In Evelyn Rolls, einer Journalistin der SZ, Buch Pericallosa wird die Geschichte einer Versöhnung erzählt; das erzählende Ich der Frau Roll versöhnt sich mit sich selbst, mit seiner Familiengeschichte und seiner Familie, die ihm entfremdet waren. Das Grundgerüst der erzählten Ereignisse ist die Geschichte ihres lebensgefährlichen Aneurysmas im Gehirn, der OP, der Zeit im Krankenhaus, der Reha und der Genesung, die ihren Abschluss in einer Reise nach Polen in die Heimat des verstorbenen Vaters und nach Altenburg (ehemals DDR) findet, wo es bei den von ihr früher nicht beachteten Verwandten väterlicherseits so etwas wie Heimat für sie gibt. In diesen Prozess sind Episoden der eigenen Lebensgeschichte (Kindheit und Jugend der Fabrikantentochter in Lüdenscheid und Freiburg) und der Familiengeschichte eingebettet, die zeigen sollen, wie defekt, voller Verschweigen, Unterdrückung und Scham Ich und Familie sich entwickelt haben: Der Großvater hat als Bauleiter an der Versetalsperre fremdländische Zwangsarbeiter eingesetzt, der Vater war Soldat mit entsprechenden Einsätzen, die Mutter wurde von der Leitung ihrer Fabrik in die Hausfrauenrolle abgeschoben.
Viele Episoden sind außerordentlich persönlich: wie der Vater nachts auf der nackten Bärbel, dem Dienstmädchen, lag und sie angeblich durch Mund-zu-Mund-Beatmung vor dem Tod rettete; wie Evelyn als Studentin das Fisch-und Sex-Experiment in Freiburg durchführte: probieren, ob sich von der Art, wie Männer Fisch essen, darauf schließen lässt, wie sie sich beim Sex verhalten… Ich frage mich: Wozu erzählt sie das, was mich doch eigentlich nichts angeht? Drei Botschaften höre ich aus den Berichten:
- Schaut, wie viel ich beim Aneurysma und schon vorher gelitten habe.
- Beachtet, wie viel ich vom Gehirn und von der Neurologie weiß.
- Versöhnung mit sich und der verkorksten Familie ist möglich.
Die beiden ersten Botschaften hört man lange, erst zum Schluss, etwa ab S. 346 von 426 Seiten, wird die dritte Botschaft als die eigentlich wichtige vorgetragen: Alles muss anders werden als in meinem Leben vor der OP!
Evelyn Roll, Jahrgang 1952, erzählt ihre Geschichte als Beispiel für das, was ihrer Generation widerfahren ist. So schreibt sie zu den Exzessen ihrer Freiburger Studentenzeit ab 1972: Heute denke ich, man könnte diese Befreiung in Freiburg auch beschreiben als das verzweifelte Aufeinandertreffen von haltlosen jungen Menschen, die der Haarer-Propaganda, der Beschämungspädagogik, ihren prügelnden und früh gestorbenen Soldatenvätern und ihren erstarrten, Valium-abhängigen Müttern knapp entkommen waren und nun versuchten, mit Sex, Alkohol, und Cannabis ihren Schmerz zu betäuben, ihre Scham und ihre Angst, die in Wahrheit der Schmerz, die Scham und die Angst ihrer Eltern waren. (S. 152)
Dieses Zitat zeigt zweierlei für das Buch Eigentümliche: Erstens wird vieles, was in ihrem Leben schief gelaufen ist, auf die Nazis zurückgeführt, hier auf das Kinderbuch der Frau Haarer, und zweitens wird vieles durch die Theorie des transgenerationalen Traumas erklärt. Beim ersten Punkt geht sie m.E. viel zu weit, wenn sie etwa meint, ein Kind in den Laufstall zu stellen sei ein Fall schwarzer NS-Pädagogik – meine Kinder haben auch im Laufstall gestanden, weil ihnen da einfach nichts passieren konnte, und sind glückliche Menschen geworden. Und zum zweiten Punkt äußert sie sich selber später etwas skeptisch: Manchmal denke ich, ob die These der Achtundsechziger über das Schweigen der Eltern auch ein bisschen vorgeschoben war. Vielleicht haben auch sie gar nicht wirklich gefragt und es sich gemütlich gemacht mit der Idee, die Alten haben ja so böse geschwiegen.Vielleicht wollten die meisten von ihnen es lieber gar nicht so ganz genau wissen. (S. 362 f.)
