Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik (2024) – gelesen

Die gut 610 Seiten stellen für den Leser eine Herausforderung dar: Der Erkenntnisgewinn ist nicht größer, als wenn man ein Buch von 100 Seiten gelesen hätte. Man hört viele Namen, die einem Altersgenossen Schäubles teilweise noch etwas sagen, aber die für meine Kinder bereits uninteressant sind. Und man liest viele Binsenwahrheiten: „Sich darum zu bemühen, Grenzen durchlässiger zu machen, den regionalen Zusammenhalt zu stärken und gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen, darin liegt der Schlüssel zu einer erfolgreichen [europäischen, N.T.] Einigungspolitik“, das besagt letztlich nichts; er selbst habe versucht, „zu verstehen und zu begründen, etwa wozu und mit welchem Ziel der Staat Einnahmen generiert, mit welcher Legitimation Bürgerinnen und Bürger fair belastet bzw. entlastet werden können, wie man Geld effizient und verantwortlich einsetzt“ – wer könnte dem widersprechen? Aber was heißt es anderseits konkret? Nichts. Oder wenn er wiederholt für „Maß und Mitte“ plädiert, was besagt das schon? Das Buch bietet einen Streifzug durch 50 Jahre Politik, so dass für jedes Jahr rund 12 Seiten Platz ist; da kann man als Autor auch nicht allzu viel darlegen.

Bewunderung für Helmut Kohl, Respekt für Angela Merkel, aber auch Kritik an beiden, bei Merkel deutlicher als bei Kohl; die Differenzen mit Merkel in der Flüchtlingsfrage und der Steuerpolitik waren schließlich so stark, dass er 2017 aus der Regierung ausgeschieden ist. Distanz zur CSU und Sympathie für die Grünen werden deutlich; dass man Herbert Gruhl nicht in der CDU habe halten können, sei ein schwerer Fehler mit nachhaltigen Folgen gewesen. Aufschlussreich sind Schäubles Hinweise, wie hinter den Kulissen Politik gemacht wird resp. wurde, etwa mit der DDR oder in der Europapolitik, oder wie es im Regierungsapparat knirschen kann, wenn Menschen „nicht miteinander können“; aber das gilt nur grundsätzlich, während die Namen der Beteiligten nach Jahren und Jahrzehnten wohl nur noch den Historiker interessieren. Wie er mit dem Attentat 1990 und seiner Querschnittslähmung zurechtgekommen ist, hat mich persönlich beeindruckt. Bedenklich fand ich seine kurze Bemerkung, er habe sich seinen Kinderglauben bewahrt – ist er religiös unmündig geblieben? Ersetzen ihm die Gefühle der geliebten Musik alles Denken und Wissen? Man weiß es nicht.

Nach anfänglicher Begeisterung wurde ich beim Lesen des Buches immer kritischer, und zum Schluss war es so langatmig, dass ich große Passagen nur noch kursorisch gelesen habe. Die Besprechung in der NZZ ist lesenswert und informativ. Welchen Anteil Hilmar Sack und Jens Hacke als Koautoren haben, wird nicht deutlich – Schäuble hat aber gegen sie darauf bestanden, dass es schließlich seine Erinnerungen seien.

https://www.nwzonline.de/meinung/der-eiserne-rezension-der-erinnerungen-wolfgang-schaeubles_a_4,1,654701951.html (positiv, nicht detailliert)

https://www.nzz.ch/feuilleton/wolfgang-schaeuble-in-seinen-memoiren-er-will-kein-konservativer-gewesen-sein-ld.1825329 (kritisch, detailliert)

Die Besprechungen in den großen deutschen Zeitungen kann man nur gegen Bezahlung lesen.

Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens (2020)

Für einen gelernten Wessi bietet Marko Martin fast zu viele Informationen über die beinahe vergessene Kultur der DDR: ihre Filme und Bücher, ihre Bilder und Gedichte, und immer wieder die kleinkarierte Zensur und die widerliche „Zersetzung“ unliebsamer Künstler durch das MfS (einschließlich Haft und Berufsverbot, gelegentlich Abschiebung und möglicherweise Ermordung). Zur Sprache kommen auch die Bespitzelung durch Freunde und Ehegatten, die Anwerbung als IM und das Aufkündigen solcher Verpflichtung. Thematisch dominieren die Revolte der Jungen, die Rolle der Frau und auch Abenteuerbücher, die man so nicht kennt. Aber auch (Auto)Biografisches wird vorgestellt, Kinderbücher und ganz viele Filme…

Wie treffend das Gesamtbild ist, kann ich nicht beurteilen; wer Anregungen zum Lesen sucht, wird von der Fülle der Titel und Autoren beinahe erdrückt. Ein großer Nachteil: In den normalen Stadtbibliotheken wird man sie vergeblich suchen.

https://sehepunkte.de/2021/04/35017.html (gute Übersicht)

https://www.youtube.com/watch?v=cGZJMSdhuD8 (umfangreich)

https://www.perlentaucher.de/buch/marko-martin/die-verdraengte-zeit.html

https://www.deutschlandfunkkultur.de/marko-martin-die-verdraengte-zeit-das-kulturelle-erbe-der-100.html

M. Maron: Stille Zeile Sechs (1991) – gelesen

Stille Zeile Sechs ist eine Abrechnung Marons mit dem Kommunismus, 1991 veröffentlicht und damit heute „historisch“, ein literarisches Dokument der Wendezeit. Die Ich-Erzählerin Rosalind Polkowski beginnt ihren Bericht mit dem Begräbnis des alten Kommunisten Beerenbaum auf einem Berliner Edelfriedhof, der der Prominenz vorbehalten ist. Dieses Begräbnis ist der Rahmen, in den die Vorgeschichte eingeflochten wird: Sie hat ihre Stelle aufgegeben, weil sie nicht gegen Geld für andere denken will; sie hat sich von ihrem Mann Bruno getrennt, sie hat Beerenbaum in einem Café kennengelernt, sie möchte bei einer Nachbarin Klavier spielen lernen (deren späte Liebesgeschichte dann auch erzählt wird); außerdem werden Brunos Kneipengespräche und die Besuche einiger Frauen bei Rosalind (auch Rosa und Rosalie) berichtet.

