Voltaire: Amabeds Briefe (1769)

Amabeds Briefe“ (1769) ist ein Briefwechsel zwischen dem Inder Amabed und seinem geistigen Führer Shastasid, überwiegend Briefe Amabes und auch seiner Geliebten und späteren Frau Adate. Die jungen Leute berichten dem Alten von ihrer Begegnung mit den Europäern im 16. Jahrhundert; der Alte gibt Ihnen Ratschläge und macht ihnen Mut, warnt aber auch vor den Fremden.

Der erste Europäer, auf den sie treffen, ist ein liebenswürdiger Dominikaner, Fra tutto, bei dem sie Italienisch lernen; später veranlasst er, dass die beiden eingekerkert und der Apostasie (Glaubensabfall) beschuldigt werden, da er sie angeblich getauft hat. Er vergewaltigt Adate und auch ihre Freundin. Amabed und Adate appellieren an die Regierung und man schickt sie nach Rom, damit ihr Fall und ihre Vorwürfe vor dem Papst („Vizegott“) verhandelt werden. Ein Franziskaner tritt dabei als Rivale des Dominikaners auf. Berichte vom Wüten der Europäer in Indien, Erlebnisse auf der Reise und später in Rom machen den Inhalt der Briefe aus, die eine beißende Kritik des europäischen Christentums darstellen. Dabei kommen anlässlich der Bibellektüre Amabeds viele Absonderlichkeiten der Bibel und die Widersprüche zwischen der Lehre Jesu und der Praxis der Kirche zur Sprache. Der Franziskaner erklärt den Indern zum Beispiel, wie unsinnig das Keuschheitsgelübde der Mönche ist: „Seien Sie überzeugt, dass so kräftige Priester wie ich, die keine Frauen haben, sich Ausschweifungen hingeben, die die Natur verletzen – und dann nehmen sie heilige Handlungen vor.“ Er bekennt auch seine Glaubenszweifel, die er mit Gewalt unterdrücke: „Alle Mönche stehen vor der Wahl, entweder ihren Beruf durch ihren Unglauben zu verabscheuen oder ihn durch ihre Beschränktheit erträglich zu machen.“ Natürlich fehlen nicht der ungeheure Reichtum des Papstes, der einträgliche Ablasshandel und die Verdrehung biblischer Worte. So wird aus Jesu Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist…“ gefolgert, dass man alles dem Papst geben müsse; denn er sei der wahre Kaiser und zugleich Gottes Stellvertreter, also stehe ihm alles zu.

Zum Schluss kommen die beiden Inder, die in Rom mit Festen und Feiern überschüttet werden, in die Gesellschaft der Kardinäle Schurkinetti und Gaunerante, und mit diesem offenen Ende schließt der Briefwechsel. Er entlarvt den Kolonialismus und den Katholizismus Europas als barbarisch im Vergleich mit der indischen Kultur (vgl. „Das Naturkind“), so wie in „Der Mann mit den vierzig Talern“ (1768) die Ausbeutung der kleinen Bauern in Frankreich und die Begünstigung der Reichen angeprangert wird, wobei dann nebenher angedeutet wird, dass eine Revolution bevorstehen könnte. Kein Wunder, dass solche Bücher von der staatlichen und kirchlichen Zensur unterdrückt wurden.

Voltaire: Das Naturkind (1767)

Voltaires kleiner Roman „Das Naturkind“ ist auf Deutsch unter verschiedenen Titeln bekannt: Der Harmlose = Das Naturkind = Der Hurone, unter dem Titel „Der Freimütige“ bei Reclam zu kaufen. Er besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil erscheint ein Hurone in der Bretagne und erweist sich als Neffe eines Priors, als Sohn dessen in Amerika gefallenen Bruders; der Prior will den ungetauften Huronen zu einem Subdiakon [erste Stufe des Priestertums, mit Verpflichtung zum Zölibat] machen, damit er seine Pfründe erben kann. Die Begegnung des Huronen mit der europäischen Kultur und ihren Absonderlichkeiten, speziell mit dem Christentum, zu dem man ihn unbedingt bekehren will, stellt eine witzige Entlarvung dieser Kultur dar. Der Hurone liest nicht nur die Bibel und findet darin Kriterien, die das Christentum seiner Gastgeber bloßstellen, sondern verliebt sich auch in Fräulein Saint-Yves und stellt erstaunt fest, was man alles an Ehehindernissen für eine Verbindung mit ihr erfunden hat. Sie erwidert seine Liebe und muss sich gegen eine Heirat wehren, zu der ihr Vater sie zwingen will.

