Andersen: Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau
Es war einmal ein Mann, der einst viele neue Märchen wusste – aber nun seien sie ihm ausgegangen, sagte er; das Märchen, das von selber auf Besuch kommt, kam nicht mehr und klopfte nicht mehr an seine Tür. Und weshalb kam es nicht? Ja, das ist allerdings wahr, der Mann hatte über Jahr und Tag nicht daran gedacht, hatte nicht erwartet, dass es kommen und anklopfen würde. Aber es war gewiss auch nicht da gewesen, denn draußen war Krieg und drinnen Kummer und Not, wie der Krieg sie mitbringt.
Storch und Schwalbe kamen von ihrer langen Reise zurück, sie dachten an keine Gefahr, und als sie kamen, waren ihr Nest verbrannt, die Häuser der Menschen verbrannt, die Hecken zerstört, ja ganz verschwunden; die Rosse der Feinde stampften auf den alten Gräbern. Es waren harte, dunkle Zeiten; aber auch die nehmen ein Ende.
Und nun waren sie zu Ende, sagte man, doch noch klopfte das Märchen nicht an oder ließ von sich hören.
»Es ist wohl tot und verschollen mit den vielen andern«, sagte der Mann. Aber das Märchen stirbt nie!
Und es verging mehr als ein ganzes Jahr, und er hatte schreckliche Sehnsucht: »Ob das Märchen nicht doch wiederkommen und anklopfen sollte?« Und er erinnerte sich seiner so lebhaft mit all den vielen Gestalten, in denen es zu ihm gekommen war; bald jung und herrlich, der Frühling selber, ein reizendes junges Mädchen mit einem Maiglöckchenkranz im Haar und einem Buchenzweig in der Hand; ihre Augen glänzten wie tiefe Waldseen im hellen Sonnenschein. Bald war es auch als Hausierer gekommen, hatte den Kramkasten geöffnet und das Seidenband mit Vers und Inschrift voll alter Erinnerungen flattern lassen. Aber am allerschönsten war es, wenn es als altes Mütterchen mit silberweißem Haar und mit großen und so klugen Augen kam, da wußte sie recht zu erzählen von den allerältesten Zeiten, lange noch bevor die Prinzessinnen Gold gesponnen hatten, während Drachen und Lindwürmer draußen lagen und sie bewachten. Da erzählte sie so lebendig, dass jedem dunkle Flecken vor die Augen kamen, der ihr zuhörte; der Boden wurde schwarz von Menschenblut, gräulich anzusehen und zu hören und doch so unterhaltend, denn es war schon lange her, seit es geschehen war.
»Ob es nicht mehr anklopfen sollte?« sagte der Mann und starrte nach der Tür, so dass ihm dunkle Flecken vor die Augen kramen, schwarze Flecken auch auf den Boden; er wusste nicht, ob es Blut war oder Trauerflor von den schweren dunklen Tagen.
Und wie er so saß, kam ihm in den Sinn, ob sich das Märchen nicht verborgen halte wie die Prinzessin in den richtigen, alten Märchen und nur aufgesucht werden wollte; wurde es gefunden, dann strahle es in neuer Herrlichkeit, schöner als jemals zuvor.
»Wer weiß, vielleicht liegt es verborgen in dem weggeworfenen Strohhalm, der auf dem Brunnenrand schaukelt. Vorsicht! Vorsicht! Vielleicht hat es sich in einer verwelkten Blume versteckt, die in einem der großen Bücher auf dem Bücherbord liegt.«
Und der Mann ging hin und öffnete eines der allerneuesten Bücher, um Klarheit darüber zu bekommen. Aber da lag keine Blume, da stand von Holger dem Dänen zu lesen; und der Mann las, dass die ganze Geschichte erfunden und von einem Mönch in Frankreich zusammengestellt worden sei; dass es ein Roman sei, »übersetzt und gedruckt in dänischer Sprache«; dass Holger der Däne gar nicht existiert hatte und also auch nicht wiederkommen könne, wie wir gesungen und so gerne geglaubt hatten. Es war mit Holger dem Dänen wie mit Wilhelm Tell, nur Geschichten, auf die man sich nicht verlassen konnte; das war in dem Buch mit großer Gelehrsamkeit dargelegt.