Beerenbaum heuert sie an, für 500 Mark im Monat an zwei Nachmittagen in der Woche seine Memoiren aufzuschreiben (und eventuell zu glätten), was er wegen einer Behinderung seiner rechten Hand nicht selber erledigen kann; er wohnt in Berlin, Stille Zeile Sechs. Erst relativ spät im erzählten Geschehen spricht sie ihn auf die Kommunisten an, die wie er in Moskau im Hotel Lux untergebracht waren und weithin von Stalin willkürlich ermordet wurden; er verteidigt sich damit, dass sein Frau im KZ Ravensbrück war, was sie nicht gelten lässt: Wie hat er das erlebt, dass seine Genossen willkürlich verhaftet wurden? Da beginnt ihm vor Aufregung die Nase zu bluten.

Sie beginnt ihn zu hassen und erkennt in ihm eine Parallele zu ihrem verstorbenen Vater, der nur die Parteilinie kannte, aber nicht seine Tochter. In der Kneipe Brunos erfährt sie dann, dass Beerenbaum vor zwanzig Jahren einen Wissenschaftler denunziert und für drei Jahre in den Knast gebracht hat, der einem in den Westen Geflohenen dessen Manuskript zugestellt hatte. Das führt zur entscheidenden Auseinandersetzung Rosas mit Beerenbaum. Es war erschreckend, wie es [nach 1945, N.T.] in den Köpfen der Menschen aussah. Noch immer standen sie den Mördern näher als den Opfern. Bis tief in die Arbeiterklasse hinein hatte die antisowjetische Hetze ihr Werk getan. Diese Menschen zu erziehen war eine gigantische Aufgabe.“ So rechtfertigt Beerenbaum sein Treiben als SED-Funktionär; Rosa lässt das nicht gelten: „Euer eigenes Leben hat euch nicht gereicht, es war euch zu schäbig, ihr habt auch noch unsere Leben verbraucht. Menschenfresser seid ihr, Sklavenhalter mit einem Heer von Folterknechten.“ In dieser Auseinandersetzung bricht Beerenbaum zusammen, ein paar Tage später stirbt er. Unter den Kränzen auf seinem Grab ist der der Stasi der größte.

Die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus der DDR erfolgt heute in den Landeszentralen für politische Bildung; das Erstarken der AfD vor allem im Osten und viele fremdenfeindliche Akte dort zeigen übrigens, dass die von Beerenbaum erstrebte „Erziehung“ der Menschen in der DDR nicht gelungen ist.

https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/stille-zeile-sechs/7952

https://literaturzeitschrift.de/book-review/stille-zeile-sechs/

https://www.dieterwunderlich.de/Maron_stille_zeile_sechs.htm

https://www.academia.edu/15445770/Aufzeichnung_von_Geschichte_in_Monika_Marons_Stille_Zeile_Sechs

https://www.literaturpalast.at/2018/08/31/monika-maron-stille-zeile-sechs/

https://de.wikipedia.org/wiki/Hotel_Lux (Hotel Lux, Moskau)

Jenny Erpenbeck: Kairos (2021) – gelesen

In Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ wird die Geschichte einer großen Liebe in Ostberlin erzählt: Katharina ist 19 und Hans ihre erste große Liebe; Hans ist 53, ein Kulturschaffender, verheiratet, hat schon mehrere Liebschaften hinter sich und könnte wissen, dass die Verliebtheit der großen Liebe nicht von Dauer sein kann. Trotzdem rennt er sich in der Illusion der totalen Vertrautheit fest und erniedrigt schließlich Katharina, spielt sich zum Herrn ihrer Gefühle und Gedanken auf, als besäße er sie wie einen Gegenstand – es tut einem in der Seele weh, wenn man das liest. Das Verhältnis dauert mehrere Jahre, übersteht zwei große Trennungen, das Ende der DDR und eine Abtreibung und endet schließlich irgendwie. Nachgeschoben wird die Einsicht in die Akte des 1988 abgeschalteten IM Galilei, der Hans war; vorausgeschickt ist die Nachricht von seinem Tod – sie konnte an seinem Begräbnis nicht teilnehmen, weil sie gerade in Pittsburgh war, hat seiner aber mit ihrer Lieblingsmusik gedacht. Und sie hat aus zwei Kartons und ihrem Koffer die Geschichte ihrer Liebe rekonstruiert und erzählt, wobei die Erzählstimme sie immer nur Katharina und „sie“ nennt.

Neben der persönlichen gibt es zwei politische Ebenen, die aktuelle vom Ende der DDR, die nach meinem Empfinden die Sicht eines möchtegernsozialistischen Jammerossis zeigt, und – mit Hans’ Kindheit und seinem Umzug in die DDR verbunden – einige Impressionen des Dritten Reiches, darunter natürlich die berüchtigten Himmlerworte von den SS-Leuten, die auch beim Anblick von Leichenbergen anständig geblieben seien. Was diese Reminiszenzen im Roman zu suchen haben, verstehe ich nicht wirklich – vermutlich dienen sie dazu, die angebliche Aufarbeitung der NS-Zeit in der DDR und die Gesinnungskontrolle dort zu rechtfertigen, obwohl aktenkundig ist, dass auch in der DDR Biografien nach 1945 offiziell geschönt wurden.

