Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik (2024) – gelesen

Die gut 610 Seiten stellen für den Leser eine Herausforderung dar: Der Erkenntnisgewinn ist nicht größer, als wenn man ein Buch von 100 Seiten gelesen hätte. Man hört viele Namen, die einem Altersgenossen Schäubles teilweise noch etwas sagen, aber die für meine Kinder bereits uninteressant sind. Und man liest viele Binsenwahrheiten: „Sich darum zu bemühen, Grenzen durchlässiger zu machen, den regionalen Zusammenhalt zu stärken und gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen, darin liegt der Schlüssel zu einer erfolgreichen [europäischen, N.T.] Einigungspolitik“, das besagt letztlich nichts; er selbst habe versucht, „zu verstehen und zu begründen, etwa wozu und mit welchem Ziel der Staat Einnahmen generiert, mit welcher Legitimation Bürgerinnen und Bürger fair belastet bzw. entlastet werden können, wie man Geld effizient und verantwortlich einsetzt“ – wer könnte dem widersprechen? Aber was heißt es anderseits konkret? Nichts. Oder wenn er wiederholt für „Maß und Mitte“ plädiert, was besagt das schon? Das Buch bietet einen Streifzug durch 50 Jahre Politik, so dass für jedes Jahr rund 12 Seiten Platz ist; da kann man als Autor auch nicht allzu viel darlegen.

Bewunderung für Helmut Kohl, Respekt für Angela Merkel, aber auch Kritik an beiden, bei Merkel deutlicher als bei Kohl; die Differenzen mit Merkel in der Flüchtlingsfrage und der Steuerpolitik waren schließlich so stark, dass er 2017 aus der Regierung ausgeschieden ist. Distanz zur CSU und Sympathie für die Grünen werden deutlich; dass man Herbert Gruhl nicht in der CDU habe halten können, sei ein schwerer Fehler mit nachhaltigen Folgen gewesen. Aufschlussreich sind Schäubles Hinweise, wie hinter den Kulissen Politik gemacht wird resp. wurde, etwa mit der DDR oder in der Europapolitik, oder wie es im Regierungsapparat knirschen kann, wenn Menschen „nicht miteinander können“; aber das gilt nur grundsätzlich, während die Namen der Beteiligten nach Jahren und Jahrzehnten wohl nur noch den Historiker interessieren. Wie er mit dem Attentat 1990 und seiner Querschnittslähmung zurechtgekommen ist, hat mich persönlich beeindruckt. Bedenklich fand ich seine kurze Bemerkung, er habe sich seinen Kinderglauben bewahrt – ist er religiös unmündig geblieben? Ersetzen ihm die Gefühle der geliebten Musik alles Denken und Wissen? Man weiß es nicht.

Nach anfänglicher Begeisterung wurde ich beim Lesen des Buches immer kritischer, und zum Schluss war es so langatmig, dass ich große Passagen nur noch kursorisch gelesen habe. Die Besprechung in der NZZ ist lesenswert und informativ. Welchen Anteil Hilmar Sack und Jens Hacke als Koautoren haben, wird nicht deutlich – Schäuble hat aber gegen sie darauf bestanden, dass es schließlich seine Erinnerungen seien.

https://www.nwzonline.de/meinung/der-eiserne-rezension-der-erinnerungen-wolfgang-schaeubles_a_4,1,654701951.html (positiv, nicht detailliert)

https://www.nzz.ch/feuilleton/wolfgang-schaeuble-in-seinen-memoiren-er-will-kein-konservativer-gewesen-sein-ld.1825329 (kritisch, detailliert)

Die Besprechungen in den großen deutschen Zeitungen kann man nur gegen Bezahlung lesen.

Marko Martin: Dissidentisches Denken (2019) – gelesen

Wer oder was ist ein Dissident? Hören wir zwei Definitionen, eine aus dem Wörterbuch und eine aus einem Politiklexikon:

1. [Politik] jmd., dessen Ansicht von einer offiziellen (Lehr-)‍Meinung, einer politischen oder staatlichen Ideologie abweicht und der seine Kritik öffentlich kundtut

2. [Religion] jmd., der keiner Religionsgemeinschaft angehört; jmd., der von der offiziellen theologischen Lehrmeinung abweicht(DWDS)

Als D. werden Personen bezeichnet, die eine vorgegebene politische oder religiöse Ordnung infrage stellen, von ihr abweichen oder ihr widersprechen; wird v. a. für politische Gegner in autoritären und diktatorischen Regimen verwendet.“ (Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 2020)

Marko Martin, Jahrgang 1970, kam im Mai 1989 wegen eines Hochschulverbots und als Kriegsdienstverweigerer aus der DDR in die Bundesrepublik; er war somit selber ein Dissident. Wenn er ein dickes Buch über dissidentisches Denken schreibt, kann man also kompetente Belehrung erwarten: Er könnte entweder das dissidentische Denken oder verschiedene Typen des dissidentischen Denkens erklären oder Fälle dissidentischen Denkens vorstellen. Das alles tut er nicht. Der Untertitel sagt, was er präsentiert: „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“. Er berichtet durchweg von Besuchen bei verschiedenen Personen in einem anekdotischen Stil, flicht darin Bemerkungen zu ihrer Biografie und zu ihren Büchern ein; gelegentlich zitiert er ein paar Sätze, wobei er auch vor zahlreichen Wiederholungen nicht zurückschreckt. An der Stelle, wo er über Czeslaw Milosz’ Buch „Verführtes Denken“ (1953) spricht, kommt er einer Erklärung dissidentischen Denkens fast nahe: Milosz habe gefragt, „ob es ohne jene bereits dem Christentum innewohnende eschatologische Hybris wohl einen Hegel und Marx gegeben hätte – ein neues Heilsversprechen minus Transzendenz“ (S. 285). Dissidenten würden dann diesem Heilsversprechen angesichts erfahrener Realität nicht trauen – wobei für viele Leser „eschatologische Hybris“ vermutlich unverständlich bleibt.