»Ja, ich glaube nun einmal, was ich glaube«, sagte der Mann, »es wächst kein Wegerich, wo kein Fuß hingetreten hat.«
Und er machte das Buch zu, stellte es auf das Bord und ging dann zu den frischen Blumen am Fensterbrett; vielleicht hatte sich dort das Märchen in der roten Tulpe mit den goldgelben Rändern oder in der frischen Rose oder der leuchtenden Kamelie versteckt? Zwischen deren Blättern lag der Sonnenschein, aber nicht das Märchen.
»Die Blumen, die hier in der Trauerzeit gestanden hatten, waren alle weit schöner; aber sie wurden abgeschnitten, jede einzelne, in Kränze gebunden, auf Särge gelegt, und über sie wurde die Fahne gebreitet. Vielleicht ist das Märchen mit den Blumen begraben worden. Aber davon müssten die Blumen gewusst haben, der Sarg hätte es vernommen, die Erde hätte es vernommen, jeder kleine Grashalm, der hervorwuchs, würde es erzählt haben. Das Märchen stirbt niemals!
Vielleicht ist es auch hier gewesen und hat angeklopft, aber wer hatte damals Ohren dafür, Gedanken dafür? Man sah düster, schwermütig, fast böse zum Sonnenschein des Frühlings, seinem Vogelgezwitscher und all dem fröhlichen Grün; ja, die Zunge konnte die alten, volksfrischen Lieder nicht ertragen, sie wurden eingesargt mit so vielem, was unserm Herzen teuer war. Das Märchen kann wohl angeklopft haben; aber es wurde nicht gehört, nicht willkommen geheißen, und so ist es dann fortgeblieben.
Ich will gehen und es aufsuchen.
Hinaus aufs Land! Hinaus in den Wald, an den offenen Strand!«
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Draußen liegt ein alter Herrenhof mit roten Mauern, zackigem Giebel und wehender Fahne auf dem Turm. Die Nachtigall singt unter den feingefransten Buchenblättern, während sie auf des Garten blühende Apfelbäume blickt und glaubt, dass sie Rosen tragen. Hier sind in der Sommersonne die Bienen geschäftig, und mit summendem Gesang schwärmen sie um ihre Königin. Der Herbststurm weiß von der wilden Jagd zu erzählen, von den Menschengeschlechtern und den Blättern des Waldes, die verwehen. Zur Weihnachtszeit singen die wilden Schwäne draußen vor dem offenen Wasser, während man drinnen in dem alten Hof am Kaminfeuer Lust hat, Lieder und Sagen zu hören.
Unten in dem alten Teil des Gartens, wo die große Allee von wilden Kastanien mit ihrem Halbdunkel lockt, ging der Mann, der das Märchen suchte; hier hatte ihm einmal der Wind von Waldemar Daa und seinen Töchtern gesummt. Die Dryade im Baum, das war die Märchenmutter selbst, hatte ihm hier von des alten Eichenbaums letztem Traum erzählt. Zu Zeiten der Großmutter standen hier beschnittene Hecken, nun wuchsen nur Farnkräuter und Nesseln; sie breiteten sich über hingeworfene Reste alter Steinfiguren aus; Moos wuchs ihnen in den Augen, doch sie konnten ebenso gut sehen wie früher, aber das konnte der Mann, der nach dem Märchen suchte, nicht. Er sah das Märchen nicht. Wo war es?
Über ihn und die alten Bäume flogen Krähen zu Hunderten hin und schrieen »Fort von hier! Fort von hier!«
Und er ging aus dem Garten hinaus über den Wallgraben des Herrenhofes in das Erlenwäldchen hinein; dort stand ein kleines, sechseckiges Haus mit einem Hühnerhof und einem Entenhof. Mitten in der Stube saß die alte Frau, die das Ganze leitete und genau über jedes Ei, das gelegt wurde, Bescheid wusste, über jedes Küken, das aus dem Ei schlüpfte. Aber sie war nicht das Märchen, das der Mann suchte; das konnte sie beweisen mit einem christlichen Taufschein und einem Impfpass, beide lagen in der Truhe.