Fazit: Die Geschichte einer jungen Frau, deren Liebe ausgebeutet wird, und eines alternden Mannes, hinter dessen Liebespathos Herrschsucht steht und die Sorge, wohin er wohl gehen könnte, wenn seine Frau ihn rausschmeißt – gelesen habe ich sie in Ahrenshoop, wo zufällig einige Liebesszenen des Paares gespielt werden, als Hans mit seiner Familie dort Urlaub macht und Katharina sich in der Nähe eingemietet hat. Für eine Einzelkritik hätte ich mir Notizen machen müssen; das habe ich nicht getan, ich war schließlich in Ahrenshoop im Urlaub.

https://www.perlentaucher.de/buch/jenny-erpenbeck/kairos.html (erste Übersicht)

https://www.swr.de/swr2/literatur/jenny-erpenbeck-kairos-100.html (informativ)

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/jenny-erpenbecks-roman-kairos-liaison-in-der-untergehenden-ddr-17512346.html (voll des Lobes)

https://www.sueddeutsche.de/kultur/jenny-erpenbeck-ddr-kairos-roman-1.5396827 (sehr klug, auch mit kritischen Tönen)

Jürgen Fuchs: Vernehmungsprotokolle (1978) – gelesen

Die „Vernehmungsprotokolle“ sind erstmals 1978 erschienen; darin berichtet Jürgen Fuchs, wie es ihm in der U-Heft der Stasi ergangen ist: wie man versucht hat, ihn mürbe zu machen, damit er sich anpasst und seine kritische Haltung gegen die SED-Diktatur aufgibt. Die Beamten, die ihn vernehmen, wechseln – als Personen und mit ihnen die Taktik, aber das Ziel ist immer das gleiche: ihn klein kriegen, mürbe machen, bedrohen, beschimpfen, falsch informieren, durch einen Zellennachbarn unter Druck setzen. Da Fuchs Sozialpsychologie studiert hatte, konnte er seine Erfahrungen bzw. die Taktik der Vernehmer psychologisch reflektieren. Schließlich hat Fuchs gesiegt: Da man ihn nicht besiegen konnte, hat man ihn gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert. Im Hinterkopf hatte er immer noch seine Träume von einem menschlichen Sozialismus.

Das Buch ist ein weiteres Zeugnis dafür, wie man mit Menschen anderer Meinung nicht umgehen darf, aber weltweit umgegangen ist und umgeht: Die großen Organisationen, seien es Parteien, Staaten, Kirchen, Fußballverbände oder was auch immer, tendieren dazu, große Ungeheuer zu werden – es gilt, sie durch Regeln und öffentliche Kontrolle zu bändigen.

https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Fuchs_(Schriftsteller) (JürgenFuchs)

https://ddr-opposition.de/2014/08/der-leise-terror-des-mfs-gegen-juergen-fuchs/ (über den Terror gegen J. Fuchs)

https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/du-bist-bei-dir-geblieben (Interview mit Lilo Fuchs)

https://www.boell.de/de/2014/09/04/lilo-fuchs (über Lilo und Jürgen Fuchs)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/konstrukt-des-unerhoerten.1270.de.html?dram:article_id=191162 (über die „Vernehmungsprotokolle)

https://www.welt.de/kultur/article3695760/Wie-Juergen-Fuchs-die-Stasi-Verhoere-ueberstand.html (dito)

M. Birthler: Halbes Land, ganzes Land, ganzes Leben. Erinnerungen (2014) – Rezension

Marianne Birthlers Erinnerungen haben mich gefesselt und begeistert wie schon lange kein anderes Buch; sie sind wesentlich besser als Joachim Gaucks Erinnerungen „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ (2009), die ich unmittelbar vorher gelesen habe: Bei Birthler erfährt man wirklich, welche Menschen auf welche Weise die Revolution 1989 in der DDR gemacht haben. In ihrem Buch steckt viel mehr Arbeit als in Gaucks Buch; auch tritt der Mensch Birthler deutlicher als der Mensch Gauck ins Gesichtsfeld. Sie erzählt ihr Leben von ihrer Kindheit bis zum Abschied von der Leitung der Stasi-Unterlagen-Behörde, einer darauf folgenden Amerikareise und dem Entschluss, ihre Erinnerungen aufzuschreiben.

Ich möchte auf einige Punkte hinweisen, die mich beeindruckt haben. Einer davon sind die Überlegungen, die man in der DDR anstellen konnte, ob auszureisen nicht einen Verrat an denen darstellte, die zurückblieben. Der nächste ist die Beobachtung, dass auch so kritische Geister wie sie selbst eine innere Befreiung nach dem Ende der SED-Diktatur nötig hatten: „Selbst ich … trug die Diktatur noch in mir.“ Selbstkritische Bemerkungen stellen ohnehin eine der Stärken des Buches dar.

Politik ist die Kunst des Kompromisses, und wer einen mühsam ausgehandelten Kompromiss unter Berufung auf das Gewissen unterläuft, ist nicht automatisch der bessere Mensch.“ (S. 250)

Interessant waren für mich Birthlers Überlegungen, die zur Einführung des Fachs LER in Brandenburg geführt haben – ein Fach, das ich nur aus der westdeutsch-kirchlichen Polemik dagegen kannte und das ich jetzt ganz anders sehe. Aus Birthlers Zeit bei den Grünen sind ihre Beobachtungen über den Unterschied zwischen Ost und West spannend (S. 286 f.), über die Fremdheit zwischen politisch ähnlich Denkenden: „Warum haben sie damals Geld für den Befreiungskampf in Nicaragua gesammelt, aber die Menschenrechtsverletzungen im Ostblock ignoriert?“

Sie gedenkt auch der Weggefährten aus der DDR, die es nach 1989 nicht geschafft haben, beruflich von der Wende zu profitieren – ein sympathischer Zug, finde ich (S. 297). Für Gregor Gysi und verwandte DDR-Verteidiger: „Die SED-Diktatur war mehr als die Tätigkeit der Stasi, sie durchdrang den Alltag und beeinträchtigte und beschädigte das Leben aller Menschen in der DDR – auch wenn viele das bis heute nicht wahrhaben wollen.“ (S. 316) Bemerkenswert ist auch, wie sie das Urteil begründet, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, womit sie selbst einer couragierten Frau wie Gesine Schwan widerspricht: In einem Rechtsstaat gelten die Prinzipien des Rechtsstaates, und staatliche Macht wird rechtmäßig begründet – und das war in der DDR eben nicht der Fall, auch wenn es dort „Recht und Gesetz“ gab.

