Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik (2024) – gelesen

Die gut 610 Seiten stellen für den Leser eine Herausforderung dar: Der Erkenntnisgewinn ist nicht größer, als wenn man ein Buch von 100 Seiten gelesen hätte. Man hört viele Namen, die einem Altersgenossen Schäubles teilweise noch etwas sagen, aber die für meine Kinder bereits uninteressant sind. Und man liest viele Binsenwahrheiten: „Sich darum zu bemühen, Grenzen durchlässiger zu machen, den regionalen Zusammenhalt zu stärken und gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen, darin liegt der Schlüssel zu einer erfolgreichen [europäischen, N.T.] Einigungspolitik“, das besagt letztlich nichts; er selbst habe versucht, „zu verstehen und zu begründen, etwa wozu und mit welchem Ziel der Staat Einnahmen generiert, mit welcher Legitimation Bürgerinnen und Bürger fair belastet bzw. entlastet werden können, wie man Geld effizient und verantwortlich einsetzt“ – wer könnte dem widersprechen? Aber was heißt es anderseits konkret? Nichts. Oder wenn er wiederholt für „Maß und Mitte“ plädiert, was besagt das schon? Das Buch bietet einen Streifzug durch 50 Jahre Politik, so dass für jedes Jahr rund 12 Seiten Platz ist; da kann man als Autor auch nicht allzu viel darlegen.

Bewunderung für Helmut Kohl, Respekt für Angela Merkel, aber auch Kritik an beiden, bei Merkel deutlicher als bei Kohl; die Differenzen mit Merkel in der Flüchtlingsfrage und der Steuerpolitik waren schließlich so stark, dass er 2017 aus der Regierung ausgeschieden ist. Distanz zur CSU und Sympathie für die Grünen werden deutlich; dass man Herbert Gruhl nicht in der CDU habe halten können, sei ein schwerer Fehler mit nachhaltigen Folgen gewesen. Aufschlussreich sind Schäubles Hinweise, wie hinter den Kulissen Politik gemacht wird resp. wurde, etwa mit der DDR oder in der Europapolitik, oder wie es im Regierungsapparat knirschen kann, wenn Menschen „nicht miteinander können“; aber das gilt nur grundsätzlich, während die Namen der Beteiligten nach Jahren und Jahrzehnten wohl nur noch den Historiker interessieren. Wie er mit dem Attentat 1990 und seiner Querschnittslähmung zurechtgekommen ist, hat mich persönlich beeindruckt. Bedenklich fand ich seine kurze Bemerkung, er habe sich seinen Kinderglauben bewahrt – ist er religiös unmündig geblieben? Ersetzt ihm die geliebte Musik alles theoretische Wissen? Man weiß es nicht.

Nach anfänglicher Begeisterung wurde ich beim Lesen des Buches immer kritischer, und zum Schluss war es so langatmig, dass ich große Passagen nur noch kursorisch gelesen habe. Die Besprechung in der NZZ ist lesenswert und informativ. Welchen Anteil Hilmar Sack und Jens Hacke als Koautoren haben, wird nicht deutlich – Schäuble hat aber gegen sie darauf bestanden, dass es schließlich seine Erinnerungen seien.

https://www.nwzonline.de/meinung/der-eiserne-rezension-der-erinnerungen-wolfgang-schaeubles_a_4,1,654701951.html (positiv, nicht detailliert)

https://www.nzz.ch/feuilleton/wolfgang-schaeuble-in-seinen-memoiren-er-will-kein-konservativer-gewesen-sein-ld.1825329 (kritisch, detailliert)

Die Besprechungen in den großen deutschen Zeitungen kann man nur gegen Bezahlung lesen.

N. G. Finkelstein: Die Holocaust-Industrie (2001)

Nach der Überzeugung des amerikanischen Politologen Norman Finkelstein existiert ein Kartell aus Personen, Organisationen und Institutionen, das aus den Leiden des jüdischen Volkes politischen oder finanziellen Profit zieht und damit die Hauptursache des Antisemitismus bildet. Finkelstein hat seine Thesen in einem Buch mit dem Titel „Die Holocaust-Industrie“ publiziert, das Anfang 2001 mit großem Medienaufwand dem deutschen Publikum vorgestellt wurde. Finkelstein nimmt ein seriös und umsichtig argumentierendes Buch des amerikanischen Historikers Peter Novick als Ausgangspunkt. Während Novick kritisch die Rolle des Holocaust in der politischen Kultur Amerikas untersucht, vergröbert Finkelstein die Überlegungen zu Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungen an die Adresse des Friedensnobelpreisträgers Eli Wiesel, der selbst den Holocaust überlebte und als moralische Institution der Erinnerung an den Holocaust gilt, an die Jewish Claims Conference, die als zentrale jüdische Organisation mit der Verwaltung und Verteilung von Wiedergutmachungsgeldern befasst ist, und an das US-Holocaust-Museum in Washington als eine der wichtigsten Instanzen zur Darstellung und Bewusstmachung der Judenverfolgung in der Öffentlichkeit.

Mit der Behauptung, die Jewish Claims Conference bereichere sich an Entschädigungsgeldern, erhebt er schwerste Vorwürfe; zur Stütze seiner These behauptet er, die Claims Conference gehe von zu hohen Opferzahlen aus. Dies kann er zwar nicht beweisen, muss sich aber selbst Fehler und mangelnde Kenntnisse bei seinen Berechnungen vorhalten lassen. – Gleichwohl ist zu untersuchen, 1. wozu die fortgesetzte Behauptung von der Einzigartigkeit des Holocaust dient, 2. ob mit einem Verweis auf den Holocaust nicht jede Kritik an Israels (Siedlungs)Politik erschlagen wird, 3. was (und wem) die zahlreichen Denkmäler und Erinnerungsveranstaltungen nützen.

