Droste-Hülshoff: Im Moose – Text und Analyse

Droste-Hülshoff: Im Moose

Als jüngst die Nacht dem sonnenmüden Land
Der Dämmrung leise Boten hat gesandt,
Da lag ich einsam noch in Waldes Moose.
Die dunklen Zweige nickten so vertraut,
An meiner Wange flüsterte das Kraut,
Unsichtbar duftete die Heiderose.

Und flimmern sah ich durch der Linde Raum
Ein mattes Licht, das im Gezweig der Baum
Gleich einem mächt’gen Glühwurm schien zu tragen,
Es sah so dämmernd wie ein Traumgesicht,
Doch wußte ich, es war der Heimat Licht,
In meiner eignen Kammer angeschlagen.

Ringsum so still, daß ich vernahm im Laub
Der Raupe Nagen, und wie grüner Staub
Mich leise wirbelnd Blätterflöckchen trafen.
Ich lag und dachte, ach, so manchem nach,
Ich hörte meines eignen Herzens Schlag,
Fast war es mir, als sei ich schon entschlafen.

Gedanken tauchten aus Gedanken auf,
Das Kinderspiel, der frischen Jahre Lauf,
Gesichter, die mir lange fremd geworden;
Vergeßne Töne summten um mein Ohr,
Und endlich trat die Gegenwart hervor,
Da stand die Welle, wie an Ufers Borden.

Dann, gleich dem Bronnen, der verrinnt im Schlund
Und drüben wieder sprudelt aus dem Grund,
So stand ich plötzlich in der Zukunft Lande;
Ich sah mich selber, gar gebückt und klein,
Geschwächten Auges, am ererbten Schrein
Sorgfältig ordnen staub’ge Liebespfande.

Die Bilder meiner Lieben sah ich klar,
In einer Tracht, die jetzt veraltet war,
Mich sorgsam lösen aus verblichnen Hüllen,
Löckchen, vermorscht, zu Staub zerfallen schier,
Sah über die gefurchte Wange mir
Langsam herab die karge Träne quillen.

Und wieder an des Friedhofs Monument,
Dran Namen standen, die mein Lieben kennt,
Da lag ich betend, mit gebrochnen Knieen,
Und — horch, die Wachtel schlug! Kühl strich der Hauch —
Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch,
Mich leise in der Erde Poren ziehen.

Ich fuhr empor und schüttelte mich dann,
Wie einer, der dem Scheintod erst entrann,
Und taumelte entlang die dunklen Hage,
Noch immer zweifelnd, ob der Stern am Rain
Sei wirklich meiner Schlummerlampe Schein,
Oder das ew’ge Licht am Sarkophage.

Die Überschrift „Im Moose“ gibt an, wo das erzählte Geschehen sich abspielt: Kürzlich lag das lyrische Ich in der Abenddämmerung im Moos des Waldes und hing seinen Gedanken nach. Das Ich ist weder als Frau noch als Mann zu erkennen – die maskuline Form beim Vergleich „wie einer…“ (V. 44) besagt nichts über das Geschlecht der sprechenden Figur, da vermutlich ein generisches Maskulinum vorliegt.

Das 1842 entstandene Gedicht ist folgendermaßen aufgebaut: In den ersten sieben Strophen wird erzählt, wie das Ich im Moos lag und was es dabei erlebte; in der letzten Strophe wird berichtet, wie es aufsprang und wie ihm dabei zumute war. Der erste Teil ist noch einmal unterteilt: In Strophe (1)-(3) wird erzählt, wie das Ich da lag, was es dabei wahrnahm und tat; in Str. (4)-(7) berichtet es von den Gedanken, die ihm dabei durch den Kopf gingen: Gedanken an seinen Lebensgang, vor allem an das künftige Altern und Sterben. Was wird erzählt? In der vordergründig heimeligen Situation, wo das Ich in der Dämmerung im Moos liegt, begegnet es in Gedanken seinem Altern und seinem Tod; es springt entsetzt und noch benommen auf und taumelt davon.

Die Situation der Dämmerung (V. 2) wird in den drei ersten Strophen dynamisch gesehen; das Land ist sonnenmüde (V. 1, ein Neologismus), die Nacht hat schon ihre Boten gesandt: die Dämmerung (V. 1 f.) – die Nacht zieht sozusagen die Zeit oder den Sonnentag zu sich heran. Die Attribute der Dämmerung selbst verraten das nicht (dunkle Zweige, V. 4; mattes Licht, V. 8; dämmernd, V. 10); aber im Vergleich „dämmernd wie ein Traumgesicht“ ist schon die Nacht mit dem Schlaf präsent, ebenso im irrealen Vergleich „als sei ich schon entschlafen“ (V. 18). Das Partizip „entschlafen“ meint hier zunächst „eingeschlafen“, lässt aber mit dem Unterton „gestorben“ schon die Todesbilder von (7) anklingen: Die Parallele ‚Übergang der Natur zur Nacht // Übergang des Ichs zum Tod‘ ist an dieser Stelle direkt greifbar, beherrscht sonst untergründig das erzählte Geschehen. Zu dieser Parallele gehören auch die Personifikationen der Natur: Die Nacht sendet Boten (V. 1 f.); die Zweige nicken (V. 4); das Kraut flüstert (V. 5); (indirekt) das Licht als der Heimat Licht (V. 11), also als Schlummerlampe (V. 47): Teil dieser dämmernden Natur, die der Nacht entgegenstrebt, ist das Ich, das im Geist seiner Nacht, seinem Tod entgegensieht und -geht (7). Auch ist das Ich nicht vom Reden und Lärmen der Menschen umgeben, sondern von der Stille der Natur (flüstern, V. 5; still, V. 13; leise, V. 15; der Herzschlag ist zu hören, V. 17). Viertens weiß das Ich, dass das matt durch die Bäume scheinende Licht „der Heimat Licht“ (V. 11) ist, die Lampe des eigenen Zimmers – Signal der Einheit von Natur und Ich.

Was die Flora in (1) und (2) angeht, bin ich unsicher; ich halte die Heiderose (V. 6) für kein Waldgewächs und die Linde (V. 7) für keinen Waldbaum, lasse mich aber gern eines Besseren belehren; in Jüchen stehen Linden auf dem aufgegebenen Judenfriedhof.

Die Form der Strophen ist durchweg die gleiche: Sechs Verse aus fünfhebigen Jamben machen eine Strophe aus; das Reimschema ist a-a-b-c-c-b, wobei die b-Verse eine Silbe zusätzlich haben (weibliche Kadenz), während die anderen Verse eine männliche Kadenz aufweisen und so nicht nur durch den Reim zusammengehören. Jeweils drei Verse bilden einen Satz bzw. eine semantische Einheit. In (1)-(3) ist das offensichtlich, in den anderen Strophen (v.a. in den drei letzten) wäre das nachzuweisen; nur in (6) bildet die ganze Strophe diese semantische Einheit. Die Reime dienen durchweg nur dem Wohlklang: Die Verse mit den b-Reimen sind weit voneinander entfernt, bei den anderen Reimen stellen die beiden Verse manchmal Parallelen dar (V. 4/5; 16/17), manchmal geht der zweite Vers grammatisch direkt in den b-Vers über (V. 8 f.; 11 f.; 14 f.) – das Bild von Reim, Sinn und Satz ist also nicht einheitlich. Der Jambus dient dem ruhigen Erzählen, die weiblichen Kadenzen markieren zusätzlich zum Satzbau eine Pause.

Ich lag und dachte, ach, so manchem nach…“ (V. 16); mit diesem Vers wird der Raum für verschiedene Gedanken eröffnet. Die Interjektion „ach“ zeigt an, wie das Ich von seinem Gedankenspiel bewegt wird. „Ach“ ist „der natürliche Ausdruck nicht nur aller Leidenschaften, mit allen ihren Schattirungen, sondern auch aller Gemüthsbewegungen und lebhaften Vorstellungen überhaupt“ (Adelung), hier am ehesten Ausdruck der Wehmut, da das Ich zunächst auf seine Vergangenheit zurückblickt (V. 20 ff.). Die „Gedanken“ (V. 19), von denen das Ich berichtet, sind Bilder; dreimal erwähnt das Ich, dass es etwas „sah“ (V. 28, 31, 35); ein Gedanke ergibt sich aus dem anderen (V. 19), ein Bild folgt auf das nächste, sogar „[v]ergessne Töne“ kann das Ich wieder hören (V. 22). Drei Verse sind den Erinnerungen gewidmet, zwei der Gegenwart (V. 23 f., eigentlich sogar nur V. 23), die aber nur pauschal genannt wird und eher zur Zukunft überleitet (V. 25 ff.), der viel Platz in den Gedanken eingeräumt wird. Das Bild der Gegenwart in V. 24 muss noch gedeutet werden: Welche Welle stand da? Ich denke an Goethes Gedicht „Dauer im Wechsel“ (1804) und nehme an, dass auch die Droste das Gedicht und das Bild der rollenden Welle kannte: „Und was sich an jener Stelle / Nun mit deinem Namen nennt, / Kam herbei wie eine Welle / Und so eilt’s zum Element.“ (V. 29-32) Die Gegenwart ist dann der Moment, wo die Welle stillzustehen scheint , „wie an Ufers Borden“; dieser Vergleich ist nicht ganz gelungen, da die Wellen ja am Ufer entlang ziehen (oder dagegen schlagen, jedenfalls nicht stehen bleiben).

Mit einem eigenwilligen Vergleich leitet das Ich dann zu den Bildern seiner Zukunft über; Gegenwart und Zukunft sind dem Ich zwei getrennte Größen, die unterirdisch miteinander verbunden sind wie zwei Brunnen mittels einer kommunizierenden Röhre (oder wie die Donau bei ihrem zeitweiligen Verschwinden, s. Artikel „Donauversinkung“ in Wikipedia). Durch dieses Bild wird erklärt, wieso das Ich „plötzlich“ (V. 27) sich in der Zukunft sah. Die erste Situation, in der das Ich sich erblickte, ist die eines alten Menschen, der „staub’ge Liebespfande“ im Schrank oder auf einem Bord ordnet (V. 28-30), der Bilder seiner Lieben zur Betrachtung aus ihren Hüllen herausnimmt (V. 31-33), auch beinahe verrottete Löckchen (V. 34), und der darüber vor Rührung weinen muss (V. 35 f.) – der Zustand der Locken („zu Staub zerfallen schier“, V. 34), die zudem Locken einer verstorbenen Person sind, führt dem Ich den Weg aller Lebenden vor Augen und berührt es so, dass es weinen muss. Die Merkmale des Alters sind vielfältig: gebückt und klein (V. 28), geschwächtes Auge (V. 29), gefurchte Wange (V. 35), karge Träne (V. 36). Diese Todesnähe wird in der folgenden Strophe in zwei weiteren Bildern realisiert: Das Ich sah sich am Familiengrab knien oder liegen (V. 37-39) und dann sich selber als verwesende Leiche (V. 40-42). Von den Lieben sind nur noch die Namen übrig (V. 38), nur im Gebet gibt es noch eine Verbindung zu ihnen (V.39); dass das Ich am Grab „lag“, gar „mit gebrochnen Knieen“ (V. 39), durch diese Tatsache rückt es selber in die Nähe des Todes. Im letzten Bild (V. 40-42) sah das Ich dann sein Auflösung in der Erde, von deren Poren es aufgesogen wird (V. 41 f.), weil es zu ihr gehört; im Vergleich „gleich einem Rauch“ (V. 41) ist ihm schon alle Substanz entzogen, ist es pure Vergänglichkeit wie der Rauch, der dahinzieht und verweht. Die einleitenden Signale sind der Ruf der Wachtel und ein kühler Hauch; ob die Wachtel über ihre pure Existenz als Vogel hinaus hier etwas zu bedeuten hat, kann ich nicht ausmachen, der kühle Hauch deutet die Nähe der (ewigen) Nacht an. Das Adverb „leise“ (V. 42) nimmt die Stille der Dämmerung in der Eingangssituation (3) auf, wo der Lärm des Tages und des Lebens längst verklungen ist.

Ich fuhr empor“ (V. 43), berichtet das Ich; dass es sich schüttelte, bezeugt sein Erschrecken – vor dem letzten Bild, muss man logisch ergänzen, und der Vergleich bestätigt das: „Wie einer, der dem Scheintod erst entrann“ (V. 44), den man also gerade begrub oder schon begraben hatte, der zumindest bereits herausgeputzt im Sarg lag und dessen inne wurde. Auch das Taumeln (V. 45) zeugt von dem Schrecken, der das Ich ergriffen hat. Das Bild des eigenen Todes war immer noch nicht verschwunden, ließ das Ich zumindest an der Bedeutung des Lichtscheins zweifeln: War der ein Zeichen des Lebens oder des Todes? (V. 46-48) – Der „Stern am Rain“ (V. 46) ist entweder das matte Licht (V. 8) der Ausgangssituation oder ein Stern als Licht der Nacht, die inzwischen hereingebrochen war; die Gleichsetzung mit „meiner Schlummerlampe Schein“ (V. 47, vgl. 11 f.) ist problematisch, weil die heimelige Situation „Im Moose“ durch den Schrecken und das Aufspringen vergangen ist und in V. 11 f. auch keine wirkliche Identität mit der Zimmerleuchte hergestellt wurde. So kann ich der Schlummerlampe Schein nur im Kontrast zum „ew’ge[n] Licht am Sarkophage“ (V. 48) verstehen: Licht als Anzeichen sicheren oder beendeten Lebens, worüber das Ich im Zweifel war.

Das Ich hat von diese ereignisarmen und doch so wichtigen Stunde ruhig erzählt; einige Taktstörungen am Versanfang, wo die erste Silbe statt der zweiten betont wird (V. 6, 9, 13, 18 u.a.), machen das Erzählen ein wenig lebhafter.

Es wäre interessant, dieses Gedicht mit „Im Grase“ (1844) zu vergleichen; auch dort spielt die Linde eine Rolle, in einer friedvollen Situation drängen sich Todesahnungen auf, doch zum Schluss wird das Leben stürmisch bejaht.

https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/ausgabe-1844/fels-wald-und-see/im-moose/ (ursprüngliche Textform 1842)

https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/gedichte-1844-1848/im-grase/ (Droste-Hülshoff: Im Grase, 1844)

https://www.uni-goettingen.de/de/symbolik-der-linde/41770.html (Symbolik der Linde)

https://www.lwf.bayern.de/wissenstransfer/forstliche-informationsarbeit/144564/index.php (dito)

