnet. Mit dem Stichwort „Bekenntnisse“ möchte ich auf einen Aspekt des Inhalts hinweisen, den ich bisher nicht in der Literatur gefunden habe: dass Chamissos Novelle zu den Büchern gehört, in denen jemand eine Lebensbeichte ablegt. Der Bischof Augustinus hat um 400 als erster „Confessiones“ abgelegt, also in einem Gespräch mit Gott sein Leben erzählt und Gott für die Erlösung vom Irrweg gedankt; 1782 hat Rousseau seine „Bekenntnisse“ herausgegeben. Am 26. September 1813 hat Schlemihl seine Beichte bei Chamisso abgegeben – das ist natürlich Fiktion, wie ja der ganze Brief Chamissos an Hitzig die fiktive Freundschaft mit Peter Schlemihl darstellt.

Chamisso selber charakterisiert die bei ihm abgegebenen „Blätter“ (5/19) als „Beichte, die ein ehrlicher Mann im Vertrauen auf meine Freundschaft und Redlichkeit an meiner Brust ablegt“ (5/6 f.). Schlemihl betont diesen Zug des Beichtens, als er seine Erzählung vom seinem Goldrausch unterbricht (17/21) und bekennt, diesen Goldrausch vor Chamisso „zu gestehen“ mache ihn beim Erzählen noch erröten (17/21 ff.). Den zweiten, noch bedeutenderen Hinweis auf den Aspekt des Beichtens gibt Schlemihl in seinem wichtigsten Kommentar (49/25 ff.), den er so beginnt: „Ich werde mich Deinem Urteil bloß stellen, lieber Chamisso, und es nicht zu bestechen suchen.“ Mit diesem Kommentar begleitet Schlemihl die Erzählung davon, wie er drauf und dran war, den Teufelspakt zu unterzeichnen (49/22 f. und 50/39 f.), und wie ihn eine Ohnmacht davor bewahrte. Davor hat er seinen Konflikt (vgl. auch 44/4 f.!) erklärt: Aus Liebe hat er Mina an sich gebunden und müsste sie nun vor ihrem Verderben (Heirat mit Rascal) retten – anderseits hat er gegen den Grauen und eine Gemeinschaft mit ihm einen unüberwindlichen Hass (50/3 ff.). Die Ohnmacht erspart ihm die Entscheidung in diesem Konflikt (50/16 ff.) – die eigene Entscheidung holt er später im Entsetzen über die Höllenfahrt Thomas Johns nach (59/24 ff.).

In den Zusammenhang der Beichte passt auch die Redeweise vom geraden Weg (49/32 f.; vgl. 50/14) und vom eigenen Weg (54/25), den Schlemihl mit geradem Sinn (54/23) wählt, während er „diesen rätselhaften Schleicher auf krummen Wegen“ (50/13 f.) hasst.

Erst recht passt das Bekenntnis, das er zur Erläuterung seiner Erleuchtung und der neuen Lebenssicht ablegt (64/2 f.), zur Beichte: „Durch frühe Schuld von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz … an die Natur gewiesen“ (64/4 ff.). Wenn man die „Schuld“ Chamissos untersucht, relativiert sie sich dahin, dass er angesichts der Möglichkeit, Fortunati Glückssäckel zu bekommen, von Sinnen war und von einem „Schwindel“ befallen wurde (15/17 ff., 16/4-6), nur dass er dort (anders als beim Anblick der Seele Thomas Johns, 59/24) dem gespürten Entsetzen nicht nachgab; ähnlich erging es ihm im oben genannten Konflikt (44/4 f.), doch enthebt ihn die Ohnmacht in diesem Konflikt einer Entscheidung. Dass er in einem Konflikt gestanden hat, wird beim zweiten Mal deutlich gesagt (57/28 und 57/30).

Auch in seinem Brief an die alten Freunde bekennt Schlemihl, dass er seine Behinderungen als „Buße der Versöhnung“ (70/12) versteht. Er hat sich selbst gerichtet (49/26 f.) und hat sich später mit seinem Schicksal versöhnt, als er die schicksalhaften Notwendigkeiten der Schattenlosigkeit als weise Fügung zu verstehen gelernt hat (50/18 ff.). So wird auch klar, wieso sein Bekenntnis anderen Menschen zu Belehrung gereichen könnte und wieso Chamisso keinen Rat braucht (71/28 ff.)