Viel klarer wird dieser Gedanke von Manes Sperber formuliert, am Ende seines Essays „Der vielfache Tod des Wladimir Iljitsch“: „[E]s ist wohl schon des öfteren geschehen, daß man die Heilsbotschaft auch nach ihrer Desavouierung empfangen hat, als wäre sie selbst die Erlösung. Man mag daraus schließen, dass die Menschen die Botschaft, welche die Hoffnung nährt, dringender brauchen als die von ihr angekündigte Erlösung.“ Dissidentisches Denken wäre dann eines, das nach anfänglichem Glauben auf die Illusion der Erlösung und damit auch auf die jeweilige Heilsbotschaft verzichtet (und sich ihrem Machtanspruch nicht beugt). Es wäre ein aufrichtiges Denken, wie es bereits von Sokrates propagiert worden ist. Ich habe das in dem kleinen Aufsatz „Vorsicht bei der Wahl des großen Lehrers!“ (https://also42.wordpress.com/2018/03/09/vorsicht-bei-der-wahl-des-grossen-lehrers/) aufgezeigt. Mit großem Pathos hat Nietzsche es in den Aphorismen 629 – 638 in „Menschliches, Allzumenschliches I“ entfaltet, Kant hat es in seiner Reflexion der Würde des Menschen untersucht und vorher in der Formel vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit auf den Punkt gebracht.

Gleichwohl ist meistens interessant, was Marko Martin über insgesamt 23 bekannte (Kopelew, Sperber, Kohut…) und mir zum Teil unbekannte Menschen (Listopad, Schopflocher, Ranasinghe…) zu erzählen weiß. Am Ende des Buches zählt er rund 90 Titel von Büchern auf, die diese Menschen und ihre geistigen Brüder und Schwestern verfasst haben. Manche seiner „Erklärungen“ klingen allerdings verwegen: „Danny Smiricky spielt in seiner Kleinstadt-Band [Jazz, N.T.] und lernt, da Improvisation hier so wichtig ist, der pathetischen Geschlossenheit großer Geschichtserzählungen zu misstrauen – bevor er überhaupt weiß, dass es sie gibt.“ (S. 184) Auch was „ein Geschichtspanorama aus dem Geist der reflektierten Episode“ S. 382) ist, erschließt sich mir nicht. Und dass Melvin Lasky, Schopflocher, Appelfeld oder Edgar Hilsenrath, den ich sehr schätze, in den Kreis der Dissidenten gehören, darf man bezweifeln; sie sind wie andere der Vorgestellten von den Nazis verfolgt worden oder auch nur aus Deutschland emigriert, aber das macht noch keinen Dissidenten. Sie stehen im Buch, weil der Autor sie irgendwann besucht hat und dann von diesem Besuch im Plauderton berichtet. – Wer dissidentisches Denken in Aktion sehen will, sollte die Essays von Manes Sperber lesen („Essays zur täglichen Weltgeschichte“) oder Vaclav Havels großartigen „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, der in Martins Literaturliste leider nicht genannt wird.

https://www.dissidenten.eu/ (biograf. Lexikon kommunist. Dissidenten)

https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Dissidenten

https://www.zeitklicks.de/ddr/politik/opposition/buergerrechtler-und-dissidenten/ (in der DDR)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/lob-der-dissidenz-vom-widerstaendigen-in-unserer-100.html (in unserer Gesellschaft)

https://www.zeitklicks.de/kaiserzeit/politik/innenpolitik/die-kritischen-stimmen-der-kaiserzeit (die kritischen Stimmen der Kaiserzeit; dort auch Weimarer Republik, Drittes Reich usw.)

https://multipolar-magazin.de/media/pdf/in-der-wahrheit-leben.pdf (Kurzfassung V. Havel)

https://books.google.de/books?id=fppWDwAAQBAJ&pg=PT3&hl=de&source=gbs_toc_r&cad=1#v=onepage&q&f=false (Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben – der Anfang)

Hans-Ulrich Rüegger: Versuchen, in der Wahrheit zu leben (als pdf greifbar)

Ein gutes Suchwort ist auch „Widerstand“ sowie „intellektuelle Redlichkeit“ (Nietzsche).

Voltaires autobiografische Aufzeichnungen

Die „Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Herrn de Voltaire“, 1760 von ihm selber veröffentlicht, behandeln Voltaires Leben von 1733 bis etwa 1760 und das Geschick Friedrichs II., seine Jugend, seine Politik und sein Verhältnis zu Voltaire und Frankreich. Diese Denkwürdigkeiten sind amüsant; denn Voltaire ist derart von seiner Bedeutung und seiner Überlegenheit über alle anderen überzeugt, dass die von ihm erzählten Anekdoten und Episoden den Leser belustigen. Neben Friedrichs Charakter, seiner Neigung zu Schöngeistigem, seiner Liebe zum Militär und zur Sparsamkeit kommen die Verwicklungen seiner Kriege und die Feindschaft gegen Frankreich zur Sprache.

Voltaire erweist sich auch als ein Aufklärer, der sich Lockes Ideen anschließt: „Tatsache ist, dass wir nichts über uns selbst wissen, dass wir uns bewegen, dass wir leben, fühlen und denken, ohne zu wissen wie, dass uns die Elemente der Materie ebenso unbekannt sind wie alles übrige, dass wir Blinden gleichen, die gehen und reden, während sie im Finstern tappen…“. Dass er nicht im ersten Anlauf in die Akademie aufgenommen wurde, ist ihm nur Anlass, die Mitgliedschaft darin als belanglos abzutun wie der Fuchs bei den Trauben. Anschaulich beschreibt er den Tagesablauf in Potsdam, nicht ohne sich über die sexuell anzüglichen Bilder im Speisesaal zu mokieren: „Die Mahlzeiten waren oft nicht weniger philosophisch. Wenn jemand unvermutet dazugekommen wäre, unseren Gesprächen gelauscht und dabei die Gemälde gesehen hätte, so würde der geglaubt haben, die Sieben Weisen Griechenlands im Freudenhaus zu hören.“

Es gibt die „Denkwürdigkeiten“ als Einzelausgabe; sie stehen aber auch in Voltaires „Sämtliche Romane und Erzählungen“ (it 209, meine Ausgabe ist von 1988).