Der dumme Hans – Nr. 2

Der dumme Hans

Es war einmal eine alte, alte walachische Frau, die hatte einen Enkel, der hieß Hans, der machte allerlei dumme Streiche und Possen, und die Leute im Dorf nannten ihn nur schlechtweg den dummen Hans, und wer ihm einen Schabernack spielen konnte, der tat es; denn es gab dann immer etwas zum Lachen, doch das alles musste dann teuer bezahlt werden, wie unser Märchen zeigt.
Von seinem Vater hatte Hans ein steinernes Haus geerbt, in dem war nur das hintere Zimmer bewohnbar, das vordere war verfallen und hatte keine Fenster und keine Türen, und so wurde es nicht nur von Hunden, sondern auch von mutwilligen Jungen und Nachbarn ganz verdreckt. Das sah der dumme Hans und lachte nur darüber, und wenn ihn die Leute ärgerten, sagte er: »Der Mist soll mir noch viel Geld eintragen.«
Eines Tages nahm er seinen Wagen, spannte seine beiden Kühe an und fuhr vor sein Haus. In ein Fass mit eisernen Reifen brachte er den ganzen Unrat aus dem verfallenen Zimmer, goss Wasser darüber, schloss dann fest zu und strich das Fass von außen prächtig an; er zog weit, weit fort, so dass man glaubte, er sei verschwunden. Nach hundert Tagen aber gelangte er spät abends an einen großen Edelhof. Er ging hinein, bat um Herberge und sagte, er komme gerade aus dem Mohrenland und hätte in dem Fass für den König das Wasser des Lebens; wer davon trinke, werde wieder jung, und es wolle der alte König noch nicht sterben, sondern wieder jung werden. Da wurde er von dem Edelmann ehrenvoll aufgenommen und bewirtet, und man gab ihm die Versicherung, es solle ihm kein Schade geschehen. Alle Diener des Hauses mussten in der Nacht Wache stehen. Sie hatten aber gehört, was der Fremde von dem Wasser des Lebens mit seinem Herrn gesprochen hatte, und es wässerte ihnen den Mund nach dem Zaubertrank, und auch dem Edelmann ließ es keine Ruhe. Er gab daher den Dienern den Auftrag, das Fass zu öffnen und ein wenig zu schöpfen. Es war aber das Fass so fest verschlossen, dass die Diener nur mit großer Mühe das ganze Spundholz herausziehen konnten. Kaum war das geschehen, so wären fast alle beinahe davongelaufen; denn es kam ihnen ein so bekannter widerlicher Geruch in die Nase, dass sie es fast nicht aushalten konnten. Doch was tut der Mensch nicht, um nur wieder jung zu werden, wenn er eine Möglichkeit sieht! So schöpften sie denn aus dem Schaff, in das sie ein wenig herausgelassen hatten, und tranken mutig und beherzt, trugen ein Glas voll zu ihrem Herrn, machten darauf das Fass zu und suchten alle Spuren zu verwischen. Als am frühen Morgen der Fremde in den Hof kam und alles untersuchte und es so vorfand, wie er‘s sich gedacht hatte, nämlich sein Fass erbrochen, so ging er zornig zum Edelmann und sprach: »Wehe! Verruchte Hände haben in der Nacht das Fass geöffnet, und unter dem Frevel hat sich das Wasser des Lebens schrecklich verwandelt! Was wird Euch der König jetzt antun!« Da fiel der Edelmann vor ihm auf die Knie und bat, er soll doch schweigen, er werde ihm so viel Geld geben, dass er sich wieder neues Wasser des Lebens beschaffen könne. Da ließ sich der dumme Hans erweichen, nahm das viele Geld, das ihm der Edelmann ungezählt gab, und kehrte heim. Als er da ankam, versammelten sich die Leute im Dorf neugierig um ihn, und er erzählte und zeigte ihnen, wie viel Geld er für den Mist in der Stadt bekommen habe. In den nächsten Tagen hatten alle, die nur Wagen und Kühe hatten, je ein oder zwei Fass mit demselben Stoff gefüllt, und wem der eigene nicht hinreichte, der suchte auf Gassen und Straßen alles zusammen, und in kurzem war das ganze Dorf so rein gefegt, dass man in dem verborgensten Winkel um teures Geld nicht einen einzigen unberufenen Wächter hätte auffinden können. Die Fässer strichen sie auch alle rot an, wie es der dumme Hans gemacht hatte, und da man niemandem einen Vorsprung und größeren Vorteil gönnte, wurde beschlossen, dass die ganze Gemeinde zusammen in die Stadt fahren und alle zum gleichen Preis verkaufen sollten. Es war ein großer Aufzug, als etwa zweihundert Wagen mit den angestrichenen Fässern in die Stadt einfuhren und auf dem großen Marktplatz in einer Reihe sich aufstellten. Die Städter liefen neugierig zusammen, und der große Rat, an der Spitze der Bürgermeister, begaben sich auch hin, um zu erfragen, was das gäbe. Als sie an die Reihe kamen, fragte der Bürgermeister, was sie denn in den schönen Fässern zu verkaufen hätten. Da antwortete der erste: »Mit Verlaub, Herr Bürgermeister, was so unangenehm riecht und was man hier so gut bezahlt!« Der Bürgermeister konnte aus den Reden nicht klug werden und dachte, das müsse ein morgenländischer Trank sein. Er steckte daher seinen Finger in die Kufe und kostete. Aber ihr hättet das mörderisch verdrießliche Gesicht sehen sollen und wie der Bürgermeister spuckte, nachdem er ein wenig mit der Zunge geleckt hatte. »Verdammt! Das ist ja reine Mistjauche!« Der Rat hatte hierauf nicht Lust zu kosten, sondern die einzelnen Ratsväter fragten nur alle die ganze Reihe entlang, was sie hätten, und sie erhielten immer die Antwort: »Was stinkt und was man hier so gut bezahlt!« Da gerieten der Bürgermeister und der weise Rat fast außer sich, dass man sie so zum Narren halten wollte, und man beschloss, die Frevler zu strafen. Vergebens entschuldigten die sich und sprachen, der dumme Hans habe sie dazu verleitet; jeder erhielt fünfundzwanzig Rutenstreiche aufgemessen, und dann wurden sie mit einer ernsten Verwarnung entlassen.
Als sie jetzt heimkamen, fielen sie alle über den dummen Hans her und luden die Schläge, die sie bekommen, auf ihn ab; seine Kühe aber schlugen sie tot. Nach kurzer Zeit kamen alle Hunde aus dem Dorf über die toten Kühe und fraßen wie auf der Hochzeit. Hans aber stand von weitem und rief: »Gut, fresset nur, aber das sage ich euch, ihr müsst sie mir bezahlen!« Die Leute, die das hörten, lachten hell auf. Kaum hatten die Hunde aber alles Fleisch gefressen und die Knochen benagt, so kam der dumme Hans mit einem Stock und wollte sie eintreiben in sein verfallenes Vorzimmer, aber die meisten Hunde sprangen leicht davon, nur ein alter Fleischerhund und ein kleiner Mops konnten ihm nicht entgehen. Er trieb sie hinein, verrammelte dann hinter sich die Tür mit Brettern, wandte sich darauf zu den Hunden und sprach: »Wollt ihr jetzt zahlen mit Gutem!?« Aber die beiden Hunde liefen ängstlich umher und heulten: »Hau, hau!«
»Nein, nein!?« schrie Hans und fing gleich an, auf sie einzuschlagen. Der Fleischerhund nahm alle seine Kraft zusammen, um zu der hohen Fensteröffnung hinauszuspringen, und es gelang ihm endlich. Der kleine Mops mühte sich aber vergebens, er kam nicht einmal bis zur Hälfte hinan. Durch das häufige Anspringen an die Mauer fielen aber, da ohnehin alles locker war, Mörtel und Steine herunter, und zuletzt löste sich ein Stück der Wand. Dahinter wurde ein großer Kessel sichtbar. »Ach, du Kleiner, bist doch ehrlich und willst zahlen, nun gut!« Damit half er ihm beim nächsten Sprung zum Fenster hinaus. Der dumme Hans nahm sogleich den Schatz, der in der Mauer verborgen gewesen, und trat vor die Leute und zeigte ihnen den Kessel mit den Gold- und Silberstücken. Da fragten sie ihn, wie er dazu komme. »Das ist der Erlös«, sprach er, »für das Fleisch, den ich von den Hunden bekommen habe, einer hat für alle bezahlt!« Da sie alles mit eigenen Augen gesehen hatten, so glaubten sie es.
In kurzer Zeit waren im Dorf keine Kühe und Rinder mehr, denn alle wurden geschlachtet und den Hunden vorgeworfen. Das war ein Leben für diese, wie sie es seit der Zeit nie mehr gehabt. Nach einigen Wochen war noch Aas in den Gassen, da die Hunde nicht so schnell alles fressen konnten. Als der Termin kam, den man den Hunden zur Zahlung bestimmt hatte, wurden alle ins Rathaus zusammengetrieben und mit Stöcken zum Zahlen genötigt. Da sie aber nicht zahlen wollten oder konnten, so wurden alle erschlagen.

Nun aber sollte es über den dummen Hans hergehen. Sie hielten großen Rat und sprachen: »Solange der lebt, sind wir vor seiner Dummheit nicht sicher, lasst uns ihn erschießen!« Es wurde die kommende Nacht dazu bestimmt. Der dumme Hans aber hatte von den bösen Anschlägen gehört, und wie es Abend wurde, nahm er seine Großmutter. Er dachte nämlich: »Die ist ja alt und krank und muss ohnehin bald sterben«, legte sie auf sein Bett ans Fenster, wo er zu schlafen pflegte, und gab ihr eine Schlafmütze aufs Haupt. Er aber legte sich in den Winkel auf das Bett seiner Großmutter und blieb wach und horchte. Als alles ruhig war und die Leute im Dorf schliefen, kamen auf einmal ein paar Kerle mit Pistolen bewaffnet leise in den Hof geschlichen und guckten durchs Fenster. »Ha, er ist da und schläft!« winkte der erste, indem er die Schlafmütze des Dummen sah. »Jetzt nur gut zielen!« Puff! krachten die Pistolen zugleich, und die Alte war tot. Die Verbrecher stoben wie der Wind fort. Der Dumme aber kroch aus seinem Hinterhalt hervor, wickelte seine tote Großmutter in mehrere Leintücher, zuletzt nähte er ein schwarzes Gewand über das Ganze, nahm sie auf den Rücken und ging fort, ohne dass jemand ihn sah. Am Morgen lief alles neugierig zum Haus, um zu sehen und zu hören, wie die Sache stehe. Aber wie mussten alle erstaunen, als sie weder die alte Großmutter noch den toten Hans sahen. Am Ende beruhigten sie sich, indem sie meinten, der Teufel werde gleich beide weggeführt haben.
Der dumme Hans war indessen schon weit über die Grenze und ging immer weiter fort. Nach mehreren Tagen kam er gegen Abend wieder auf einen Edelhof und bat um Herberge. Er sagte, er komme geradewegs aus dem Mohrenland und bringe aus dem Zauberschloss die wunderschöne Prinzessin, die jetzt noch im hundertjährigen Schlaf liege. Da aber die Zeit um sei, könne sie durch einen Kuss ins Leben gerufen werden; der sie nun küsse, werde der glücklichste Mann von der Welt, denn diesem schenke die Prinzessin ihre Hand; er brächte sie aber dem König, denn der sei doch der Erste im Reich und ihrer am meisten würdig. Der Edelmann versprach, die Prinzessin solle in der Nacht gehörig bewacht werden. Er schloss sie selbst in ein einsames Gemach unter Schloss und Riegel. In der Nacht aber konnte er nicht schlafen, denn er dachte immer an die schöne Prinzessin; zuletzt sprang er aus seinem Bett und sprach: »Was? Da wäre ich ein Narr, sie auszulassen; in solchen Fällen hat kein König ein Vorrecht.« Er nahm Schere und Messer und die Schlüssel zum Gemach, ging leise hin, schloss auf und trennte ganz sanft an der schwarzen Hülle die Naht und wickelte allmählich die Leintücher ab. Wie entsetzte er sich jedoch, als er auf einmal ein altes, von Blut und Wunden entstelltes Gesicht sah. Schnell wandte er sich ab, wickelte alles wieder zusammen, brachte Nadel und Zwirn und nähte zu. Doch konnte er nicht alles so machen, wie es gewesen war. »Wie würdest du dich an dem Kerl rächen«, dachte er, »wenn du damit nicht deine Treulosigkeit an den Tag legen würdest!« Am frühen Morgen forderte der Dumme sein anvertrautes Kleinod heraus. Als der Leichnam herausgebracht wurde, sah er gleich, dass nicht alles richtig war. »Wehe!« rief er, »was ist geschehen! Ein Unberufener hat das Tuch geöffnet, und gewiss ist die Prinzessin sogleich wieder zurückversetzt worden ins Mohrenland, dafür aber ein gewöhnlicher Leichnam im Tuch.« Damit nahm er sein Messer und trennte auf, um sich zu überzeugen. »So ist es, wie ich vermutete. Das wird der König nicht ungestraft lassen!« Da fiel der Edelmann auf die Knie und bat, er solle nur schweigen, er werde ihm so viel Geld geben, dass er die Reise noch einmal machen könne. »Nun, Euch zuliebe will ich es darum tun«, sprach der dumme Hans, »doch wisset, diesen Leichnam müsst Ihr mir zuvor ehrenvoll begraben, solange ich noch hier bin!« Das geschah, und er freute sich, dass seine Großmutter noch schön begraben wurde. Dann nahm er das Geld und kehrte heim. Die Leute trauten ihren Augen nicht, als sie ihn sahen. Allein, da er ihnen erzählte, wie er von ihrem Plan gehört, aber dann seine Großmutter vor das Fenster gelegt habe und diese von ihnen erschossen worden, wie er sie dann sogleich auf den Rücken genommen und in die große Stadt zum Verkauf getragen habe, und als er ihnen nun noch die großen Schätze zeigte, die er mitgebracht, da mussten sie es glauben, denn seine früheren Schätze hatten sie ihm abgenommen. Nun kam das ganze Dorf zusammen und hielt geheimen Rat, und die Habgier trieb sie zu dem Beschluss, ihre alten Großmütter umzubringen. Das geschah denn auch, und am folgenden Tag waren an fünfzig junge Leute auf dem Weg nach der Stadt und trugen ihre Großmütter wohl eingewickelt auf dem Rücken.
Als sie da anlangten, war alles Volk neugierig, was sie zum Verkauf anzubieten hätten, und sammelten sich um sie herum. Sie aber stellten sich auf den großen Marktplatz in eine Reihe. Als man sie nun nacheinander fragte, was sie zu verkaufen hätten, und einer wie der andere die Antwort gab: »Meine alte Großmutter«, da ließ der Rat sie alle einsperren. Als man die Sache untersuchte und sie dabei noch erzählten, dass sie ihre Großmütter, freilich durch den dummen Hans verleitet, selbst umgebracht hätten, da wurden sie alle zum Galgen verdammt. Allein, da man in Erwägung zog, dass das Gemeinwesen den Verlust von fünfzig Seelen zu tragen habe und dass sie die böse Tat ja nicht ganz aus eigenem Antrieb getan, so wurden sie auf hundert Rutenstreiche begnadigt, welche ihnen auch unverkürzt sogleich ausgezahlt wurden. Nachdem sie ihre Großmütter in der Stadt ordentlich begraben hatten, zogen sie heim voll Wut gegen den dummen Hans.

Zu Hause erzählten sie, wie es ihnen ergangen, und alle Leute im Dorf nahmen sich ihrer an, und man beschloss einstimmig, den dummen Hans ganz öffentlich aus der Welt zu schaffen, damit man endlich vor seiner Dummheit Ruhe habe. Der arme Sünder wurde auf der Stelle herbeigeschleppt, und man kam überein, ihn sogleich in einen Sack zu binden und zu ersäufen. Das war bald geschehen, und sie trugen ihn im Sack schon auf der Brücke, von der er hinabgeworfen werden sollte. »Halt!« rief der Pope, als man angelangt war, »zu einer so ernsten Sache gehört eine Vorbereitung, legt den Sack erst nieder und folgt mir zuvor in die Kirche.« »Ja, Herr Pfarrer, so ist es recht!« rief der Dorfhann und trieb alle Leute von der Brücke und folgte selbst nach. Manche gingen in die rechte Kirche, aber die meisten lenkten ihre Schritte in die Kirche, zu der man mit Gläsern läutet, und manche tranken sich, wie sie gewohnt waren, einen Rausch an.
Indes aber alle in der Kirche oder im Wirtshaus waren, kam ein Edelmann in einer Kutsche mit vier schönen Hengsten dahergefahren. Er sah den Sack auf der Brücke liegen und hörte daraus eine menschliche Stimme. Er bat anhalten und fragte: »Was ist das?«
»Ach!« sprach der Dumme, »ich will durchaus nicht Bürgermeister sein, und so wollen mich die Leute ersäufen!« Der Edelmann war etwas einfältig, aber dabei stolz und ehrgeizig, und er hätte bisher, was weiß ich, schon gerne alles darum gegeben, um nur ein kleines Amt zu erlangen. Das kam ihm jetzt gerade gut, und er sagte: »Freund, wenn es nur das ist, so kann dir geholfen werden. Laß mich in den Sack, ich will schon Bürgermeister sein, und nimm du meine Kutsche und mein Landgut, das hundert Meilen von hier liegt!« »Von Herzen gern!« sprach der dumme Hans. Der Edelmann sprang ab und band den Sack auf. Hans kroch heraus, er hinein, und der Sack wurde wieder fest zugebunden. Der dumme Hans setzte sich auf, und hast du nicht gesehen! war er über alle Berge.

Bald kamen die Leute aus der Kirche und dem Wirtshaus und waren guten Mutes. Als sie aber auf die Brücke gelangten, rief der Edelmann immerfort aus dem Sack: »Ich will sein Bürgermeister! Ich will sein Bürgermeister!« »Na, hört nur, hört!« riefen alle voll Zorn, »der will jetzt noch unser Bürgermeister werden, gleich sollst du es sein!« Damit hoben vier oder fünf schnell den Sack, und plumps! lag er im Wasser und versank und wurde nicht mehr gesehen.
»Jetzt werden wir doch Ruhe haben!« sprachen sie im Nachhausegehen, »der wird uns nicht mehr narren.« Und schon fing man an, den dummen Hans zu vergessen. Siehe, da kam auf einmal eine schöne Kalesche mit vier Pferden dahergefahren, und hinter der Kalesche trieb man eine Menge Vieh, Pferde, Schafe und Rinder. Als alles jenseits der Brücke vom Dorf angelangt war, stieg der dumme Hans aus. Alle Leute im Dorf grüßten ihn ehrerbietig. Da sprach er endlich zu einem, der ihn genauer ansah: »Kennt Ihr mich denn nicht mehr, Nachbar?« »Ei, wie sollte ich dich denn nicht kennen, du bist ja der dumme Hans, den wir vor mehreren Wochen ersäuft haben. Aber wie zum blauen Teufel bist du aus der Hölle entlaufen?« »Das will ich Euch gleich erzählen!« Indem hatte das ganze Dorf sich um ihn versammelt und staunte ihn an wie ein Meerwunder oder wie einen, der von den Toten auferstanden ist. Hans aber fing an zu erzählen: »Als ich in das Wasser hinunterkam, da sank ich zuerst tief, tief durch das Dunkle hinab, an den gräulichen Seeottern und den Wasserjungfern vorbei; sie taten mir aber nichts. Da wurde es mit einem Mal heller und immer heller, bis ich endlich eine große Wiese sah, wo sehr viele Pferde und Rinder und Schafe weideten; aber nirgends war ein Mensch zu entdecken. Deshalb machte ich mich zum Herrn der Tiere und ließ es mir da wohl gefallen. Aber mit der Zeit wurde es mir denn doch zu einsam. Ich fand in einem alten Schuppen mehrere Kaleschen, nahm die schönste, spannte vier Pferde vor, nahm nun auch Pferde, Rinder und Schafe, so viel ich fortbringen konnte, und brachte sie auf der anderen Seite der Welt, wo ein Ausgang sich findet, heraus, dingte mir da gleich einige Knechte und kam so wieder hierher, um in meiner Heimat zu sterben.«
Alle verwunderten sich sehr bei dieser Erzählung, und wie Hans fertig war, fragten alle zugleich: »Ist denn da unten noch etwas zu finden?« »Noch genug!« sprach Hans, »Pferde, Rinder, Schafe und Kaleschen! Wenn ihr’s nicht glaubt, so seht nur ins Wasser!« Damit führte er sie auf die Brücke. Er hatte aber seine Kalesche und Herde am Ufer so halten lassen, dass sie sich im Wasser spiegelten. »Seht da unten, wie es noch wimmelt!« Der Pope setzte seinen Augenspiegel auf und sah hinein. »Ja, wahrlich, es ist so! Ich hätte es nicht geglaubt!« »Liebe Brüder«, sprach er, »lasset uns alle hinab; unsere Frauen und Kinder bleiben indessen daheim, bis wir kommen. Soviel aber, glaube ich, gebührt mir voraus, dass ich zuerst hinunter und mir das Beste von jeder Gattung auswähle, dann mögt ihr auch alle kommen und euch in das übrige teilen!« »Ja, ja, Herr Vater, so ist es recht!«
»Noch eines!« rief der dumme Hans, »Streit darf um nichts stattfinden; ihr müsst in Eintracht euch in alles teilen, sonst kehrt ihr nicht zurück!« »Ja, ja, wir wollen‘s so machen!« Damit nahm der Pope von seiner Frau Abschied und sprang hinein; sein rotes Käppchen schwamm oben fort. Da rief die Frau des Popen: »Lieber Mann, lasse dich besser hinein, sonst kommst du zu spät, und es bleibt dir nichts!« Indes war er schon längst in der anderen Welt. Die anderen aber konnten auch nicht lange warten. Der Dorfhann sprang gleich hinterher, dann die Altschaft, dann alle Jünglinge; darauf wurde es totenstill.

