Tieck: Seid mir gegrüßt…
Seid mir gegrüßt, ihr frohen goldnen Jahre,
Sosehr ihr auch mein Herz mit Wehmut füllt!
Ach! damals! damals! – immer strebt mein Geist zurück
In jenes schöne Land, das einst die Heimat war.
Das goldne, tiefgesenkte Abendrot,
Des Mondes zarter Schimmer, der Gesang
Der Nachtigallen, jede Schönheit gab
Mir freundlich stillen Gruß, es labte sich
Mein Geist an allen wechselnden Gestalten
Und sah im Spiegel frischer Phantasie
Die Schönheit schöner: Willig fand die Anmut
Zum Ungeheuren sich, und alles band sich stets
In reine Harmonie zusammen. – Doch
Entschwunden ist die Zeit, das ehrne Alter
Des Mannes trat in alle seine Rechte.
Mich kennt kein zartes, kindliches Gefühl,
Zerrissen alle Harmonie, das Chaos
Verwirrter Zweifel streckt sich vor mir aus.
Von jäher Felsenspitze schau ich schwindelnd
In schwarze, wüste, wildzerrißne Klüfte.
Ein wilder Reigen dreht sich gräßlich unten,
Ein freches Hohngelächter schallt herauf,
Und bleiche Fackeln zittern hin und her.
Dämonen, fürchterliche Larven feiern
Mit raschem Schwung ein nächtlich Lustgelage.
Wer ist der schwarze Riese unter ihnen? –
Er nennt sich Tod und streckt den bleichen Arm
Nach mir herauf! – Hinweg du Gräßlicher! –
Was rührt sich in den Bäumen? – Ist‘s mein Vater?
Er will zu mir! er kömmt mit Rosalinen
Und langsam geht Pietro hinter ihm,
Auch Willys Kopf streckt sich aus feuchtem Grabe! –
Hinweg! – ich kenn euch nicht! – zur Höll hinab!! –
Doch laut und immer lauter rauscht die Waldung,
Es braust das Meer und schilt mit allen Wogen –
Und in mir klopft ein ängstlich feiges Herz. –
Ihr alle richtet mich? verdammt mich alle? –
Du selbst bist gegen dich? – O Tor, laß ja
Den Geist in dir, den frechen Dämon nie
Gebändigt werden! Laß das Schicksal zürnen,
Laß Lieb und Freundschaft zu Verrätern werden,
Laß alles treulos von dir fallen: ha! was kümmern
Dich Luftgestalten? – sei dir selbst genug!
Das Gedicht steht in einem Brief William Lovells an Rosa in Tiecks Briefroman „Geschichte des Herrn William Lovell“ (1795/96, später überarbeitet). William hat auf seiner Bildungsreise den Italiener Rosa und durch diesen Rosaline kennengelernt, die er verführt. Sie erkennt, dass William am Tode ihres Bräutigams Pietro, eines Räubers, schuld ist, und geht in den Tiber. William erfährt über seinen Freund Eduard Burton vom Tode des Vaters; immer stärkt bedrückt ihn Melancholie. – In einem Brief an Rosa (Neuntes Buch, 27.) berichtet er, wie er erneut von Räubern überfallen wurde und sich ihnen anschloss. Als er den Brief schreibt, ist er allein, hat Sehnsucht nach seinen Freunden, möchte Rosaline und den Vater wiedersehen. Er teilt Rosa ein altes Gedicht mit, von dem er sich jedoch distanziert, und schreibt dann „Seid mir gegrüßt…“ auf. Er kommentiert das Gedicht danach kurz: „Was meinen Sie? – Wenn ich über mich selbst ein Trauerspiel machte, müßte sich da diese Tirade nicht am Schlusse des vierten Akts ganz gut ausnehmen?“
Das Gedicht ist die Meditation eines jungen Mannes, William Lovell, der innehält und im Selbstgespräch über sich und seine Lage nachdenkt. Er beginnt mit einem Gruß an die vergangenen Jahre der Kindheit, „ihr frohen goldnen Jahre“ (V. 1, vgl. „damals“, V. 3, und „einst“, V. 4), in denen er Schönes erlebte (V. 4, V. 7 ff.); sie waren dadurch gekennzeichnet, dass „die Anmut“ sich mit dem „Ungeheuren“ verband „[i]n reine Harmonie“ (V. 13).
Das adversative „Doch“ (V. 13) markiert den Umschwung von der Kindheit zum Mannesalter (das ehrne = eherne, eiserne Alter des Mannes, V. 14 f.), wo der Sprecher aus der reinen Harmonie der Kindheit in „das Chaos“ des Lebens (V. 17) geriet, wo verwirrte Zweifel ihn befielen und Dämonen ihn bedrängten (V. 17 ff.) – dies ist seine gegenwärtige Situation, die er im Präsens beschreibt (ab V. 16). Er beschreibt sie aber nicht in der Ich-Form (Ich erlebe dies…; Ausnahme V. 19), sondern so, als ob Gestalten ihn verließen oder bedrängten („Mich kennt kein zartes, kindliches Gefühl“, V. 16) und ein Reigen von Dämonen ihn umgäbe (V. 19 ff.). Mit Fragen wendet er sich an die trüben Gestalten, wer sie seien (V. 26 ff.); es sind der Tod und die Toten, die an seinem Lebensweg zurückgeblieben sind (bis V. 32). Der Gedankenstrich hinter V. 32 signalisiert, dass er nachdenkt, dass er den Anblick der Gestalten auf sich wirken lässt.