Draußen, nicht weit von dem Haus, ist ein Hügel mit Rotdorn und Goldregen; hier liegt ein alter Grabstein, der vor vielen Jahren vom Kirchhof eines Landstädtchens hierher gebracht worden war, eine Erinnerung an einen der ehrenhaften Ratsherren der Stadt; seine Frau und seine fünf Töchter, alle mit gefalteten Händen und Halskrause, stehen, in Stein gehauen, um ihn herum. Man konnte sie so lange betrachten, dass sie auf die Gedanken wirkten, und diese wirkten wiederum auf den Stein, so dass er von alten Zeiten erzählte; wenigstens erging es dem Mann so, der das Märchen suchte. Als er da hinkam, sah er einen lebendigen Schmetterling grade auf der Stirn der gemeißelten Figur des Ratsherrn sitzen; er schlug mit den Flügeln, flog eine kleine Strecke und setzt sich wieder dicht neben den Grabstein, gleichsam um zu zeigen, was dort wuchs. Dort wuchs ein vierblätteriger Klee, dort standen ganze sieben Stück davon nebeneinander. Kommt das Glück, so kommt es in Fülle! Er pflückte die Kleeblätter und steckte sie in die Tasche. Das Glück ist so gut wie bares Geld, aber ein neues, schönes Märchen wäre doch noch besser, dachte der Mann; aber er fand es dort nicht.
Die Sonne ging unter, rot und groß; die Wiese dampfte, und das Moorweib braute.
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Es war spät am Abend; er stand allein in seiner Stube, sah hinaus über den Garten, über Wiese, Moor und Strand; der Mond schien hell, es lag Dunst über der Wiese, als wäre sie ein großer See, und das war sie auch einmal gewesen, ging die Sage, und im Mondschein bekommt man ein Ohr für Sagen. Da dachte der Mann daran, was er in der Stadt gelesen hatte, dass Wilhelm Tell und Hollger der Däne nicht gelebt hätten; aber im Volksglauben sind sie doch wie der See da draußen lebendige Figuren der Sage. Ja, Holger der Däne kommt wieder!
Während er so stand und dachte, schlug etwas ganz stark an das Fenster. War es ein Vogel? Eine Fledermaus oder eine Eule? Ja, die lässt man nicht herein, auch wenn sie klopfen. Das Fenster sprang von selber auf, eine alte Frau sah zu dem Mann herein.
»Was ist gefällig?« fragte er. »Wer ist sie? Gleich in die erste Etage schaut sie herein, steht sie auf einer Leiter?«
»Sie haben ein vierblätteriges Kleeblatt in der Tasche«, sagte sie, »ja, Sie haben sieben Stück, von denen eines ein Sechserklee ist.«
»Wer ist sie?« fragte der Mann.
»Die Moorfrau«, sagte sie, »die Moorfrau, die braut. Ich war gerade in voller Arbeit; der Zapfen saß im Fass, aber einer der kleinen Moorjungen riss im Übermut den Zapfen heraus und warf ihn gerade bis zum Haus, wo er an das Fenster schlug; nun läuft das Bier aus dem Fass, und damit ist keinem gedient.«
»Erzähle sie mir doch mehr!« sagte der Mann.
»Ja, warten Sie ein wenig!« sagte die Moorfrau. »Jetzt habe ich noch anderes zu erledigen!« Und damit war sie fort.
Der Mann war dabei, das Fenster zu schließen, da stand die Frau schon wieder da. »Nun ist es geschehen«, sagte sie. »Aber das halbe Bier kann ich morgen wieder brauen, wenn das Wetter danach bleibt. Nun, was haben Sie zu fragen? Ich komme wieder, denn ich halte immer Wort, und Sie haben sieben Vierblätter in der Tasche, von denen eines ein Sechserklee ist; das ist ein Ordenszeichen, das an der Landstraße wächst, aber nicht von jedem gefunden wird. Wonach haben Sie also zu fragen? Stehen Sie jetzt nicht da wie ein dummes Stück, ich muss bald fort zu meinem Zapfen und meinem Fass!«
Und der Mann fragte nach dem Märchen, fragte, ob das Moorweib es auf seinem Wege gesehen hätte.