https://www.correspondance-voltaire.de/ (Voltaire)

https://plato.stanford.edu/entries/voltaire/ (dito)

https://de.wikipedia.org/wiki/Voltaire (dito)

https://www.projekt-gutenberg.org/voltaire/philoauf/philoauf.html (Briefe: „Voltaire in Berlin“)

https://archive.org/details/bub_gb_obRLAAAAcAAJ/page/n1/mode/2up (Veneday: Friedrich der Große und Voltaire, 1859)

https://archive.org/details/voltaireeinechar00poppuoft/page/n5/mode/2up J. Popper: Voltaire. Eine Charakteranalyse, 1905)

https://archive.org/details/bub_gb_E_oGAAAAcAAJ/page/n3/mode/2up (Voltaire: Der unwissende Philosoph)

H. von Ditfurth: Innenansichten eines Artgenossen (1989) – gelesen

1989 ist Hoimar von Ditfurth gestorben, im gleichen Jahr ist sein letztes Buch erschienen: Innenansichten eines Artgenossen.Meine Bilanz. Es darf also wirklich als seine Bilanz gelten.

Das Buch ist zunächst eine Autobiografie, wobei der Autor versucht, die Verstocktheit konservativer Kreise gegenüber der Weimarer Republik und ihre Mitschuld am Erstarken des Nationalsozialismus zu erklären. Auch über das Wüten der Nazis, die nur die vier ethnozentrischen Gebote des Neandertalers kannten, und die allzu willfährigen Mitläufer und -mörder findet man Erhellendes, einschließlich der späteteren Ausrede, man habe nichts gewusst. Während das Studium in der Nachkriegszeit noch relativ anschaulich geschildert wird, kommen Ditfurths Jahre als Assistenarzt, seine Tätigkeit bei Böringer und v.a. als Autor und Wissenschaftsjournalist ein wenig zu kurz, ebenso seine Familie.

Die zweite Seite sind Ausführungen zu naturwissenschaftlichen Themen, speziell zur Evolution, auch zur Depression und zur Kosmologie. Die von ihm viel beschworene Neandertalermoral krankt daran, dass die Bevölkerungsdichte in der Steinzeit so gering war, dass es nicht nötig war, fremde Stämme als Konkurrenten umzubringen; man konnte ihnen leicht ausweichen. Auch halte ich es für fraglich, dass die europäischen Revolutionen der Neuzeit eine Folge der neuen kosmologischen Theorien waren.

Drittens äußert Ditfurth sich dezidiert politisch, kämpft gegen die Rechte und die Konservativen und erweist sich hier als ein Amateur, der keine zusammenhängende Analyse zustande bringt. So bezweifelt er, dass der heutige Mensch für so etwas wie Demokratie befähigt sei (S. 358), plädiert aber anderseits für Volksentscheide usw.

Vollends dilettantisch wird es, wenn Ditfurth sich am Ende seines Buches zu den letzten Fragen des Lebens äußert („welcher Instanz es wohl zuzuschreiben ist, dass der Augenblick meiner Existenz gerade in dieses Jahrhundert und in diese Region Westeuropas gefallen ist“). Er weiß, dass diese meines Erachtens sinnlose Frage objektiv durch die zufälligen Ereignisse der Evolution beantwortet wird, will sich aber subjektiv damit nicht zufrieden geben. Er zitiert noch Wittgenstein (falsch): „Wovon man nicht reden [richtig: sprechen, N.T.] kann, darüber muß man schweigen.“ Diesen Satz findet er im Vorwort des Tractatus – richtig ist: Das ist der letzte Satz des Tractatus, der Hauptsatz 7; und er ernennt den Tractatus zum berühmten Hauptwerk Wittgensteins (S. 381, Anmerkung), hat also die wirklichen Hauptwerke ebenso wie den Tractatus nicht zur Kenntnis genommen. Mit der falsch zitierten Einsicht Wittgensteins will er sich aber nicht abfinden. Dafür muss er sich damit abfinden, dass ich an dieser Stelle zu lesen aufhöre.

Fazit: Die biografischen Teile sind die besten, sie sind hauptsächlich der Zeitgeschichte gewidmet; die naturwissenschaftlichen sind gut, wenn auch heute weithin bekannt; die politischen und philosophischen Äußerungen sind die eines Bürgers, dessen Kompetenz doch arg begrenzt ist. Je länger die Lektüre dauert, desto schwächer wird das Buch.

http://www.hoimar-von-ditfurth.de/biographie.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Hoimar_von_Ditfurth

Evelyn Roll: Pericallosa. Eine deutsche Erinnerung (2023) – gelesen

In Evelyn Rolls, einer Journalistin der SZ, Buch Pericallosa wird die Geschichte einer Versöhnung erzählt; das erzählende Ich der Frau Roll versöhnt sich mit sich selbst, mit seiner Familiengeschichte und seiner Familie, die ihm entfremdet waren. Das Grundgerüst der erzählten Ereignisse ist die Geschichte ihres lebensgefährlichen Aneurysmas im Gehirn, der OP, der Zeit im Krankenhaus, der Reha und der Genesung, die ihren Abschluss in einer Reise nach Polen in die Heimat des verstorbenen Vaters und nach Altenburg (ehemals DDR) findet, wo es bei den von ihr früher nicht beachteten Verwandten väterlicherseits so etwas wie Heimat für sie gibt. In diesen Prozess sind Episoden der eigenen Lebensgeschichte (Kindheit und Jugend der Fabrikantentochter in Lüdenscheid und Freiburg) und der Familiengeschichte eingebettet, die zeigen sollen, wie defekt, voller Verschweigen, Unterdrückung und Scham Ich und Familie sich entwickelt haben: Der Großvater hat als Bauleiter an der Versetalsperre fremdländische Zwangsarbeiter eingesetzt, der Vater war Soldat mit entsprechenden Einsätzen, die Mutter wurde von der Leitung ihrer Fabrik in die Hausfrauenrolle abgeschoben.