(nach https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/504211/holocaust-industrie/)

https://ulis-buecherecke.ch/pdf_juedisches_leben/die_holocaust_industrie.pdf (Text)

Für eine seriöse Diskussion verweise ich auf folgende Links:

https://www.deutschlandfunk.de/norman-g-finkelstein-the-holocaust-industry-reflections-on-100.html

https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-2430

https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2017/01/WG29_111-114_BENZ_HOLOCAUST-INDUSTRIE.pdf

Marko Martin: Dissidentisches Denken (2019) – gelesen

Wer oder was ist ein Dissident? Hören wir zwei Definitionen, eine aus dem Wörterbuch und eine aus einem Politiklexikon:

1. [Politik] jmd., dessen Ansicht von einer offiziellen (Lehr-)‍Meinung, einer politischen oder staatlichen Ideologie abweicht und der seine Kritik öffentlich kundtut

2. [Religion] jmd., der keiner Religionsgemeinschaft angehört; jmd., der von der offiziellen theologischen Lehrmeinung abweicht(DWDS)

Als D. werden Personen bezeichnet, die eine vorgegebene politische oder religiöse Ordnung infrage stellen, von ihr abweichen oder ihr widersprechen; wird v. a. für politische Gegner in autoritären und diktatorischen Regimen verwendet.“ (Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 2020)

Marko Martin, Jahrgang 1970, kam im Mai 1989 wegen eines Hochschulverbots und als Kriegsdienstverweigerer aus der DDR in die Bundesrepublik; er war somit selber ein Dissident. Wenn er ein dickes Buch über dissidentisches Denken schreibt, kann man also kompetente Belehrung erwarten: Er könnte entweder das dissidentische Denken oder verschiedene Typen des dissidentischen Denkens erklären oder Fälle dissidentischen Denkens vorstellen. Das alles tut er nicht. Der Untertitel sagt, was er präsentiert: „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“. Er berichtet durchweg von Besuchen bei verschiedenen Personen in einem anekdotischen Stil, flicht darin Bemerkungen zu ihrer Biografie und zu ihren Büchern ein; gelegentlich zitiert er ein paar Sätze, wobei er auch vor zahlreichen Wiederholungen nicht zurückschreckt. An der Stelle, wo er über Czeslaw Milosz’ Buch „Verführtes Denken“ (1953) spricht, kommt er einer Erklärung dissidentischen Denkens fast nahe: Milosz habe gefragt, „ob es ohne jene bereits dem Christentum innewohnende eschatologische Hybris wohl einen Hegel und Marx gegeben hätte – ein neues Heilsversprechen minus Transzendenz“ (S. 285). Dissidenten würden dann diesem Heilsversprechen angesichts erfahrener Realität nicht trauen – wobei für viele Leser „eschatologische Hybris“ vermutlich unverständlich bleibt.

Viel klarer wird dieser Gedanke von Manes Sperber formuliert, am Ende seines Essays „Der vielfache Tod des Wladimir Iljitsch“: „[E]s ist wohl schon des öfteren geschehen, daß man die Heilsbotschaft auch nach ihrer Desavouierung empfangen hat, als wäre sie selbst die Erlösung. Man mag daraus schließen, dass die Menschen die Botschaft, welche die Hoffnung nährt, dringender brauchen als die von ihr angekündigte Erlösung.“ Dissidentisches Denken wäre dann eines, das nach anfänglichem Glauben auf die Illusion der Erlösung und damit auch auf die jeweilige Heilsbotschaft verzichtet (und sich ihrem Machtanspruch nicht beugt). Es wäre ein aufrichtiges Denken, wie es bereits von Sokrates propagiert worden ist. Ich habe das in dem kleinen Aufsatz „Vorsicht bei der Wahl des großen Lehrers!“ (https://also42.wordpress.com/2018/03/09/vorsicht-bei-der-wahl-des-grossen-lehrers/) aufgezeigt. Mit großem Pathos hat Nietzsche es in den Aphorismen 629 – 638 in „Menschliches, Allzumenschliches I“ entfaltet, Kant hat es in seiner Reflexion der Würde des Menschen untersucht und vorher in der Formel vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit auf den Punkt gebracht.

Gleichwohl ist meistens interessant, was Marko Martin über insgesamt 23 bekannte (Kopelew, Sperber, Kohut…) und mir zum Teil unbekannte Menschen (Listopad, Schopflocher, Ranasinghe…) zu erzählen weiß. Am Ende des Buches zählt er rund 90 Titel von Büchern auf, die diese Menschen und ihre geistigen Brüder und Schwestern verfasst haben. Manche seiner „Erklärungen“ klingen allerdings verwegen: „Danny Smiricky spielt in seiner Kleinstadt-Band [Jazz, N.T.] und lernt, da Improvisation hier so wichtig ist, der pathetischen Geschlossenheit großer Geschichtserzählungen zu misstrauen – bevor er überhaupt weiß, dass es sie gibt.“ (S. 184) Auch was „ein Geschichtspanorama aus dem Geist der reflektierten Episode“ S. 382) ist, erschließt sich mir nicht. Und dass Melvin Lasky, Schopflocher, Appelfeld oder Edgar Hilsenrath, den ich sehr schätze, in den Kreis der Dissidenten gehören, darf man bezweifeln; sie sind wie andere der Vorgestellten von den Nazis verfolgt worden oder auch nur aus Deutschland emigriert, aber das macht noch keinen Dissidenten. Sie stehen im Buch, weil der Autor sie irgendwann besucht hat und dann von diesem Besuch im Plauderton berichtet. – Wer dissidentisches Denken in Aktion sehen will, sollte die Essays von Manes Sperber lesen („Essays zur täglichen Weltgeschichte“) oder Vaclav Havels großartigen „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, der in Martins Literaturliste leider nicht genannt wird.

https://www.dissidenten.eu/ (biograf. Lexikon kommunist. Dissidenten)

https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Dissidenten

https://www.zeitklicks.de/ddr/politik/opposition/buergerrechtler-und-dissidenten/ (in der DDR)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/lob-der-dissidenz-vom-widerstaendigen-in-unserer-100.html (in unserer Gesellschaft)

https://www.zeitklicks.de/kaiserzeit/politik/innenpolitik/die-kritischen-stimmen-der-kaiserzeit (die kritischen Stimmen der Kaiserzeit; dort auch Weimarer Republik, Drittes Reich usw.)

https://multipolar-magazin.de/media/pdf/in-der-wahrheit-leben.pdf (Kurzfassung V. Havel)

https://books.google.de/books?id=fppWDwAAQBAJ&pg=PT3&hl=de&source=gbs_toc_r&cad=1#v=onepage&q&f=false (Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben – der Anfang)

Hans-Ulrich Rüegger: Versuchen, in der Wahrheit zu leben (als pdf greifbar)

Ein gutes Suchwort ist auch „Widerstand“ sowie „intellektuelle Redlichkeit“ (Nietzsche).

Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens (2020)

Für einen gelernten Wessi bietet Marko Martin fast zu viele Informationen über die beinahe vergessene Kultur der DDR: ihre Filme und Bücher, ihre Bilder und Gedichte, und immer wieder die kleinkarierte Zensur und die widerliche „Zersetzung“ unliebsamer Künstler durch das MfS (einschließlich Haft und Berufsverbot, gelegentlich Abschiebung und möglicherweise Ermordung). Zur Sprache kommen auch die Bespitzelung durch Freunde und Ehegatten, die Anwerbung als IM und das Aufkündigen solcher Verpflichtung. Thematisch dominieren die Revolte der Jungen, die Rolle der Frau und auch Abenteuerbücher, die man so nicht kennt. Aber auch (Auto)Biografisches wird vorgestellt, Kinderbücher und ganz viele Filme…

Wie treffend das Gesamtbild ist, kann ich nicht beurteilen; wer Anregungen zum Lesen sucht, wird von der Fülle der Titel und Autoren beinahe erdrückt. Ein großer Nachteil: In den normalen Stadtbibliotheken wird man sie vergeblich suchen.

https://sehepunkte.de/2021/04/35017.html (gute Übersicht)

https://www.youtube.com/watch?v=cGZJMSdhuD8 (umfangreich)

https://www.perlentaucher.de/buch/marko-martin/die-verdraengte-zeit.html

https://www.deutschlandfunkkultur.de/marko-martin-die-verdraengte-zeit-das-kulturelle-erbe-der-100.html

Verkehrte Welt – was ist das?

Auf den Begriff der verkehrten Welt bin ich bei Umberto Eco gestoßen. In seiner Geschichte der legendären Länder und Städte stellt er in Kap. 10 das Schlaraffenland vor. Das Schlaraffenland ist aber kein typisches Beispiel für eine verkehrte Welt, wie später gezeigt werden soll. Die erste dazu bei Eco präsentierte Farbtafel stellt dann auch nicht das Schlaraffenland dar, sondern einen Bilderbogen Le monde renversé aus dem 19. Jahrhundert. Mehrere solcher Bilderbögen samt zugehöriger Erklärung findet man auf dieser französischen Seite: https://histoire-image.org/etudes/monde-renverse. Typische Bilder findet man auch in einem deutschen Druck des 17. Jahrhunderts: „Übermütig reit der Knecht / und der König gehet schlecht.“ „Was ein Esel sonsten trägt / Wirt dem Menschen auffgelegt.“ „Fisch die wollen Vögel sein / Einer greifft dem anderen ein.“ (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Verkehrte_welt_17_jh.jpg)

Ehe wir uns den literarischen und literaturgeschichtlichen Fragen zuwenden, sollten wir versuchen die Vorstellungen einer verkehrten Welt menschlich zu verstehen. Das kann man, wenn man im Netz beim Suchwort „verkehrte Welt“ viele Hinweise darauf beachtet, dass es für die Grundschule und die Sekundarstufe I eine Reihe von didaktischen Anleitungen gibt: „Wir spielen verkehrte Welt.“ Die spielerische Lust, sich Gegebenheiten und Verhältnisse vorzustellen und auszuspinnen, die das im Alltag Erlebte aufheben und umkehren, ist meines Erachtens das Motiv, das Menschen seit Jahrtausenden dazu bringt, sich eine verkehrte Welt vorzustellen. Diese Vorstellungen können dann verschiedenen Zwecken dienen, was zu einem ambivalenten Bild der verkehrten Welt führt.

Ein Bild auf einer ägyptischen Scherbe, etwa 1200 v.u.Z., zeigt einen Affen, der Musik macht, und einen nubischen Soldaten, der dazu tanzt: https://smaek.de/news/verkehrte-welt/. Auf der Seite des Staatlichen Museums ägyptischer Kunst wird dieses ungewöhnliche Motiv erklärt. Zur verkehrten Welt heißt es dann: „Das Nilpferd im Baum, die Katze, die eine Mäusedame frisiert, der Katz-Mäusekrieg mit einem Mäuserich als Pharao auf dem Streitwagen – die erhaltenen Szenen lassen erahnen, dass es ursprünglich ein breites Spektrum von Motiven gab, die ihren Platz in der nicht erhaltenen Dekoration profaner Gebäude – Wohnhäuser, Kasernen, Arbeitersiedlungen – gehabt haben mögen und die sich, aus Ziegeln erbaut, nur zu einem kleinen Teil erhalten haben. Spott und Satire, Komik und Karikatur, und damit zuweilen sogar Kritik an gesellschaftlichen Strukturen und Herrschaftsverhältnissen lassen sich hier greifen, für die in der offiziellen Kunst selten Platz gewesen ist.“ Das ist ein Beleg dafür, dass die Vorstellungen einer verkehrten Welt von Anfang an verschiedensten Zwecken dienen konnten: Blödelei, Freude an phantastischen Ideen, Befreiung von sozialen Normen, Kritik an Herrschaftsverhältnissen, aber auch an Missständen im Alltag. Noch Heinrich Heines Gedicht „Verkehrte Welt“ (Zeitgedichte, no. 21) weist diese Ambivalenz auf:

Das ist ja die verkehrte Welt,
Wir gehen auf den Köpfen!
Die Jäger werden dutzendweis'
Erschossen von den Schnepfen.

Die Kälber braten jetzt den Koch,
Auf Menschen reiten die Gäule;
Für Lehrfreiheit und Rechte des Lichts
Kämpft die katholische Eule.

Der Häring wird ein Sansculott',
Die Wahrheit sagt uns Bettine,
Und ein gestiefelter Kater bringt
Den Sophokles auf die Bühne.

Ein Affe läßt ein Pantheon
Erbauen für deutsche Helden.
Der Maßmann hat sich jüngst gekämmt,
Wie deutsche Blätter melden.

Germanische Bären glauben nicht mehr
Und werden Atheisten;
Jedoch die französischen Papagei'n,
Die werden gute Christen.

Im uckermärk'schen Moniteur,
Da hat man's am tollsten getrieben:
Ein Toter hat dem Lebenden dort
Die schnödeste Grabschrift geschrieben.

Laßt uns nicht schwimmen gegen den Strom,
Ihr Brüder! Es hilft uns wenig!
Laßt uns besteigen den Templower Berg
Und rufen: «Es lebe der König!»