Marianne Birthler ist eine Frau, die viel erlebt hat: die Geburt dreier Kinder, die Trennung von ihrem Mann, die Arbeit in der kirchlichen Basisarbeit, den Zusammenschluss Oppositioneller im Bündnis 90, die Revolution 1989, die Übergangszeit zum 3. Oktober 1990, die Arbeit als Ministerin in Brandenburg und im Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen, eine Umschulung zur Beraterin von Organisationen, die Leitung der Stasi-Unterlagen-Behörde, deren Arbeit und Bestand sie vehement verteidigen musste und verteidigt (wie übrigens auch Gauck)…

Ich möchte Frau Birthler für ein großes Buch danken.

https://de.wikipedia.org/wiki/Marianne_Birthler

https://www.planet-wissen.de/geschichte/ddr/das_leben_in_der_ddr/pwiemariannebirthlereinlebenfuerdiefreiheit100.html

https://www.mdr.de/zeitreise/ddr/marianne-birthler-tapetenwechsel102.html

http://www.faz.net/aktuell/politik/thema/marianne-birthler

https://www.ddr89.de/vk/inhalt_vk.html (Reden in der Volkskammer)

Wie es in der DDR war – Buchvorstellung (SPIEGEL)

Was DDR-Bürger der Regierung schrieben „Und das nennt ihr Sozialismus“

Ärgert sich der Deutsche, schreibt er Briefe. Die meisten Protestschreiben in und aus der DDR landeten bei der Stasi – ein Mosaik des Alltagsfrustes. Der Politologe Siegfried Suckut sucht die Absender. Von Solveig Grothe

Die DDR-Bürgerin machte sich große Sorgen. Sie sah die Gesundheit der Bevölkerung in Gefahr: wegen dieses miesen Kaffees. Im September 1977 wandte sie sich mit einem Brief an den Moderator des DDR-Wirtschaftsmagazins „Prisma“:

„Sehr geehrter Dr. K.-H. Gerstner! … Ich bin Verkäuferin und höre mir jeden Tag die Klagen von den Kunden an. Ich bin selbst der Meinung, daß der Kaffee Mix zu 6,-M nicht zu genießen ist. Er ist das reinste Rattengift. Ich bitte Sie, daß der Betrieb in aller Öffentlichkeit Stellung hier nimmt. Der Kaffee Mix besteht aus Malzkaffee u. einigen Körnchen Bohnenkaffee. So ein Kaffee brauchen wir nicht im Handel. (…) Die Firma möchte doch bitte den „Kosta“ weiter im Handel gehen lassen. Der Betrieb ist VEB Kaffee Halle. Der Betrieb möchte dieses Rattengift aus dem Handel nehmen. Ansonsten werden uns die Intelligenz und der Arbeiter sehr krank, (…) Ich danke ihnen im Voraus. Mit sozial. Gruß …“

Fernsehmoderator Karl-Heinz Gerstner konnte das DDR-Kaffee-Problem nicht lösen. Steigende Kaffee-Weltmarktpreise und chronischer Devisenmangel im Arbeiter- und Bauern-Staat waren die Gründe für die billige Ersatzmischung. Vom Unmut der Verkäuferin erfuhr der Hersteller freilich nie. Denn statt bei der Wirtschaftssendung landete der Brief in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).

So erging es auch Tausenden anderen Schreiben, die DDR-Bürger ab Mitte der Sechzigerjahre an ihre Staatsspitze, an Parteifunktionäre oder auch an westliche Politiker und Medien richteten – sei es anonym oder mit vollem Namen unterzeichnet, in Erwartung einer Antwort. Denn die Stasi sammelte keineswegs nur Dokumente, die eine oppositionelle Haltung zur DDR-Führung vermuten ließen. Im Archiv der 1964 gegründeten Hauptabteilung XX, zuständig für „Verhinderung, Aufklärung und Bearbeitung staatsfeindlicher Erscheinungen“, lagern auch umfangreich ausgearbeitete Verbesserungsvorschläge wohlmeinender Genossen, ebenso Post an Radio- und Fernsehsender und sogar von Bundesbürgern an DDR-Medien.

Nur selten erreichten diese Briefe ihre Adressaten – was die Absender vielleicht bis heute nicht ahnen. Der Politologe Siegfried Suckut, langjähriger Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde, hat sie gelesen: 200 Akten, etwa 45.000 Blatt Papier. Einen Teil davon macht er nun der Öffentlichkeit zugänglich und hat knapp 250 Briefe in seinem neuen Buch „Volkes Stimmen“ versammelt. Die faszinierende, bisweilen kuriose Lektüre gibt Einblick in den Alltag deutscher Briefeschreiber – und in die Sammelwut der staatlichen Überwacher.

Abgefangene West-Post: „Na Gisela, kennst mich schon?“

Unter den von der Stasi einkassierten Schreiben ist die freundliche Einladung einer Dresdner Familie an Staats- und Parteichef Erich Honecker, mit ihr einen „netten Samstag-Nachmittag“ zu verbringen. Und der Brief eines Radiohörers aus dem oberfränkischen Hirschaid an die Nachrichtensprecherin Gisela Langerbeck vom Berliner Rundfunk. Der Mann schrieb ihr wohl nicht nur einmal:

„Na Gisela, kennst mich schon ja? Ich wundere mich immer wieder wie Du mit Deiner sympathischen Stimme im Dienste dieser kommunist. Verbrecher stehen kannst und mit voller Überzeugung diese Lügen verbreiten kannst. Euren chilenischen Kommunistenhäuptling hätten sie doch besser gleich erschießen sollen! … Verlaßt euch nicht auf die russischen Schakale!! Das wahre Gesicht zeigen sie durch die Greueltaten in Zuchthäusern (nebenbei, so was gibts ja bei euch auch!!) Wie könnt ihr armen Schweine nur von Frieden und Freiheit sprechen und dann eure Lobhudelei über euern Fortschritt und eure Leistungen! Alles Schwindel! … Euch frohe Weihnachten zu wünschen ist ja sinnlos. Weihnachten gibts ja bei euch Heiden nicht! Mit Feuer und Schwert gehört ihr ausgerottet!! ihr Ausgeburten der Hölle!! Adee bis zum nächsten Mal! Gisilein, noch hast Du Gelegenheit in den Goldnen Westen zu kommen! Denk daran! Herzlichst! Dein Gerd!!“

Die meisten Briefeschreiber klagten über die schlechte Versorgungslage in der DDR, ob bei Bettwäsche oder Frotteehandtüchern, wie ein anonymer Absender aus Friedrichsroda im Juli 1979 den „Werten Herr Staatsrat“ wissen ließ: Wenn Honecker „nicht bald andere Zustände“ schaffe, werde er „noch viel erleben im 31. Jahr DDR“.