(Alle Sperrungen in den Zitaten stammen von mir.)

Eine Bemerkung von Lars aufgreifend möchte ich anmerken, dass auch mir eine gewisse Nähe der Erzählung zu „Faust I“ aufgefallen ist; das ist nicht nur durch die zeitliche Nähe (1806 – 1813), sondern auch durch das Motiv des Teufelspaktes bedingt. Dieser wird im „Faust“ schon nur als „Wette“ abgeschlossen, im „Schlemihl“ kommt sogar nur die Pakt-Vorform des Schattenverkaufs zum Tragen.

Auch spricht der Graue wie Mephisto manchmal Wahrheiten aus, die vom jeweiligen Partner nicht ganz verstanden werden, z.B. dass Peter seinen Schatten „von sich“ wirft (14/19 – statt nur: einen Schatten werfen) oder dass dies ein unschätzbarer Schatten ist (14/33 f.), was Peter erst später zu ahnen beginnt (17/4 ff.).

Faust unterscheidet sich aber wahrlich nicht nur in Liebesangelegenheiten von Peter; das Grauen Gretchens vor dem Teufel (V. 3471 ff.) hat nun Peter selber, da er wie Gretchen, aber anders als Faust letztlich eine reine Seele hat. Die Worte des Herrn im „Prolog im Himmel“ können deshalb sinngemäß in der Reflexion Peters auftauchen (Kommentar S. 49 f.). – Benno von Wiese betont, dass Peter dem Alltäglichen nahtrauere, vielleicht etwas zu stark;  aber vom Geniekult des 18. Jahrhunderts ist wahrlich nicht viel zu spüren – Peter ungewöhnliche Leistungsfähigkeit kommt nicht aus ihm selbst, sondern aus einem Zufallsfund!

Als reizvoll empfinde ich auch einen Vergleich mit Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling“ (1798); da sucht der Erzähler einen Teufelspakt abzuschließen, aber er wird von einer Lichtgestalt belehrt. Zu prüfen wäre, was der „Mut des reinen Lebens“ ist – der Erzähler wird jedenfalls in die Normalität des harten Arbeitens und des seltenen, aber regelmäßigen Feierns gewiesen: Seine falsche Weltsicht wird korrigiert, das ist alles.

3. Aufbau

In Kap. I wird die Ausgangssituation des späteren Geschehens erzählt:
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Peter fragt sich deshalb: „was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden?“ (17/10)
Der erste Teil des Geschehens besteht daraus, dass Peter bzw. der graue Mann versuchen, den Verlust des Schattens rückgängig zu machen: Peter versucht, ________________________________________________________________________________
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Als Peter seinem Diener Bendel bekennt, dass er keinen Schatten hat (23/34), tritt eine erste Besserung seines Zustandes ein.
Der graue Mann unternimmt drei Versuche, Peter den Schatten wieder zu verkaufen:
1. _____________________________________________________________________________
2. _____________________________________________________________________________
3. _____________________________________________________________________________
Einmal rettet eine Ohnmacht Peter vor der Versuchung, auf das Angebot des grauen Mannes einzugehen (50/35 f.). – Diese Ohnmacht wird erzählerisch von einem großen Kommentar begleitet (49/25 ff.). Wie lautet der Kernsatz des Kommentars? ________________________________________________________________________________
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Am Ende des ersten Teils ist Peter verzweifelt; „denn ich hatte weiter auf Erden kein Ziel, keinen Wunsch, keine Hoffnung“ (53/36 f.); der erste Teil endet mit Kap. VIII.
Mit Kap. IX erlebt und setzt der Erzähler einen Neuanfang (2. Teil) seines Lebens:
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Dieser zweite Teil ist dadurch bestimmt, dass dem Erzähler seine Zukunft klar „vor meiner Seele“ (64/3 f.) steht:

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Siehst du, wie sich hier der Kernsatz des Kommentars (S. 49 f.) bewahrheitet?
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Kap. XI bildet den versöhnlichen Abschluss des Geschehens, der wiederum durch eine Ohnmacht eingeleitet wird (68/10):