Im redensarten-index (https://www.redensarten-index.de/suche.php?) wird die Redensart „das ist eine verkehrte Welt“ erläutert; als Gründe für den Entwurf einer verkehrten Welt werden dort aufgezählt:

  • die Zeitklage über den angeblichen Verfall von Sitte und Kultur
  • Schlaraffenland und Schilde sowie Eulenspiegel und Münchhausen
  • die Wahnwelt eines Einzelnen wie Don Quijote
  • spielerische Umkehrung der realen Machtverhältnisse
  • Karneval als Fest einer zeitweise geduldeten verkehrten Welt (Ventilfunktion).

Diese Liste ist unbefriedigend, weil nicht durchdacht. Ich möchte folgende Abgrenzung vorschlagen: In der Phantasie, der Imagination wird die reale Welt überwunden, erscheint Unmögliches (griech. adynata, lat. impossibilia) als wirklich. Davon sind zunächst das Paradies und das Schlaraffenland abzugrenzen; man könnte sie als Grenzfälle der verkehrten Welt gelten lassen, das Paradies als Ort eines Lebens ohne Arbeit und Not, das Schlaraffenland als Reich des totalen Überflusses. Von der Umkehrung aller Verhältnisse schließe ich auch die Lügengeschichten aus, die durchweg bloße Übertreibungen und Absonderlichkeiten darbieten, auch wenn diese manchmal „unmöglich“ sind (Baron von Münchhausen). So bleiben die Geschichten und Bilder der verkehrten Welt von den Motiven bestimmt, welche die wilde Imagination antreiben: Kritik an alltäglichen Missständen oder an den Herrschenden, Befreiung von sozialen Normen, Spaß am Treiben der Phantasie. Auch die Versuche, menschliches Leben aus einer ganz fremden Perspektive zu sehen, bauen eine neue verkehrte Welt auf (https://norberto68.wordpress.com/2024/03/27/produktives-schreiben-eine-neue-perspektive-einnehmen/). In den Festen der verkehrten Welt – es gibt deren eine ganze Reihe – können sich verschiedene Motive miteinander verbinden:

Saturnalien (https://de.wikipedia.org/wiki/Saturnalien)

Fastnacht (https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Fasnacht und https://de.wikipedia.org/wiki/Karneval,_Fastnacht_und_Fasching )

Narrenfeste (http://www.brauchtumsseiten.de/a-z/n/narrenfest/home.html und http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Narrenfest?hl=narrenfest)

Eselsfest (http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Eselsfest?hl=eselsfest)

verschiedene Spiele (https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Kinderbischofspiel und

https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Schulabtspiel und

https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Fasnachtsspiel)

Kurze Gesamtdarstellungen sind der Artikel „Verkehrte Welt“ im Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 11, S. 705 ff.; E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948, Bd. 1, S. 102 ff.; Heinrich Schneegans: Geschichte der grotesken Satire, 1894 (https://archive.org/details/geschichtedergr00schn/page/n15/mode/2up?view=theater) erfasst nur einen Teilaspekt. https://archivalia.hypotheses.org/114945 ist eine Untersuchung des Motivs „Hasen fangen und braten den Jäger“ mit umfangreicher Literaturliste zur verkehrten Welt. Bei der Bildersuche findet man u.a. Verweise auf Hieronymus Bosch und Magritte. Von den Texten könnte man Grimmelshausens Des Abenteuerlichen Simplicii verkehrte Welt und Adolf Glaßbrenners Gedicht Die verkehrte Welt (1862) hervorheben, aber damit täte man vielleicht anderen Texten Unrecht, weil man sie nicht erwähnt.

Im Krünitz (18. Jh.) findet man folgende Erklärung für „verkehrte Welt“: „ein Ausdruck, den man oftmals hört, und womit man die staatlichen Zustände bezeichnet, wenn darin durch Revolutionen etc. Manches verkehrt geht; auch in geordneten Staaten, wenn Mißgriffe von Seiten der Regierungen durch drückende Auflagen, Hemmungen der Gewerbsthätigkeit und des Handels, durch nicht gesteuerte Hungersnoth etc. begangen werden, wodurch das Volk zur Unzufriedenheit geführt wird. Kurz Alles, was nicht den geregelten Gang in den Zuständen des Volkes und der Regierungen geht, bezeichnet man mit dem Ausdrucke: verkehrte Welt.“ Aber das war damals schon eine konservativ verengte Erklärung, auch wenn sie den alltäglichen Sprachgebrauch damals wie heute weithin trifft.

U. Eco: Die Geschichte der legendären Länder und Städte (2013)

Dieses Buch Ecos behandelt auf seinen 470 Seiten die verschiedensten legendären Länder, Städte, Inseln und auch Personen: Produkte uralter Sagen oder moderne Erfindungen, an die viele Menschen geglaubt und nach denen sie gesucht haben. Dazu gehören etwa die Erde als Scheibe, die Länder Homers, der Priester Johannes, das irdische Paradies, die Glückseligen Inseln und das Eldorado, Atlantis, Thule, das Schlaraffenland, die utopischen Inseln und andere. Ihre Geschichten werden von Eco beschrieben; dazu gibt es Textauszüge, die Ecos Text belegen, und viele Bilder, die ihn anschaulich machen (und die auch unseren Altvorderen die phantastischsten Orte anschaulich gemacht haben). Da die Bilder auf Hochglanzpapier gedruckt sind, ist ihre Qualität erstaunlich gut – das erklärt auch den stolzen Preis von 40 € für ein dtv-Buch. Fazit: eine Quelle des Staunens und der Belehrung, Staunen darüber, was Menschen alles geglaubt, befürchtet und erhofft haben.

Aber es gibt in meinen Augen zwei Mängel: Zum einen sind viele Textauszüge nur Schnipsel, auf die man gut und gerne verzichten könnte; das gilt auch für einen Teil der Bilder. Zweitens, und das wiegt schwerer, sind die Bilder zwar durch Titel und Aufbewahrungsort identifiziert und zeigen durchweg deutlich das besprochene Sujet; aber es fehlt eine Erläuterung des Bildinhalts, so dass sie auf die Funktion von Bildchen herabgedrückt werden. Für die erforderlichen Erläuterungen wäre Platz gewesen, wenn man auf zwei- und dreifache Bebilderung eines Sujets verzichtet hätte – aber das hätte natürlich viel Mehrarbeit bedeutet. Eco hat vermutlich die Bilder nicht selbst ausgewählt, sondern deren Auswahl Silvia Borghesi (italienische Ausgabe) und Jürgen Schönwälder (deutsche Ausgabe) überlassen.