„Nur immerzu die laut schreienden Italiener“

Als mangelhaft empfunden wurde auch das Fernsehprogramm. Ein „Kollektiv eines sozialistischen Großbetriebes“ beschwerte sich 1974 beim Programmdirektor des DDR-Fernsehfunks: „Wenn schon die ganze Woche abends lauter unmögliche Sachen kommen“, schrieben sie, „dann könnte doch der werktätige Mensch wenigstens Sonnabend dafür entschädigt werden.“ Lange sei kein „richtiger Film“ mehr gesendet worden. Die für das DDR-Fernsehen ausgewählten West-Importe trafen offenbar nicht den Zuschauergeschmack: „Nur immerzu die laut schreienden Italiener oder solche Filme, wo man am Ende nicht weiß, was er überhaupt bedeuten sollte. Unsere Devisen könnten doch wahrlich für bessere Sachen ausgegeben werden.“

Wenn DDR-Bürger an westliche Politiker schrieben, dann oft zu den deutsch-deutschen Beziehungen. Ein anonymer Schreiber aus Gera appellierte im Januar 1970 an Willy Brandt: „Erkennt die DDR nicht an.“ Und „15 Rostocker Familien“ freuten sich 1982 über die Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler. Er möge helfen, Honecker und seinen „Konsorten das Handwerk zu legen damit endlich das herzlose u. menschenunwürdige Leben in der DDR sein Ende findet.“ Und weiter: „Ein ‚KZ‘ aus der faschistischen Zeit ist nichts dagegen“, am Ende der Satz „Wir ‚Alle‘ sind ja ‚Deutsche'“.

Briefe von DDR-Bürgern in den Westen: „Werter Herr Strauß!“

Auffällig häufig wurden DDR-Diktatur und NS-Regime verglichen – auch von SED-Mitgliedern, so Politologe Suckut. Ein Altkommunist etwa berichtete während der Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag Walter Ulbrichts 1968 von der schlechten Stimmung im Land und schrieb an die „Kanzlei des Staatsrates“: „Orden über Orden hängt Ihr Euch an. Man glaubt manchmal bei den Nazis zu sein. Der verfluchte Göring putzte sich auch so an wie Ihr.“

Im September 1989 schimpfte ein „alter Genosse“, der Probleme für seine Kinder befürchtete und deshalb ungenannt bleiben wollte, an die SED-Führung: „Ihr laßt zu, daß die Genossen vom MfS schon wie bei den Nazis die Gestapo-Methoden ausführen, habt Ihr vergessen wie es war?“

Manchmal ließen auch ganz pragmatische Gründe DDR-Bürger zu Stift und Papier greifen: „Falls Sie dieser Brief erreichen sollte“, schrieb eine Familie aus dem thüringischen Ronneburg im Oktober 1980 an Bayerns Ministerpräsidenten und Unionskanzlerkandidaten Franz-Joseph Strauß, „werden Sie sich sehr wundern, von einer Familie aus der DDR Post zu erhalten“. Strauß wunderte sich nicht, den Brief bekam er nie. Sonst hätte er lesen können:

„Wir haben diesen Brief einer Familie aus Belgien mitgegeben, die hier in der DDR waren, die wir aber nicht kennen, mit der Bitte den Brief nach Deutschland an Sie weiterzuleiten. (…) Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie unsere Adresse an eine sehr wohlhabende Familie aus der BRD weitergeben könnten, die auch die Möglichkeit hat, uns ab und zu mal unter die Arme zu greifen.“

Für den Wissenschaftler Suckut sind die O-Töne von hohem Wert: Klarer und anschaulicher können spätere Zeitzeugenerinnerungen kaum sein, denn sie spiegeln die unmittelbaren Lebenseindrücke von DDR-Bürgern wider – was sie beschäftigte oder empörte, meist aus einem Impuls heraus geschrieben.

Siegfried Suckut würde sich freuen, wenn sich Urheber melden, die ihre Schreiben wiedererkennen und über die Folgen berichten. Die Staatssicherheit, das zeigen die Akten, scheute keine Mühen, um anhand von Schrift und Speichelresten anonyme Absender ausfindig zu machen.

Ist einer der Briefe etwa von Ihnen? Einestages zeigt eine Auswahl der in „Volkes Stimmen“ veröffentlichen Schreiben. Wenn Sie von Ihren Erfahrungen berichten möchten, schreiben Sie uns über die Feedback-Funktion.

Siegfried Suckut (Hrsg.):
Volkes Stimmen. „Ehrlich, aber deutlich“ – Privatbriefe an die DDR-Regierung. Deutscher Taschenbuch Verlag; 576 Seiten; 26,90 Euro.

(http://www.spiegel.de/einestages/was-ddr-buerger-ihrer-regierung-schrieben-stasi-liest-mit-a-1077617.html#ref=nl-fuenfsterne)

Brecht: Lob des Zweifels – Analyse

Gelobt sei der Zweifel! Ich rate euch, begrüßt mir…

Text

https://soundcloud.com/jensbest/brecht-lob-des-zweifels (mit Vortrag!)

https://www.gupki.de/index.php/literatur/gedichte/lob-des-zweifels

https://www.eulenspiegel.com/images/verlag/medien/1985-brecht-to-go-lp-home.pdf

https://fd.phwa.ch/?page_id=676

Das Gedicht ist um 1939 entstanden, wahrscheinlich im Zusammenhang mit Brechts Arbeiten an „Leben des Galilei“. Auf diesen Zusammenhang kommen wir noch zu sprechen; wir werden am Ende auch bedenken, was das „Lob der Vergesslichkeit“ mit dem „Lob des Zweifels“ zu tun hat.