Viele Episoden sind außerordentlich persönlich: wie der Vater nachts auf der nackten Bärbel, dem Dienstmädchen, lag und sie angeblich durch Mund-zu-Mund-Beatmung vor dem Tod rettete; wie Evelyn als Studentin das Fisch-und Sex-Experiment in Freiburg durchführte: probieren, ob sich von der Art, wie Männer Fisch essen, darauf schließen lässt, wie sie sich beim Sex verhalten… Ich frage mich: Wozu erzählt sie das, was mich doch eigentlich nichts angeht? Drei Botschaften höre ich aus den Berichten:

  • Schaut, wie viel ich beim Aneurysma und schon vorher gelitten habe.
  • Beachtet, wie viel ich vom Gehirn und von der Neurologie weiß.
  • Versöhnung mit sich und der verkorksten Familie ist möglich.

Die beiden ersten Botschaften hört man lange, erst zum Schluss, etwa ab S. 346 von 426 Seiten, wird die dritte Botschaft als die eigentlich wichtige vorgetragen: Alles muss anders werden als in meinem Leben vor der OP!

Evelyn Roll, Jahrgang 1952, erzählt ihre Geschichte als Beispiel für das, was ihrer Generation widerfahren ist. So schreibt sie zu den Exzessen ihrer Freiburger Studentenzeit ab 1972: Heute denke ich, man könnte diese Befreiung in Freiburg auch beschreiben als das verzweifelte Aufeinandertreffen von haltlosen jungen Menschen, die der Haarer-Propaganda, der Beschämungspädagogik, ihren prügelnden und früh gestorbenen Soldatenvätern und ihren erstarrten, Valium-abhängigen Müttern knapp entkommen waren und nun versuchten, mit Sex, Alkohol, und Cannabis ihren Schmerz zu betäuben, ihre Scham und ihre Angst, die in Wahrheit der Schmerz, die Scham und die Angst ihrer Eltern waren. (S. 152)

Dieses Zitat zeigt zweierlei für das Buch Eigentümliche: Erstens wird vieles, was in ihrem Leben schief gelaufen ist, auf die Nazis zurückgeführt, hier auf das Kinderbuch der Frau Haarer, und zweitens wird vieles durch die Theorie des transgenerationalen Traumas erklärt. Beim ersten Punkt geht sie m.E. viel zu weit, wenn sie etwa meint, ein Kind in den Laufstall zu stellen sei ein Fall schwarzer NS-Pädagogik – meine Kinder haben auch im Laufstall gestanden, weil ihnen da einfach nichts passieren konnte, und sind glückliche Menschen geworden. Und zum zweiten Punkt äußert sie sich selber später etwas skeptisch: Manchmal denke ich, ob die These der Achtundsechziger über das Schweigen der Eltern auch ein bisschen vorgeschoben war. Vielleicht haben auch sie gar nicht wirklich gefragt und es sich gemütlich gemacht mit der Idee, die Alten haben ja so böse geschwiegen.Vielleicht wollten die meisten von ihnen es lieber gar nicht so ganz genau wissen. (S. 362 f.)

Intellektuell unbefriedigend ist die Tatsache, dass Frau Roll zwischen den Ebenen des Ich-Erlebens und des neurologischen Geschehens hin und her springt, ohne klar die Eigenart beider Perspektiven zu erfassen: Widerspruch steigt aus den Tiefen meines Gehirns in mein Frontalgehirn und Bewusstsein. Stimmt ja auch nicht. Das waren doch nicht so alte Leute wie auf den Fotos… (S. 385) Nein, in den Tiefen des Gehirns gibt es keinen Widerspruch, den gibt es nur im Ich-Erleben! Und sie traut dann auch der linken Gehirnhälfte, wenn man ihr nur die Möglichkeit gibt, zu, Kontakt aufzunehmen mit den sinnlichen, visuellen, spirituellen und magischen Welten, mit den Tieren, den Göttern, den Toten, den Kindern, mit allem, was wir jemals gesehen haben (S. 164). Hier geht ihre Begeisterung für die linke Gehirnhälfte etwas zu weit, finde ich.

Vielleicht sollte man noch festhalten, dass vieles von dem, was Frau Roll über die Frauenrolle in der Nachkriegszeit schreibt, längst breitgetreten ist, und dass die Leiden der Wirtschaftswunderkinder gegenüber den Leiden früherer Kindergenerationen etwas überschätzt und dramatisiert werden, auch wenn sie nicht „aufgeklärt“ wurden – Evelyn Roll dramatisiert überhaupt gern. Sie zitiert viele Musiktitel, die ich nicht kenne; Musik bedeutet ihr etwas, Musik habe die Familie zusammengehalten, Musik spielt eine große Rolle in ihrem neuen Leben. Was sie mir direkt sympathisch macht: wie sie als Mädchen sich dagegen wehrte, eine „Dame“ gemäß den Vorstellungen der Mutter zu werden.

Eines ist mir unter anderem noch aufgefallen. Frau Roll spricht an einer Stelle von N…, und ich fragte mich: Was ist das denn? Und kurz darauf von Z… und Z…musik, und da verstand ich: Das ist Zigeunermusik, und N…, das sind die Neger. Aber durch die Vermeidung der Wörter und den Einsatz der bloßen Großbuchstaben wird dem Leser Neger und Zigeuner so richtig eingehämmert, während man über die Wörter einfach hinweggelesen hätte. Wie oberflächlich-routiniert dieses politisch korrekte Sprechen ist, zeigt sich an anderer Stelle. Da erzählt Frau Roll von einem Kirchenbesuch mit ihrem polnischen Begleiter. Er hat dann ins Weihwasser gegriffen, rutscht weg auf die Knie und bekreuzigt sich. Die ganze Nummer. (S. 375) Da spricht sie so verächtlich von einem Katholiken und katholischen Riten, dass der pflichtgemäße Respekt vor Negern und Zigeunern nicht mehr glaubwürdig ist. Ich selber habe mich von den katholischen Riten verabschiedet, aber angesichts der herablassenden Bemerkung Frau Rolls möchte ich am liebsten ein K-Wort einführen! Und dann müsste es tausend andere A-, B-, C-Wörter geben, was schließlich nur zu Verwirrung führte, so dass wir es am besten bei Negern, Zigeunern und Katholiken belassen, ohne sie deswegen zu verachten.