Die Frauen und Kinder kehrten heim und warteten nun lang, es kam keiner zurück. Da bestürmten sie den dummen Hans und sprachen: »Was ist es, dass unsere Männer und Kinder noch immer nicht kommen; ist das Land gar so weit?« »Ich fürchte«, sprach Hans, »sie werden nie und nimmer kommen. Denn einer wird den andern haben übervorteilen wollen, und das darf dort nicht geschehen; ich habe es ihnen gesagt, dass es so kommen werde, nun kann ich nichts dafür!« Die Frauen, ob sie wollten oder nicht, mussten sich nun zufriedengeben.
Der dumme Hans aber lebte jetzt ungestört bis an sein Ende; bei sich aber dachte er: »Wer zuletzt lacht, lacht am besten!« und lachte sich im stillen den Bauch voll.
[Josef Haltrich: Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen]

Erläuterung durch Herrn Bruss: Der Dorfhann ist der weltliche Gegenpart des Pfarrers. „Dorfgemeinde (communitas villae), genossenschaftlicher Verband der Bewohner eines siebenbürgisch-sächsischen Dorfes. Die Dorfgemeinde, repräsentiert durch Altschaft (seniores), bestellte die Organe der Selbstverwaltung, und zwar den Richter (iudex), den Hannen (villicus) und die Geschworenen (iurati). Das Richteramt wurde bis ins 15. Jahrhundert meist einem Gräfen anvertraut. In einigen Dorfgemeinden gab es nur den Hannen, keinen Richter. Die Dorfgemeinde nahm vor allem die Selbstverwaltung und die niedere Gerichtsbarkeit wahr, regelte aber auch die gemeinschaftliche Nutzung der Almende (Wiesen Weide, Wald). Repräsentanten der Dorfgemeinde waren in den Gauversammlungen der Stühle und Distrikte vertreten. Kontrolliert wurden die Amtsinhaber durch die Altschaft.“ (Lexikon der Siebenbürger Sachsen, Wort und Welt Verlag, Thaur bei Innsbruck, 1993, S. 106-107)

Joh. Friedrich von Schulte: Lebenserinnerungen – gelesen

Schulte (1827 – 1914) war ein renommierter, in der katholischen Kirche bestens vernetzter Kirchenrechtler aus Westfalen. Wegen des völlig unhaltbaren Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes (1870) trat er aus der Kirche aus und wurde zu einem Mitbegründer der altkatholischen Kirche. Er hat selber seine Lebenserinnerungen geschrieben: Lebenserinnerungen. Mein Wirken als Rechtslehrer, mein Anteil an der Politik in Kirche und Staat. Von Dr. Joh. Friedrich von Schulte. Gießen 1908. Diese Erinnerungen lesen sich teilweise recht zäh. Wer es kürzer liebt, kann den Artikel in der NDB lesen: https://www.deutsche-biographie.de/gnd11861133X.html#ndbcontent

Schulte hat überzeugend nachgewiesen, dass das Vatikanische Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes historisch und rechtlich unhaltbar ist: Joh. Friedrich von Schulte: Die Stellung der Concilien, Päpste und Bischöfe vom historischen und canonistischen Standpunkte und die Päpstliche Constitution vom 18. Juli 1870. Mit den Quellenbelegen, 1871, S. 170 ff. (https://archive.org/details/a608073500schuuoft/page/170/mode/2up)

https://de.wikipedia.org/wiki/Altkatholische_Kirche (Altkatholische Kirche)

https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Altkatholische_Kirche (dito)

https://alt-katholisch.net/alt-katholisch/ (dito)

Lessing: Lob der Faulheit

G. E. Lessing: Lob der Faulheit

Faulheit, jetzo will ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen. –
O – – wie – – sau – – er – – wird es mir, – –
Dich – – nach Würden – – zu besingen!
Doch, ich will mein Bestes tun,
Nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut! wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben – –
Ach! – – ich – – gähn‘ – – ich – – werde matt – –
Nun – – so – – magst du – – mirs vergeben,
Daß ich dich nicht singen kann;
Du verhinderst mich ja dran.

Das ist einfach ein schönes Gedicht, an dem man sich erfreuen kann; deshalb will ich auch auf eine Analyse verzichten. Nur so viel sei gesagt: Im Lob der Faulheit wird die Faulheit selber vor- und durchgeführt. Auch das ist Anakreontik: Lust und Liebe zum Leben.

Das Lob der Faulheit ist natürlich nicht an die gerichtet, die ohnehin schon faul sind. Viel eher sollten es die Anhänger Calvins und seiner Arbeitsethik hören, deren Leben nur den Sinn hat, Karriere zu machen: immer mehr zu erwerben („haben“) und dadurch Ansehen zu gewinnen („gelten“), und die darüber vergessen, was sie an sich selber haben („sein“) – so finden wir es nicht nur in Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ reflektiert, sondern auch schon in Lessings Gedicht „Ich“.

Als Parallele zum Lob der Faulheit sei Lessings Lied „Der Faule“ genannt:

Der Faule

Rennt dem scheuen Glücke nach!
Freunde, rennt euch alt und schwach!
Ich nehm‘ teil an eurer Müh:
Die Natur gebietet sie.
Ich, damit ich auch was tu, –
Seh‘ euch in dem Lehnstuhl zu.

https://herrlarbig.de/2011/04/04/gedichtinterpretation-lessings-lob-der-faulheit/ (Herr Larbig hat sich die Arbeit gemacht, das Lob der Faulheit zu interpretieren)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,%20Gotthold%20Ephraim/Gedichte/Lieder%20(Ausgabe%201771) (Lessing: Lieder)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anakreontik (Anakreontik)

https://wiki.zum.de/wiki/Anakreontik (dito)

http://www.wmelchior.com/archive/own/literatur/thesenpapiere/anakreontik.pdf (dito, von W. Melchior)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/anakreon (Anakreon – Anakreontik)

Zur Deutung der Anakreontik

Der Mensch erscheint als ein hedonistisches Individuum; ging im Barock der Blick noch in eine jenseitige Welt, so geht es jetzt nur um die Freude im Diesseits. Wein und Liebe spenden Glück, ihnen widme man sein Leben!

Das ist indirekt eine Kritik am tradierten Christentum, in dem der weltliche Genuss offiziell verachtet wurde; es ist eine Kritik an den Schuldgefühlen, die mit dem Genuss des Lebens verbunden waren und die mit der Drohung von Höllenstrafen eingepflanzt wurden: Das Leben erfüllt sich im Hier und Heute, jetzt kann und soll man glücklich sein.

(Nach Wolfgang Melchior, s.o.)

F. von Dingelstedt: Nachtwächters Stillleben, 1. – Text und Analyse

1.

Weib, gib mir Deckel, Spieß und Mantel,

Der Dienst geht los, ich muss hinaus.

Noch einen Schluck … Adies Mariandel!

Ich hüt‘ die Stadt, hüt‘ du das Haus!

Nun schrei‘ ich wieder wie besessen,

Was sie nicht zu verstehen wagen

Und was sie alle Tag vergessen:

Uht! Hört, Ihr Herrn, und lasst Euch sagen!

 

Schnarcht ruhig fort in Euren Nestern

Und habt auf mein Gekreisch nicht Acht!

Die Welt ist akkurat wie gestern,

Die Nacht so schwarz wie alle Nacht.

Auch welche Zeit, will Niemand wissen,

s gibt keine Zeit in unsren Tagen,

Duckt Euch nur in die warmen Kissen,

Die Glocke die hat nichts geschlagen!

 

Lass keiner sich im Schlaf berücken

Vom (vulgo Zeitgeist) Antichrist,

Und sollte wen ein Älplein drücken,

Dankt Gott, dass es nichts Ärg‘res ist.

Das Murren, Meistern, Zerr‘n und Zanken,

Das Träumen tut es freilich nicht,

Drum schluckt sie runter, die Gedanken,

Bewahrt das Feuer und das Licht!

 

Auch wackelt nicht im bösen Willen

An Eurem Bett und räkelt nicht,

Die Zipfelmütze zieht im Stillen

Zufrieden übers Angesicht.

Der Hund im Stall, der Mann beim Weibe,

Die Magd beim Knecht, wie Recht und Pflicht,

So ruht und rührt Euch nicht beileibe,

Auf dass der Stadt kein Schad‘ geschicht!

 

Und wann die Nacht, wie alle Nächte,

Vollendet hat den trägen Lauf,

Dann steigt, doch stets zuerst das rechte

Bein aus den Federn, sittsam auf!

Labt Euch an dem Zichorientranke

Und tretet Eure Mühlen gern,

Freut Euch des Lebens voller Danke

Und lobt, nächst Gott, den Landesherrn!

 

Das Gedicht stammt aus Nachtwächters Stillleben“ in: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Hamburg 1842 (1841?). Es bedient sich des in ganz Deutschland verbreiteten Nachtwächterlieds, das von Ort zu Ort variierte und in Plettenberg (Sauerland) so klang:

Hört ihr Leut‘ und lasst euch sagen:

unsere Glock‘ hat 10 geschlagen.

Bewahrt das Feuer und das Licht,

dass unserem Ort kein Schaden geschicht,

und lobet Gott den Herrn!

Das Nachtwächterlied hängt mit der Figur des kosmopolitischen Nachtwächters zusammen, die Franz von Dingelstedt (1814-1881) geschaffen hat: Dieser Nachtwächter trägt seine Erlebnisse und Einsichten vor und bricht dann zu einer Reise in die Welt auf, was ihn zu einem kosmopolitischen macht. Die Figur des Nachwächters bietet sich zur politischen Kritik und Agitation an, weil man mit ihr auf die alte Metaphorik von schlafen/erwachen zurückgreifen und den Zeitgenossen vorwerfen kann, dass sie „schlafen“, bzw. sie aufrufen kann, endlich zu erwachen.

Im ersten Gedicht des Zyklus wird berichtet, wie der Nachtwächter sich von seiner Frau verabschiedet und zu seinem Rundgang durch die Stadt aufbricht. Danach spricht er monologisch (V. 5-8), um sich schließlich an die schlafenden Bürger der Stadt zu wenden, die ihn natürlich nicht hören (resp. der Dichter an die Leser, die den Nachtwächter sehr wohl vernehmen). Entscheidend sind dabei die Imperative, mit denen er sie auffordert,

  • ruhig weiter zu schlafen (2. Str.),
  • sich nicht vom teuflischen Zeitgeist verführen zu lassen (3. Str.),
  • die Gedanken herunterzuschlucken (3. Str.),
  • nicht mit dem Bett zu wackeln (4. Str.),
  • sich nicht zu rühren (4. Str.),
  • aufzustehen, Tee zu trinken, die Mühlen zu treten (Tretmühlen, 5. Str.)
  • und den Landesherrn zu loben (5. Str.).

Man sieht, das sind ironische Ermahnungen, verbunden mit einem kräftigen Spott gegen die Schlafmützen. Je ein Vers des Nachtwächterlieds bildet den letzten Vers einer Strophe und schließt sie mehr oder weniger sinnvoll ab.

Die fünf Strophen bestehen aus acht vierhebigen Jamben, die meist mit einer zusätzlichen Silbe eine weibliche Kadenz aufweisen. Die Verse 2/4 und 7/8 einer Strophe haben jedoch oft eine männliche Kadenz; das hängt damit zusammen, dass je zwei Verse in der Regel eine semantische Einheit bilden, wobei dann die männliche Kadenz einen kurzen Halt gebietet. Die Verse sind im Kreuzreim miteinander verbunden, was öfter zu einigermaßen semantisch sinnvollen Verbindungen der Verse 2/4 und 6/8 einer Strophe führt; bei diesem Spottgedicht genügt es aber eigentlich schon, wenn die Verse sich reimen – es geht dem Autor primär nicht um Schönheit der Sprache, sondern um politische Agitation.

In diesem Sinn soll untersucht werden, was der Nachtwächter vorzutragen hat: In Strophe (1) beklagt er, dass die Leute nicht zur Kenntnis nehmen wollen, was er zu sagen hat (V. 5-7), weshalb er mit dem Weckruf schließt: „Hört, Ihr Herrn, und lasst euch sagen!“ Dieser isolierte Vers, dem das Objekt fehlt, ist hier dennoch sinnvoll, weil im Hinblick auf V. 5-7 „etwas“ zu ergänzen ist: Lasst euch überhaupt etwas sagen! Was der Nachtwächter schreit, ist wahrscheinlich in den Imperativen gesagt, so dass V. 9 ff. an V. 7 anschließt. Im folgenden Zitat soll das einleitende „Uht!“ (V. 8) vermutlich das Tuten des Horns darstellen, es ist jedenfalls kein Wort. In dieser Strophe sind alle Reimpaare sinnvoll.

Dass die Aufforderungen an die Zeitgenossen ironisch gesagt sind, beweist die Aufforderung, auf des Nachtwächters Gekreisch nicht zu achten (V. 10, entgegen seiner Klage V. 5 ff.). Die guten Ratschläge, ruhig weiterzuschlafen (V. 9 und V. 15), werden mit dem Hinweis begründet, es sei nicht Besonderes geschehen (V. 11 f.), weshalb auch niemand die Zeit wissen will (V. 13); damit stehen zwei paradoxe Aussagen in Zusammenhang: dass es „keine Zeit in unsren Tagen“ gebe (V. 14) und dass entsprechend die Glocke „nichts geschlagen“ habe (V. 16). Diese Aussagen entsprechen exakt der vorhergehenden: „Die Welt ist akkurat wie gestern“ (V. 11); denn wenn sich nichts verändert, gibt es auch keine Zeit – obwohl sich einiges ändern muss, wie jeder politisch Aufgeschlossene wusste. In V. 16 ist der zweite Vers des Nachtwächterlieds abgewandelt, ebenso wie in V. 40, während die anderen drei Verse wörtlich übernommen worden sind. In dieser Strophe sind die Reime in V. 9/11, 13/15 und 14/16 sinnvoll.

Ironisch ist wieder die erste Mahnung in Strophe (3) zu lesen; sich berücken = sich betören oder bezaubern lassen: vom Teufel (Antichrist, V. 18), davor wird immer schon in der Christenheit gewarnt. Hier ist der Teufel als „Zeitgeist“ identifiziert, und das ist der demokratische Gedanke, der Wunsch nach einem Rechtsstaat ohne Zensur und Gängelei. Der Alp oder Alb ist ein koboldhaftes Nachtgespenst, hier verkleinert zu „Älplein“ (V. 19), weil die Verführung durch den Zeitgeist schlimmer ist (vgl. V. 20). Ironisch mahnt der Nachtwächter weiter, nicht (gegen die Obrigkeit) zu murren, nicht (von besseren Zeiten) zu träumen und überhaupt nicht selber zu denken (V. 21-23). Vers 24 passt nicht recht zu diesen Aufforderungen, es sei denn, man läse ihn als Ruf, das Licht der Aufklärung zu bewahren – eine kühne Konstruktion. In V. 21 fallen die zwei Alliterationen (M-, Z-) auf; wenn man die Doppelverse liest, ergibt der Reim V. 18/20 einen Sinn, ebenso V. 22/24, falls man V. 24 in der von mir skizzierten Bedeutung versteht (Kontrast: ironische / ernstgemeinte Aufforderung).

Strophe (4) stellt einen einzigen Spott auf die Schlafmützen dar, allenfalls V. 31 ist als ironische Aufforderung politisch zu verstehen, wozu dann (ebenfalls ironisch) V. 32 passte; dieser Spott wird in Strophe (5) fortgesetzt – ein witziger Seitenhieb ist die Anspielung auf den sinnlosen Aberglauben, man dürfe nicht mit dem linken Bein zuerst aufstehen (V. 35 f.). Das Adverb „sittsam“ (V. 36) passt nicht als Bestimmung des Aufstehens: Satire. Ironisch ist auch der Vorschlag, die Tretmühlen gern zu treten (V. 38), sich also knechten zu lassen.

Freut euch des Lebens“ (V. 39) ist der erste Vers eines Volksliedes, das 1793 in der Schweiz gedichtet und vertont wurde; wie sehr ihm beruhigende Wirkung zuerkannt wurde, sieht man daran, dass es 1912 Pflichtlied für die 4. Klasse in Preußen wurde. Unser Nachtwächter hat das bereits erkannt und ruft es deshalb denen zu, die gern ihre Mühlen treten sollen – ein innerer Widerspruch, bittere Satire! Dazu passt dann der letzte Vers hervorragend, in dem der Landesherr das Prädikat Gottes „den Herrn“ ersetzt: Beim Bund von Thron und Altar war das ein sachlich angemessener Austausch. Die Reime V. 34/36 und V. 38/40 bestätigen, was der Nachtwächter den Leuten zu sagen hat.

Die Metaphorik des Schlafens/Erwachens wird auch in Georg Herweghs „Wiegenlied“ verwendet; dort wird ein bekanntes Gedicht Goethes parodiert – der Rückgriff auf bekannte Texte eignet sich offensichtlich gut für die politische Agitation. Auch nach 1848 konnte man das Motiv des Schlafens im politischen Kampf verwenden, wie es Ludwig Pfau im Badischen Wiegenlied vormacht: „Schlaf‘, mein Kind, schlaf leis‘, / dort draußen geht der Preuß‘…“ (https://www.musicanet.org/robokopp/Lieder/badische.html), eine Parodie des Kinderlieds „Schlaf‘ Kindlein, schlaf‘…“.