»Ih, du großes Brauhaus!« sagte die Frau. »Haben Sie noch nicht genug Märchen? Ich glaube wirklich, dass die meisten genug haben. Hier ist anderes zu besorgen, anderes zu beachten. Selbst die Kinder sind schon darüber hinausgewachsen. Gebt den kleinen Jungen eine Zigarette und den kleinen Mädchen einen neuen Minirock, das mögen sie lieber! Auf Märchen hören? Nein, hier ist tatsächlich anderes zu besorgen, Wichtigeres auszurichten!«
»Was meint sie damit?« fragte der Mann. »Und was weiß sie von der Welt? Sie sieht ja nur Frösche und Irrlichter.«
»Ja, nehmen Sie sich in Acht vor den Irrlichtern« sagte das Weib, »sie sind heraus! Sie sind losgelassen! Von denen wollen wir reden! Kommen Sie zu mir in das Moor, wo meine Gegenwart erforderlich ist; dort werde ich Ihnen alles sagen, aber beeilen Sie sich ein wenig, solange Ihre sieben Viererblätter mit dem einen Sechser frisch sind und der Mond noch scheint!« Und weg war die Moorfrau.
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Die Glocke schlug zwölf vom Turm, und ehe noch der letzte Schlag verklungen war, war der Mann hinaus in den Hof, hinaus in den Garten und stand auf der Wiese. Der Nebel hatte sich gelegt, die Moorfrau hörte auf zu brauen.
»Es hat lange gedauert, bis Sie kamen!« sagte die Moorfrau. »Zauberwesen kommen schneller voran als die Menschen, und ich bin froh, dass ich als Zauberwesen geboren bin.«
»Was hat sie mir nun zu sagen?« fragte der Mann. »Ist es ein Wort wegen des Märchens?«
»Können Sie denn niemals weiter kommen, als danach zu fragen?« sagte das Weib.
»Kann sie denn von der Zukunftspoesie sprechen?« fragte der Mann.
»Reden Sie nur nicht hochtrabend«, sagte das Weib, »dann will ich wohl antworten. Sie denken nur an die Dichterei, fragen nach dem Märchen, als ob es die Madame über das Ganze wäre! Es ist freilich schon das Älteste, aber es gilt immer als das Jüngste. Ich kenne es wohl! Ich bin auch einmal jung gewesen, und das ist keine Kinderkrankheit. Ich bin auch ein ganz niedliches Elfenmädchen gewesen und habe mit den anderen im Mondschein getanzt, auf die Nachtigall gehört, bin in den Wald gegangen und dem Märchenfräulein begegnet, das immer draußen war und sich herumtrieb. Bald nahm sie ihr Nachtlager in einer halberblühten Tulpe oder in einer Wiesenblume, bald huscht sie in die Kirche hinein und hüllte sich in den Trauerflor, der von den Altarkerzen herabhing!«
»Sie wissen wunderbar Bescheid«, sagte der Mann.
»Ich sollte doch wahrscheinlich ebenso viel wissen wie Sie!« sagte die Moorfrau. »Märchen und Poesie, ja, das sind zwei Ellen von einem Stück; die können gehen und sich schlafen legen, wo sie wollen. All ihre Worte und Werke kann man noch brauen und besser und billiger haben. Bei mir sollen Sie sie umsonst bekommen, ich habe einen ganzen Schrank voll von Poesie in Flaschen. Es sind Essenzen, nur das Feine der Kräuter, süße und auch bittere. Ich habe auf Flaschen alles, was die Menschen an Poesie brauchen, um an Festtagen etwas auf ihr Taschentuch zu tupfen jund daran zu riechen.«
»Das sind ganz seltsame Dinge, die sie da erzählt«, sagte der Mann. »Hat sie Poesie auf Flaschen?«
»Mehr, als Sie vertragen können«, sagte die Frau. »Sie kennen wohl die Geschichte von dem Mädchen, welches auf Brot trat, um seine neuen Schuhe nicht zu beschmutzen? Sie ist geschrieben und gedruckt.«
»Die habe ich selber erzählt«, sagte der Mann.