Intellektuell unbefriedigend ist die Tatsache, dass Frau Roll zwischen den Ebenen des Ich-Erlebens und des neurologischen Geschehens hin und her springt, ohne klar die Eigenart beider Perspektiven zu erfassen: Widerspruch steigt aus den Tiefen meines Gehirns in mein Frontalgehirn und Bewusstsein. Stimmt ja auch nicht. Das waren doch nicht so alte Leute wie auf den Fotos… (S. 385) Nein, in den Tiefen des Gehirns gibt es keinen Widerspruch, den gibt es nur im Ich-Erleben! Und sie traut dann auch der linken Gehirnhälfte, wenn man ihr nur die Möglichkeit gibt, zu, Kontakt aufzunehmen mit den sinnlichen, visuellen, spirituellen und magischen Welten, mit den Tieren, den Göttern, den Toten, den Kindern, mit allem, was wir jemals gesehen haben (S. 164). Hier geht ihre Begeisterung für die linke Gehirnhälfte etwas zu weit, finde ich.
Vielleicht sollte man noch festhalten, dass vieles von dem, was Frau Roll über die Frauenrolle in der Nachkriegszeit schreibt, längst breitgetreten ist, und dass die Leiden der Wirtschaftswunderkinder gegenüber den Leiden früherer Kindergenerationen etwas überschätzt und dramatisiert werden, auch wenn sie nicht „aufgeklärt“ wurden – Evelyn Roll dramatisiert überhaupt gern. Sie zitiert viele Musiktitel, die ich nicht kenne; Musik bedeutet ihr etwas, Musik habe die Familie zusammengehalten, Musik spielt eine große Rolle in ihrem neuen Leben. Was sie mir direkt sympathisch macht: wie sie als Mädchen sich dagegen wehrte, eine „Dame“ gemäß den Vorstellungen der Mutter zu werden.
Eines ist mir unter anderem noch aufgefallen. Frau Roll spricht an einer Stelle von N…, und ich fragte mich: Was ist das denn? Und kurz darauf von Z… und Z…musik, und da verstand ich: Das ist Zigeunermusik, und N…, das sind die Neger. Aber durch die Vermeidung der Wörter und den Einsatz der bloßen Großbuchstaben wird dem Leser Neger und Zigeuner so richtig eingehämmert, während man über die Wörter einfach hinweggelesen hätte. Wie oberflächlich-routiniert dieses politisch korrekte Sprechen ist, zeigt sich an anderer Stelle. Da erzählt Frau Roll von einem Kirchenbesuch mit ihrem polnischen Begleiter. Er hat dann ins Weihwasser gegriffen, rutscht weg auf die Knie und bekreuzigt sich. Die ganze Nummer. (S. 375) Da spricht sie so verächtlich von einem Katholiken und katholischen Riten, dass der pflichtgemäße Respekt vor Negern und Zigeunern nicht mehr glaubwürdig ist. Ich selber habe mich von den katholischen Riten verabschiedet, aber angesichts der herablassenden Bemerkung Frau Rolls möchte ich am liebsten ein K-Wort einführen! Und dann müsste es tausend andere A-, B-, C-Wörter geben, was schließlich nur zu Verwirrung führte, so dass wir es am besten bei Negern, Zigeunern und Katholiken belassen, ohne sie deswegen zu verachten.
Das Fazit des Buchs finde ich auf S. 417: Es war nicht falsch und schlecht, mit meinem ersten Leben die ungelebten Träume meiner Mutter zu erfüllen. Möglicherweise ist genau das der Sinn von Evolution. Und wenn ihr Auftrag war, Haltung zu haben, zu schreiben, schöne Cabrios zu fahren, in Berlin zu leben, Karriere zu machen und keine Kinder, was wäre dann der Auftrag meines Vaters?
Glücklich sein. Leben. Himmel, Arsch und Zwirn.
Wieso die Träume der Mutter zu erfüllen der Sinn von Evolution sein sollte, erschließt sich mir nicht; vielleicht ist es sogar falsch, den eigenen Kinder seine unerfüllten Träume zu hinterlassen. Tucholskys Gedicht „Das Ideal“ endet so:
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.
Und wenn Frau Roll sich nach dem bewusst kinderlosen Karriereleben zum Schluss in die verwandten Familien und zu den angeheirateten Enkelkindern flüchtet – ist das nicht ein Fall von Trittbrettfahren oder zumindest das Eingeständnis, dass der erste Teil des Lebens doch nicht ganz richtig war?
Friedrich G. Kürbisch (Hrsg.): Wir lebten nie wie Kinder. Ein Lesebuch. Berlin/Bonn 1979 (zum Vergleich!)
https://medicamondiale.org/gewalt-gegen-frauen/trauma-und-traumabewaeltigung/transgenerationales-trauma
https://www.deutschlandfunkkultur.de/trauma-traumata-transgenerational-generationen-100.html