Ein Ich-Sprecher wendet sich (in 11 Strophen unterschiedlicher Länge) lehrhaft an eine nicht näher bestimmte Gruppe „ihr“, die tendenziell alle sind. Auf sein Lob des Zweifels (I 1, d.h. Str. 1, V. 1) folgt der Rat an „euch“, denjenigen zu schätzen, der „euer Wort“ kritisch, also nur zweifelnd vernimmt (I 1-3). Der darauf folgende Rat, sein eigenes Wort „nicht allzu zuversichtlich“ zu geben (I 4 f.), ist nur die Kehrseite des ersten Ratschlags; schon beim eigenen Sprechen sollen seine Hörer das Zweifeln ihrer Hörer antizipieren – das hieße, selber weise zu sein.

In den beiden folgenden Strophen berichtet der Sprecher auktorial von zumeist fiktiven Beispielen, wo bisher Unbezweifeltes seine Geltung verlor; damit begründet er sein Lob des Zweifels und seine beiden Ratschläge aus der 1. Strophe. Er beruft sich auf Erfahrung, auf „die Geschichte“; dort könne man sehen, dass auch „die unbesieglichen Heere“ geschlagen wurden (II 1 f.); die Paradoxie löst sich auf, wenn man „die unbesieglichen Heere“ als „die vermeintlich unbesieglichen Heere“ liest – dieses richtige, also den Zweifel einschließende Verständnis wird durch die sprachliche Paradoxie (unbesieglich – besiegt) erzeugt. Das Spiel der Paradoxien wird noch viermal wiederholt, einmal mit dem realen Beispiel der spanischen Armada (II 5 ff.). Drei der Beispiele stammen aus dem Bereich des Krieges oder Kämpfens und legen eine politische Lesart des Gedichts nahe, die beiden letzten (III) handeln von vermeintlich unerreichbaren Zielen.

Besonders „schönen“ Zweifeln gilt das Lob des Sprechers in den beiden folgenden Strophen: dem Zweifel an unbestreitbaren Wahrheiten, an der Hoffnungslosigkeit einer Krankheit, an der Stärke der Unterdrücker. Der letzte Zweifel wird als schönster gepriesen (V 1); damit wird die politische Stoßrichtung des Gedichts deutlich. Allen bisher behandelten Fällen (II – V) ist gemeinsam, dass bisher unbezweifelte Sätze oder Vorstellungen das Attribut „vermeintlich richtig“ statt „wahr“ bekamen.

In der 6. Strophe wird die Geschichte eines Lehrsatzes erzählt, zunächst personal aus der Sicht seines Entdeckers („ein Mensch“, VI 5: also ein fiktives Beispiel), dann neutral aus der Sicht eines die Geschichte überschauenden Beobachters (ab VI 6): wie aus dem neuen ein alter Lehrsatz wird, der durch Erfahrung in Zweifel gerät und schließlich durchgestrichen wird, wiederum eines Tages von einem Menschen (VI 5/11).

Mit einem harten Schnitt wechseln Sprechweise und Thema: Probleme beim Zweifeln werden ab Str. 7 behandelt. Zuerst gilt das Mitleid des Sprechers dem Armen, vielfach im Kapitalismus Malträtierten (umbrüllt, gemustert usw., VII 1-5) und mit Ideologien Vernebelten (VII 6 f. – die Lehre von der besten aller Welten geht auf Leibniz zurück), wobei der Sprecher Verständnis dafür aufbringt, dass jener es schwer hat, „an dieser Welt zu zweifeln“ (VII 9). – Die beiden letzten Verse von Strophe 7 kann ich nur mit Mühe zu den ersten neun in Beziehung setzen: als eine Relativierung des Verständnisses für den Armen, der schweißtriefend für andere Leute arbeiten muss (VII 10): Schweißtriefend arbeiten ja auch die nicht Ausgebeuteten (VII 11); ich bin mir aber nicht sicher, ob dies der Sinn von VII 10 f. ist (ich denke, Brecht hätte hier noch nachbessern müssen).

Es folgen zwei Strophen, in denen zwei Gruppen Menschen beschrieben werden, die mit dem Zweifel falsch umgehen: Die Unbedenklichen zweifeln zu wenig (VIII), die Bedenklichen zweifeln zu viel (IX). In der Art, wie die Unbedenklichen und die Bedenklichen charakterisiert bzw. typisiert werden, erkenne ich Peter Maiwalds Methode der Typisierung wieder (z.B. „Der Verständnisvolle“ oder „Der Verdächtige“, zuerst in „Nebelspalter“, jetzt in: Das Gutenbergsche Völkchen. Kalendergeschichten. Frankfurt 1990; 1993 als Taschenbuch). Durch den Untertitel „Kalendergeschichten“ deutet Maiwald an, dass er sich an Brecht anlehnt.

Mit „Freilich“ (X 1) angeschlossen folgt eine Warnung (an „ihr“ gerichtet, X 1), das falsche Zweifeln zu loben: jenes, „das ein Verzweifeln ist“ (X 3 – vielleicht spielt Brecht hier auf den Existenzialismus bzw. die Existenzphilosophie an?). Die folgende Strophe greift in einer allgemeinen Reflexion noch einmal die Themen von Strophe 8 und 9 auf – ein Schönheitsfehler, den Brecht sicher bemerkt hat; schließlich hat er das Gedicht nicht veröffentlicht. In XI 3 f. klingt ein Satz Bacons an: Ignoratio causae destituit effectum (etwa: Die Unkenntnis der Ursache lässt die Wirkung ausfallen – Hinweis von Edgar Marsch: Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk, 1974). Strophe 8-11 haben also die Arten, wie man nicht mit dem Zweifel umgehen soll, zum Gegenstand.

In der letzten Strophe wendet der Sprecher sich mit der Anrede „Du, der du ein Führer bist“ (XII 1) an alle (Kommunisten?) in führenden Positionen; er appelliert an sie, ihr Amt nicht zu missbrauchen, indem er sie an die (stark idealisierte!) Bedingung ihres Aufstiegs erinnert: Sie haben an früheren Führern „gezweifelt“ – freilich bleibt hier offen, wie sie tatsächlich deren Führungsposition eingenommen haben. Der Appell ist so logisch wie blauäugig: „So gestatte den Geführten / zu zweifeln!“ (XII 3 f.) Ein solcher Appell war 1939, zu Stalins Zeiten, in der Sowjetunion lebensgefährlich; aber Brecht lebte ja auch in Dänemark, ab Mai 1939 in Schweden, ab 1940 in Finnland, ab 1941 in den USA. Aber auch in der DDR, wo Brecht seit 1949 wohnte, war ein Gedicht mit einem solchen Schluss tabu: Brechts idealer Kommunismus hatte mit dem realen nicht viel gemeinsam. – Einige formale Beobachtungen zum Text findet man im dritten Link unter „Analyse“.