Das Fazit des Buchs finde ich auf S. 417: Es war nicht falsch und schlecht, mit meinem ersten Leben die ungelebten Träume meiner Mutter zu erfüllen. Möglicherweise ist genau das der Sinn von Evolution. Und wenn ihr Auftrag war, Haltung zu haben, zu schreiben, schöne Cabrios zu fahren, in Berlin zu leben, Karriere zu machen und keine Kinder, was wäre dann der Auftrag meines Vaters?

Glücklich sein. Leben. Himmel, Arsch und Zwirn.

Wieso die Träume der Mutter zu erfüllen der Sinn von Evolution sein sollte, erschließt sich mir nicht; vielleicht ist es sogar falsch, den eigenen Kinder seine unerfüllten Träume zu hinterlassen. Tucholskys Gedicht „Das Ideal“ endet so:

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.

Und wenn Frau Roll sich nach dem bewusst kinderlosen Karriereleben zum Schluss in die verwandten Familien und zu den angeheirateten Enkelkindern flüchtet – ist das nicht ein Fall von Trittbrettfahren oder zumindest das Eingeständnis, dass der erste Teil des Lebens doch nicht ganz richtig war?

Friedrich G. Kürbisch (Hrsg.): Wir lebten nie wie Kinder. Ein Lesebuch. Berlin/Bonn 1979 (zum Vergleich!)

https://medicamondiale.org/gewalt-gegen-frauen/trauma-und-traumabewaeltigung/transgenerationales-trauma

https://www.deutschlandfunkkultur.de/trauma-traumata-transgenerational-generationen-100.html

C. Nonn: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert (2020) – gelesen

Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreiches 1871 – 1918.

Ich möchte kurz ein ungewöhnliches Buch vorstellen, das ich mit Spannung und Freude gelesen habe. Christoph Nonn geht jeweils von einer Person (Maler des Bildes der Kaiserkrönung, Kinder im Saarland mit „Marienerscheinung“, Julie Bebel usw.) und einem Tag in ihrem Leben aus, verfolgt dann die Geschichte der Person bzw. des Ereignisses sowie den damit verbundenen politischen Aspekt (deutsche Einheit und Nationalgedanke; Katholizismus im Kaiserreich; Sozialismus, Sozialistenverfolgung, Erstarken der SPD im Parlament…) und landet so bei der Münchener Revolution 1918. Die 12 Kapitel, jeweils rund 50 Seiten stark, sind chronologisch geordnet, aber man kann sie auch unabhängig voneinander lesen. Für historisch Interessierte gibt es neben den Anmerkungen auch kommentierte Empfehlungen zum Weiterlesen.

Das Buch gibt es derzeit in der Landeszentrale für politische Bildung NRW (beinahe umsonst, wenn man es mit anderen Büchern bestellt). Es unterscheidet sich wohltuend von I. Kershaw: Der Mensch und die Macht (2022), das ich ebenfalls bestellt hatte; Kershaw untersucht in 12 Kapiteln von Lenin bis Kohl bedeutende Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert bzw. die Frage, wie stark die Persönlichkeit den Lauf der Geschichte beeinflusst hat bzw. ob sie nur Agent historischer Prozesse und Kräfte war: eine Interessante Frage, aber m.E. viel zu abstrakt und unanschaulich behandelt.

Frank McCourt: Die Asche meiner Mutter (1996) – gelesen

Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, frage ich mich, wie ich überhaupt überlebt habe. Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit.

Überall prahlen oder winseln die Menschen ob des Jammers ihrer frühen Jahre, aber nichts lässt sich mit der irischen Version vergleichen: die Armut; der träge, redselige, trunksüchtige Vater; die fromme, vom Schicksal besiegte Mutter, die am Herdfeuer stöhnt; pompöse Priester; drangsalierende Schulmeister; die Engländer und die gräßlichen Dinge, die sie uns achthundert lange Jahre lang angetan haben.

Hauptsächlich waren wir: naß.

Draußen im Atlantischen Ozean ballten sich die Regenmassen zusammen, um langsam den Shannon hinaufzutreiben und sich auf immer in Limerick niederzulassen. Von der Beschneidung des Herrn bis Silvester durchfeuchtete der Regen die Stadt. (…)

Der Regen trieb uns in die Kirche – unsere Zuflucht, unsere Kraft, unser einziges trockenes Haus. Zu Messe, Segen und Novene drängten wir uns in dicken, feuchten Klumpen zusammen, durchdösten das Geleier des Priesters, und wieder stieg Dampf auf von unseren Gewändern, um sich mit der Süße von Weihrauch, Blumen und Kerzen zu mischen.

Limerick war für seine Frömmigkeit berühmt, aber wir wußten, es war nur der Regen.“

So beginnt der gut 500 Seiten starke Roman Frank McCourts, in dem er seine Erinnerungen an eine Kindheit in Elend und Armut verarbeitet: Der Vater arbeitet nicht oder vertrinkt seinen Lohn, die Mutter kriegt ein Kind nach dem anderen, sie haben kaum oder nichts zu essen und anzuziehen und weder von der Kirche noch von der IRA noch von den Verwandten Hilfe zu erwarten, sie vegetieren vor sich hin. Frank lernt allmählich, sich durch Klauen und kleine Arbeiten über Wasser zu halten, bis er mit 19 endlich nach Amerika fahren kann. Es ist nicht schlecht, dass man Armut und den alten Katholizismus aus eigener Erfahrung kennt, wenn man das Buch genießen will: In der Perspektive des kindlichen und dann jugendlichen Ich-Erzählers erscheint die irisch-patriotisch-katholische Welt in ihrer ganzen Schrecklichkeit und Erbärmlichkeit. Obwohl sich die Ereignisse wiederholen: Armut, Hunger, Prügel, Demütigung, Höllenangst, folgt man dem Erzähler mit Spannung in seiner Emanzipation zum Botenjungen, zum Schreiber von Drohbriefen im Auftrag einer Witwe, zum cleveren Dieb und von einem Mädchen verführten Burschen – bis zu seiner Ankunft in New York.