Auf diese Schreckgestalten reagiert er dann zwiefach: Zunächst will er sie abwehren („Hinweg!“, V. 33); doch ihr Lärmen bedroht ihn weiter (V. 34 f.). Der Gedankenstrich hinter V. 36 markiert einen neuen Einschnitt: Er stellt sich mit drei Fragen (V. 37 f.) gegen die bedrängenden Gestalten, er wehrt sich gegen den Ansturm der Gespenster. Dabei ist die dritte Frage die entscheidende: „Du selbst bist gegen dich?“ (V. 38) Diese Frage weist die bedrohlichen Gestalten als einen Teil seines Inneren (statt Waldung, Meer, Wogen, V. 34 f.) aus; indem er die Gespenster heimholt, kann er ihrer Herr werden – was er nach einer erneuten Besinnung (Gedankenstrich, V. 38) erkennt: „O Tor“. Mit vierfachem „Laß“ ermannt er sich, diesen Schreckgestalten Raum zu lassen, da er sie nicht vertreiben kann: den Dämon, das Schicksal, die Untreue – er degradiert sie zu bloßen „Luftgestalten“ (V. 43), von denen er sich abwendet, die er von sich abfallen oder abprallen lässt (V. 42), und ermannt sich: „ – sei dir selbst genug!“ (V. 43)
Der Sprecher trägt seine Gedanken und Gefühle in reimlosen Jamben vor (5 Hebungen pro Vers, manchmal mit einer weiblichen Kadenz ausklingend; nur in V. 12 stehen 6 Takte). Solches Sprechen ist geeignet, der gehetzten Seele Ausdruck zu geben und sich Luft zu verschaffen. Dass Gedichte in Romane integriert sind, ist typisch für die Romantik; bekannt dafür ist Eichendorffs „Taugenichts“. – Wenn William älter geworden ist, müsste er erkennen, dass auch die Luftgestalten zu ihm selbst gehören und dass er sich mit ihnen versöhnen muss, um Ruhe zu finden. In einem anderen Gedicht Tiecks („So wandelt sie, im ewig gleichen Kreise“, in: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst, 1799) wird zunächst der Gleichklang der fortschreitenden Zeit beschrieben. Zum Schluss heißt es:
„Von außen nichts sich je erneut,
In Dir trägst du die wechselnde Zeit,
In Dir nur Glück und Begebenheit.“ (V. 12-14)
Mit dem anschließenden Kommentar („Tirade“, s.o.) distanziert er sich halb ironisch von seinem eigenen Gedicht, aber das braucht uns jetzt nicht mehr zu interessieren: Wir lesen das Gedicht als Äußerung eines jungen Mannes, der von Zweifeln befallen ist, aber sich ermannt, den eigenen Weg zu gehen. In diesem Rückgang auf sich selbst steht er in einer großen Tradition, die letztlich von der Stoa bestimmt ist. Ich nenne einige weitere Beispiele deutscher Dichtung für diese Rückbesinnung auf sich selbst, wenn auch in jeweils verschiedenen Situationen:
Paul Fleming: An sich
Lessing: Ich
Storm: Für meine Söhne
Wie gesagt, die Toten bleiben am Rand des eigenen Weges liegen – andernfalls betrügt man sich selbst und konstruiert sich einen idealen Weg, den es in Wahrheit nie gegeben hat. Das scheint auch William am Ende seines Lebens gesehen zu haben, wie ich dem in der Wikipedia beschriebenen Inhalt entnehme: „William verspielt in Paris sein neues Vermögen, geht nach Italien zurück und sinkt zum Räuber und sodann zum Bettler herab. Er sehnt den Tod herbei. Zufällig kommt er wieder zu Geld. Karl Wilmont stellt William Lovell in Neapel und fordert ihn zum Duell. William lässt sich erschießen, nachdem er die eigene Brust mit einer Malve aus Rosalines Garten markiert hat.“
https://de.wikipedia.org/wiki/William_Lovell (der Roman)
http://www.zeno.org/Literatur/M/Tieck,+Ludwig/Romane/Geschichte+des+Herrn+William+Lovell/Neuntes+Buch/27.+William+Lovell+an+Rosa (Text des Romans)
https://www.deutsche-biographie.de/sfz6847.html (Ludwig Tieck)
https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Tieck (dito)
https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/lebensgeschichte-und-literarisches-schaffen-3 (dito)
https://abi.unicum.de/abitur/abitur-lernen/romantik-epoche (Romantik)
https://www.schreiben.net/artikel/romantik-epoche-3771/ (Romantik)