»Ja, dann kennen Sie sie ja«, sagte das Weib, »und wissen, dass das Mädchen direkt zur Moorfrau hinab in die Erde versank, gerade, als des Teufels Großmutter Besuch machte, um die Brauerei zu besichtigen. Sie sah das Mädchen, das heruntersank, und bat es sich als Souvenir aus, zur Erinnerung an den Besuch, und sie bekam es; ich bekam ein Geschenk, für das ich gar keine Verwendung hatte, eine Reiseapotheke, einen ganzen Schrank voll Poesie auf Flaschen. Die Großmutter sagte, wo der Schrank stehen sollte, und da steht er noch. Sehen Sie nur! Sie haben ja Ihre sieben Viererblätter in der Tasche, von denen das eine ein Sechserklee ist, da werden Sie ihn wohl sehen können.«
Und wirklich, mitten im Moor lag wie ein großer Erlenstrunk der Schrank der Großmutter. Er stand offen für die Moorfrau und für jeden in allen Ländern und zu allen Zeiten, wenn man nur wusste, wo der Schrank steht. Er war vorne und hinten zu öffnen, an allen Seiten und Ecken, ein ganzes Kunstwerk, und sah doch nur wie ein alter Erlenstrunk aus. Die Poeten aller Länder, besonders die unseres eigenen Landes, waren hier nachgemacht; ihr Geist war ihnen ausspekuliert, rezensiert, renoviert, konzentriert und auf Flaschen gezogen. Mit großem Instinkt, wie man es nennt, wenn man nicht Genie sagen will, hatte die Großmutter das in der Natur genommen, was gleichsam nach diesem oder jenem Poeten schmeckte, hatte etwas Teufelei hinzugegeben, und so hatte sie die Poesie auf Flaschen für die alle Zeit.
»Lassen Sie mich einmal schauen!« sagte der Mann.
»Ja, doch es gibt wichtigere Dinge zu hören«, sagte das Moorweib.
»Aber jetzt sind wir bei dem Schrank!« sagte der Mann und sah hinein. »Hier sind Flaschen in allen Größen. Was ist in dieser? Und was in der da?«
»Hier ist das, was Sie Maiduft nennen«, sagte das Weib. »Ich habe es nicht versucht, aber ich weiß, wenn man davon nur einen kleinen Tropfen auf den Boden spritzt, dann liegt da gleich ein herrlicher Waldsee mit Wasserlilien, blühendem Rohr und wilder Krauseminze. Und gießt man zwei Tropfen auf ein altes Heft, selbst aus der ersten Klasse, dann wird das Heft zum Buch mit einer ganzen Duftkomödie, die man sehr gut aufführen und bei der man einschlafen kann, so stark durftet sie. Es sollte wohl eine Höflichkeit gegen mich sein, dass auf der Flasche steht: ‚Gebräu der Moorfrau‘.
Hier steht die Skandalflasche. Sie sieht aus, als ob nur schmutziges Wasser darin wäre, und es ist schmutziges Wasser, aber mit Brausepulver von Stadtklatsch; drei Lot Lügen und zwei Gran Wahrheit, mit einem Birkenzweig umgerührt, einem Stück aus der Rute des Schulmeisters oder lieber gleich vom Besen genommen, mit dem man den Rinnstein gefegt hat.
Hier steht die Flasche mit der frommen Poesie im Psalmenton. Jeder Tropfen hat einen Klang wie das Quietschen des Höllentors und ist aus dem Blut und Schweiß der Strafen zubereitet. Einige sagen, es sei nur Taubengalle, aber die Tauben sind die frömmsten Tiere, sie haben keine Galle; so etwas sagen nur Leute, die keine Naturgeschichte kennen.«
Hier stand die Flasche aller Flaschen; sie nahm den halben Schrank ein, die Flasche mit den Alltagsgeschichten; sie war sowohl mit einer Schweinshaut als auch mit einer Blase zugebunden, denn sie durfte nichts von ihrer Kraft verlieren. Jede Nation konnte hier ihre eigene Suppe erhalten; sie kam, je nachdem wie man die Flasche wandte und drehte. Hier war alte deutsche Blutsuppe mit Räuberklößchen, auch dünne Hausmannssuppe mit wirklichen Geheimräten, die wie Wurzelwerk darin lagen, und auf der Oberfläche schwammen philosophische Fettaugen. Es gab englische Gouvernantensuppe und die französische Potage à la Kock, mit Hühnerknochen und Spatzeneiern zubereitet, auf Dänisch Cancansuppe genannt. Aber die beste aller Suppen war die Kopenhagener; das sagten jedenfalls die Familien.