M. Reich-Ranicki: Mein Leben (1999) – gelesen

Die Autobiografie Reich-Ranickis (1999) habe ich in einem Rutsch gelesen; er hat ein bewegtes Leben geführt und kann gut – und nicht frei von Eitelkeit – erzählen. Das Buch ist in fünf große Abschnitte eingeteilt: sein Leben in Berlin, die Zeit im Warschauer Getto, das Leben in Polen, die Entwicklung zum Großkritiker deutscher Literatur, die Zeit als Literaturpapst bei der FAZ und im Literarischen Quartett. Die Stationen seines Lebens kann man in Besprechungen und im Wikipedia-Artikel nachlesen, daher beschränke ich mich hier auf einige Bemerkungen zum Buch.

Was das Buch für ältere Leser interessant macht, sind die Berichte von Reich-Ranickis Begegnungen mit deutschen Schriftstellern, wobei er gern aus dem Nähkästchen plaudert, manchmal etwas indiskret: Brecht und die Seghers, die Gruppe 47, die von ihm entdeckte Ulla Hahn und Adorno und andere, seine Freundschaft mit Walter Jens und Joachim Fest, die Hilfsbereitschaft von Böll, Lenz und anderen. Dabei kennt er in seinen Urteilen keine Gnade: Schriftsteller sind alle narzistisch und wollen ihr letztes Buch gelobt sehen. Und Reich-Ranicki? Er will seine Verdienste um die deutsche Literatur und Literaturkritik gewürdigt wissen. „Um das, was ich sagen wollte, erkennbar und faßbar zu machen, habe ich mir häufig erlaubt zu übertreiben und zu überspitzen. Ich bin überzeugt: Gute Kritiker haben immer um der Verdeutlichung willen vereinfacht, sie haben oft das, was sie mitzuteilen wünschen, auf des Messers Schneide gebracht und auf die Spitze getrieben, damit es einsichtig und klar werde. Was immer man mir vorwerfen mag, die Unlust, ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu sagen, gehört wohl nicht dazu.“ (S. 435 f.)

Bewundert wird von ihm Thomas Mann als Schriftsteller. Ob freilich die Manns die bedeutendste deutsche Familie des 20. Jahrhunderts waren, darf man bezweifeln; ich halte den Einfluss der Weizsäckers für größer. Und ob er unbedingt erzählen musste, dass Lilli Palmer ihm Avancen gemacht habe, die er abgelehnt hat – obwohl er sonst wahrlich kein Kostverächter war –, darf ebenso als fragwürdig gelten; da hätte er ruhig seinen großen Mund halten sollen.

https://www.dieterwunderlich.de/Reich_Ranicki_leben.htm (Inhalt und Kritik)

https://de.wikipedia.org/wiki/Mein_Leben_%E2%80%93_Marcel_Reich-Ranicki

https://www.stern.de/kultur/tv/-mein-leben–der-andere-marcel-reich-ranicki-3562008.html

https://www.youtube.com/watch?v=79RHRMJAcEg (Gespräch über seine Autobiografie)

https://www.deutschlandfunk.de/marcel-reich-ranicki-zwischen-selbstherrlichkeit-und-100.html (zum 100. Geburtstag)

https://www.tagesspiegel.de/kultur/widerspruch-unbedingt-erwunscht-4172128.html (dito)

https://de.wikipedia.org/wiki/Marcel_Reich-Ranicki (zur Person)

Norman Ohler: Harro & Libertas (2019) – gelesen

Anzuzeigen ist ein eindrucksvolles Buch über den Widerstand der von den Nazis so genannten „Roten Kapelle“, deren Kristallisationspaar Harro und Libertas Schulze-Boysen waren – vor allem Harro war der geistige Kopf, der dann viele Gleichgesinnte in einem großen Netzwerk versammelte. „Eine Geschichte von Liebe und Widerstand“ ist der Untertitel des Buches, das von Norman Ohler als Sachbuch präsentiert wird, aber doch an vielen Stellen romanhaft wirkt. Gleich am Anfang klappt es mit den Daten nicht ganz (S. 26 ff.), da müssen der 29./30. April 1933 für zu vieles herhalten. Aber ich will nicht an Kleinigkeiten herummäkeln – es ist anzuerkennen, dass Ohler umfangreiches Material gesichtet und verarbeitet hat und dass die Mitglieder dieses Widerstandskreises einem auch menschlich näherkommen. Anderseits zeigt das Buch, wie unprofessionell und teilweise einfältig diese Idealisten vorgegangen sind und wie wenig langfristig-politisch sie gedacht haben. Drittens zeigt es, wie die Gruppe letztlich durch die Unvorsichtigkeit der Russen , die in einem später entschlüsselten Funkspruch richtige Namen ihrer Helfer genannt hatten, aufgeflogen ist.

Wer sich schon intensiv mit dem Dritten Reich befasst hat, findet nicht viel Neues, außer eben den genannten menschlichen Zügen: Herkunft, Familie, Boot fahren, feiern, Liebschaften, Reisen… Für jüngere Zeitgenossen (das heißt in meinem Fall: für die unter 50 oder 60 Jahre alten) ist das Buch sicher lesenswert, für die älteren genügen vielleicht die unten verlinkten Seiten zum Ehepaar Schulze-Boysen und zum Widerstand.