Am Schluss des Buches stehen ein Autorenregister, ein Künstlerregister, ein Register der anonymen Werke und ein Verzeichnis der abgebildeten Filmbilder.

https://www.perlentaucher.de/buch/umberto-eco/die-geschichte-der-legendaeren-laender-und-staedte.html (Übersicht)

https://www.sueddeutsche.de/kultur/neues-buch-von-umberto-eco-zweitklassiges-mahl-aus-erstklassigen-zutaten-1.1834061 (kritisch, treffend)

Voltaire: Amabeds Briefe (1769)

Amabeds Briefe“ (1769) ist ein Briefwechsel zwischen dem Inder Amabed und seinem geistigen Führer Shastasid, überwiegend Briefe Amabes und auch seiner Geliebten und späteren Frau Adate. Die jungen Leute berichten dem Alten von ihrer Begegnung mit den Europäern im 16. Jahrhundert; der Alte gibt Ihnen Ratschläge und macht ihnen Mut, warnt aber auch vor den Fremden.

Der erste Europäer, auf den sie treffen, ist ein liebenswürdiger Dominikaner, Fra tutto, bei dem sie Italienisch lernen; später veranlasst er, dass die beiden eingekerkert und der Apostasie (Glaubensabfall) beschuldigt werden, da er sie angeblich getauft hat. Er vergewaltigt Adate und auch ihre Freundin. Amabed und Adate appellieren an die Regierung und man schickt sie nach Rom, damit ihr Fall und ihre Vorwürfe vor dem Papst („Vizegott“) verhandelt werden. Ein Franziskaner tritt dabei als Rivale des Dominikaners auf. Berichte vom Wüten der Europäer in Indien, Erlebnisse auf der Reise und später in Rom machen den Inhalt der Briefe aus, die eine beißende Kritik des europäischen Christentums darstellen. Dabei kommen anlässlich der Bibellektüre Amabeds viele Absonderlichkeiten der Bibel und die Widersprüche zwischen der Lehre Jesu und der Praxis der Kirche zur Sprache. Der Franziskaner erklärt den Indern zum Beispiel, wie unsinnig das Keuschheitsgelübde der Mönche ist: „Seien Sie überzeugt, dass so kräftige Priester wie ich, die keine Frauen haben, sich Ausschweifungen hingeben, die die Natur verletzen – und dann nehmen sie heilige Handlungen vor.“ Er bekennt auch seine Glaubenszweifel, die er mit Gewalt unterdrücke: „Alle Mönche stehen vor der Wahl, entweder ihren Beruf durch ihren Unglauben zu verabscheuen oder ihn durch ihre Beschränktheit erträglich zu machen.“ Natürlich fehlen nicht der ungeheure Reichtum des Papstes, der einträgliche Ablasshandel und die Verdrehung biblischer Worte. So wird aus Jesu Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist…“ gefolgert, dass man alles dem Papst geben müsse; denn er sei der wahre Kaiser und zugleich Gottes Stellvertreter, also stehe ihm alles zu.

Zum Schluss kommen die beiden Inder, die in Rom mit Festen und Feiern überschüttet werden, in die Gesellschaft der Kardinäle Schurkinetti und Gaunerante, und mit diesem offenen Ende schließt der Briefwechsel. Er entlarvt den Kolonialismus und den Katholizismus Europas als barbarisch im Vergleich mit der indischen Kultur (vgl. „Das Naturkind“), so wie in „Der Mann mit den vierzig Talern“ (1768) die Ausbeutung der kleinen Bauern in Frankreich und die Begünstigung der Reichen angeprangert wird, wobei dann nebenher angedeutet wird, dass eine Revolution bevorstehen könnte. Kein Wunder, dass solche Bücher von der staatlichen und kirchlichen Zensur unterdrückt wurden.

Voltaire: Das Naturkind (1767)

Voltaires kleiner Roman „Das Naturkind“ ist auf Deutsch unter verschiedenen Titeln bekannt: Der Harmlose = Das Naturkind = Der Hurone, unter dem Titel „Der Freimütige“ bei Reclam zu kaufen. Er besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil erscheint ein Hurone in der Bretagne und erweist sich als Neffe eines Priors, als Sohn dessen in Amerika gefallenen Bruders; der Prior will den ungetauften Huronen zu einem Subdiakon [erste Stufe des Priestertums, mit Verpflichtung zum Zölibat] machen, damit er seine Pfründe erben kann. Die Begegnung des Huronen mit der europäischen Kultur und ihren Absonderlichkeiten, speziell mit dem Christentum, zu dem man ihn unbedingt bekehren will, stellt eine witzige Entlarvung dieser Kultur dar. Der Hurone liest nicht nur die Bibel und findet darin Kriterien, die das Christentum seiner Gastgeber bloßstellen, sondern verliebt sich auch in Fräulein Saint-Yves und stellt erstaunt fest, was man alles an Ehehindernissen für eine Verbindung mit ihr erfunden hat. Sie erwidert seine Liebe und muss sich gegen eine Heirat wehren, zu der ihr Vater sie zwingen will.

Mit der Verhaftung des Huronen, der als „Naturkind“ auftritt und nach seiner Taufe Herkules heißt, beginnt der zweite Teil des Romans. In ihm geht es zunächst darum, wie Herkules in der Bastille zu einem alten Jansenisten in die Zelle gesperrt wird, mit dem er sich anfreundet und gemeinsam weiterbildet. Herkules wird zu einem gebildeten Europäer, der Jansenist gibt sein Sektierertum auf. Saint-Yves ist ihrem Liebsten treu geblieben, muss sich aber zu seiner Befreiung zwei hohen Beamten hingeben, was in Paris Standard ist, worunter sie aber leidet. Als ihr Geliebter wieder in der Bretagne eintrifft und alle glücklich sind, bricht Saint-Yves in einer Mischung aus Glück und Schuldgefühlen zusammen; zwei Ärzten gelingt es, sie in den Tod zu befördern. Dazu trägt auch bei, dass einer ihrer beiden „Verführer“ voll Reue bei ihr erscheint und die von ihm geschenkten, von ihr aber abgelehnten Diamanten mitbringt, die Saint-Yves erneut zurückweist. Als sie stirbt, sind die beiden Liebenden versöhnt.