 

 

Franz von Dingelstedt

https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_von_Dingelstedt (Leben)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Dingelstedt,+Franz+von/Gedichte/Lieder+eines+kosmopolitischen+Nachtw%C3%A4chters (Gedichte)

Vormärz

https://www.geschichte-abitur.de/restauration-und-vormarz/vormarz

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch/artikel/vormaerz-und-junges-deutschland

https://www.inhaltsangabe.de/wissen/literaturepochen/vormaerz/

Sonstiges

https://de.wikipedia.org/wiki/Freut_euch_des_Lebens_(Lied)

https://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/350470_0237_Heine_Nachtwaechter.pdf (Heine: Bei des Nachtwächters Ankunft in Paris)

https://also42.wordpress.com/2015/07/30/schlafen-erwachen-aufstehen-ein-metaphernfeld/ (schlafen – erwachen – aufstehen)

https://norberto42.wordpress.com/2012/01/29/georg-herwegh-wiegenlied-analyse/ (Herwegh: Wiegenlied)

Hans Chr. Andersen: Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau – Text und Analyse

Andersen: Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau

Es war einmal ein Mann, der einst viele neue Märchen wusste – aber nun seien sie ihm ausgegangen, sagte er; das Märchen, das von selber auf Besuch kommt, kam nicht mehr und klopfte nicht mehr an seine Tür. Und weshalb kam es nicht? Ja, das ist allerdings wahr, der Mann hatte über Jahr und Tag nicht daran gedacht, hatte nicht erwartet, dass es kommen und anklopfen würde. Aber es war gewiss auch nicht da gewesen, denn draußen war Krieg und drinnen Kummer und Not, wie der Krieg sie mitbringt.
Storch und Schwalbe kamen von ihrer langen Reise zurück, sie dachten an keine Gefahr, und als sie kamen, waren ihr Nest verbrannt, die Häuser der Menschen verbrannt, die Hecken zerstört, ja ganz verschwunden; die Rosse der Feinde stampften auf den alten Gräbern. Es waren harte, dunkle Zeiten; aber auch die nehmen ein Ende.
Und nun waren sie zu Ende, sagte man, doch noch klopfte das Märchen nicht an oder ließ von sich hören.
»Es ist wohl tot und verschollen mit den vielen andern«, sagte der Mann. Aber das Märchen stirbt nie!
Und es verging mehr als ein ganzes Jahr, und er hatte schreckliche Sehnsucht: »Ob das Märchen nicht doch wiederkommen und anklopfen sollte?« Und er erinnerte sich seiner so lebhaft mit all den vielen Gestalten, in denen es zu ihm gekommen war; bald jung und herrlich, der Frühling selber, ein reizendes junges Mädchen mit einem Maiglöckchenkranz im Haar und einem Buchenzweig in der Hand; ihre Augen glänzten wie tiefe Waldseen im hellen Sonnenschein. Bald war es auch als Hausierer gekommen, hatte den Kramkasten geöffnet und das Seidenband mit Vers und Inschrift voll alter Erinnerungen flattern lassen. Aber am allerschönsten war es, wenn es als altes Mütterchen mit silberweißem Haar und mit großen und so klugen Augen kam, da wußte sie recht zu erzählen von den allerältesten Zeiten, lange noch bevor die Prinzessinnen Gold gesponnen hatten, während Drachen und Lindwürmer draußen lagen und sie bewachten. Da erzählte sie so lebendig, dass jedem dunkle Flecken vor die Augen kamen, der ihr zuhörte; der Boden wurde schwarz von Menschenblut, gräulich anzusehen und zu hören und doch so unterhaltend, denn es war schon lange her, seit es geschehen war.
»Ob es nicht mehr anklopfen sollte?« sagte der Mann und starrte nach der Tür, so dass ihm dunkle Flecken vor die Augen kramen, schwarze Flecken auch auf den Boden; er wusste nicht, ob es Blut war oder Trauerflor von den schweren dunklen Tagen.
Und wie er so saß, kam ihm in den Sinn, ob sich das Märchen nicht verborgen halte wie die Prinzessin in den richtigen, alten Märchen und nur aufgesucht werden wollte; wurde es gefunden, dann strahle es in neuer Herrlichkeit, schöner als jemals zuvor.
»Wer weiß, vielleicht liegt es verborgen in dem weggeworfenen Strohhalm, der auf dem Brunnenrand schaukelt. Vorsicht! Vorsicht! Vielleicht hat es sich in einer verwelkten Blume versteckt, die in einem der großen Bücher auf dem Bücherbord liegt.«
Und der Mann ging hin und öffnete eines der allerneuesten Bücher, um Klarheit darüber zu bekommen. Aber da lag keine Blume, da stand von Holger dem Dänen zu lesen; und der Mann las, dass die ganze Geschichte erfunden und von einem Mönch in Frankreich zusammengestellt worden sei; dass es ein Roman sei, »übersetzt und gedruckt in dänischer Sprache«; dass Holger der Däne gar nicht existiert hatte und also auch nicht wiederkommen könne, wie wir gesungen und so gerne geglaubt hatten. Es war mit Holger dem Dänen wie mit Wilhelm Tell, nur Geschichten, auf die man sich nicht verlassen konnte; das war in dem Buch mit großer Gelehrsamkeit dargelegt.
»Ja, ich glaube nun einmal, was ich glaube«, sagte der Mann, »es wächst kein Wegerich, wo kein Fuß hingetreten hat.«
Und er machte das Buch zu, stellte es auf das Bord und ging dann zu den frischen Blumen am Fensterbrett; vielleicht hatte sich dort das Märchen in der roten Tulpe mit den goldgelben Rändern oder in der frischen Rose oder der leuchtenden Kamelie versteckt? Zwischen deren Blättern lag der Sonnenschein, aber nicht das Märchen.
»Die Blumen, die hier in der Trauerzeit gestanden hatten, waren alle weit schöner; aber sie wurden abgeschnitten, jede einzelne, in Kränze gebunden, auf Särge gelegt, und über sie wurde die Fahne gebreitet. Vielleicht ist das Märchen mit den Blumen begraben worden. Aber davon müssten die Blumen gewusst haben, der Sarg hätte es vernommen, die Erde hätte es vernommen, jeder kleine Grashalm, der hervorwuchs, würde es erzählt haben. Das Märchen stirbt niemals!
Vielleicht ist es auch hier gewesen und hat angeklopft, aber wer hatte damals Ohren dafür, Gedanken dafür? Man sah düster, schwermütig, fast böse zum Sonnenschein des Frühlings, seinem Vogelgezwitscher und all dem fröhlichen Grün; ja, die Zunge konnte die alten, volksfrischen Lieder nicht ertragen, sie wurden eingesargt mit so vielem, was unserm Herzen teuer war. Das Märchen kann wohl angeklopft haben; aber es wurde nicht gehört, nicht willkommen geheißen, und so ist es dann fortgeblieben.
Ich will gehen und es aufsuchen.
Hinaus aufs Land! Hinaus in den Wald, an den offenen Strand!«

———
Draußen liegt ein alter Herrenhof mit roten Mauern, zackigem Giebel und wehender Fahne auf dem Turm. Die Nachtigall singt unter den feingefransten Buchenblättern, während sie auf des Garten blühende Apfelbäume blickt und glaubt, dass sie Rosen tragen. Hier sind in der Sommersonne die Bienen geschäftig, und mit summendem Gesang schwärmen sie um ihre Königin. Der Herbststurm weiß von der wilden Jagd zu erzählen, von den Menschengeschlechtern und den Blättern des Waldes, die verwehen. Zur Weihnachtszeit singen die wilden Schwäne draußen vor dem offenen Wasser, während man drinnen in dem alten Hof am Kaminfeuer Lust hat, Lieder und Sagen zu hören.
Unten in dem alten Teil des Gartens, wo die große Allee von wilden Kastanien mit ihrem Halbdunkel lockt, ging der Mann, der das Märchen suchte; hier hatte ihm einmal der Wind von Waldemar Daa und seinen Töchtern gesummt. Die Dryade im Baum, das war die Märchenmutter selbst, hatte ihm hier von des alten Eichenbaums letztem Traum erzählt. Zu Zeiten der Großmutter standen hier beschnittene Hecken, nun wuchsen nur Farnkräuter und Nesseln; sie breiteten sich über hingeworfene Reste alter Steinfiguren aus; Moos wuchs ihnen in den Augen, doch sie konnten ebenso gut sehen wie früher, aber das konnte der Mann, der nach dem Märchen suchte, nicht. Er sah das Märchen nicht. Wo war es?
Über ihn und die alten Bäume flogen Krähen zu Hunderten hin und schrieen »Fort von hier! Fort von hier!«
Und er ging aus dem Garten hinaus über den Wallgraben des Herrenhofes in das Erlenwäldchen hinein; dort stand ein kleines, sechseckiges Haus mit einem Hühnerhof und einem Entenhof. Mitten in der Stube saß die alte Frau, die das Ganze leitete und genau über jedes Ei, das gelegt wurde, Bescheid wusste, über jedes Küken, das aus dem Ei schlüpfte. Aber sie war nicht das Märchen, das der Mann suchte; das konnte sie beweisen mit einem christlichen Taufschein und einem Impfpass, beide lagen in der Truhe.
Draußen, nicht weit von dem Haus, ist ein Hügel mit Rotdorn und Goldregen; hier liegt ein alter Grabstein, der vor vielen Jahren vom Kirchhof eines Landstädtchens hierher gebracht worden war, eine Erinnerung an einen der ehrenhaften Ratsherren der Stadt; seine Frau und seine fünf Töchter, alle mit gefalteten Händen und Halskrause, stehen, in Stein gehauen, um ihn herum. Man konnte sie so lange betrachten, dass sie auf die Gedanken wirkten, und diese wirkten wiederum auf den Stein, so dass er von alten Zeiten erzählte; wenigstens erging es dem Mann so, der das Märchen suchte. Als er da hinkam, sah er einen lebendigen Schmetterling grade auf der Stirn der gemeißelten Figur des Ratsherrn sitzen; er schlug mit den Flügeln, flog eine kleine Strecke und setzt sich wieder dicht neben den Grabstein, gleichsam um zu zeigen, was dort wuchs. Dort wuchs ein vierblätteriger Klee, dort standen ganze sieben Stück davon nebeneinander. Kommt das Glück, so kommt es in Fülle! Er pflückte die Kleeblätter und steckte sie in die Tasche. Das Glück ist so gut wie bares Geld, aber ein neues, schönes Märchen wäre doch noch besser, dachte der Mann; aber er fand es dort nicht.
Die Sonne ging unter, rot und groß; die Wiese dampfte, und das Moorweib braute.
———
Es war spät am Abend; er stand allein in seiner Stube, sah hinaus über den Garten, über Wiese, Moor und Strand; der Mond schien hell, es lag Dunst über der Wiese, als wäre sie ein großer See, und das war sie auch einmal gewesen, ging die Sage, und im Mondschein bekommt man ein Ohr für Sagen. Da dachte der Mann daran, was er in der Stadt gelesen hatte, dass Wilhelm Tell und Hollger der Däne nicht gelebt hätten; aber im Volksglauben sind sie doch wie der See da draußen lebendige Figuren der Sage. Ja, Holger der Däne kommt wieder!
Während er so stand und dachte, schlug etwas ganz stark an das Fenster. War es ein Vogel? Eine Fledermaus oder eine Eule? Ja, die lässt man nicht herein, auch wenn sie klopfen. Das Fenster sprang von selber auf, eine alte Frau sah zu dem Mann herein.
»Was ist gefällig?« fragte er. »Wer ist sie? Gleich in die erste Etage schaut sie herein, steht sie auf einer Leiter?«
»Sie haben ein vierblätteriges Kleeblatt in der Tasche«, sagte sie, »ja, Sie haben sieben Stück, von denen eines ein Sechserklee ist.«
»Wer ist sie?« fragte der Mann.
»Die Moorfrau«, sagte sie, »die Moorfrau, die braut. Ich war gerade in voller Arbeit; der Zapfen saß im Fass, aber einer der kleinen Moorjungen riss im Übermut den Zapfen heraus und warf ihn gerade bis zum Haus, wo er an das Fenster schlug; nun läuft das Bier aus dem Fass, und damit ist keinem gedient.«
»Erzähle sie mir doch mehr!« sagte der Mann.
»Ja, warten Sie ein wenig!« sagte die Moorfrau. »Jetzt habe ich noch anderes zu erledigen!« Und damit war sie fort.
Der Mann war dabei, das Fenster zu schließen, da stand die Frau schon wieder da. »Nun ist es geschehen«, sagte sie. »Aber das halbe Bier kann ich morgen wieder brauen, wenn das Wetter danach bleibt. Nun, was haben Sie zu fragen? Ich komme wieder, denn ich halte immer Wort, und Sie haben sieben Vierblätter in der Tasche, von denen eines ein Sechserklee ist; das ist ein Ordenszeichen, das an der Landstraße wächst, aber nicht von jedem gefunden wird. Wonach haben Sie also zu fragen? Stehen Sie jetzt nicht da wie ein dummes Stück, ich muss bald fort zu meinem Zapfen und meinem Fass!«
Und der Mann fragte nach dem Märchen, fragte, ob das Moorweib es auf seinem Wege gesehen hätte.
»Ih, du großes Brauhaus!« sagte die Frau. »Haben Sie noch nicht genug Märchen? Ich glaube wirklich, dass die meisten genug haben. Hier ist anderes zu besorgen, anderes zu beachten. Selbst die Kinder sind schon darüber hinausgewachsen. Gebt den kleinen Jungen eine Zigarette und den kleinen Mädchen einen neuen Minirock, das mögen sie lieber! Auf Märchen hören? Nein, hier ist tatsächlich anderes zu besorgen, Wichtigeres auszurichten!«
»Was meint sie damit?« fragte der Mann. »Und was weiß sie von der Welt? Sie sieht ja nur Frösche und Irrlichter.«
»Ja, nehmen Sie sich in Acht vor den Irrlichtern« sagte das Weib, »sie sind heraus! Sie sind losgelassen! Von denen wollen wir reden! Kommen Sie zu mir in das Moor, wo meine Gegenwart erforderlich ist; dort werde ich Ihnen alles sagen, aber beeilen Sie sich ein wenig, solange Ihre sieben Viererblätter mit dem einen Sechser frisch sind und der Mond noch scheint!« Und weg war die Moorfrau.
———
Die Glocke schlug zwölf vom Turm, und ehe noch der letzte Schlag verklungen war, war der Mann hinaus in den Hof, hinaus in den Garten und stand auf der Wiese. Der Nebel hatte sich gelegt, die Moorfrau hörte auf zu brauen.
»Es hat lange gedauert, bis Sie kamen!« sagte die Moorfrau. »Zauberwesen kommen schneller voran als die Menschen, und ich bin froh, dass ich als Zauberwesen geboren bin.«
»Was hat sie mir nun zu sagen?« fragte der Mann. »Ist es ein Wort wegen des Märchens?«
»Können Sie denn niemals weiter kommen, als danach zu fragen?« sagte das Weib.
»Kann sie denn von der Zukunftspoesie sprechen?« fragte der Mann.
»Reden Sie nur nicht hochtrabend«, sagte das Weib, »dann will ich wohl antworten. Sie denken nur an die Dichterei, fragen nach dem Märchen, als ob es die Madame über das Ganze wäre! Es ist freilich schon das Älteste, aber es gilt immer als das Jüngste. Ich kenne es wohl! Ich bin auch einmal jung gewesen, und das ist keine Kinderkrankheit. Ich bin auch ein ganz niedliches Elfenmädchen gewesen und habe mit den anderen im Mondschein getanzt, auf die Nachtigall gehört, bin in den Wald gegangen und dem Märchenfräulein begegnet, das immer draußen war und sich herumtrieb. Bald nahm sie ihr Nachtlager in einer halberblühten Tulpe oder in einer Wiesenblume, bald huscht sie in die Kirche hinein und hüllte sich in den Trauerflor, der von den Altarkerzen herabhing!«
»Sie wissen wunderbar Bescheid«, sagte der Mann.
»Ich sollte doch wahrscheinlich ebenso viel wissen wie Sie!« sagte die Moorfrau. »Märchen und Poesie, ja, das sind zwei Ellen von einem Stück; die können gehen und sich schlafen legen, wo sie wollen. All ihre Worte und Werke kann man noch brauen und besser und billiger haben. Bei mir sollen Sie sie umsonst bekommen, ich habe einen ganzen Schrank voll von Poesie in Flaschen. Es sind Essenzen, nur das Feine der Kräuter, süße und auch bittere. Ich habe auf Flaschen alles, was die Menschen an Poesie brauchen, um an Festtagen etwas auf ihr Taschentuch zu tupfen jund daran zu riechen.«
»Das sind ganz seltsame Dinge, die sie da erzählt«, sagte der Mann. »Hat sie Poesie auf Flaschen?«
»Mehr, als Sie vertragen können«, sagte die Frau. »Sie kennen wohl die Geschichte von dem Mädchen, welches auf Brot trat, um seine neuen Schuhe nicht zu beschmutzen? Sie ist geschrieben und gedruckt.«
»Die habe ich selber erzählt«, sagte der Mann.
»Ja, dann kennen Sie sie ja«, sagte das Weib, »und wissen, dass das Mädchen direkt zur Moorfrau hinab in die Erde versank, gerade, als des Teufels Großmutter Besuch machte, um die Brauerei zu besichtigen. Sie sah das Mädchen, das heruntersank, und bat es sich als Souvenir aus, zur Erinnerung an den Besuch, und sie bekam es; ich bekam ein Geschenk, für das ich gar keine Verwendung hatte, eine Reiseapotheke, einen ganzen Schrank voll Poesie auf Flaschen. Die Großmutter sagte, wo der Schrank stehen sollte, und da steht er noch. Sehen Sie nur! Sie haben ja Ihre sieben Viererblätter in der Tasche, von denen das eine ein Sechserklee ist, da werden Sie ihn wohl sehen können.«
Und wirklich, mitten im Moor lag wie ein großer Erlenstrunk der Schrank der Großmutter. Er stand offen für die Moorfrau und für jeden in allen Ländern und zu allen Zeiten, wenn man nur wusste, wo der Schrank steht. Er war vorne und hinten zu öffnen, an allen Seiten und Ecken, ein ganzes Kunstwerk, und sah doch nur wie ein alter Erlenstrunk aus. Die Poeten aller Länder, besonders die unseres eigenen Landes, waren hier nachgemacht; ihr Geist war ihnen ausspekuliert, rezensiert, renoviert, konzentriert und auf Flaschen gezogen. Mit großem Instinkt, wie man es nennt, wenn man nicht Genie sagen will, hatte die Großmutter das in der Natur genommen, was gleichsam nach diesem oder jenem Poeten schmeckte, hatte etwas Teufelei hinzugegeben, und so hatte sie die Poesie auf Flaschen für die alle Zeit.
»Lassen Sie mich einmal schauen!« sagte der Mann.
»Ja, doch es gibt wichtigere Dinge zu hören«, sagte das Moorweib.
»Aber jetzt sind wir bei dem Schrank!« sagte der Mann und sah hinein. »Hier sind Flaschen in allen Größen. Was ist in dieser? Und was in der da?«
»Hier ist das, was Sie Maiduft nennen«, sagte das Weib. »Ich habe es nicht versucht, aber ich weiß, wenn man davon nur einen kleinen Tropfen auf den Boden spritzt, dann liegt da gleich ein herrlicher Waldsee mit Wasserlilien, blühendem Rohr und wilder Krauseminze. Und gießt man zwei Tropfen auf ein altes Heft, selbst aus der ersten Klasse, dann wird das Heft zum Buch mit einer ganzen Duftkomödie, die man sehr gut aufführen und bei der man einschlafen kann, so stark durftet sie. Es sollte wohl eine Höflichkeit gegen mich sein, dass auf der Flasche steht: ‚Gebräu der Moorfrau‘.
Hier steht die Skandalflasche. Sie sieht aus, als ob nur schmutziges Wasser darin wäre, und es ist schmutziges Wasser, aber mit Brausepulver von Stadtklatsch; drei Lot Lügen und zwei Gran Wahrheit, mit einem Birkenzweig umgerührt, einem Stück aus der Rute des Schulmeisters oder lieber gleich vom Besen genommen, mit dem man den Rinnstein gefegt hat.
Hier steht die Flasche mit der frommen Poesie im Psalmenton. Jeder Tropfen hat einen Klang wie das Quietschen des Höllentors und ist aus dem Blut und Schweiß der Strafen zubereitet. Einige sagen, es sei nur Taubengalle, aber die Tauben sind die frömmsten Tiere, sie haben keine Galle; so etwas sagen nur Leute, die keine Naturgeschichte kennen.«
Hier stand die Flasche aller Flaschen; sie nahm den halben Schrank ein, die Flasche mit den Alltagsgeschichten; sie war sowohl mit einer Schweinshaut als auch mit einer Blase zugebunden, denn sie durfte nichts von ihrer Kraft verlieren. Jede Nation konnte hier ihre eigene Suppe erhalten; sie kam, je nachdem wie man die Flasche wandte und drehte. Hier war alte deutsche Blutsuppe mit Räuberklößchen, auch dünne Hausmannssuppe mit wirklichen Geheimräten, die wie Wurzelwerk darin lagen, und auf der Oberfläche schwammen philosophische Fettaugen. Es gab englische Gouvernantensuppe und die französische Potage à la Kock, mit Hühnerknochen und Spatzeneiern zubereitet, auf Dänisch Cancansuppe genannt. Aber die beste aller Suppen war die Kopenhagener; das sagten jedenfalls die Familien.
Hier stand die Tragödie in Champagnerflaschen; sie konnte knallen, und das soll sie. Das Lustspiel sah aus wie feiner Sand, um ihn den Leuten in die Augen zu streuen, das heißt das feinere Lustspiel; das gröbere war auch auf Flaschen, aber bestand nur aus Zukunftsplakaten, wo der Name des Stücks das Kräftigste war. Es waren ausgezeichneten Komödiennamen wie: »Willst du wohl das Geld rausrücken!«, »Eins auf die Rübe«, »Der süße Esel« und »Sie ist sternhagelvoll!«
Der Mann verfiel dabei in Gedanken, aber die Moorfrau dachte weiter, sie wollte zu Ende kommen.
»Nun haben Sie wohl genug in der Kramkiste gesehen«, sagte sie. »Nun wissen Sie, was das ist; aber das Wichtigste, was Sie wissen sollten, wissen Sie noch nicht: Die Irrlichter sind in der Stadt! Das hat mehr zu bedeuten als Poesie und Märchen. Ich sollte jetzt meinen Mund halten, aber es muss eine Fügung sein, ein Schicksal, etwas, was stärker ist als ich – es drückt mir das Herz ab, es muss heraus. Die Irrlichter sind in der Stadt! Sie sind losgekommen: Nehmt euch in Acht, ihr Menschen!«
»Davon verstehe ich kein Wort«, sagte der Mann.
»Seien Sie so gut und setzen Sie sich auf den Schrank«, sagte sie, »aber fallen Sie nicht hinein, dass Sie nicht die Flaschen entzwei schlagen; Sie wissen, was darin ist. Ich werde Ihnen von dem großen Ereignis erzählen, es ist nicht länger her als seit vorgestern. Es wird also noch 363 Tage dauern; Sie wissen ja, wie viele Tage ein Jahr hat.