Mit einem Benjamin-Zitat am Anfang greift Ohler sehr hoch, da übernimmt er sich: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ Ob die Erinnerung an das Ehepaar Schulze-Boysen, an die Harnacks und ihre Freunde heute angesichts der AfD (oder wen meint er?) aufblitzt und uns als potenzielle Widerständler erleuchtet, darf man bezweifeln; dafür waren die morgen vor 80 Jahren Ermordeten zu idealistisch-naiv.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/norman-ohler-harro-und-libertas-ein-liebespaar-kaempft-100.html (Interview mit N. Ohler über das Buch)

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/netzwerk-gegen-nazis-harro-und-libertas-von-norman-ohler-16738735.html (Rezension, aber man muss sich registrieren lassen)

https://www.swr.de/swr2/literatur/av-o1154496-100.html (Rezension, Podcast, 7:59)

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article200375414/Mit-Kuessen-gegen-die-Nazis-Norman-Ohlers-Harro-und-Libertas.html (Rezension, schwach)

Harro Schulze-Boysen

https://de.wikipedia.org/wiki/Harro_Schulze-Boysen

http://www.mythoselser.de/schulze-boysen.htm (mit den Namen der anderen Mitglieder der „Roten Kapelle“)

https://www.gedenkstaette-ploetzensee.de/hinrichtungen-in-ploetzensee/die-rote-kapelle (Gedenkstätte Plötzensee)

Libertas Schulze-Boysen

https://www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/Kataloge_sonderpublikationen/PDFs_fuer_Download/Libertas_Schulze-Boysen_Katalog_2013.pdf (umfangreich, viele Bilder)

https://de.wikipedia.org/wiki/Libertas_Schulze-Boysen

https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/libertas-schulze-boysen/?no_cache=1

Widerstand gegen den NS

https://de.wikipedia.org/wiki/Widerstand_gegen_den_Nationalsozialismus

https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/widerstand-im-nationalsozialismus.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Kapelle

https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/48176/file/rote_kapelle.pdf (Mildred Harnack und die Rote Kapelle in Berlin – verschiedene Aufsätze)

https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/der-zweite-weltkrieg/199412/widerstand-gegen-den-nationalsozialismus/

https://www.swr.de/swr2/wissen/zivilcourage-im-nationalsozialismus-104.html (Podcast)

https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/themen/1-widerstand-gegen-den-nationalsozialismus/

Klaus Schröter: Heinrich Mann (1967) – gelesen

Klaus Schröter (1931-2017) hat 1961 mit einer Arbeit über Heinrich Mann promoviert. Er war so berufen, in der Reihe rm den Band zu schreiben: Heinrich Mann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinbek 1967). Was sind die Hauptzüge des Bildes, das Schröter entwirft? Heinrich Mann

  • hat sich in seinem Leben vom reaktionären Großbürgersohn zum Sozialisten und Demokraten gewandelt,

  • hat sich in diesem Zusammenhang mit seinem Bruder Thomas aufs heftigste überworfen,

  • hat die Kunst als Mittel gesehen, Leser zur Humanität zu befördern,

  • hat neue Formen des Romans entwickelt, die Nähe zum Drama und zum Film haben,

  • hat sich einige Jahre an Nietzsche und dem Ideal des kraftvollen Renaissance-Menschen aufgerichtet,

  • hat schon früh vor den Nazis gewarnt,

  • hatte zeitlebens eine Affinität zu Frankreich und zum französischen Geist,

  • erhoffte sich aus der Annäherung von Frankreich und der Sowjetunion eine Befriedung Europas,

  • hat die Flucht aus Europa nach Amerika nur beschädigt überlebt.

Und er hat ungeheuer viel geschrieben. Hervorzuheben sind neben „Der Untertan“ die Novelle „Pippo Spano“, Professor Unrat, Die kleine Stadt, der Essay „Geist und Tat“, die beiden Henri-Quatre-Romane, „Ein Zeitalter wird besichtigt“ und „Der Atem“. Heinrich Mann, geboren 1871 als der erste Sohn des Lübecker Finanzsenators, ist 1950 in Santa Monica gestorben, ein paar Wochen vor seiner geplanten Rückkehr nach Europa, in die DDR, wo man ihn zum ersten Präsidenten der neu zu gründenden Deutschen Akademie der Künste zu Berlin berufen hatte.

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Mann H.M.

https://www.deutsche-biographie.de/sfz57766.html H.M. (ebenfalls von K. Schröter)

https://literaturkritik.de/leben-in-einem-zerstoererischen-zeitalter-heinrich-mann-zum-150-geburtstag,27659.html H.M.

https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/geschichten/2097852-Heinrich-Mann-Citoyen-und-Traeumer.html H.M.

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/mannh.html (Werke)

https://heinrich-mann-gesellschaft.de/home

Die Wahrheit lieben: anders wird keiner groß. Alle ihre Mächte lieben, Wissenschaft, Arbeit, Demokratie: diese große arbeitende Menschheit, die hinauf will, los von den Beschädigungen und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit. Sich als einen der Ihren zu fühlen und als nichts weiter. (H.M.)

Der verfallende Hochkapitalismus macht sich [im Nationalsozialismus] reif für eine letzte Verzweiflungstat, der Nationalismus hofft auf die letzte Runde, nachdem er schon alle verloren hatte. Läge wirklich die ganze Macht noch immer bei dem alten System, der Krieg müßte ausbrechen, und folgerichtig ginge er gegen Sowjet-Rußland. (H.M., Dezember 1932)

Uli Däster: Johann Peter Hebel, rm 195 – gelesen

Uli Däster (1942-2012) war ein Schweizer Lehrer, der über Hebel promoviert hat; er war also ein ausgewiesener Kenner des Dichters und der Literatur über ihn. Das merkt man an der Monographie rm 195: Johann Peter Hebel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Dargestellt von Uli Däster (Reinbek 1973).

Hebel ist der Autor, der mich in meiner Lehrtätigkeit am Gymnasium von Kl. 5-13 begleitet hat, freilich mit Unterbrechungen. In Kl. 5 und 6 habe ich zum Wochenende einzelne Kalendergeschichten vorgelesen; in Kl. 7 wurde an Kalendergeschichten eingeübt, wie man eine Geschichte aus einer anderen Perspektive neu erzählen kann (Ein Mann erzählt in der Wirtschaft seinen Bekannten: „Wie mich ein kluger Richter gegen ein böse Anklage freigesprochen hat“, u.a.). Und in Kl. 13 gehörten einzelne unbekannte Kalendergeschichten zu den kurzen Erzählungen, welche die Schüler zu analysieren hat (bis ins Abitur): Da konnten sie zeigen, was sie aus dem Stegreif zu leisten imstande waren, während die meisten Kollegen Auszüge aus bekannten Romanen vorlegten, an denen die Schüler beweisen mussten, was sie alles auswendig gelernt hatten. Schon in mein religionsphilosophisches Arbeitsbuch (Wohin mit der Religion?, 1978) hatte ich Hebels Erzählung „Die Bekehrung“ aufgenommen; Hebel hat mich durch die Jahrzehnte begleitet.