Herkules wird dann im versöhnlichen Schluss ein angesehener Offizier. Gordon, der ehemalige Jansenist, ist ein vernünftiger Mensch geworden und erhält eine Pfründe. Sein Wahlspruch wird: „Unglück ist stets zu etwas gut.“ Der Erzähler kommentiert diesen Satz, dass viele ehrenhafte Menschen allerdings Anlass haben zu sagen: „Unglück ist zu nichts gut.“ Damit hat Voltaire den Schluss seines „Zadig“ widerrufen, und das ist gut so. Ich möchte noch einen Satz des Kaisers Justinian zitieren, den der Hurone in der Bastille gelesen hat: „Die Wahrheit erstrahlt in ihrem eigenen Glanz, und man kann die Geister nicht durch die Flammen der Scheiterhaufen erleuchten.“

Fazit: ein flott geschriebener Roman, zuerst witzig-kritisch, zum Schluss melodramatisch, der beinahe an den „Candide“ heranreicht – beinahe nur deshalb, weil die beiden Teile des Romans nicht ganz miteinander verschmolzen sind. Hier wird das gleiche Motiv wie in „Amabeds Briefe“ durchgespielt: Begegnung eines Fremden mit der europäischen Kultur.

https://www.projekt-gutenberg.org/voltaire/harmlose/harmlose.html Der Harmlose

Voltaire: Zadig oder das Schicksal – gelesen

Zadig oder das Schicksal“ (1748) ist eine Erzählung bzw. ein kleiner Roman Voltaires, dessen Schluss mich überrascht hat. Held der Erzählung ist ein junger, schöner, kluger, reicher, tugendhafter Mann ohne Falsch, der den Umgang mit weisen Menschen sucht. „Von der Metaphysik wußte er soviel, wie man zu allen Zeiten davon gewußt hat, das heißt: herzlich wenig.“ Diesem Zadig kommt zuerst seine schöne Braut abhanden, dann gerät er aufgrund seiner Klugheit in Lebensgefahr, aus er sich aber retten kann – das Schema des rasanten Wechsels von Lebensgefahr und Rettung beherrscht die ganze Erzählung. Er kommt in die Nähe des Königs von Babylon und bezaubert dessen schöne Frau, wie er von ihr bezaubert ist. Der König will beide töten, doch mit Hilfe seines Freundes Cador entkommt Zadig, um durch die Welt zu fahren und den steten Wechsel von Unglück und Glück zu erleben, ohne dabei seine schöne Königin zu vergessen.

Zum Schluss gerät er an einen alten Weisen, dem er sich anschließt und der völlig unverständliche Dinge tut (ein Haus anzünden, einen Knaben in den Bach stoßen). Der Alte wandelt sich dann zum Engel Jesra und klärt Zadig auf, wozu seine unverständlichen Handlungen gut waren. Die Bösen seien dazu da, die wenigen Gerechten auf die Probe zu stellen. „Es gibt nichts Böses, das nicht auch gute Seiten hätte.“ Eine vollkommene Ordnung „kann nur im ewigen Reich des höchsten Wesens, dem alles Böse fernbleibt, herrschen“. „Du schwacher Sterblicher, laß ab, wider das zu kämpfen, was man anbeten muß.“ Zadig unterwirft sich der Vorsehung. – Diese Wendung der Dinge überrascht mich, weil der Erzähler zu Beginn selber verkündet hat, die Menschen wüssten nichts von der Metaphysik; sie überrascht zweitens, weil Voltaire damit quasi die Lehren seines Gegners Leibniz, die er im „Candide“ verspottet, selber vertritt: dass wir doch in der besten aller möglichen Welten leben.

Der solcherart bekehrte Zadig gewinnt dann im Kampf und dadurch, dass er als einziger verschiedene Rätsel löst, nach erneuter Gefährdung seine inzwischen verwitwete (und mehrfach gefährdete und gerettete) Königin von Babylon zur Frau, wird König und herrscht in Weisheit zum Glück des Volkes.

https://de.wikipedia.org/wiki/Zadig (sehr knapp)

https://www.projekt-gutenberg.org/voltaire/zadig/zadig.html (Text)

https://also42.wordpress.de/2024/03/22/voltaire-ein-aufklarer-zum-begriff-des-schicksals/ (philosophisch-kritische Lektüre der Erzählung)

Voltaires autobiografische Aufzeichnungen

Die „Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Herrn de Voltaire“, 1760 von ihm selber veröffentlicht, behandeln Voltaires Leben von 1733 bis etwa 1760 und das Geschick Friedrichs II., seine Jugend, seine Politik und sein Verhältnis zu Voltaire und Frankreich. Diese Denkwürdigkeiten sind amüsant; denn Voltaire ist derart von seiner Bedeutung und seiner Überlegenheit über alle anderen überzeugt, dass die von ihm erzählten Anekdoten und Episoden den Leser belustigen. Neben Friedrichs Charakter, seiner Neigung zu Schöngeistigem, seiner Liebe zum Militär und zur Sparsamkeit kommen die Verwicklungen seiner Kriege und die Feindschaft gegen Frankreich zur Sprache.

Voltaire erweist sich auch als ein Aufklärer, der sich Lockes Ideen anschließt: „Tatsache ist, dass wir nichts über uns selbst wissen, dass wir uns bewegen, dass wir leben, fühlen und denken, ohne zu wissen wie, dass uns die Elemente der Materie ebenso unbekannt sind wie alles übrige, dass wir Blinden gleichen, die gehen und reden, während sie im Finstern tappen…“. Dass er nicht im ersten Anlauf in die Akademie aufgenommen wurde, ist ihm nur Anlass, die Mitgliedschaft darin als belanglos abzutun wie der Fuchs bei den Trauben. Anschaulich beschreibt er den Tagesablauf in Potsdam, nicht ohne sich über die sexuell anzüglichen Bilder im Speisesaal zu mokieren: „Die Mahlzeiten waren oft nicht weniger philosophisch. Wenn jemand unvermutet dazugekommen wäre, unseren Gesprächen gelauscht und dabei die Gemälde gesehen hätte, so würde der geglaubt haben, die Sieben Weisen Griechenlands im Freudenhaus zu hören.“

Es gibt die „Denkwürdigkeiten“ als Einzelausgabe; sie stehen aber auch in Voltaires „Sämtliche Romane und Erzählungen“ (it 209, meine Ausgabe ist von 1988).