———
Und die Moorfrau erzählte:
»Hier hat sich vorgestern Großes in den Sümpfen ereignet: Hier war Kinderfest. Hier wurde ein kleines Irrlicht geboren, ja, es wurden zwölf auf einmal von der Sorte geboren, die, wenn sie wollen, als Menschen auftreten und unter diesen agieren und kommandieren können, als ob sie geborene Menschen wären. Das ist ein großes Ereignis im Sumpf, und deshalb tanzten alle Irrlichter und Irrlichterfrauen über Moor und Wiese hin; es waren auch welche vom Hundegeschlecht dabei, aber es lohnt nicht, von denen zu reden. Ich saß da auf meinem Schrank und hatte alle zwölf kleinen neugeborenen Irrlichter auf meinem Schoß; sie leuchteten wie Johanniswürmchen; sie fingen schon an zu hüpfen, und jede Minute nahmen sie an Größe zu, so dass, ehe eine Viertelstunde um war, jedes von ihnen ebenso groß aussah wie sein Vater oder sein Onkel. Nun ist es ein altes angeborenes Recht und eine Vergünstigung, wenn der Wind so weht und der Mond so steht wie vorgestern, dass dann alle Irrlichtern, die in dieser Zeit und in der Minute geboren werden, Menschen werden können und jedes von ihnen ein ganzes Jahr lang ringsum seine Macht üben kann.

Das Irrlicht kann durch das Land und um die Welt ziehen, wenn es nicht Angst hat, in den See zu fallen oder in einem starken Sturm ausgeblasen zu werden. Es kann in einen Menschen hineinfahren, für ihn sprechen und alle Bewegungen machen, wie es will. Das Irrlicht kann jede Gestalt, die es will, annehmen, sei es Mann oder Frau, kann in ihrem Verstand nach seiner Art handeln, so dass dabei herauskommt, was es will; aber es muss 365 Menschen in einem Jahr auf falsche Wege zu führen verstehen – und zwar in großem Stil, sie von Recht und Wahrheit fortlocken, dann erreicht es das Höchste, wozu es ein Irrlicht bringen kann, nämlich Läufer vor des Teufels Staatskarosse zu werden, glühende feuergelbe Kleider zu tragen und Flammen aus seinem Hals herauszupusten. Nach einer solcher Stellung kann sich ein einfaches Irrlicht den Mund lecken. Aber damit ist auch Gefahr und eine große Unannehmlichkeit für ein ehrgeiziges Irrlicht verbunden, das gerne diese Rolle spielen will. Gehen dem Menschen nämlich die Augen auf und sieht er, wer da in ihm ist, und kann es wegblasen, so ist es aus mit ihm und es muss zurück in den Sumpf; und wenn ein Irrlicht, bevor das Jahr um ist, von der Sehnsucht gepackt wird, zu seiner Familie zu kommen, und sich selber aufgibt, so ist es auch aus mit ihm, es kann nicht länger hell brennen, geht bald aus und kann nicht wieder angezündet werden. Und ist das Jahr zu Ende und es hat dann noch nicht 365 Menschen von der Wahrheit und von dem, was schön und gut ist, fortgelockt, so ist es verurteilt, in faulem Holz zu liegen und nach außen hin zu leuchten, ohne sich rühren zu können; das ist die fürchterlichste Strafe für ein lebhaftes Irrlicht.

All dies wusste ich und all dies sagte ich den zwölf kleinen Irrlichtern, die ich auf dem Schoß hatte und die wie toll vor Freude waren. Ich sagte ihnen, dass es das Sicherste und Bequemste wäre, die Ehre ihrer besonderen Geburt aufzugeben und nichts anzustellen; das wollten die jungen Flammen aber nicht, sie sahen sich schon in glühenden brandgelben Kleidern, mit der Flamme zum Halse heraus.

»Bleibt bei uns«, sagten einige von den Alten. »Treibt euer Spiel mit den Menschen!« sagten die andern. »Die Menschen trocknen unsere Wiesen aus, sie legen Dränage. Was soll da aus unseren Nachkommen werden!« »Wir wollen flammen, wollen flammen, flammen!« sagten die neugeborenen Irrlichter, und so war es abgemacht.
Danach war sofort Minutenball, kürzer konnte er nicht sein. Die Elfenmädchen schwangen sich dreimal herum mit allen den andern, um nicht hochmütig zu erscheinen; sie tanzen sonst am liebsten mit sich selber. Dann wurden die Patengeschenke verteilt, »rikoschettiert«, wie man sagt. Diese flogen wie Kieselsteine über das Moorwasser hin. Jedes von den Elfenmädchen gab einen Zipfel von seinem Schleier. »Nimm ihn«, sagten sie, »dann kannst du gleich den höheren Tanz, die schwierigsten Schwünge und Wendungen, das heißt, wenn es nötig ist; du bekommst die richtige Haltung und kannst dich in der steifsten Gesellschaft zeigen.«

Der Nachtrabe lehrte jedes der jungen Irrlichter, »bra, bra, brav!« zu sagen, und zwar an der richtigen Stelle zu sagen; das ist eine große Gabe, die sich selber belohnt. Die Eule und der Storch – aber das war nicht der Rede wert, davon zu sprechen, sagten sie; also reden wir nicht davon.

König Waldemars wilde Jagd fuhr gerade über das Moor hin, und als diese Herrschaften von dem Fest hörten, sandten sie als Geschenk ein paar feine Hunde, die mit Windeseile jagen und wohl ein Irrlicht tragen können oder auch drei. Zwei alte Nachtmahre, die vom Alpdrücken leben, waren mit bei dem Fest; die lehrten die neuen Irrlichter gleich die Kunst, durch ein Schlüsselloch zu schlüpfen; das ist dann so, als ob einem alle Türen offenstünden. Sie boten sich an, die jungen Irrlichter in die Stadt zu führen, wo sie gut Bescheid wüssten. Sie reiten gewöhnlich auf ihrem eigenen langen Nackenhaar, das sie in einen Knoten gebunden haben, um fest darauf zu sitzen, durch die Luft; aber nun setzten sie sich beide quer auf die Hunde der wilden Jagd, nahmen die jungen Irrlichter, die in die Stadt sollten, um die Menschen zu verwirren und zu verführen, auf den Schoß – husch! waren sie fort. Das war alles vorgestern Nacht. Nun sind die Irrlichter in der Stadt, jetzt haben sie die Sache schon angepackt, aber wie und wo – ja, sag mir das! Ich habe einen Wetterfaden in meinem großen Zeh, der mir immer etwas davon erzählt.«
»Das ist ein ganzes Märchen!« sagte der Mann.
»Das ist doch nur der Anfang von einem«, antwortete die Frau. »Können Sie mir erzählen, wie sich die Irrlichter nun tummeln und betragen, in welchen Gestalten sie aufgetreten sind, um die Menschen auf falsche Wege zu bringen?«

»Ich glaube wohl«, sagte der Mann, »es könnte ein ganzer Roman über die Irrlichter geschrieben werden, ganze zwölf Teile, einer über jedes Irrlicht, oder vielleicht noch besser eine ganze Volkskomödie.«
»Das sollten Sie schreiben«, sagte das Weib, »oder besser es lieber sein lassen!«
»Ja, das wäre angenehmer und bequemer«, sagte der Mann, »dann brauchte man sich nicht in der Zeitung zerreißen zu lassen; denn das ist einem genau so unangenehm wie einem Irrlicht, wenn es in einem Baume liegen und leuchten muss, aber sich nicht mucksen darf.«
»Mir ist das ganz gleich«, sagte die Moorfrau, »aber lassen Sie lieber andere schreiben, solche, die es können, und die, die es nicht können. Ich gebe Ihnen einen alten Zapfen von meinem Fass, der öffnet den Schrank mit der Poesie auf Flaschen, daraus können Sie bekommen, was Ihnen fehlt; aber Sie, mein guter Mann, scheinen mir nun Ihre Finger genug mit Tinte beklackert zu haben und sollten wohl in das Alter und zu der Gelassenheit gekommen sein, dass Sie nicht jedes Jahr dem Märchen nachlaufen müssen, wo nun viel wichtigere Dinge zu tun sind. Sie haben doch wohl verstanden, was los ist?«

»Die Irrlichter sind in der Stadt«, sagte der Mann. »Ich habe es gehört, ich habe es verstanden. Aber was meinen Sie, was ich tun soll? Es erginge mir ja doch schlecht, wenn ich sie sähe und den Leuten sagte: ‚Seht einmal, da geht ein Irrlicht im Maßanzug!‘«
»Sie gehen auch in Hemden«, sagte die Frau. »Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen und allerorten auftreten. Es geht in die Kirche, nicht um Gottes willen, nein – vielleicht ist es sogar in den Priester gefahren. Es spricht am Wahltag nicht zu des Landes und des Reiches Gunsten, sondern nur zu seinem eigenen Vorteil; es ist Künstler, sowohl im Farbentopf als auch im Theatertopf, aber bekommt es die ganze Macht, dann ist der Topf leer!

Ich schwatze und schwatze, doch es muss heraus, was ich auf dem Herzen habe, zum Schaden meiner eigenen Familie; aber ich muss jetzt die Retterin der Menschen sein! Das geschieht wahrlich nicht aus guter Absicht oder um einer Medaille willen. Ich tue das Verrückteste, was ich tun kann, ich sage es einem Poeten, und so bekommt es gleich die ganze Stadt zu wissen.«
»Die Stadt nimmt sich das nicht zu Herzen«, sagte der Mann. »Das wird keinen einzigen Menschen bekümmern; sie glauben alle, dass ich ein Märchen erzähle, während ich ihnen im tiefsten Ernst sage: ‚Die Irrlichter sind in der Stadt‘, sagte die Moorfrau, ‚nehmt euch in Acht.‘«

Ich habe den Text aus „Sämmtliche Märchen“ sprachlich überarbeitet und mich dabei auf die Übersetzung in„Neue Märchen und Geschichten. Zweite Folge“ (1866) gestützt, gelegentlich auch einen Blick in Eva-Maria Blühms Textfassung geworfen. Ein kurze Analyse steht hier: https://norberto42.wordpress.com/2010/11/10/andersen-die-irrlichter-sind-in-der-stadt-sagte-die-moorfrau-kurze-analyse/

Hans Chr. Andersen: Der Kobold und die Madame – Text und Analyse

Andersen: Der Kobold und die Madame

Den Kobold kennst du; aber kennst du auch die Madame, die Gärtnersfrau? Sie besaß Bildung, kannte Gedichte auswendig, sie konnte mit Leichtigkeit selber welche schreiben; nur die Reime, „das Geklingel“, wie sie es nannte, machten ihr ein wenig Mühe. Sie war zum Schreiben und Reden begabt, sie hätte sehr gut Pastor sein können, wenigstens die Frau eines Pastors.

Die Erde ist herrlich in ihrem Sonntagskleid!“ sagte sie, und den Gedanken hatte sie in Verse und „Geklingel“ gebracht, hatte ein schönes langes Lied daraus gemacht.

Der Seminarist, Herr Kisserup, der Name tut aber nichts zur Sache, des Gärtners Neffe, besuchte die Gärtnersleute. Er hörte dort das Gedicht der Madame; das tue ihm gut, sagte er, tue im Innersten richtig gut. „Sie haben Geist, Madame“, sagte er.

Unsinn“, sagte der Gärtner. „Setz ihr nicht so was in den Kopf! Eine Frau soll Körper sein, ordentlicher Körper, und auf ihren Kochtopf achtgeben, damit die Grütze nicht anbrennt.“

Das Angebrannte schabe ich schon ab“, sagte die Madame. „Und wenn du dich darüber aufregst, bekommst du ein Küsschen. Man sollte meinen, du dächtest nur an Kohl und Kartoffeln, in Wahrheit liebst du jedoch die Blumen.“ Und dabei küsste sie ihn. „Die Blumen sind der Geist“, sagte sie.

Pass auf deinen Kochtopf auf!“ sagte er und ging in den Garten. Der war sein Kochtopf, auf den gab er acht.

Aber der Seminarist blieb bei der Madame sitzen und redete mit ihr. Über ihre ergreifenden Worte „Die Erde ist herrlich“ hielt er ihr auf seine Weise eine ganze Predigt.

Die Erde ist herrlich; machet sie euch untertan, wurde gesagt, und wir wurden ihre Herren. Einer ist es durch den Geist, der andere durch den Körper; der eine wurde als Ausrufezeichen des Bewunderns in die Welt gesetzt, ein anderer als Gedankenstrich, so dass man wohl fragen kann, was er hier soll. Einer wird Bischof, ein anderer nur ein kleiner Seminarist, aber alles ist weise eingerichtet. Die Erde ist herrlich, sie ist immer im Sonntagskleid. Ihr Gedicht, Madame, war geistreich, voller Gefühl und Geographie.“

Sie haben Geist, Herr Kisserup“, sagte die Madame, „einen großen Geist, das versichere ich Ihnen! Man gewinnt Klarheit über sich selber, wenn man mit Ihnen spricht.“

Und dann redeten sie weiter, beide schön und beide gut; aber draußen in der Küche redete auch jemand, nämlich der Kobold, der kleine graugekleidete Kobold mit der roten Mütze, du kennst ihn! Der Kobold saß in der Küche und war ein Topfgucker; er redete, aber niemand hörte ihn, außer der großen schwarzen Katze, dem Sahnedieb, wie die Madame sie nannte.

Der Kobold war böse auf die Madame, denn diese glaubte nicht an seine Existenz, das wusste er; sie hatte ihn zwar niemals gesehen, aber bei all ihrer Belesenheit müsste sie doch wissen, dass er existierte, und ihm ab und zu eine kleine Aufmerksamkeit erweisen. Aber es fiel ihr nicht ein, am Weihnachtsabend auch nur einen Löffel Milchreis für ihn hinzustellen; den hatten alle seine Vorfahren bekommen, und zwar von lauter Madames, die gar nicht belesen waren. Der Reis hatte in Butter und Sahne geschwommen; die Katze bekam ganz feuchte Lippen, wenn sie nur davon hörte.

Sie nennt mich einen bloßen Begriff“, sagte der Kobold, „das geht wirklich über meinen Verstand. Sie verleugnet mich damit! Das habe ich von ihr gehört, und heute habe ich wieder gelauscht. Sie sitzt da und säuselt dem Seminaristen, dem Kinderwärter, was vor. Ich sage mit dem Gärtner: ‚Pass du auf deinen Kochtopf auf!‘ Das tut sie aber nicht, und deshalb will ich dafür sorgen, dass er überkocht.“

Und der Kobold blies ins Feuer, dass es aufflackerte und hell brannte. Surre-rurre-rupp, da kochte der Topf über.

Jetzt will ich hingehen und Löcher in Vaters Socken machen“, sagte der Kobold. „Ich will ein großes Loch in die Hacke und in die Zehe reißen, dann hat sie was zu stopfen, wenn Madame nicht wieder dichten muss. Alte Dichterin, stopfe lieber Strümpfe!“ Die Katze musste niesen; sie war erkältet, obwohl sie immer mit Pelz ging.