Uli Däster berichtet von Hebels Leben, von seiner Geburt in Basel 1760 bis zu seinem Tod in Schwetzingen 1826. Hebel war ein Kind einfacher Leute, mit 13 Jahren Vollwaise, der gern Landpfarrer geworden wäre, hauptamtlich Lehrer und schließlich oberster Protestant in Baden wurde. Er blieb Zeit seines Lebens Junggeselle, auch wenn einzelne Damen ihm viel bedeutet haben: Gustave Fecht, Madame Hensel und Sophie Haufe; mit ihr wie mit Gustave Fecht blieb er in regem Briefwechsel verbunden. Viele menschliche Züge Hebels treten in Dästers Buch hervor, die ich nicht kannte: seine Verbundenheit mit der Heimat und dem südlichen Rheinland; sein konservativer Zug; seine tiefe Religiosität, die Gott in der Welt fand und auch vor Polytheismus nicht zurückschreckte; sein Leben unter dem Eindruck der allgemeinen Vergänglichkeit; seine ausgelassenen Scherze mit Freunden und ihren Phantasien… Erstaunt hat mich, dass er eine kleine Theorie der Evolution aufgestellt hat: „Ich habe, wo der Faden in der 14. Klasse der Pflanzen ausgeht, den Übergang aus dem Pflanzenreich ins Tierreich gezeigt…“ (Brief an Gmelin, 28. Nov. 1796)

Von den Werken Hebels werden vor allem die Alemannischen Gedichte und die Kalendergeschichten beachtet, ein wenig auch die Biblischen Geschichten der späten Jahre. Insgesamt bietet Uli Däster ein facettenreiches Bild des Dichters, aber auch der unten genannte Katalog der Sonderausstellung 2010 ist nicht zu verachten. Und natürlich Hebel selbst: immer wieder die Kalendergeschichten (und für die Badenser natürlich auch die Alemannischen Gedichte)!

https://www.deutsche-biographie.de/sfz28470.html#adbcontent Biografie 1880

https://www.deutsche-biographie.de/sfz28470.html Biografie 1969

https://cdn.website-editor.net/2ab3831c91d447929f4c65718d809e86/files/uploaded/Hebel-Brosch%25C3%25BCre_.pdf (Katalog zur Ausstellung 2010, sehr informativ)

http://hausen.pcom.de/jphebel/hebel_verzweig.htm Werke

http://hausen.pcom.de/jphebel/geschichten/geschichten_gesamtverzeichnis.htm die Kalendergeschichten

W. Drews: Lessing – noch einmal gelesen

Wolfgang Drews: Gotthold Ephraim Lessing in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. rm 75, Reinbek 1962

Ein stolzes Alter hat das Buch: 60 Jahre; nur die Älteren kennen vermutlich noch „rowohlts monographien“, eine Reihe, in der verschiedenste Geistesgrößen dem breiten Publikum nahegebracht werden sollten und wurden. Den Autor Wolfgang Drews kennt heute keiner mehr, in der Wikipedia findet man nur einen Hinweis, im Netz den Anfang des Artikels im Munzinger (Schriftsteller und Theaterkritiker, 1903-1975). Ehe ich das Büchlein endgültig entsorge, habe ich es noch einmal gelesen; ich hatte es 1964 für eine Seminararbeit über Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780) herangezogen und die Stellen markiert und notiert, die ich eventuell zu verwerten gedachte. Selbst für eine Seminararbeit taugt aber der Text des Autors Drews kaum, eher die von ihm zitierten Stellen aus Lessings Briefen. Vor allem sind in rm 75 eindrucksvoll:

  • Ich würde nicht so lange angestanden haben, an Sie zu schreiben…“ (Brief an die Mutter, S. 13 ff.)

  • Endlich dringt mich die Not, an Sie zu schreiben.“ (Brief an Nicolai, S. 71 ff.)

  • Aber liebe, liebste Freundin, sollte ich nicht ein wenig schmählen…“ (Brief an Elise Reimarus)

  • die beiden Briefe an Eschenburg vom 31. Dez. 1777 und vom 10. Jenner 1778 zum Tod des Sohnes und der Frau.

Sie zeigen den Menschen Lessing. Einige wenige andere Stellen offenbaren den Dichter und Denker: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet…“; die Polemik gegen Gottsched (‚„Niemand“, sagen die Verfasser der Bibliothek, „wird leugnen…“ Ich bin dieser Niemand…‘); das Gedicht „Auf ein Karussell“; und natürlich der Anti-Goeze: „Lieber Herr Pastor! Poltern Sie doch nicht so in den Tag hinein…“. „Laokoon“ und die Hamburgische Dramaturgie bleiben in Drews’ Darstellung kaum verständlich, „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ wird nur erwähnt, die Dramen werden allzu knapp vorgestellt; die verbindenden Texte sind journalistisch-flott, doch weithin nichtssagend: Man bekommt insgesamt ein Bild vom Menschen Lessing, nicht vom Dichter.

Ohne Quellenangabe zitiert Drews ein Stück, das hier den Schluss bilden soll: „Ich habe immer geglaubt, es sei die Pflicht der Kritikus, sooft er ein Werk zu beurteilen vornimmt, sich nur auf dieses Werk allein einzuschränken; an keinen Verfasser dabei zu denken; sich unbekümmert zu lassen, ob der Verfasser noch andere Bücher , ob er noch schlechtere oder bessere geschrieben habe; uns nur aufrichtig zu sagen, was für einen Begriff sich man aus diesem gegenwärtigen allein mit Grunde von ihm machen könne.“

P.S. Wenn man die zitierten Stellen über google verifizieren will, stößt man auf das Problem der Differenz der damaligen Rechtschreibung zur heutigen. Das Zitat am Ende findet man nur, wenn man eingibt: „ich habe immer geglaubt, es sey die pflicht des kriticus“ (105. Literaturbrief) Bei der Suchmaschine etools klappt es auch mit der modernen Rechtschreibung.