https://www.correspondance-voltaire.de/ (Voltaire)

https://plato.stanford.edu/entries/voltaire/ (dito)

https://de.wikipedia.org/wiki/Voltaire (dito)

https://www.projekt-gutenberg.org/voltaire/philoauf/philoauf.html (Briefe: „Voltaire in Berlin“)

https://archive.org/details/bub_gb_obRLAAAAcAAJ/page/n1/mode/2up (Veneday: Friedrich der Große und Voltaire, 1859)

https://archive.org/details/voltaireeinechar00poppuoft/page/n5/mode/2up J. Popper: Voltaire. Eine Charakteranalyse, 1905)

https://archive.org/details/bub_gb_E_oGAAAAcAAJ/page/n3/mode/2up (Voltaire: Der unwissende Philosoph)

Stefan Themerson: Prof. Mmaa’s Vorlesung (1953) – erneut gelesen

Termiten sind eine staatenbildende, in warmen Erdregionen vorkommende Epifamilie der zu den Insekten gehörenden Schaben. (…) Mit den ebenfalls staatenbildenden Hautflüglern (Ameisen, Bienen und Wespen) sind sie nicht näher verwandt. (…) Viele Arten haben eine weiße oder weißgelbliche Körperfarbe. In der Regel werden Termiten zwischen 2 und 20 mm lang. (…) Ein Termitenstaat kann mehrere Millionen Individuen umfassen und besteht normalerweise aus drei spezialisierten Gruppen oder „Kasten“. All diese Kasten umfassen jedoch, anders als bei den Hautflüglern, meist beide Geschlechter. Neben einem Fortpflanzungspaar (selten mehreren Paaren) gibt es geschlechtlich verkümmerte und meist blinde männliche und weibliche Arbeiter, die u. a. Brutpfleger, Nestbauer und Nahrungsbeschaffer sind. Nestwächter („Soldaten“) mit einem großen Kopf und einem kräftigen Kiefer schützen den Termitenbau. Die mit voll entwickelten Facettenaugen ausgestatteten Geschlechtstiere legen nach dem Hochzeitsflug die Flügel ab. Im Unterschied zur Ameisenkönigin muss die Termiteneierlegerin immer wieder neu begattet werden und lebt deshalb mit einem „König“ zusammen. Termiten ernähren sich bevorzugt von organischem Material wie Holz, Humus oder Gras. (https://de.wikipedia.org/wiki/Termiten)

Termiten haben einen charakteristischen Körperbau, der sich von anderen Insekten unterscheidet. Ihr Körper ist in drei Teile unterteilt: Kopf, Thorax und Abdomen. Hier sind einige der wichtigsten Merkmale:

  1. Weiche, blasse Körper: Termiten haben weiche Körper, die oft weiß oder hell gefärbt sind. Dies unterscheidet sie von Ameisen, die in der Regel härtere Körper haben.
  2. Flügel und Flügellose: Termiten sind in zwei Hauptgruppen unterteilt: geflügelte Termiten, auch Alate genannt, und flügellose Termiten, die die Mehrheit eines Termitenstaates ausmachen. Die geflügelten Termiten sind verantwortlich für die Schwarmflüge und die Gründung neuer Kolonien.
  3. Antennen: Termiten haben lange, gerade Antennen, die ihnen bei der Wahrnehmung von Gerüchen und Berührungen helfen.
  4. Kaum sichtbare Augen: Termiten haben meist schlechte Augen, was bedeutet, dass sie hauptsächlich auf andere Sinne angewiesen sind. (https://schmetterlinge-zuechten.de/termiten/)

Wenn man das über Termiten weiß, kann man sich vorstellen, wie reizvoll es werden kann, wenn der Termitenprofessor Mmaa eine Vorlesung über den Menschen hält. Dabei stützt er sich auf eine Expedition, die ein Haar, einen Fingernagel, eine Kugel im Herzen eines Menschen und ein rätselhaftes Gebilde mitgebracht hat, das sich später als Knopf erweist. Außerdem hat Mr. Stefanos „die Methode des horizontalen Verzehrs“ auf Zelluloseblätter (Buch) angewandt, wobei er „diejenigen faden Geschmackshemmer dem Gedächtnis übermittelte, auf die er auf beiden Oberflächen eines jeden Blattes stieß“ (er hatte sich für die Methode, von links nach rechts zu fressen, entschieden).

Erzählt wird von einem „unparteilichen Chronisten“, dem allwissenden Erzähler, der auch die Gedanken der Termiten kennt: von der Vorlesung Mmaas, von seinen Studenten und rivalisierenden Kollegen; von seiner Ernährerin, der Alten Mamma, und ihrer Befreiung; vom Ende der Königin und dem Besuch Mmaas bei ihr, seiner früheren Freundin; von einer diplomatischen Gesandtschaft der eigentlich verfeindeten Ameisen; vom Angriff der Ameisen und der Mobilmachung durch den Chef Big Bug; und schließlich von der Katastrophe: der Termitenbau wird in die Luft gesprengt. Der Reiz dieser Erzählung besteht darin, dass einmal aus der fremden Perspektive ein oft stimmiges, oft völlig verzerrtes Bild der menschlichen Angelegenheiten gezeichnet wird; daneben gibt es viele phantastisch-spielerische Elemente.

Die Termiten kennen bedeutende Menschen wie Aristoteles oder Pascal; verfremdet tauchen Bergson als die Termite Dr. Elenri Bergnos, die tautologische Phrasen über die Lebenskraft äußert, und Freud als die Termite Dr. Durchfreud (auch: Sigismund Kraft-Durchfreud) auf, der verschiedene Termiten, aber auch sich selbst „analysiert“. Es gibt einen großen Streit darum, ob bestimmte Eigenschaften erworben oder angeboren sind; es gibt in diesem Polizeistaat kommunistische revolutionäre Strömungen und einen Prediger, der für das Erdulden aller Leiden im Hinblick auf spätere Belohnung wirbt…

Zwei Einzelheiten möchte ich nennen: Der Einzelgänger Arthur Theolieb möchte Dichter werden und erkennt, dass Dichter „stets den Prozeß der Draufzu-Bewegung durchlaufen“ müssen, der für sie endlos ist, während Wesen, die sich aufeinander zu bewegen, um sich zu paaren, keine Dichter werden können, weil ihre Bewegung ja ein Ziel erreicht. Reizend ist die letzte Begegnung Mmaas mit der Königin, die keine Eier mehr legt und Dr. Durchfreud sprechen wollte, während ihr Mann ihr ihren Jugendfreund Mmaa herbeischaffen lässt. Sie will ihn freundlich begrüßen, doch sie sagt: „Wer sind Sie? Ich hatte Dr. Durchfreud erwartet…“ Und er will sagen: „Der Liebe leichte Schwingen trugen mich; / Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren.“ (Shakespeare) Doch er sagt: „Es tut mir leid, aber ich wurde einfach fortgetragen.“ Diese verschämte Verlegenheit der ehemals Liebenden berührt mich. Ein schlichter Scherz sind die Überlegungen, ob es geflügelte Homos gibt, die man nur deshalb nicht kennt, weil sie sich ja in der Luft befinden müssten, wo Termiten nicht auf sie stoßen können, oder etwa eine Häufung sinnloser Neologismen („die Menge der sich gegenseitig coaxenden, trochtanternden, femurenden, tibianenden und tarsusenden Abdomenern“). Insgesamt: ein großer Spaß.