Ich habe die Speisekammertür aufgeschlossen“, sagte der Kobold, „da steht gekochte Sahne, so dick wie Mehlbrei. Wenn du nicht naschen willst, werde ich es tun.“

Wenn ich doch die Schuld und die Prügel bekomme, will ich wenigstens auch von der Sahne schlecken“, sagte die Katze.

Erst die Sahne, dann die Haue!“ sagte der Kobold. „Aber nun will ich in des Seminaristen Stube gehen, seine Hosenträger über den Spiegel hängen und seine Socken in das Waschbecken legen; dann glaubt er, dass der Punsch zu stark und er im Kopf durcheinander war. Diese Nacht habe ich auf dem Holzstapel neben der Hundehütte gesessen; es ist mir ein Vergnügen, den Kettenhund zu ärgern. Ich ließ meine Beine herabhängen und baumeln. Der Hund konnte sie nicht erreichen, wie hoch er auch sprang; das ärgerte ihn. Er kläffte und kläffte, ich ließ die Beine weiter baumeln; es war ein Riesenspektakel. Der Seminarist erwachte davon; er stand dreimal auf und schaute nach, aber er sah mich nicht, obwohl er die Brille aufhatte; er schläft immer mit der Brille auf.“

Sag miau, wenn die Madame kommt“, sagte die Katze. „Ich höre nicht gut, ich bin heute krank.“

Du bist nur schleck-krank!“ sagte der Kobold. „Schleck drauflos, schleck die Krankheit weg! Aber trockne dir den Bart, damit keine Sahne daran hängen bleibt! Ich will jetzt hineingehen und lauschen.“

Und der Kobold stand an der Tür; die Tür war angelehnt, es befand sich niemand im Zimmer als die Madame und der Seminarist. Sie sprachen über das, was man, wie es der Seminarist so schön ausdrückte, in jedem Haus über Töpfe und Teller stellen sollte: über die Gaben des Geistes.

Herr Kisserup“, sagte die Madame, „nun will ich Ihnen in Bezug darauf etwas zeigen, was ich bisher noch keiner Menschenseele, am allerwenigsten einem Mann gezeigt habe, nämlich meine kleinen Dichtungen – einige sind freilich etwas länger. Ich habe sie ‚Widmungen einer germanischen Frau‘ genannt; ich liebe die uralten Wörter so sehr.“

Ja, die muss man auch lieben; man muss die Fremdwörter aus der Sprache ausmerzen.“ „Das tue ich auch“, entgegnete die Madame, „niemals werden Sie mich ‚Papa‘ oder ‚amüsieren‘ sagen hören; ich sage ‚Kindesvater‘ und ‚sich vergnügen‘.“ Und sie entnahm der Schublade ein Schreibheft mit hellgrünem Umschlag und zwei Tintenklecksen.

Es steht viel Ernstes in dem Buch!“ sagte sie. „Ich habe am meisten Sinn für das Traurige. Da ist ‚Der Seufzer in der Nacht‘, ‚Mein Abendrot‘ und ‚Als ich Klemm bekam‘, meinen Mann nämlich. Das letztere können Sie überspringen, obwohl viel Gefühl und tiefe Gedanken darin stecken. ‚Hausfrauenpflichten‘ ist das beste Gedicht! Aber alle sind traurig, darin liegt nun einmal meine Begabung. Nur eines ist in scherzendem Ton gehalten; das sind einige fröhliche Gedanken, wie man sie ja auch haben kann – nein, Sie dürfen nicht über mich lachen! – Gedanken darüber, dass ich eine Dichterin bin. Das alles kenne nur ich selbst und meine Schublade, und nun kennen Sie es auch, Herr Kisserup. Ich liebe die Poesie, sie kommt so über mich, sie neckt mich, sie beherrscht und leitet mich. Ich habe das in dem Gedicht ‚Der kleine Kobold‘ zum Ausdruck gebracht. Sie kennen ja den alten Volksglauben von dem Hauskobold, der stets seine Spielchen im Hause treibt. Ich habe mir vorgestellt, dass ich selber das Haus bin und dass die Poesie, das Gefühl in mir, der Kobold, der Geist ist, der alles leitet; seine Macht, seine Größe habe ich in ‚Der kleine Kobold‘ besungen. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie das niemals meinem Mann oder sonst jemandem verraten. Lesen Sie es laut, damit ich hören kann, ob Sie mein Werk verstehen.“

Und der Seminarist las und die Madame hörte zu, und der kleine Kobold hörte zu; er horchte, wie du weißt, und war gerade in dem Augenblick gekommen, als die Überschrift „Der kleine Kobold“ gelesen wurde.

Das betrifft mich ja!“ sagte er. „Was kann sie nur über mich geschrieben haben? Ja, ich will sie schon strafen; ich nehme ihr die Eier weg, nehme ihr die Hühner weg und jage dem Kalb das Fett ab. Sieh mal an, diese Madame!“

Und er lauschte mit spitzem Mund und langen Ohren; aber je mehr er von der Herrlichkeit und Macht des Kobolds, von seiner Gewalt über die Madame hörte – damit meinte sie ja, wie du weißt, die Dichtkunst, aber der Kobold verstand es wörtlich, er hielt sich an die Überschrift – um so heller wurde sein Lächeln, um so mehr strahlten seine Augen vor Freude. Es kam ein vornehmer Zug in seine Mundwinkel; er hob seine Fersen in die Höhe, stand auf den Zehenspitzen, wurde einen ganzen Zoll größer als sonst; er war entzückt über alles, was von dem kleinen Kobold gesagt wurde.

Die Madame hat Geist und große Bildung. Wie hab ich der Frau doch unrecht getan! Sie hat mich in ihre Gedichte aufgenommen, die werden gedruckt und gelesen werden! Von nun an soll die Katze nicht mehr ihre Sahne trinken dürfen, das werde ich selber tun! Einer trinkt weniger als zwei, das ist immer eine Ersparnis; das will ich so einführen, die Madame will ich achten und ehren.“

Er ist ja der reinste Mensch, dieser Kobold!“ sagte die Katze. „Nur ein süßes Miau von der Madame, ein Miau über ihn selber, und schon ist er anders gesinnt. Die Madame hat‘s hinter den Ohren!“

Aber nicht die Madame hatte es hinter den Ohren; es war der Kobold, der wie ein Mensch dachte.

Wenn du diese Geschichte nicht recht verstehst, so frage ruhig; aber den Kobold darfst du nicht fragen und auch nicht die Madame.

Ich habe den Text aus „Sämmtliche Märchen“ sprachlich überarbeitet und mich dabei auch auf Eva-Maria Blühms Übersetzung (ebenfalls eine Überarbeitung von „Sämmtliche Märchen“) und „Neue Märchen und Geschichten. Fünfte Folge“ von H.C. Andersen, 1872, bezogen (dort als „Das Petermännchen und die Madame“). Eine Analyse steht hier: https://norberto42.wordpress.com/2010/11/10/andersen-der-kobold-und-die-madam-kurze-analyse/

Hans Chr. Andersen: Die Stopfnadel – Text und Analyse

Andersen: Die Stopfnadel
Es war einmal eine Stopfnadel, die sich für so fein hielt, dass sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein.
»Seht nur darauf, dass Ihr mich haltet!« sagte die Stopfnadel zu den Fingern, die sie hervornahmen. »Verliert mich nicht! Falle ich hinunter, so ist es sehr fraglich, ob ich wieder gefunden werde, so fein bin ich.«
»Das geht noch an«, sagten die Finger und fassten sie um den Leib.
»Seht ihr, ich komme mit Gefolge!« sagte die Stopfnadel, und dann zog sie einen langen Faden nach sich, der aber keinen Knoten hatte.
Die Finger richteten die Stopfnadel gerade gegen den Pantoffel der Köchin, an dem das Oberleder abgeplatzt war und jetzt wieder zusammengenäht werden sollte.
»Das ist eine gemeine Arbeit«, sagte die Stopfnadel, »ich komme nie hindurch, ich breche! ich breche!« – und da brach sie. »Habe ich es nicht gesagt?« seufzte die Stopfnadel; »ich bin zu fein.«
»Nun taugt sie nichts mehr«, meinten die Finger, aber sie mussten sie festhalten; die Köchin betröpfelte sie mit Siegellack und steckte sie dann vorn in ihr Tuch.
»Seht, jetzt bin ich eine Busennadel!« sagte die Stopfnadel. »Ich wußte wohl, dass ich zu Ehren kommen werde;wenn man etwas wert ist, so wird man auch anerkannt.« Dann lachte sie innerlich, denn von außen kann man es einer Stopfnadel nicht ansehen, dass sie lacht; da saß sie nun so stolz, als wenn sie in einer Kutsche führe, und sah sich nach allen Seiten um.
»Sind Sie von Gold?« fragte die Stecknadel, welche ihre Nachbarin war. »Sie haben ein herrliches Äußere und Ihren eigenen Kopf, wenn der auch nur klein ist. Sie müssen danach trachten, dass derselbe wächst, denn man kann nicht allen das Ende mit Lack betröpfeln.« Darauf hob sich die Stopfnadel so stolz in die Höhe, dass sie aus dem Tuch in die Gosse fiel, gerade als die Köchin das Spülwasser ausschüttete.
»Nun gehen wir auf Reisen«, sagte die Stopfnadel; »wenn ich nur nicht dabei verloren gehe.« Aber sie ging verloren.
»Ich bin zu fein für diese Welt!« sagte sie, als sie im Rinnstein saß. »Aber ich weiß, wer ich bin,, und das bleibt immer ein kleines Vergnügen.« Die Stopfnadel behielt ihre Haltung und verlor ihre gute Laune nicht.
Es schwamm dann allerlei über sie hin, Späne, Stroh und Fetzen von Zeitungen. »Sieh, wie sie segeln«, sagte die Stopfnadel. »Sie wissen nicht, was unter ihnen steckt. Ich stecke, ich sitze hier. Da treibt nun ein Span, der denkt an nichts in der Welt, ausgenommen an Späne, wie er selbst einer ist; da schwimmt ein Strohhalm, sieh, wie der sich schwenkt, wie der sich dreht! Denke nicht so viel an dich selbst, du könntest dich an einen Stein stoßen. Da schwimmt eine Zeitung! – Vergessen ist, was darin steht, und doch macht sie sich breit. Ich sitze geduldig und still; ich weiß was ich bin, und das bleibe ich.«
Eines Tages lag etwas dicht neben ihr, was herrlich glänzte, und da glaubte die Stopfnadel, dass es ein Diamant sei; aber es war ein Glasscherben, und weil derselbe glänzte, so redete die Stopfnadel ihn an und gab sich als Busennadel zu erkennen. »Sie sind wohl ein Diamant?« – »Ja, ich bin etwas derArt!« Und so glaubte eins vom andern, dass sie recht kostbar seien, und dann sprachen sie darüber, wie hochmütig die Welt sei.
»Ich habe in einer Schachtel bei einer Jungfrau gewohnt«, sagte die Stopfnadel, »und die Jungfrau war Köchin; sie hatte an jeder Hand fünf Finger. Aber etwas so Eingebildetes wie diese fünf Finger habe ich noch nie gesehen, und doch waren sie nur dazu da, um mich zu halten, mich aus der Schachtel zu nehmen und mich in die Schachtel zu legen.«
»Glänzten sie denn?« fragte der Glasscherben.
»Glänzen?« sagte die Stopfnadel, »nein, aber hochmütig waren sie! Es waren fünf Brüder, alle geborene ›Finger‹, sie hielten sich stolz nebeneinander, obgleich sie von verschiedener Länge waren. Der äußerste, der Däumling, war kurz und dick; er stand nicht in Reih und Glied, sondern davor, und dann hatte er auch nur ein Gelenk im Rücken; er konnte bloß eine Verbeugung machen, aber er sagte, wenn er von einem Menschen abgehauen würde, dann sei dieser zum Kriegsdienste untauglich. Der Topflecker kam in Süßes und Saures, zeigte nach Sonne und Mond, und er verursachte den Druck, wenn sie schrieben; der Langemann sah den andern über den Kopf; der Goldmann ging mit einem Goldreif um den Leib, und der kleine Peter Spielmann tat gar nichts, und darauf war er stolz. Prahlerei war es und Prahlerei blieb es, und deshalb sprang ich in die Gosse.«
»Nun sitzen wir hier und glänzen!« sagte der Glasscherben. Gleichzeitig kam mehr Wasser in den Rinnstein, es trat über den Rand und riss den Glasscherben mit sich fort.
»Sieh, nun wurde dieser befördert!« sagte die Stopfnadel. »Ich bleibe sitzen, ich bin zu fein; aber das ist mein Stolz, und der ist achtenswert!« So saß sie aufrecht da und machte sich viele Gedanken.
»Ich möchte fast glauben, dass ich von einem Sonnenstrahl geboren bin, so fein bin ich! Kommt es mir doch vor, als ob die Sonne mich immer unter dem Wasser suchte. Ach, ich bin so fein, dass meine eigene Mutter mich nicht finden kann.Hätte ich mein altes Auge noch, welches abbrach, so glaube ich, ich könnte weinen. – Aber ich würde es nicht tun – es ist nicht fein zu weinen.«
Eines Tages kamen einige Straßenjungen und wühlten im Rinnstein, wo sie alte Nägel, Pfennige und dergleichen fanden. Das war eine schmuddelige Sache, doch machte es ihnen Vergnügen.
»Au!« sagte der eine, der sich an der Stopfnadel stach. »Das ist aber ein Kerl!«
»Ich bin kein Kerl, ich bin ein Fräulein«, sagte die Stopfnadel, aber niemand hörte es. Der Siegellack war von ihr abgegangen und sie war schwarz und dünn geworden; darum glaubte sie, dass sie noch feiner sei, als sie früher war.
»Da kommt eine Eierschale angesegelt«, sagten die Jungen und steckten die Stopfnadel in die Schale.
»Weiße Wände und selbst schwarz«, sagte die Stopfnadel, »das kleidet gut! Nun kann man mich doch sehen. – Wenn ich nur nicht seekrank werde, sonst breche ich noch mehr entzwei!« Aber sie wurde nicht seekrank.
»Es ist gut gegen die Seekrankheit, einen Stahlmagen zu haben und immer daran zu denken, dass man etwas mehr als ein Mensch ist. Nun ist es bei mir vorbei. Je feiner man ist, desto mehr kann man aushalten.«
»Krach!« sagte die Eierschale, es ging ein Lastwagen über sie hinweg. »Au, wie das drückt!« sagte die Stopfnadel. »Jetzt werde ich doch seekrank!« Aber sie wurde es nicht, obgleich ein Lastwagen über sie gefahren war; sie lag der Länge nach da und – so mag sie auch liegen bleiben.
(Auf der Grundlage mehrerer Übersetzungen wurde der Text aus http://literaturnetz.org/ von mir nach meinem Sprachgefühl und Sachverstand überarbeitet.)
Die Analyse steht hier.

Andersen: Das ist wirklich wahr / Andersens Märchen

Zu Beginn möchte ich darauf hinweisen, dass diese Erzählung (wie viele Märchen Andersens) unter verschiedenen Titeln kursiert, je nach der Übersetzung; man muss das beachten, wenn man einen Text im Netz sucht. Zweitens ist diese Fabel eine von mir überarbeitete Fassung, die ich im Netz gefunden habe. Ich habe mich dabei an „Mährchen, Abenteuer und Geschichten für Jung und Alt“ (s. unten!) orientiert.

Andersen: Das ist wirklich wahr (= Es ist wahrhaftig wahr, Es ist ganz gewiss!)

»Das ist ja eine schreckliche Geschichte«, sagte ein Huhn, und zwar an dem Ende des Dorfes, wo die Geschichte nicht passiert war. »Das ist ja eine gräuliche Geschichte, die in einem Hühnerhaus drüben passiert ist. Ich getraue mich gar nicht, heute Nacht allein zu schlafen! Es ist nur gut, dass wir so viele im Stalle sind« – Und dann erzählte es, dass sich den anderen Hühnern die Federn sträubten und dem Hahn der Kamm einknickte. „Es ist wirklich wahr“, sagte es.

Aber wir wollen am Anfang anfangen, und der war am anderen Ende des Dorfes in einem Hühnerstall. Die Sonne ging gerade unter und die Hühner stiegen einzeln die Stangen hinauf. Eins von ihnen, es hatte weiße Federn und kurze Beine, legte immer brav die vorgeschriebene Anzahl Eier und war, als Huhn, in jeder Hinsicht respektabel. Als es die Leiter hinaufstieg, rupfte es sich mit dem Schnabel, und dabei fiel ihm eine kleine Feder aus. »Hin ist hin«, sagte es. »Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!« Das war scherzhaft dahingesagt; denn es war das lustigste unter den Hühnern; im Übrigen war es, wie gesagt, sehr respektabel. Und dann schlief es ein.

Ringsum war es dunkel, Huhn an Huhn saß auf der Stange; aber eines, das neben dem einen Huhn saß, schlief noch nicht. Es hörte halb hin, halb hörte es nicht – wie man es ja in dieser Welt handhaben soll, um seine Gemütsruhe zu bewahren. Aber seiner anderen Nachbarin musste es doch noch schnell zuflüstern: »Hast du gehört, was eben gesprochen wurde? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schöner auszusehen! Wenn ich der Hahn wäre, würde ich es verachten.«

Gegenüber den Hühnern saß die Eule mit ihrer Familie, wo man bekanntlich gute Ohren hat; sie hörten jedes Wort, was das Nachbarhuhn sagte. Die Eulenmutter schlug mit den Flügeln und sagte zu ihren Jungen: »Habt ihr gehört, was dort drüben gesprochen wurde? Da ist eins unter den Hühnern, was in einem solchen Maß vergessen hat, was sich für ein Huhn gehört, dass es sich alle Federn vom Leibe rupft und das sogar den Hahn dabei zusehen lässt!«

»Prenez garde aux enfants!« sagte der Eulenvater, »das ist nichts für Kinder.« Die Eule erwiderte: »Ich will es doch der Nachbarin erzählen. Das ist eine anständige Eule!« Damit flog die Mutter fort.