Hier stand die Tragödie in Champagnerflaschen; sie konnte knallen, und das soll sie. Das Lustspiel sah aus wie feiner Sand, um ihn den Leuten in die Augen zu streuen, das heißt das feinere Lustspiel; das gröbere war auch auf Flaschen, aber bestand nur aus Zukunftsplakaten, wo der Name des Stücks das Kräftigste war. Es waren ausgezeichneten Komödiennamen wie: »Willst du wohl das Geld rausrücken!«, »Eins auf die Rübe«, »Der süße Esel« und »Sie ist sternhagelvoll!«
Der Mann verfiel dabei in Gedanken, aber die Moorfrau dachte weiter, sie wollte zu Ende kommen.
»Nun haben Sie wohl genug in der Kramkiste gesehen«, sagte sie. »Nun wissen Sie, was das ist; aber das Wichtigste, was Sie wissen sollten, wissen Sie noch nicht: Die Irrlichter sind in der Stadt! Das hat mehr zu bedeuten als Poesie und Märchen. Ich sollte jetzt meinen Mund halten, aber es muss eine Fügung sein, ein Schicksal, etwas, was stärker ist als ich – es drückt mir das Herz ab, es muss heraus. Die Irrlichter sind in der Stadt! Sie sind losgekommen: Nehmt euch in Acht, ihr Menschen!«
»Davon verstehe ich kein Wort«, sagte der Mann.
»Seien Sie so gut und setzen Sie sich auf den Schrank«, sagte sie, »aber fallen Sie nicht hinein, dass Sie nicht die Flaschen entzwei schlagen; Sie wissen, was darin ist. Ich werde Ihnen von dem großen Ereignis erzählen, es ist nicht länger her als seit vorgestern. Es wird also noch 363 Tage dauern; Sie wissen ja, wie viele Tage ein Jahr hat.
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Und die Moorfrau erzählte:
»Hier hat sich vorgestern Großes in den Sümpfen ereignet: Hier war Kinderfest. Hier wurde ein kleines Irrlicht geboren, ja, es wurden zwölf auf einmal von der Sorte geboren, die, wenn sie wollen, als Menschen auftreten und unter diesen agieren und kommandieren können, als ob sie geborene Menschen wären. Das ist ein großes Ereignis im Sumpf, und deshalb tanzten alle Irrlichter und Irrlichterfrauen über Moor und Wiese hin; es waren auch welche vom Hundegeschlecht dabei, aber es lohnt nicht, von denen zu reden. Ich saß da auf meinem Schrank und hatte alle zwölf kleinen neugeborenen Irrlichter auf meinem Schoß; sie leuchteten wie Johanniswürmchen; sie fingen schon an zu hüpfen, und jede Minute nahmen sie an Größe zu, so dass, ehe eine Viertelstunde um war, jedes von ihnen ebenso groß aussah wie sein Vater oder sein Onkel. Nun ist es ein altes angeborenes Recht und eine Vergünstigung, wenn der Wind so weht und der Mond so steht wie vorgestern, dass dann alle Irrlichtern, die in dieser Zeit und in der Minute geboren werden, Menschen werden können und jedes von ihnen ein ganzes Jahr lang ringsum seine Macht üben kann.
