Auf den Begriff der verkehrten Welt bin ich bei Umberto Eco gestoßen. In seiner Geschichte der legendären Länder und Städte stellt er in Kap. 10 das Schlaraffenland vor. Das Schlaraffenland ist aber kein typisches Beispiel für eine verkehrte Welt, wie später gezeigt werden soll. Die erste dazu bei Eco präsentierte Farbtafel stellt dann auch nicht das Schlaraffenland dar, sondern einen Bilderbogen Le monde renversé aus dem 19. Jahrhundert. Mehrere solcher Bilderbögen samt zugehöriger Erklärung findet man auf dieser französischen Seite: https://histoire-image.org/etudes/monde-renverse. Typische Bilder findet man auch in einem deutschen Druck des 17. Jahrhunderts: „Übermütig reit der Knecht / und der König gehet schlecht.“ „Was ein Esel sonsten trägt / Wirt dem Menschen auffgelegt.“ „Fisch die wollen Vögel sein / Einer greifft dem anderen ein.“ (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Verkehrte_welt_17_jh.jpg)
Ehe wir uns den literarischen und literaturgeschichtlichen Fragen zuwenden, sollten wir versuchen die Vorstellungen einer verkehrten Welt menschlich zu verstehen. Das kann man, wenn man im Netz beim Suchwort „verkehrte Welt“ viele Hinweise darauf beachtet, dass es für die Grundschule und die Sekundarstufe I eine Reihe von didaktischen Anleitungen gibt: „Wir spielen verkehrte Welt.“ Die spielerische Lust, sich Gegebenheiten und Verhältnisse vorzustellen und auszuspinnen, die das im Alltag Erlebte aufheben und umkehren, ist meines Erachtens das Motiv, das Menschen seit Jahrtausenden dazu bringt, sich eine verkehrte Welt vorzustellen. Diese Vorstellungen können dann verschiedenen Zwecken dienen, was zu einem ambivalenten Bild der verkehrten Welt führt.
Ein Bild auf einer ägyptischen Scherbe, etwa 1200 v.u.Z., zeigt einen Affen, der Musik macht, und einen nubischen Soldaten, der dazu tanzt: https://smaek.de/news/verkehrte-welt/. Auf der Seite des Staatlichen Museums ägyptischer Kunst wird dieses ungewöhnliche Motiv erklärt. Zur verkehrten Welt heißt es dann: „Das Nilpferd im Baum, die Katze, die eine Mäusedame frisiert, der Katz-Mäusekrieg mit einem Mäuserich als Pharao auf dem Streitwagen – die erhaltenen Szenen lassen erahnen, dass es ursprünglich ein breites Spektrum von Motiven gab, die ihren Platz in der nicht erhaltenen Dekoration profaner Gebäude – Wohnhäuser, Kasernen, Arbeitersiedlungen – gehabt haben mögen und die sich, aus Ziegeln erbaut, nur zu einem kleinen Teil erhalten haben. Spott und Satire, Komik und Karikatur, und damit zuweilen sogar Kritik an gesellschaftlichen Strukturen und Herrschaftsverhältnissen lassen sich hier greifen, für die in der offiziellen Kunst selten Platz gewesen ist.“ Das ist ein Beleg dafür, dass die Vorstellungen einer verkehrten Welt von Anfang an verschiedensten Zwecken dienen konnten: Blödelei, Freude an phantastischen Ideen, Befreiung von sozialen Normen, Kritik an Herrschaftsverhältnissen, aber auch an Missständen im Alltag. Noch Heinrich Heines Gedicht „Verkehrte Welt“ (Zeitgedichte, no. 21) weist diese Ambivalenz auf:
Das ist ja die verkehrte Welt,
Wir gehen auf den Köpfen!
Die Jäger werden dutzendweis'
Erschossen von den Schnepfen.
Die Kälber braten jetzt den Koch,
Auf Menschen reiten die Gäule;
Für Lehrfreiheit und Rechte des Lichts
Kämpft die katholische Eule.
Der Häring wird ein Sansculott',
Die Wahrheit sagt uns Bettine,
Und ein gestiefelter Kater bringt
Den Sophokles auf die Bühne.
Ein Affe läßt ein Pantheon
Erbauen für deutsche Helden.
Der Maßmann hat sich jüngst gekämmt,
Wie deutsche Blätter melden.
Germanische Bären glauben nicht mehr
Und werden Atheisten;
Jedoch die französischen Papagei'n,
Die werden gute Christen.
Im uckermärk'schen Moniteur,
Da hat man's am tollsten getrieben:
Ein Toter hat dem Lebenden dort
Die schnödeste Grabschrift geschrieben.