Mit der Verhaftung des Huronen, der als „Naturkind“ auftritt und nach seiner Taufe Herkules heißt, beginnt der zweite Teil des Romans. In ihm geht es zunächst darum, wie Herkules in der Bastille zu einem alten Jansenisten in die Zelle gesperrt wird, mit dem er sich anfreundet und gemeinsam weiterbildet. Herkules wird zu einem gebildeten Europäer, der Jansenist gibt sein Sektierertum auf. Saint-Yves ist ihrem Liebsten treu geblieben, muss sich aber zu seiner Befreiung zwei hohen Beamten hingeben, was in Paris Standard ist, worunter sie aber leidet. Als ihr Geliebter wieder in der Bretagne eintrifft und alle glücklich sind, bricht Saint-Yves in einer Mischung aus Glück und Schuldgefühlen zusammen; zwei Ärzten gelingt es, sie in den Tod zu befördern. Dazu trägt auch bei, dass einer ihrer beiden „Verführer“ voll Reue bei ihr erscheint und die von ihm geschenkten, von ihr aber abgelehnten Diamanten mitbringt, die Saint-Yves erneut zurückweist. Als sie stirbt, sind die beiden Liebenden versöhnt.

Herkules wird dann im versöhnlichen Schluss ein angesehener Offizier. Gordon, der ehemalige Jansenist, ist ein vernünftiger Mensch geworden und erhält eine Pfründe. Sein Wahlspruch wird: „Unglück ist stets zu etwas gut.“ Der Erzähler kommentiert diesen Satz, dass viele ehrenhafte Menschen allerdings Anlass haben zu sagen: „Unglück ist zu nichts gut.“ Damit hat Voltaire den Schluss seines „Zadig“ widerrufen, und das ist gut so. Ich möchte noch einen Satz des Kaisers Justinian zitieren, den der Hurone in der Bastille gelesen hat: „Die Wahrheit erstrahlt in ihrem eigenen Glanz, und man kann die Geister nicht durch die Flammen der Scheiterhaufen erleuchten.“

Fazit: ein flott geschriebener Roman, zuerst witzig-kritisch, zum Schluss melodramatisch, der beinahe an den „Candide“ heranreicht – beinahe nur deshalb, weil die beiden Teile des Romans nicht ganz miteinander verschmolzen sind. Hier wird das gleiche Motiv wie in „Amabeds Briefe“ durchgespielt: Begegnung eines Fremden mit der europäischen Kultur.

https://www.projekt-gutenberg.org/voltaire/harmlose/harmlose.html Der Harmlose

Voltaire: Zadig oder das Schicksal – gelesen

Zadig oder das Schicksal“ (1748) ist eine Erzählung bzw. ein kleiner Roman Voltaires, dessen Schluss mich überrascht hat. Held der Erzählung ist ein junger, schöner, kluger, reicher, tugendhafter Mann ohne Falsch, der den Umgang mit weisen Menschen sucht. „Von der Metaphysik wußte er soviel, wie man zu allen Zeiten davon gewußt hat, das heißt: herzlich wenig.“ Diesem Zadig kommt zuerst seine schöne Braut abhanden, dann gerät er aufgrund seiner Klugheit in Lebensgefahr, aus er sich aber retten kann – das Schema des rasanten Wechsels von Lebensgefahr und Rettung beherrscht die ganze Erzählung. Er kommt in die Nähe des Königs von Babylon und bezaubert dessen schöne Frau, wie er von ihr bezaubert ist. Der König will beide töten, doch mit Hilfe seines Freundes Cador entkommt Zadig, um durch die Welt zu fahren und den steten Wechsel von Unglück und Glück zu erleben, ohne dabei seine schöne Königin zu vergessen.

Zum Schluss gerät er an einen alten Weisen, dem er sich anschließt und der völlig unverständliche Dinge tut (ein Haus anzünden, einen Knaben in den Bach stoßen). Der Alte wandelt sich dann zum Engel Jesra und klärt Zadig auf, wozu seine unverständlichen Handlungen gut waren. Die Bösen seien dazu da, die wenigen Gerechten auf die Probe zu stellen. „Es gibt nichts Böses, das nicht auch gute Seiten hätte.“ Eine vollkommene Ordnung „kann nur im ewigen Reich des höchsten Wesens, dem alles Böse fernbleibt, herrschen“. „Du schwacher Sterblicher, laß ab, wider das zu kämpfen, was man anbeten muß.“ Zadig unterwirft sich der Vorsehung. – Diese Wendung der Dinge überrascht mich, weil der Erzähler zu Beginn selber verkündet hat, die Menschen wüssten nichts von der Metaphysik; sie überrascht zweitens, weil Voltaire damit quasi die Lehren seines Gegners Leibniz, die er im „Candide“ verspottet, selber vertritt: dass wir doch in der besten aller möglichen Welten leben.

Der solcherart bekehrte Zadig gewinnt dann im Kampf und dadurch, dass er als einziger verschiedene Rätsel löst, nach erneuter Gefährdung seine inzwischen verwitwete (und mehrfach gefährdete und gerettete) Königin von Babylon zur Frau, wird König und herrscht in Weisheit zum Glück des Volkes.

https://de.wikipedia.org/wiki/Zadig (sehr knapp)

https://www.projekt-gutenberg.org/voltaire/zadig/zadig.html (Text)

https://also42.wordpress.de/2024/03/22/voltaire-ein-aufklarer-zum-begriff-des-schicksals/ (philosophisch-kritische Lektüre der Erzählung)

Voltaires autobiografische Aufzeichnungen

Die „Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Herrn de Voltaire“, 1760 von ihm selber veröffentlicht, behandeln Voltaires Leben von 1733 bis etwa 1760 und das Geschick Friedrichs II., seine Jugend, seine Politik und sein Verhältnis zu Voltaire und Frankreich. Diese Denkwürdigkeiten sind amüsant; denn Voltaire ist derart von seiner Bedeutung und seiner Überlegenheit über alle anderen überzeugt, dass die von ihm erzählten Anekdoten und Episoden den Leser belustigen. Neben Friedrichs Charakter, seiner Neigung zu Schöngeistigem, seiner Liebe zum Militär und zur Sparsamkeit kommen die Verwicklungen seiner Kriege und die Feindschaft gegen Frankreich zur Sprache.