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Der letzte Absatz gibt einige Aufschlüsse über den Erzähler und seine Erzählung (71/28 ff.). Wir müssen jetzt noch klären, was mit „Schatten“ gemeint ist!

http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Novellen/chamisso.htm (Inhalt, Literatur)
http://www2.digitale-schule-bayern.de/dsdaten/17/102.html (Komm. Weiß, Kap. 1-8)
http://www.lesekost.de/Klassik/HHLKL6.htm (Bemerkungen Huber)
http://www.re.shuttle.de/re/mcg/deutsch/schlemih.htm (naiver Kommentar)
http://clan.ch/wyss/chamisso.htm (beinahe völlig gleich!)
http://www.ph-heidelberg.de/wp/rank/fantastik/THEORIEN/patzelt/pat_04.htm (Phantastik in der Literatur)

Nachtrag (10/2010):

http://www.schule-bw.de/unterricht/faecher/deutsch/unterrichtseinheiten/texte/schlehmil.pdf (Bedeutung des Schattens)

http://de.wikipedia.org/wiki/Doppelgänger (Lit. Motiv: Doppelgänger)

http://limotee.ch/teufelsbundner/ (Lit. Motiv: Teufelspakt, Teufelsbündner)

http://www.e-teaching-austria.at/02_cont/03content/03_deutsch/laptop7a/referat/schlemihl.ppt (11 Folien)

http://www.co-lab.ch/fab/downloads/vortrag_manfred2.pdf (Interpretation im Rahmen einer Zeittheorie: Antike / Moderne / Postmoderne)

http://www.dokumente-online.com/thomas-manns-essay-chamisso-seminararbeit-deutsch-heinrich-heine-universitaet-duesseldorf-2009.html (zu Thomas Manns Essay „Chamisso“)

http://www.pitt.edu/~dash/schlemihl.html (Text) und noch einige Schülerarbeiten (i.W. Nacherzählungen)

Inzwischen gibt es eine neue Ausgabe in der Suhrkamp BasisBibliothek.

Entdeckung 2010: In Andersens Märchen „Der Schatten“ wird die Geschichte umgedichtet (mit Anspielung auf Chamissos Erzählung) und weitergesponnen: Ein Gelehrter verliert seinen Schatten, der sich dann selbständig macht und zu einem Menschen wird; der, selber schattenlos, will seinen Herrn als Schatten gewinnen. Er überredet ihn zu einer Reise und macht sich dessen Gelehrsamkeit zunutze; als er Gelegenheit hat, eine Königstochter zu heiraten, weigert sich der Herr, der bereits „Sie“ zum Schatten sagen muss, den Betrug mitzumachen. Der Schatten lässt ihn verhaften und umbringen, heiratet selber jedoch die Königstochter. – Diese Erzählung ist anfangs mit dem Motiv verbunden, dass der Gelehrte von der Poesie verzaubert wird, die doch niemand zu Gesicht bekommt und in deren Räume er seinen Schatten schickt; der Schatten seinerseits ist so stark geworden, weil er sich in der Nähe der Poesie selbst begriffen hat und so Mensch geworden ist, der dann sieht, was niemand sehen soll: „Übles bei den Nachbarn“; mit dieser Kenntnis hat er die anderen unter Druck gesetzt, ihn reich zu machen. Dieses Poesie-Motiv verschwindet später völlig hinter der Schattengeschichte, ein Schwäche dieser Erzählung.

Vergleiche auch die Erzählung „Schlemiel“ von Leopold H. Kompert, in „Aus dem Ghetto. Sechs Erzählungen“, Leipzig o. J. (https://archive.org/details/ausdemghetto00kompuoft/page/46), wo auch die Bedeutung von „Schlemiel“ erklärt wird. Von E. T. A. Hoffmann gibt es die Erzählung „Das verlorene Spiegelbild“, die ersichtlich nach dem Vorbild von Chamissos Novelle geschrieben ist: https://www.projekt-gutenberg.org/etahoff/spiegel/spiegel.html. Ganz anders ist Gogols Erzählung „Die Nase“ (http://www.zeno.org/Literatur/M/Gogol,+Nikolaj+Vasilevi%C4%8D/Erz%C3%A4hlungen/Die+Nase) konstruiert, wo die verlorene Nase nach einiger Zeit wieder an ihren Platz zurückkehrt.