Das Irrlicht kann durch das Land und um die Welt ziehen, wenn es nicht Angst hat, in den See zu fallen oder in einem starken Sturm ausgeblasen zu werden. Es kann in einen Menschen hineinfahren, für ihn sprechen und alle Bewegungen machen, wie es will. Das Irrlicht kann jede Gestalt, die es will, annehmen, sei es Mann oder Frau, kann in ihrem Verstand nach seiner Art handeln, so dass dabei herauskommt, was es will; aber es muss 365 Menschen in einem Jahr auf falsche Wege zu führen verstehen – und zwar in großem Stil, sie von Recht und Wahrheit fortlocken, dann erreicht es das Höchste, wozu es ein Irrlicht bringen kann, nämlich Läufer vor des Teufels Staatskarosse zu werden, glühende feuergelbe Kleider zu tragen und Flammen aus seinem Hals herauszupusten. Nach einer solcher Stellung kann sich ein einfaches Irrlicht den Mund lecken. Aber damit ist auch Gefahr und eine große Unannehmlichkeit für ein ehrgeiziges Irrlicht verbunden, das gerne diese Rolle spielen will. Gehen dem Menschen nämlich die Augen auf und sieht er, wer da in ihm ist, und kann es wegblasen, so ist es aus mit ihm und es muss zurück in den Sumpf; und wenn ein Irrlicht, bevor das Jahr um ist, von der Sehnsucht gepackt wird, zu seiner Familie zu kommen, und sich selber aufgibt, so ist es auch aus mit ihm, es kann nicht länger hell brennen, geht bald aus und kann nicht wieder angezündet werden. Und ist das Jahr zu Ende und es hat dann noch nicht 365 Menschen von der Wahrheit und von dem, was schön und gut ist, fortgelockt, so ist es verurteilt, in faulem Holz zu liegen und nach außen hin zu leuchten, ohne sich rühren zu können; das ist die fürchterlichste Strafe für ein lebhaftes Irrlicht.
All dies wusste ich und all dies sagte ich den zwölf kleinen Irrlichtern, die ich auf dem Schoß hatte und die wie toll vor Freude waren. Ich sagte ihnen, dass es das Sicherste und Bequemste wäre, die Ehre ihrer besonderen Geburt aufzugeben und nichts anzustellen; das wollten die jungen Flammen aber nicht, sie sahen sich schon in glühenden brandgelben Kleidern, mit der Flamme zum Halse heraus.
»Bleibt bei uns«, sagten einige von den Alten. »Treibt euer Spiel mit den Menschen!« sagten die andern. »Die Menschen trocknen unsere Wiesen aus, sie legen Dränage. Was soll da aus unseren Nachkommen werden!« »Wir wollen flammen, wollen flammen, flammen!« sagten die neugeborenen Irrlichter, und so war es abgemacht.
Danach war sofort Minutenball, kürzer konnte er nicht sein. Die Elfenmädchen schwangen sich dreimal herum mit allen den andern, um nicht hochmütig zu erscheinen; sie tanzen sonst am liebsten mit sich selber. Dann wurden die Patengeschenke verteilt, »rikoschettiert«, wie man sagt. Diese flogen wie Kieselsteine über das Moorwasser hin. Jedes von den Elfenmädchen gab einen Zipfel von seinem Schleier. »Nimm ihn«, sagten sie, »dann kannst du gleich den höheren Tanz, die schwierigsten Schwünge und Wendungen, das heißt, wenn es nötig ist; du bekommst die richtige Haltung und kannst dich in der steifsten Gesellschaft zeigen.«
Der Nachtrabe lehrte jedes der jungen Irrlichter, »bra, bra, brav!« zu sagen, und zwar an der richtigen Stelle zu sagen; das ist eine große Gabe, die sich selber belohnt. Die Eule und der Storch – aber das war nicht der Rede wert, davon zu sprechen, sagten sie; also reden wir nicht davon.
König Waldemars wilde Jagd fuhr gerade über das Moor hin, und als diese Herrschaften von dem Fest hörten, sandten sie als Geschenk ein paar feine Hunde, die mit Windeseile jagen und wohl ein Irrlicht tragen können oder auch drei. Zwei alte Nachtmahre, die vom Alpdrücken leben, waren mit bei dem Fest; die lehrten die neuen Irrlichter gleich die Kunst, durch ein Schlüsselloch zu schlüpfen; das ist dann so, als ob einem alle Türen offenstünden. Sie boten sich an, die jungen Irrlichter in die Stadt zu führen, wo sie gut Bescheid wüssten. Sie reiten gewöhnlich auf ihrem eigenen langen Nackenhaar, das sie in einen Knoten gebunden haben, um fest darauf zu sitzen, durch die Luft; aber nun setzten sie sich beide quer auf die Hunde der wilden Jagd, nahmen die jungen Irrlichter, die in die Stadt sollten, um die Menschen zu verwirren und zu verführen, auf den Schoß – husch! waren sie fort. Das war alles vorgestern Nacht. Nun sind die Irrlichter in der Stadt, jetzt haben sie die Sache schon angepackt, aber wie und wo – ja, sag mir das! Ich habe einen Wetterfaden in meinem großen Zeh, der mir immer etwas davon erzählt.«
»Das ist ein ganzes Märchen!« sagte der Mann.