»Hu-Hu! Uhuh!« tuteten die beiden in den Taubenschlag gegenüber zu den Tauben hinein. »Habt ihr schon gehört? Uhuh! Da ist ein Huhn, das sich alle Federn wegen des Hahns ausgerupft hat. Es wird sich zu Tode frieren, wenn es nicht schon tot ist, uhuh!«

»Wo? Wo?« gurrten die Tauben. »Im Nachbarhof! Ich habe es so gut wie selbst gesehen. Das ist zwar eine etwas unanständige Angelegenheit, aber es ist wirklich wahr!«

»Glauben‘s, glauben jedes Wort«, sagten die Tauben und gurrten zu ihrem Hühnerstall hinab: »Da ist ein Huhn, ja, einige sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn

ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und die Aufmerksamkeit des Hahns zu gewinnen. Das ist ein gewagtes Spiel! Man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben; nun sind sie beide tot!«

»Wacht auf! Wacht auf!« krähte der Hahn und flog auf den Zaun. Der Schlaf saß ihm noch in den Augen, aber er krähte trotzdem: »Es sind hier im Dorf drei Hühner aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn gestorben! Sie haben sich alle Federn ausgerupft. Das ist eine hässliche Geschichte; ich kann sie nicht für mich behalten, lasst sie weitergehen!«

»Lasst sie weitergehen!« pfiffen die Fledermäuse, und die Hühner gluckten und der Hahn krähte: »Lasst sie weitergehen! Lasst sie weitergehen!« Und so wanderte die Geschichte von Hühnerstall zu Hühnerstall und kam zuletzt an die Stelle, von wo sie ausgegangen war.

»Da sind fünf Hühner«, hieß es nun, »die sich alle Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen aus Liebeskummer um den Hahn am magersten geworden war, und sie hackten aufeinander ein, bis das Blut floss, und fielen tot zur Erde – zu Schimpf und Schande ihrer Familie und dem Besitzer zum großen Verlust.«

Das Huhn, das die kleine Feder verloren hatte, erkannte sich natürlich in der Geschichte nicht wieder, und da es ein respektables Huhn war, sagte es: »Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt noch mehr dieser Art unter uns. So etwas soll man nicht vertuschen; ich will jedenfalls das meinige dazu beitragen, dass die Geschichte in die Zeitung kommt. Dann geht sie durch das ganze Land, das haben diese Hühner verdient und ihre ganze Familie auch!«

Und es kam mit allen Einzelheiten in die Zeitung und wurde gedruckt. Und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden.

(Auf der Grundlage mehrerer Übersetzungen wurde der Text aus http://literaturnetz.org/ = „Sämmtliche Märchen“ von mir nach Sprachgefühl und Sachverstand überarbeitet.)

Die Analyse steht hier: https://norberto42.wordpress.com/2010/11/12/andersen-es-ist-wahrhaftig-wahr-kurze-analyse/

Text der Märchen Andersens:

Mährchen, Abenteuer und Geschichten für Jung und Alt von H. C. Andersen. Vollständigste Ausgabe. Dem Dänischen nacherzählt. Braunschweig 1864

Das ist ein Sammelband mehrerer Einzelbände, deren Inhaltsverzeichnisse findet man hier:

https://archive.org/details/bub_gb_EgMOAAAAYAAJ/page/n9/mode/2up

https://archive.org/details/bub_gb_EgMOAAAAYAAJ/page/n253/mode/2up

https://archive.org/details/bub_gb_EgMOAAAAYAAJ/page/n457/mode/2up

https://archive.org/details/bub_gb_EgMOAAAAYAAJ/page/n655/mode/2up

Außerdem: H.C. Andersen‘s Sämmtliche Märchen, Leipzig 1882 (24. Aufl.) https://archive.org/details/bub_gb_syIoAAAAMAAJ/page/n9/mode/2up

= https://archive.org/details/hcandersenssmmt00andegoog/page/n15/mode/2up

H. C. Andersen: Neue Märchen und Geschichten, Leipzig 1875 (Achtung: 5 Teile!) https://archive.org/details/bub_gb_bwMGAAAAQAAJ/page/n9/mode/2up

H. C. Andersen‘s Letzte Märchen nebst von ihm selbst niedergeschriebenen Bemerkungen über Entstehung und Fortschreiten der Märchen, Leipzig 1876 https://archive.org/details/letztemrchenneb00helmgoog/page/n12/mode/2up

In der Übersetzung von „Sämmtliche Märchen“: https://www.projekt-gutenberg.org/andersen/maerchen/index.html; teilweise sind bei projekt-gutenberg auch andere Quellen berücksichtigt! Interessante Übersetzungen der Märchen habe ich erst später hier gefunden, die Märchen sind alphabetisch rückwärts sortiert.

Die im Netz greifbaren Textsammlungen (hekaya, zeno.org, literaturnetz.org usw.) beruhen alle auf der alten Übersetzung „Sämmtliche Märchen“, die frei zur Verfügung steht, und sind z.T. unvollständig, enthalten auch Lesefehler (aufgrund des Drucks in Fraktur im 19. Jh.). Vielleicht ist http://literaturnetz.org/2523 vollständig.

Vgl. auch Gellerts Fabel „Die Mißgeburt“ (18. Jh.)!

Zu Andersens Märchen „Das ist wirklich wahr“ schrieb mir jemand:

Die schreckliche Hühner-Geschichte ermöglicht sicher verschiedene Interpretationen. Kurz gesagt, die Liebe, die hier beschrieben wird, führte in den Abgrund, in den Tod. Diese Art von Liebe ist kein Vorbild, einfach nur destruktiv und tragisch!

Bei aller Freiheit der subjektiven Lektüre – das geht um 180° am Text vorbei! Ich könnte auch noch Böseres dazu schreiben.

Morgenstern: Der Tanz – für Kinder erläutert

Christian Morgenstern: Der Tanz (1905)

Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule

trafen sich im Schatten einer Säule,

die im Geiste ihres Schöpfers stand.

Und zum Spiel der Fiedelbogenpflanze

reichten sich die zwei zum Tanze

Fuß und Hand.

   Und auf seinen dreien rosa Beinen

hüpfte das Vierviertelschwein graziös,

und die Auftakteul auf ihrem einen

wiegte rhythmisch ihr Gekrös.

Und der Schatten fiel,

und der Pflanze Spiel

klang verwirrend melodiös.

   Doch des Schöpfers Hirn war nicht von Eisen,

und die Säule schwand, wie sie gekommen war;

und so mußte denn auch unser Paar

wieder in sein Nichts zurücke reisen.

Einen letzten Strich

tat der Geigerich –

und dann war nichts weiter zu beweisen.

Erläuterungen für Kinder:

V. 1 Vierviertelschwein: Das ist ein ungewöhnlich zusammengesetztes Hauptwort. Was ein Wildschwein ist, weiß man: ein Schwein, das wild im Wald lebt; ein Hausschwein ist ein Schwein, das im Stall in einem Haus lebt. „Vierviertelschwein“ hat man noch nie gehört – und die Angabe des Taktes, Vierviertel, passt nicht zu einem Schwein. Wenn man den ersten Vers des Gedichtes spricht, hört sich das etwa so an (betonte Silben sind fett gesetzt): Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule…, und im Viervierteltakt gesetzt: Ein Vierviertel / schwein und eine / Auftakteule… Der Vers bestände also aus drei Takten mit vier Silben (= Vierteltakten). Bei Gedichten sagt man, dass das sechs Takte mit dem Metrum Trochäus (Abfolge betonte/unbetonte Silbe) sind.

Auftakteule: Im gleichen Vers treffen wir auf ein weiteres Tier, das wir nicht kennen. Aber der Auftakt gehört in die Musik und bezeichnet den Beginn eines Liedes oder Stücks auf einem unbetonten Taktteil vor der ersten Hauptbetonung. Das gilt auch für Gedichte, etwa so: Im / Frühtau zu / Berge wir / zieh‘n, faller / a – – . Hier ist „Im“ der Auftakt; es folgen vier Dreivierteltakte, wovon dem letzten zwei Silben fehlen.

Vierviertelschwein und Auftakteule sind also Tiere, die in der Musik leben; das Gedicht hat ja auch den Titel „Der Tanz“.

V. 3 die im Geiste ihres Schöpfers stand: Da sie sonst nirgendwo stand, war es eine bloß erdachte oder vorgestellte Säule.

V. 4 Fiedelbogenpflanze: Das verstehen wir jetzt sofort, es ist eine Pflanze, die eine Geige (Fiedel) spielt.

V. 6 Fuß und Hand: Schwein und Eule haben zwar keine Hände, aber beim klassischen Tanzen nimmt der Herr die Dame in den rechten Arm und fasst mit der linken Hand ihre freie Hand; wenn Schwein und Eule miteinander tanzen, müssen sie sich also auch mit einer Hand anfassen. Vers 6 besteht nur aus zwei Takten, wovon der letzte unvollständig ist (= kleine Pause); da dem Vers zwei Takte fehlen, muss er ganz ruhig gesprochen werden, weil man wie bisher vier vollständige Takte erwartet.

V. 7 drei rosa Beine: Das eine Bein hat das Schwein als Hand der Eule gereicht; aber da sich die beiden auch den Fuß reichen, kann es eigentlich nur auf einem Bein hüpfen.

V. 8 graziös: anmutig, leicht beschwingt

V. 10 Gekrös(e): ein Teil des Leibesinneren, des Bauchfells; allgemein: die Innereien, also der Inhalt der Bauchhöhle. – Man darf „Gekrös“ hier nicht zu allzu wörtlich nehmen, der Dichter brauchte schließlich ein Wort, das sich auf „graziös“ reimt.

V. 11 der Schatten: der Schatten der Säule, siehe V. 2!

V. 11 und 12 sind so wie Vers 6 gebaut, nur dass sie einen Takt mehr aufweisen, aber immer noch keine vier Takte: also ruhig sprechen!

V. 13 weist ihnen gegenüber einen zusätzlichen Takt auf, endet ebenso wie diese mit einer betonten Silbe (= kleine Pause, dazu kommt der Punkt des Satzendes: Stimme senken!).

V. 13 melodiös: Das Adjektiv wird von „Melodie“ abgeleitet.

V. 14 des Schöpfers: der vorgestellten Säule, siehe V. 3!

V. 14 nicht von Eisen: war nicht stabil, nicht beständig; Folge davon siehe V. 15!

V. 15 schwand: verschwand

V. 17 in sein Nichts zurückreisen: Es gab auch die Tiere offensichtlich nur im Geist ihres Schöpfers (siehe V. 3), es waren Phantasiegebilde.

V. 19 der Geigerich: der Geiger; das Nomen ist ähnlich wie „der Enterich“ gebildet, die männliche Form zu „die Ente“ – nur dass „die Geige“ nicht eine Spielerin, sondern das Instrument selbst bezeichnet; ein Wortwitz.

V. 20 besteht aus fünf Takten, was nach den beiden verkürzten Versen 18 und 19 einen guten Schluss bildet.

V. 20 nichts zu beweisen: Da alle Beteiligten sich in Nichts aufgelöst haben, kann man ihnen nichts (Böses) nachweisen.

Überschrift: Wenn du jetzt, nachdem du das Gedicht verstanden und ein paar Mal laut und sinnvoll gelesen hast, über die Überschrift nachdenkst, merkst du, dass hier nicht nur Schwein und Eule getanzt haben – wer oder was war es außerdem noch?

Vortrag des Gedichtes:

https://www.youtube.com/watch?v=-qES-9d9J7w (F. Friedrich, etwas zu langsam)

https://www.youtube.com/watch?v=LyGl4ZCCbz4 (F. Stavenhagen, sehr gut)

Ein Hinweis für Lehrer: zum Vergleich den Rhythmus von Goethes „Die Braut von Korinth“ heranziehen!

Friedrich Schiller: Die Bürgschaft – Interpretation

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich …

Text

https://www.friedrich-schiller-archiv.de/inhaltsangaben/schiller-die-buergschaft-inhaltsangabe-interpretation-und-quelle/ (Schiller-Archiv: Text mit Erläuterungen; die Entstehung ist in Wikipedia ausführlicher belegt; Aufbau: problematisch; Versmaß: knapp)

oder https://www.textlog.de/schiller-gedichte-buergschaft.html

oder https://archive.org/details/ausgewhlteball00heuwuoft/page/96/mode/2up (Heuwes: Text mit Erläuterungen zu Worten und sprachlichen Eigenheiten; Fabel des Hyginus S. 125)

Ergänzung und Korrektur der Erläuterungen im Schiller-Archiv

V. 1 Tyrann: ein Regent, welcher seine Gewalt zur Grausamkeit und Gewalttätigkeit missbraucht

V. 2 Möros: So heißt der Attentäter in Schillers Quelle, einer Fabel des Hyginus, sein Freund Selinuntius; bei einem anderer antiken Erzähler der Geschichte heißt der Attentäter Damon. Für die Prachtausgabe seiner Gedichte, die erst nach Schillers Tod erschienen ist, hat dieser als Überschrift „Damon und Pythias“ vorgesehen und in V. 2 Möros durch Damon ersetzt.

V. 13 Bürge: jemand, der einem Menschen verspricht, notfalls die Schuld eines anderen bei ihm zu bezahlen oder für dessen Verpflichtungen selber zu haften

V. 15 mit arger List: arglistig, bösartig

V. 20 erblassen: erbleichen, weil er stirbt

V. 22 gebeut: eine alte Präsensform von „gebieten“ (er gebietet)

V. 24 bezahle: büße

V. 24 frevelnd: unrechtmäßig, gesetzeswidrig

V. 28 die Bande: Plural zu „Band“

V. 37 die Quellen: das Wasser

V. 42 des Gewölbes: der Brücke

V. 66 Rotte: ein Haufen unter einem gemeinsamen Befehlshaber stehender Soldaten, wobei die Rotte etwa aus 6 bis 100 Mann besteht; am häufigsten nur ein kleiner Haufen

V. 68 schnauben: heftig atmen; im übertragenen Sinn für Gefühlsäußerungen, die mit heftigem Atmen verbunden sind

V. 83 verschmachten: verdursten

V. 111 den mutigen Glauben: „mutig“ heißt, vorher gesehenen Gefahren in Erwartung eines guten Ausgangs ohne Furcht entgegengehen; der Freund hat diesen Mut und Glauben an die Treue und Ehrlichkeit seines Freundes

V. 112 Hohn: Spott

V. 114 Es muss „als“ ergänzt werden: als ein Retter erscheinen (kommen)

V. 115 Es muss „mit“ ergänzt werden: mit ihm vereinen

V. 117 die Pflicht brechen: die Verpflichtungen brechen

V. 118 Er rechnet mit der Bosheit des Tyrannen, obwohl dieser ihm versprochen hatte, ihn zu schonen, falls er seinen Freund ermordet.

V. 131 Wundermär: Geschichte eines Wundes, eine unglaubliche Geschichte

V. 132 Rühren: Rührung, er ist gerührt

V. 138 Genosse: Genossen sind einander gleich, sie gehören einer anderen geschlossenen Gemeinschaft an (siehe V. 140: euer Bund).

Aufbau des Gedichts und Zeitstruktur des erzählten Geschehens

Die Erzählung steht unter der Idee, dass der Freund dem Freund die Treue hält.

Exposition: Der als Attentäter ergriffene Möros (oder Damon) bekommt vom Tyrannen Dionys eine Gnadenfrist und gewinnt seinen Freund dafür, mit seinem Leben dem König für Möros zu haften; er hat drei Tage Zeit, seine Schwester zu verheiraten und heimzukehren. Möros reist ab, verheiratet die Schwester und kehrt heim.

Die Exposition besteht aus zwei Szenen, dem Gespräch des Königs mit Möros und dem Gespräch des Mörus mit seinem Freund, die beinahe zeitdeckend erzählt werden. Stark gerafft werden Attentat und Festnahme des Mörus und seine Abreise berichtet – das alles ist Geschehen eines Tages (bis Str. 5, Vers 3). Die Hochzeit und der Aufbruch zur Heimreise werden nur erwähnt (Str. 5, V. 4-7, ein Tag), die Hinreise ist ausgespart.

Den Hauptteil macht die Heimreise am vierten Tag aus. Sie wird durch drei Hindernisse erschwert, die es Möros beinahe unmöglich machen, rechtzeitig heimzukehren, die er jedoch in Sorge um den bedrohten Freund überwindet.

  • Er steht vor einem reißenden Fluss, findet weder Brücke noch Fähre und schwimmt nach langem Warten hindurch (Str. 6-9). Eine Zeitangabe (Sonne im Süden, Str. 8, V. 4 f.) gibt es für die viele Stunden (Str. 8, V. 4; Str. 9, V. 3) dauernde Aktion.
  • Als zweites Hindernis taucht eine Räuberbande auf, die er in seiner Verzweiflung besiegt und aus dem Weg räumt (Str. 10 f.); der Kampf mag einige Minuten gedauert haben.
  • Eine indirekte Zeitangabe gibt es beim nächsten Hindernis: Die Sonne „versendet glühenden Brand“ (Str. 12, V. 1); das kann frühestens gegen 16 Uhr gewesen sein (vgl. die Mittagszeit in Str. 8 und die in Str. 9 genannten Stunden nebst dem Kampf, Str. 11). Er bricht „ermattet“ zusammen (Str. 12, V. 3); da rettet ihn eine Quelle, die er zufällig entdeckt (Str. 13), nachdem er zur Gottheit gebetet hat (Str. 12), Str. 12-13).

Nach einem Zeitsprung – es wird auf die Abendsonne verwiesen (Str. 14, V. 1-13), es mag also gegen 19 Uhr sein – wird vom letzten Teil der Heimreise erzählt, die Möros sehr lange vorkommen muss, weil ihm zweimal bedeutet wird, er könne zu spät kommen, um den Freund noch zu retten: Zuerst hört er zufällig den Spruch der Wanderer, dass der Freund jetzt ans Kreuz geschlagen werde (Str. 14); dann warnt ihn sein Hausverwalter, den Weg fortzusetzen, weil sein Freund „eben“ (Str. 16, V. 3; vgl. „Jetzt“ Str. 14, V. 7) den Tod erleide, was er um der Treue willen energisch ablehnt (Str. 15-18). Diese beiden Episoden sind retardierende Momente im Erzählen, sie steigern die Spannung: Kann der Freund noch vor dem Tod gerettet werden?

Der Hauptteil endet mit des Möros Ankunft in Syrakus, als die Sonne gerade untergeht (Str. 18, V. 1): Im letzten Moment erreicht er das für seinen Freund bestimmte Kreuz und bietet sich selbst als Opfer an (Str. 18).