Worum geht es beim Zweifeln in diesem Gedicht? Es geht um den Zweifel in der Wissenschaft (VI), an Machtverhältnissen (II, V, VII und XII), im täglichen Leben (III und IV); es geht meistens um den Zweifel, der ein „neues“ Handeln möglich macht (III – V, ganz deutlich VIII – XI), indem er die Basissätze bisherigen Handelns in Frage stellt und abtut.

Wenn man diesen „Zweifel“ mit der ebenfalls gelobten „Vergesslichkeit“ vergleicht, so bedeutet „Vergesslichkeit“ teilweise das Gleiche wie „Zweifeln“ (v.a. in der letzten Strophe dort); teilweise bezeichnet sie auch die Fähigkeit, sich aus alten Bindungen zu lösen – das ist ein anderer Aspekt des gleichen Vorgangs, des Übergangs zu etwas Neuem; im alltäglichen Verständnis käme die Vergesslichkeit erst nach dem Zweifel, aber das muss in Brechts Gedichten nicht so sein. Die Unschärfen ergeben sich daraus, dass Brecht verschiedene Worte der Umgangssprache für alltägliche geistige (Fehl)Leistungen benutzt, um sie mit Bedeutung aufzuladen, sodass sie den revolutionären Umschwung (in verschiedenen Bereichen) als möglich, richtig und normal erscheinen lassen.

Was nun den Zusammenhang des hier gelobten Zweifels mit dem Stück „Leben des Galilei“ betrifft, gebe ich Manfred Wekwerth (Brecht-Theater – eine Chance für die Zukunft?) das Wort: „Brecht haßte die schnellen Antworten. Selbst wenn er eine Antwort gefunden hatte und sie ihm gefiel, zog er sie immer wieder in Zweifel, gerade weil sie gefiel. Er nannte es die „kritische Haltung“ (Kleines Organon, GA 23, 73), die nicht nur ein Schlüssel seines Denkens und Verhaltens, sondern auch seines Theaters ist. Den Zweifel nannte er ein Grundanliegen der Gattung Mensch, der die Menschwerdung erst ermöglichte und noch heute ermöglicht. Dem Lob des Zweifels widmete Brecht einige seiner schönsten Gedichte.

Aber an einer Stelle seines Galileo Galilei, die zumeist nur für einen naturwissenschaftlichen Disput gehalten wird, gibt Brecht, wie selten, unmittelbar Auskunft über seine ganz persönliche Methode, zu denken und zu handeln. Es ist die 9. Szene, in der Galilei, trotz des Verbotes durch die Inquisition, seine Forschungen wieder aufnimmt. Von seinen Schülern zur Eile gedrängt, seine Meinung zu den kürzlich entdeckten Sonnenflecken zu sagen, die den Stillstand der Sonne und die Bewegung der Erde beweisen würden, antwortet Galilei:

‚Meine Absicht ist nicht zu beweisen, daß ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob. Ich sage: Laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in die Beobachtung eintretet. Vielleicht sind es Dünste, vielleicht sind es Flecken, aber bevor wir Flecken annehmen, welche uns gelegen kämen, wollen wir lieber annehmen, daß es Fischschwänze sind. Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben.’(http://www.manfredwekwerth.de/brechttheater2004.html)

Man findet den Zweifel bei Brecht an vielen Stellen, im Lied über die guten Leute, im Gedicht „Der Zweifler“, im „Leben des Galilei“… – aber das Gedicht „Lob des Zweifels“ findet man nicht in den „Hundert Gedichten“, die 1951 als Anthologie in der DDR erschienen sind. Der Schluss war wohl nicht erwünscht: „Du, der du ein Führer bist, vergiß nicht / Daß du es bist, weil du an Führern gezweifelt hast! / So gestatte den Geführten / Zu zweifeln!“ Was mag Brecht sich wohl gedacht haben, als man eines seiner besten Gedichte verschwiegen hat?

Analyse

http://deutsch.huem-gym.de/sd/deutsch/de403/doku.php?id=lehrgedichte&DokuWiki=231904493f145754801abe3fc22950c0 (äußerst knapp)

http://www.kolleg-st-thomas.de/wiki/index.php?title=B._Brechts_Lehrgedichte:_Lob_des_Lernens_und_des_Zweifelns (ohne Erkenntniswert für unser Gedicht)

http://hubertus-wilczek.thronemaster.net/index.php?id=146 (thematisch-formaler Vergleich der beiden Gedichte)

http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Brecht/bild1.htm (Verbindung zu „Leben des Galilei“, 1. Bild)

Rezeption

http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/386293 (Antwort auf …)

http://www.sankt-ludwig-darmstadt.de/fileadmin/user_upload/pdfs/predigten/090510_Wer_zweifelt__der_gewinnt_-_5._Ostersonntag.pdf (christlich)

http://www.ekhg.de/buildframe2.php?id=43 dito

http://www.wendepunkt.uni-koeln.de/cms/upload/Publikationen/WS_11_12/Wahlkampfflugblatt.pdf Jusos

http://sushimitzu.deviantart.com/journal/Lob-des-Zweifels-Bertolt-Brecht-Haiku-222247129 (Haiku)

http://www.brandeins.de/magazin/entscheidungslust/lob-des-zweifels.html

http://www.friedhelm-schneidewind.de/ethik011.pdf (Unterricht)

http://sammelpunkt.philo.at:8080/79/1/brecht2.htm Dort C) Ein besseres Denken

http://www.manfredwekwerth.de/brechttheater2004.html (Brechttheater)

http://www.nibis.de/nli1/gohrgs/zentralabitur/zentralabitur_2011/01deutsch2011.pdf (im Lehrplan fürs Zentralabitur)