»Das ist doch nur der Anfang von einem«, antwortete die Frau. »Können Sie mir erzählen, wie sich die Irrlichter nun tummeln und betragen, in welchen Gestalten sie aufgetreten sind, um die Menschen auf falsche Wege zu bringen?«
»Ich glaube wohl«, sagte der Mann, »es könnte ein ganzer Roman über die Irrlichter geschrieben werden, ganze zwölf Teile, einer über jedes Irrlicht, oder vielleicht noch besser eine ganze Volkskomödie.«
»Das sollten Sie schreiben«, sagte das Weib, »oder besser es lieber sein lassen!«
»Ja, das wäre angenehmer und bequemer«, sagte der Mann, »dann brauchte man sich nicht in der Zeitung zerreißen zu lassen; denn das ist einem genau so unangenehm wie einem Irrlicht, wenn es in einem Baume liegen und leuchten muss, aber sich nicht mucksen darf.«
»Mir ist das ganz gleich«, sagte die Moorfrau, »aber lassen Sie lieber andere schreiben, solche, die es können, und die, die es nicht können. Ich gebe Ihnen einen alten Zapfen von meinem Fass, der öffnet den Schrank mit der Poesie auf Flaschen, daraus können Sie bekommen, was Ihnen fehlt; aber Sie, mein guter Mann, scheinen mir nun Ihre Finger genug mit Tinte beklackert zu haben und sollten wohl in das Alter und zu der Gelassenheit gekommen sein, dass Sie nicht jedes Jahr dem Märchen nachlaufen müssen, wo nun viel wichtigere Dinge zu tun sind. Sie haben doch wohl verstanden, was los ist?«
»Die Irrlichter sind in der Stadt«, sagte der Mann. »Ich habe es gehört, ich habe es verstanden. Aber was meinen Sie, was ich tun soll? Es erginge mir ja doch schlecht, wenn ich sie sähe und den Leuten sagte: ‚Seht einmal, da geht ein Irrlicht im Maßanzug!‘«
»Sie gehen auch in Hemden«, sagte die Frau. »Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen und allerorten auftreten. Es geht in die Kirche, nicht um Gottes willen, nein – vielleicht ist es sogar in den Priester gefahren. Es spricht am Wahltag nicht zu des Landes und des Reiches Gunsten, sondern nur zu seinem eigenen Vorteil; es ist Künstler, sowohl im Farbentopf als auch im Theatertopf, aber bekommt es die ganze Macht, dann ist der Topf leer!
Ich schwatze und schwatze, doch es muss heraus, was ich auf dem Herzen habe, zum Schaden meiner eigenen Familie; aber ich muss jetzt die Retterin der Menschen sein! Das geschieht wahrlich nicht aus guter Absicht oder um einer Medaille willen. Ich tue das Verrückteste, was ich tun kann, ich sage es einem Poeten, und so bekommt es gleich die ganze Stadt zu wissen.«
»Die Stadt nimmt sich das nicht zu Herzen«, sagte der Mann. »Das wird keinen einzigen Menschen bekümmern; sie glauben alle, dass ich ein Märchen erzähle, während ich ihnen im tiefsten Ernst sage: ‚Die Irrlichter sind in der Stadt‘, sagte die Moorfrau, ‚nehmt euch in Acht.‘«
Ich habe den Text aus „Sämmtliche Märchen“ sprachlich überarbeitet und mich dabei auf die Übersetzung in„Neue Märchen und Geschichten. Zweite Folge“ (1866) gestützt, gelegentlich auch einen Blick in Eva-Maria Blühms Textfassung geworfen. Ein kurze Analyse steht hier: https://norberto42.wordpress.com/2010/11/10/andersen-die-irrlichter-sind-in-der-stadt-sagte-die-moorfrau-kurze-analyse/