Laßt uns nicht schwimmen gegen den Strom,
Ihr Brüder! Es hilft uns wenig!
Laßt uns besteigen den Templower Berg
Und rufen: «Es lebe der König!»
Im redensarten-index (https://www.redensarten-index.de/suche.php?) wird die Redensart „das ist eine verkehrte Welt“ erläutert; als Gründe für den Entwurf einer verkehrten Welt werden dort aufgezählt:
- die Zeitklage über den angeblichen Verfall von Sitte und Kultur
- Schlaraffenland und Schilde sowie Eulenspiegel und Münchhausen
- die Wahnwelt eines Einzelnen wie Don Quijote
- spielerische Umkehrung der realen Machtverhältnisse
- Karneval als Fest einer zeitweise geduldeten verkehrten Welt (Ventilfunktion).
Diese Liste ist unbefriedigend, weil nicht durchdacht. Ich möchte folgende Abgrenzung vorschlagen: In der Phantasie, der Imagination wird die reale Welt überwunden, erscheint Unmögliches (griech. adynata, lat. impossibilia) als wirklich. Davon sind zunächst das Paradies und das Schlaraffenland abzugrenzen; man könnte sie als Grenzfälle der verkehrten Welt gelten lassen, das Paradies als Ort eines Lebens ohne Arbeit und Not, das Schlaraffenland als Reich des totalen Überflusses. Von der Umkehrung aller Verhältnisse schließe ich auch die Lügengeschichten aus, die durchweg bloße Übertreibungen und Absonderlichkeiten darbieten, auch wenn diese manchmal „unmöglich“ sind (Baron von Münchhausen). So bleiben die Geschichten und Bilder der verkehrten Welt von den Motiven bestimmt, welche die wilde Imagination antreiben: Kritik an alltäglichen Missständen oder an den Herrschenden, Befreiung von sozialen Normen, Spaß am Treiben der Phantasie. Auch die Versuche, menschliches Leben aus einer ganz fremden Perspektive zu sehen, bauen eine neue verkehrte Welt auf (https://norberto68.wordpress.com/2024/03/27/produktives-schreiben-eine-neue-perspektive-einnehmen/). In den Festen der verkehrten Welt – es gibt deren eine ganze Reihe – können sich verschiedene Motive miteinander verbinden:
Saturnalien (https://de.wikipedia.org/wiki/Saturnalien)
Fastnacht (https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Fasnacht und https://de.wikipedia.org/wiki/Karneval,_Fastnacht_und_Fasching )
Narrenfeste (http://www.brauchtumsseiten.de/a-z/n/narrenfest/home.html und http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Narrenfest?hl=narrenfest)
Eselsfest (http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Eselsfest?hl=eselsfest)
verschiedene Spiele (https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Kinderbischofspiel und
https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Schulabtspiel und
https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Fasnachtsspiel)
Kurze Gesamtdarstellungen sind der Artikel „Verkehrte Welt“ im Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 11, S. 705 ff.; E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948, Bd. 1, S. 102 ff.; Heinrich Schneegans: Geschichte der grotesken Satire, 1894 (https://archive.org/details/geschichtedergr00schn/page/n15/mode/2up?view=theater) erfasst nur einen Teilaspekt. https://archivalia.hypotheses.org/114945 ist eine Untersuchung des Motivs „Hasen fangen und braten den Jäger“ mit umfangreicher Literaturliste zur verkehrten Welt. Bei der Bildersuche findet man u.a. Verweise auf Hieronymus Bosch und Magritte. Von den Texten könnte man Grimmelshausens Des Abenteuerlichen Simplicii verkehrte Welt und Adolf Glaßbrenners Gedicht Die verkehrte Welt (1862) hervorheben, aber damit täte man vielleicht anderen Texten Unrecht, weil man sie nicht erwähnt.
Im Krünitz (18. Jh.) findet man folgende Erklärung für „verkehrte Welt“: „ein Ausdruck, den man oftmals hört, und womit man die staatlichen Zustände bezeichnet, wenn darin durch Revolutionen etc. Manches verkehrt geht; auch in geordneten Staaten, wenn Mißgriffe von Seiten der Regierungen durch drückende Auflagen, Hemmungen der Gewerbsthätigkeit und des Handels, durch nicht gesteuerte Hungersnoth etc. begangen werden, wodurch das Volk zur Unzufriedenheit geführt wird. Kurz Alles, was nicht den geregelten Gang in den Zuständen des Volkes und der Regierungen geht, bezeichnet man mit dem Ausdrucke: verkehrte Welt.“ Aber das war damals schon eine konservativ verengte Erklärung, auch wenn sie den alltäglichen Sprachgebrauch damals wie heute weithin trifft.