Sonstiges

http://www.gleichsatz.de/kago/lea/skepsis.html (über den Zweifel)

http://www.descartes-cogito-ergo-sum.de/ (eine von vielen Seiten über R.D.)

http://www.ev.theologie.uni-mainz.de/Dateien/wgz.pdf (Wahrheit – Gewißheit – Zweifel)

http://www.textlog.de/2079.html (Skepsis: Kirchner 1907)

http://uk-online.uni-koeln.de/remarks/d3141/rm7534.doc (Einführung in das Problem des Skeptizismus)

http://www.gleichsatz.de/b-u-t/begin/ih/montaigne.html (Montaignes Zweifel)

http://de.wikipedia.org/wiki/Zweifel

Gerhard Bauer: Weisheiten… http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/24675/Bauer_Weisheiten_zerpflueckt_verbraucht_zur_Kenntlichkeit_entstellt_Brecht.pdf

Werner Bräunig: Rummelplatz (2007)

Eindrücke nach der ersten Lektüre

Werner Bräunigs Roman bzw. Romanfragment „Rummelplatz“ hat mich beeindruckt; ich habe die Arbeitswelt des Untertagebaus, hier der Wismut im Erzgebirge, noch nie so intensiv beschrieben gefunden. Die Zeche und die Papierfabrik – man merkt, dass Bräunig sie gut kannte.

Der zeitliche Rahmen ist symbolisch: Die provisorische Verfassung der DDR ist am 12. Oktober 1949 in Kraft getreten, in der Nacht vom 12. zum 13. Oktober beginnt das erzählte Geschehen, um am 17. Juni 1953 zu enden. Erzählt wird, wie der nicht zum Studium zugelassene Abiturient Christian Kleinschmidt, Sohn ein Professors, sich in seiner Arbeit in der Wismut-Grube selber findet, unter der klugen und wohlwollenden Anleitung des am 17. Juni 53 erschlagenen Altkommunisten und Vor-Arbeiters Hermann Fischer; wie er es ablehnt, trotz seiner Westverwandten im Westen zu studieren, und schließlich wegen seiner Bewährung von der Wismut zum Studium geschickt wird; wie es den Kollegen ergeht, die mit ihm bei der Wismut zu arbeiten begonnen haben – insbesondere Peter Loose, dem schikanös und willkürlich ein Prozess gemacht wird, in dem er zu vier Jahren Haft verurteilt wird.

Die anderen zentralen Figuren sind der genannte Fischer und seine Tochter Ruth, die als Arbeiterin in der Papierfabrik sich emporarbeitet und gegen breiten Widerstand durchsetzt, dass eine Frau erstmals eine leitende Position einnimmt; sie lehnt es ab, eine Parteikarriere zu machen, anders als ihr Verlobter Nickel, von dem sie sich (nach zarter Annäherung) trennt und der ein typischer, fachlich wenig kompetenter Scharfmacher wird.

Daneben gibt es viele weitere Figuren, Arbeiter und Mädchen und Mitglieder der FDJ oder SED, womit die größere Thematik angedeutet wird: die DDR, das sozialistische Deutschland als das bessere Deutschland – und was dem entgegensteht, dass sie wirklich sozialistisch ist. Entgegen stehen dem mindestens drei Faktoren: die immer noch fortlebende Nazivergangenheit, die kapitalistischen Anfeindungen aus dem Westen, der gute Leute abwirbt, und die Borniertheit vieler Parteifunktionäre. Immer wieder wird der Appell hörbar, dass wir selber das Haus, in dem wir gut und menschlich wohnen können, bauen müssen (S. 587 ff.); dieses Haus kann nur die DDR sein, aber eine andere DDR. Wir finden also immer wieder den Aufbruch aus dem, was heute gegeben ist, in die bessere Zukunft; anderseits gibt es erstaunlich kritische Töne: „Es fehlt unsereinem gewissermaßen eine Grundausbildung in der Kritik nach oben, mit Unfallbelehrung und dergleichen“, sagt Hänschenklein zur Erklärung seiner Zurückhaltung (S. 544).

Die Genossen Röttig und Fischer sind sozialistische Vorbilder, ohne jeden Makel, während Nickel und Mehlkorn Ekel sind – Schwarzweißbilder der Parteigenossen. Ob die Ereignisse des 17. Juni nur vom Westen inszeniert und von Faschisten bewerkstelligt wurden, mag einmal dahingestellt bleiben; die wenigen Bilder von Westmenschen, Verwandten von Ostmenschen und deren Umfeld, sind sehr simpel „kapitalistisch“-entfremdet (Irene Hollenkamp).

Ich habe die gut 600 Seiten nur einmal gelesen. Um ihnen gerecht zu werden, müsste man sie mindestens zweimal lesen und systematisch Notizen machen. Die Arbeitswelt und auch das Leben auf dem Rummelplatz sind phantastisch beschrieben, da kommt auch Böll nicht mit; anderseits sind manche Handlungen nicht deutlich ausgearbeitet, die Reflexionen sind öfter nicht einer Figur zuzuordnen (das stört aber weniger). Am stärksten habe ich mich daran gestoßen, dass zwischen dem grundsätzlichen Lob des Sozialismus und den kritischen Passagen wenig Ausgleich besteht. Insgesamt ein mutiges und lesenswertes Buch, das eine Vielzahl von Blicken auf eine Zeit erlaubt, die meine Kindheit war und die ich deshalb nicht bewusst genug erlebt habe.

Über das Schicksal des Manuskripts in den 60er Jahren und die Lebensgeschichte des Autors (1934 – 1976) informiert ein langes Nachwort von Angela Drescher; zahlreiche Anmerkungen (S. 713 ff.) machen das Buch auch für den verständlich, der nicht DDR-kompetent ist und nicht über den literarischen Horizont Werner Bräunigs verfügt.

— Vielleicht sollte man im Anschluss an den Roman Volker Brauns Gedicht „Das Eigentum“ lesen: http://www.poetenladen.de/zettelkasten/zettel6.html