Berichtet werden noch Erfolg und Belohnung der Anstrengungen des Möros (Str. 19-20):

  • Erstaunen des Volkes
  • Schmerz und Freude“ der Freunde
  • Rührung der Menschen, auch des Königs
  • Bitte des Königs, in den Freundschaftsbund aufgenommen zu werden.

Hat der König sein Angebot an Möros „mit arger List“ (Str. 3, V. 1) gemacht, so fühlt er zum Schluss „ein menschliches Rühren“ (Str. 19, V. 6) und bekennt: „Ihr habt das Herz mir bezwungen.“ (Str. 20, V. 3). Erfolg und Belohnung stellen sich wie im Märchen ein; dem übermenschlichen Einsatz des Möros hat die göttliche Hilfe (Gebet in Str. 8 und Str. 13; Hilfe ausdrücklich erwähnt in Str. 9, V. 7) entsprochen.

Der König spricht die Idee des Erzählers bzw. des Dichters aus, die am Beispiel gezeigt werden sollte: „Und die [Freundes]Treue, sie ist doch kein leerer Wahn“ (Str. 20, V. 4). Des Möros Treue zu seinem Freund, der für ihn mit dem Leben bürgt, zeigt der Erzähler immer wieder auf:

  • Trotz des Angebots des Königs, sich selber durch eine Flucht zu retten (Str. 3, V. 4-7),
  • und wegen des Freundes, der ohne Diskussion als Bürge haftet (Str. 5, V. 1 f.),
  • bricht Möros alsbald zur Heimreise auf (Str. 5, V. 6 f.),
  • sorgt er sich um des Freundes Leben, als er selbst in Gefahr ist (Str. 8, V. 3-7),
  • nimmt er den Kampf mit den Räubern auf (Str. 11, V. 4-7),
  • betet er erneut um Rettung, als er ermattet (Str. 12, V. 4-7),
  • hat er Angst, dass er zu spät kommen könnte (Str. 15, V. 1 f.),
  • will er um der Treue willen notfalls sein Leben als Opfer darbringen (Str. 17),
  • stoppt er die Hinrichtung und bietet sich selbst an (Str. 18, V. 6 f.).

Auch der Freund hat in scheinbar aussichtsloser Lage nie an des Möros Treue gezweifelt: „Ihm konnte den mutigen Glauben / Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.“ (Str. 16, V. 6 f.)

Aus der Zeitstruktur ergibt sich, wie der Erzähler die Akzente setzt: Dem Geschehen des ersten Tages (Attentat, Verhaftung, zwei Gespräche, Geiselnahme des Freundes, Abreise des Möros) – das alles mag etwa vier Stunden gedauert haben – sind vier Strophen und drei Verse gewidmet. Die Reise zur Schwester wird nicht erwähnt (Zeitsprung: ein Tag), am nächsten Tag ist die Hochzeit der Schwester (Str. 5, V. 3 f. – zwei Verse). Die Heimreise erfolgt am übernächsten Tag (Str. 5, V. 6 f. bis Str. 20 – vielleicht 16 oder 18 Stunden). Dem Bemühen des Möros, die Frist zur Rettung des Freundes nicht zu verpassen, und seiner Treue, in der er alle Hindernisse überwindet, gilt also das Hauptinteresse des Erzählers.

Zeitdeckend werden nur die Gespräche berichtet, wobei für die Bitte an den Freund nur sieben Verse reserviert sind, während dieser selber kein einziges Wort sagt – es ist wohl selbstverständlich, dass er für Möros einsteht. Die meiste Erzählzeit wird auf den Anfang, wo das Problem der Treue gestellt wird (Str. 1-4), und dann vor allem auf die Rückreise, wo sich des Möros Treue bewährt (Str. 6-18), verwendet.

Links zu Analyse und Interpretation

https://archive.org/details/schillersgedich02schigoog/page/n592/mode/2up (Viehoff: Quelle und Geschichte des Stoffs; Prinzipien der Bearbeitung durch Schiller; Kritik der Kritik am Gedicht; die Zeitangaben; das Metrum; Möros vs. Damon)

Vgl. zum Stoff die Geschichte „Damon und Phintias“ (in: Der Born Judas, Bd. 3, S. 234 f. = https://archive.org/details/derbornjudaslege03berd/page/234/mode/2up) und „Die Bürgschaft“ (in: Der Born Judas, Bd. 4, S. 20-22 = https://archive.org/details/derbornjudaslege04berd/page/20/mode/2up), dort jeweils in den Quellenangaben am Ende des Buches nachschauen!

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_B%C3%BCrgschaft (Entstehung und Idee, Wirkung)

https://literaturkritik.de/id/7772 (Helmut Koopmann: Hintergrund der Balladen Schillers; Erzähltechnik und Dramatisierung in „Die Bürgschaft“; Wirkung Schillers; Charakterisierung seiner Balladen; Schillers Intentionen; der bürgerliche und christliche Untergrund von Schillers Balladen; Kritik an Schiller, relativiert)

https://www.litde.com/gedichte-aus-sieben-jahrhunderten-interpretationen/die-brgschaft-friedrich-schiller.php (Jürgen Stenzel: antirevolutionäre Lesart; Interpretation aus Schillers Kunstverständnis)

https://archive.org/details/aufgabenausschil03teet/page/110/mode/2up (Teetz: Sprachliche und metrische Eigenheiten der Schillerschen Balladen)

Kommentar Heinrich Viehoffs

https://www.abipur.de/referate/stat/678736177.html (schülerhaft)

https://stiftung-rosenkreuz.org/text/buergschaft-schiller-dionys-ethik-treue-damon/ (gnostisch-hermetische Lesart, vieles ist spinnert und Phantasie)

http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/friedrich-schiller/die-buergschaft/die-buergschaft-lithographiert-und-verlag-von-joseph-trentsensky.html (Lithographien zum Gedicht)

http://archiv.lily-braun-gymnasium.de/a2002/buergsch1.html (Comic)

Rezitation

https://www.youtube.com/watch?v=fIclhGLGGVk (Anna M. Bössen, gut)

https://www.youtube.com/watch?v=-jAO9bVpqV8 (Fritz Stavenhagen, etwas zu ruhig)

https://www.youtube.com/watch?v=KfEJE2Kq4Lk (ab 4:45, Oskar Werner, zu schnell)

https://www.youtube.com/watch?v=-b4aEjmz_rw (M. D. Cremer, zu eintönig)

https://www.youtube.com/watch?v=SidKAcrBUC8 (Axel C. Schulz: durch Gestik unterstützt, interessanter Versuch) und weitere sowie Verfilmungen auf youtube

https://www.youtube.com/watch?v=vHQC7f5P-fU (Parodie: P. Frankenfeld)

Schillers Balladen muss man nicht (nur) lesen, sondern sprechen – so lange, bis man auch die Feinheiten sprachlich bewältigt.

Ich weise noch darauf hin, dass der Freundschaftsbund zwischen Karlos und Posa ein beherrschendes Motiv in Schillers „Don Karlos“ ist, vgl. Norbert Tholen: Friedrich Schiller: Don Karlos. Krapp & Gutknecht 2008, S. 18-21

Gedichte über Freundschaft:

https://www.lyrikmond.de/gedichte-thema-11-100.php

und natürlich Goethe: An den Mond, und Schiller: Ode an die Freude und Die Freundschaft.

Fr. Schiller: Das Mädchen aus der Fremde (1796) – Analyse

In einem Tal bei armen Hirten…

Text: https://www.friedrich-schiller-archiv.de/gedichte-schillers/highlights/das-maedchen-aus-der-fremde/

Interpretation durch einen Zeitgenossen Schillers, Christian Felix Weisse: Friedrich von Schillers Leben und Beurtheilung seiner vorzüglichsten Schriften. Reutlingen (1810), 3. Auflage 1817, S. 126-128:

Die Sammlung [von Schillers Gedichten, N.T.] wird mit einer kleinen Allegorie voll Anmuth eröffnet, die ihr statt der Vorrede dient. Die Klarheit und Heiterkeit der Darstellung, die zarteste Anspruchslosigkeit und der geheimnißvolle Schleyer selbst, welcher den Sinn umhüllt, haben dem Mädchen aus der Fremde auch das Herz derer gewonnen, die jenen Schleyer nicht zu lüften wußten. (…) Das Mädchen aus der Fremde ist die Poesie. Herbeygerufen durch die Innigkeit des Gefühls, welches die Blüthe und Anmuth der Natur zu wecken pflegt, tritt sie zuerst unter den einfachsten und unschuldigsten Kindern der Natur auf, die sie durch ihre Gegenwart beglückt und über die enge Sphäre ihres Daseyns erhebt. Niemand weiß, von wannen sie kömmt oder wohin sie geht, und ihr geheimnißvoller göttlicher Ursprung kündigt sich durch die edle Würde an, mit der sie sich von allem, was gemein und sterblich ist, entfernt. Sie beglückt die Menschen durch ihr heiteres Daseyn und durch die Gaben, die sie ihnen mittheilt; Gaben, die sie selbst in überirdischen Gegenden, in dem Lande der Ideale, gesammelt hat. Sie sind von der mannigfaltigsten Art, obgleich alle erfreulich und schön. Die einen, reizende Spiele der Phantasie und – gleichsam die Blumen der Dichtkunst – ergötzen durch ihre Anmuth: die anderen sind von ernsterer Art und den Früchten vergleichbar, nach denen das Alter vorzugsweise greift, während die Jugend sich mehr an jenen erfreut. Jeder hat Anspruch auf ihre Gunst; aber vor allen der Liebende. Denn die Liebe ist die Poesie des Lebens und es giebt keine Poesie ohne Liebe!

So drückt sich der Inhalt dieses Gedichts auf eine natürliche und ungezwungene Weise aus, und nur etwa in den Worten

Doch schnell war ihre Spur verloren,

Sobald das Mädchen Abschied nahm,

dürfte eine kleine Schwierigkeit übrig bleiben. Wenn man aber nicht nur an die Produkte der Poesie – welche freylich als ihre zurückbleibenden Spuren angesehen werden könnten – sondern an ihr eigenthümlichstes Wesen denkt, welches in dem besteht, was nicht erlernt und fortgepflanzt werden kann, so ist es offenbar, daß die Spuren der Poesie jedesmal mit dem Aufhören ihrer begeisternden Kraft entfliehen.“

(Erstmals in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 65. Bandes erstes Stück, herausgegeben von Christian Felix Weisse. Erster Theil. Leipzig 1801 bei Siegfr. Leberecht Crusius, S. 85-87)

Analyse

Ein Sprecher, der nirgendwo hervortritt, wendet sich an nicht im Text greifbare Hörer. Er erzählt von einem fremden Mädchen, das regelmäßig bei armen Hirten erscheint. Zuerst wird die Situation des Geschehens konstituiert (Personen, Ort, Zeit, Str. 1). Darauf wird das Mädchen in verschiedenen Hinsichten beschrieben: ihre Fremdheit (Str. 2), ihr wunderbares Wesen (Str. 3), ihre wunderbaren Gaben (Str. 4). Zum Schluss stehen die Empfänger der Gaben im Fokus des Erzählers (Str. 5-6). Es fällt auf, dass alle Angaben des Erzählers unbestimmt bleiben; nur bei den Gaben werden Früchte und Blumen genannt (Str. 5), bei den Empfängern „ein liebend Paar“ (Str. 6) hervorgehoben, womit jedoch alle liebenden Paare gemeint sind. Schon hieraus ergibt sich, dass nicht von einem bestimmten regelmäßig wiederkehrenden Ereignis („mit jedem jungen Jahr“, V. 2) erzählt wird. Weisses Hinweis, dass es sich um eine Allegorie handelt, erklärt unsere Beobachtungen.

An der Situation des Geschehens fallen vier Bestimmungen auf:

  • Es kommt ein fremdes Mädchen (Überschrift),
  • sie ist „schön und wunderbar“ (V. 4),
  • zu einfachen Menschen, abseits der großen Kultur (V. 1),
  • regelmäßig im Frühjahr, mit den ersten Lerchen (V. 2 f.).

Die beiden ersten Bestimmungen gehören zusammen; die Tatsache, dass sie offenbar nicht altert („mit jedem jungen Jahr“, V. 2), und die bleibende Fremdheit des Mädchens (Str. 2) sind Anzeichen dafür, dass sie der höheren Welt angehört. Sie ist eine Figur wie „Der Unbekannte“ Eichendorffs (1837, https://www.textlog.de/22784.html) oder wie der Unbekannte, den die Emmausjünger unterwegs treffen (Luk 24,13 ff.). Die Fremdheit des Mädchens, zu der auch ihre Namenlosigkeit gehört, wird in Str. 2 umschrieben; man kann sich von ihr auch keine Vorstellung machen, da „schön und wunderbar“ (V. 4) nichts über ihr Aussehen, ihre Größe, ihre Kleidung besagen, sondern nur Prädikate einer Welt sind, die anders als die Hirtenwelt ist, in die sie ungerufen immer wieder kommt. Die Wirkung der Trias fremd/schön/wunderbar auf die Hirten wird in Str. 3 beschrieben: Nähe und Abstand zugleich zeichnen sie aus. Dass ihre Nähe „beseligend“ ist (V. 9), rückt die Fremde in eine göttliche Sphäre; das Gleiche gilt von ihrer Würde und Höhe (V. 11). Als Wirkung ihres Auftretens wird genannt, dass alle Herzen „weit“ wurden, dass sie von Enge und Angst befreit, sozusagen erlöst wurden. Das erinnert daran, wie (ein paar Jahre später als Schillers Gedicht veröffentlicht) Faust die Menschen beim Osterspaziergang beschreibt:

Sie feiern die Auferstehung des Herrn,

Denn sie sind selber auferstanden,

Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,

Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,

Aus der Straßen quetschender Enge,

Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

Sind sie alle ans Licht gebracht. (V. 921 ff.)

Die Verbindung von Nähe und Abstand (V. 9-12) spiegelt die Eigenart des Numinosen, das zugleich mysterium tremendum und mysterium fascinosum ist (Rudolf Otto). Ihr Auftreten im Frühjahr bindet das fremde Mädchen an die Natur, an das Erwachen neuen Lebens, an Licht und Wärme (vgl. den Osterspaziergang: Ostern wird am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond gefeiert).

Die Gaben des Mädchens sind Blumen und Früchte, Schönes und Nützliches, die Gaben der Natur (V. 13). Es sind jedoch Gaben aus einer anderen Welt (andern, V. 14; andern, V. 15; glücklichern, V. 16): Im Frühjahr kann man zumindest keine normalen Früchte mitbringen, die gibt es im Sommer und vor allem im Herbst. Auch diese Früchte aus einer anderen Welt legen also ein allegorisches Verständnis des Mädchens aus der Fremde und seines Auftretens nahe.

Ihre Gaben sind für alle bestimmt, wie in Str. 5 mehrfach umschrieben wird: zweimal das Pronomen „jeder“, der / jener (also alle), Jüngling und Greis (Groß und Klein, also alle); dazu „alle“ (V. 21). Wichtig ist, dass ihre Gaben umsonst verteilt werden, dass ein jeder „beschenkt“ (V. 20) wird. Das Mädchen steht jenseits der Gesetze des Tausches, des Geschäftlichen, des Verkaufens und Verdienens. Sie ist eine Gestalt aus einer anderen Welt. Alle sind ihre Gäste (V. 21); dabei wird nicht gesagt, sondern einfach vorausgesetzt, dass sie, obwohl sie die unbekannte Fremde ist, ein eigenes Heim hat, von dem die Beschenkten „nach Haus“ (V. 20) gehen können.

Hervorgehoben wird ihre Zuwendung zu jedem liebenden Paar – „ein liebend Paar“ (V. 22) ist ein jedes liebendes Paar. Ein solches wird aufs Höchste (zweimal Superlativ, V. 23 f.) beschenkt; denn in der Liebe ist der Mensch im Modus des Schenkens und damit von der gleichen Art wie das Mädchen, das seine Gaben verschenkt.

Die Form des Gedichtes ist ganz einfach: Die sechs Strophen bestehen aus vier Versen, die ihrerseits vierhebige Jamben aufweisen, welche im Kreuzreim verbunden sind. Jeder erste und dritte Vers einer Strophe weist eine weibliche Kadenz auf, was eine ganz kleine Pause impliziert. Jede Strophe besteht aus einem einzigen Satz, der jeweils ganz unterschiedlich gegliedert ist: Hauptsatz mit Nebensatz (Str. 1); drei Hs plus ein Ns (Str. 2); zwei Hs (Str. 3); ein Satz mit Apposition (Str. 4); zwei Hs (Str. 5); zwei Hs mit einem Ns (Str. 6). Einen Einschnitt gibt es in den Strophen 2 und 3 (markiert durch „Doch“) und in Strophe 6 durch den Unterschied alle / ein liebend Paar. Durch den Reim werden öfter Verse auch semantisch aneinander gebunden: V. 1 / 3 (Ort, Zeit); V. 5 / 7 (Fremdheit); V. 14 / 16 (das andere Land); V. 18 / 20 (die Gaben); V. 22/24 (das Paar wird besonders beschenkt). Das Gedicht ist in einer einfachen Sprache verfasst, es muss ruhig gesprochen werden, jede Alltagshektik ist ihm fremd.

Dadurch, dass Schiller das Gedicht wie eine Vorrede seinem Gedichtband von 1800 vorangestellt hat, zeichnete er es aus und legte das Verständnis nahe, dass das fremde Mädchen für die Kunst steht, die Schönes aus einer anderen Welt allen vermitteln kann. Das Gedicht ist breit rezipiert und geschätzt, wie viele Rezitationen und Vertonungen zeigen:

https://www.deutschelyrik.de/das-maedchen-aus-der-fremde.328.html F. Stavenhagen

https://www.youtube.com/watch?v=gXbBgyoBxyo Vortrag, gut

https://www.schubertlied.de/index.php/de/die-lieder/117-das-maedchen-aus-der-fremde-117 von Schubert vertont

https://www.youtube.com/watch?v=_t2bn8tbaw4 von Fischer-Dieskau gesungen

https://www.youtube.com/watch?v=BZjvnSMz-24 Lied von Orplid

https://www.youtube.com/watch?v=BUhkQ3a2R_g Lied von Siegfried Fitz

https://www.youtube.com/watch?v=LLKq2Sq4tNI Text, gesprochen und filmisch interpretiert

https://digital.belvedere.at/objects/610/das-madchen-aus-der-fremde Bild Carl Rahls (um 1864)

S. auch Viehoffs Kommentar zum Gedicht!