Bertrand Russell stellt das Buch in die Reihe der Romane wie „Gullivers Reisen“; ich bin durch Umberto Ecos Erzählung „Industrie und sexuelle Repression in einer norditalienischen Gesellschaft“ (in: Platon im Striptease-Lokal) wieder an Stefan Themersons Roman „Professor Mmaa’s Vorlesung“ (1953) erinnert worden, den ich vor 50 Jahren zum ersten Mal und jetzt erneut mit Freude gelesen habe. Glanzpunkt solcher Verfremdung ist der „Monolog einer Milbe im siebenten Stock eines Edamerkäses“ (Weckhrlin, 18. Jh.). Und auch Andersens Märchen „Die glückliche Familie“ wollen wir nicht vergessen (https://norberto42.wordpress.com/2010/11/03/andersen-die-gluckliche-familie-kurze-analyse/), ebenso Montesquieus „Persische Briefe“ und Umberto Ecos „Industrie und sexuelle Repression in einer norditalienischen Gesellschaft“ nicht. – Im Gegensatz zu den kleinen Milben stehen in Voltaires Erzählung „Mikromegas“ der knapp 40 Kilometer große Siriusbewohner Mikromegas und ein knapp 2 Kilometer großer Uranier, die gemeinsam die Erde besuchen und dabei das seltsame Leben und Wissen der Menschen erkunden.

U. Eco: Platon im Striptease-Lokal – gelesen

Platon im Striptease-Lokal“ ist eine Sammlung von „Parodien und Travestien“, die Eco vor 60 Jahren geschrieben hat; es gibt sie als eigenes Buch, aber auch im Sammelband „Sämtliche Glossen und Parodien 1963-2000“ (Verlag Zweitausendeins), den es noch antiquarisch zu kaufen gibt. Von den 13 Texten stelle ich kurz die sieben vor, die mir am besten gefallen haben; vielleicht sollte man auch die Idee eines weiteren Textes würdigen: Im Stripteaselokal bekommt man nichts Reales, es wird nur die Idee der begehrenswerten Frau vermittelt – quasi eine Demonstration der platonischen Ideenlehre.

Das Ding“: eine Parabel, in der berichtet wird, wie ein Professor einem General den ersten Faustkeil vorführt. Der General ist begeistert, der Professor besorgt: Damit könnten Kriege entfesselt werden. Der General beschimpft und erschlägt dann den Professor. „Dann begann er zu lächeln, und zwar ein triumphierendes, grausames, unerbittliches Lächeln. ‚Und das ist erst der Anfang!‘ murmelte er.“

Industrie und sexuelle Repression in einer norditalienischen Gesellschaft“ ist eine glänzende Parodie ethnologischer Studien. Forscher der Südseeinsulaner beschreiben und erklären das Leben der Menschen in Mailand: die Fußballspiele als kannibalische Riten, wo Fremde verspeist werden (die ausländischen Spieler); das Tanzen als Ritus sexueller Annäherung, die niemals gelingt; Paraphrasen im Stil Heideggers und Husserls; Kirche und Industrie als beherrschende Mächte im Konkurrenzkampf: „Die Kirche ist, soweit wir aus den vor Ort gesammelten Aussagen entnehmen konnten, eine weltliche Macht, der es um die irdische Vorherrschaft geht, um den Erwerb von nutzbarem Bauland und den Zugang zu den politischen Schalthebeln; die Industrie ist eine geistige Macht, der es um die Vorherrschaft über die Seelen geht, um die Verbreitung eines mystischen Bewußtseins und einer asketischen Haltung.“ Brillant!

Drei Käuzchen auf dem Vertiko“: Hier wird in der „Analyse“ eines Kinderverses das sinnlose Geplapper der modernen Linguistik entlarvt, mit Baum der Tiefenstruktur und Literaturangaben, „und dabei zum Anfang zurückzukehren; und um im Sagen nichts zu sagen und im Nichtssagen in der Identität des Diversen zu bleiben. Dort – (…) wo keine Stimme je mehr wird schweigen können in der vollen Sagbarkeit ihrer eigenen Leere.“

In „Do your movie yourself“ werden die Drehbücher moderner Filme verspottet. Fabelhaft ist dann „… müssen wir mit Bedauern ablehnen (Lektoratsgutachten)“; hier werden die großen Bücher der Weltliteratur von einem kleinkarierten Lektor begutachtet und verworfen: Die Bibel, Homer, Kant, Cervantes, Kafka…

Die Entdeckung Amerikas“ parodiert in einer Konferenzschaltung den Bericht von der ersten Mondlandung. Großartig ist der letzte Beitrag „Von Patmos nach Salamanca“. Da wird das Buch „The Patmos Sellers“ des Autors Temesvar vorgestellt, eine Studie über die Genese scheinfunktionaler Rollen, nämlich der sogenannten Geisteswissenschaftler, die im Zeitalter empirischer Forschung nichts Vernünftiges mehr zu tun haben. „So entstehen die Experten der Apokalypse, spezialisiert auf den Beweis, dass der neue Problemhorizont im höchsten Grade ambivalent, antihuman und negativ sei und dass es zurückzukehren gelte zur Pflege der Werte von einst, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Mit solchem Tun hat der ‚Apokalypsenhändler‘, stellt Milo Temesvar abschließend fest, dann immerhin ein Problem gelöst: das seines eigenen Überlebens als Privatperson.“

http://www.eco-online.de/Texte/Kroeber.html (Eco übersetzen)