Voltaire erweist sich auch als ein Aufklärer, der sich Lockes Ideen anschließt: „Tatsache ist, dass wir nichts über uns selbst wissen, dass wir uns bewegen, dass wir leben, fühlen und denken, ohne zu wissen wie, dass uns die Elemente der Materie ebenso unbekannt sind wie alles übrige, dass wir Blinden gleichen, die gehen und reden, während sie im Finstern tappen…“. Dass er nicht im ersten Anlauf in die Akademie aufgenommen wurde, ist ihm nur Anlass, die Mitgliedschaft darin als belanglos abzutun wie der Fuchs bei den Trauben. Anschaulich beschreibt er den Tagesablauf in Potsdam, nicht ohne sich über die sexuell anzüglichen Bilder im Speisesaal zu mokieren: „Die Mahlzeiten waren oft nicht weniger philosophisch. Wenn jemand unvermutet dazugekommen wäre, unseren Gesprächen gelauscht und dabei die Gemälde gesehen hätte, so würde der geglaubt haben, die Sieben Weisen Griechenlands im Freudenhaus zu hören.“

Es gibt die „Denkwürdigkeiten“ als Einzelausgabe; sie stehen aber auch in Voltaires „Sämtliche Romane und Erzählungen“ (it 209, meine Ausgabe ist von 1988).

https://www.correspondance-voltaire.de/ (Voltaire)

https://plato.stanford.edu/entries/voltaire/ (dito)

https://de.wikipedia.org/wiki/Voltaire (dito)

https://www.projekt-gutenberg.org/voltaire/philoauf/philoauf.html (Briefe: „Voltaire in Berlin“)

https://archive.org/details/bub_gb_obRLAAAAcAAJ/page/n1/mode/2up (Veneday: Friedrich der Große und Voltaire, 1859)

https://archive.org/details/voltaireeinechar00poppuoft/page/n5/mode/2up J. Popper: Voltaire. Eine Charakteranalyse, 1905)

https://archive.org/details/bub_gb_E_oGAAAAcAAJ/page/n3/mode/2up (Voltaire: Der unwissende Philosoph)

Voltaire: Candide – Inhalt, Aufbau, Interpretation

Ich beziehe mich hier auf die Ausgabe insel taschenbuch 11 von 1973, in der Übersetzung von Ilse Lehmann (die Rechte in der DDR zu kaufen war wohl billiger, als selber übersetzen zu lassen), mit Zeichnungen von Paul Klee. Das Buch hat 1973 vier D-Mark gekostet. Ich stelle den Inhalt des Romans und kurz auch die Art, wie er erzählt wird, vor.

Im 1. Kap. werden Herkunft, Heimat und Charakter Candides beschrieben. Er ist wohl der uneheliche Neffe des Barons Thunder ten Tronck, eines armen Freiherrn in Westfalen. Candide hat einen sanftmütigen Charakter, ist arglosen Gemüts und hat (ironisch!) „gesunden Menschenverstand“ (S. 9); er glaubt in seiner Vertrauensseligkeit alles, was der Hauslehrer Pangloss lehrt: die Metaphysico-theologico-cosmologie.

Diese Lehre wird [Parodie der Philosophie des großen Leibniz und der Aufklärung, siehe den folgenden Exkurs!] als Sammlung von banalen Grundsätzen („keine Wirkung ohne Ursache“, S. 10) und naivem Anthropozentrismus vorgeführt: Alle Dinge sind zu einem bestimmten Zweck geschaffen, die Nasen für das Brilletragen, die Schweine zum Gegessenwerden usw., woraus man ersieht: „alles ist aufs beste bestellt“ (S. 11). In seiner Unschuld glaubt Candide das alles (S. 11) – der Erzähler distanziert sich deutlich von Herrn Pangloss.

[Exkurs: Leibniz hat 1714 in seiner „Monadologie“ die beiden Hauptprinzipien des vernünftigen Denkens so skizziert:

„§. 30. Unsere Schlüsse gründen sich auf zwei große Haupt-Wahrheiten / worunter die eine das Principium contradictionis oder der Satz des Widerspruchs ist / vermöge dessen wir urteilen / daß dasjenige / welches etwas widersprechendes in sich fasset / falsch / hingegen aber wahr sei / welches dem falschen gerade zuwider laufet oder entgegengesetzet ist.

§ 31. Die andere Haupt-Wahrheit ist der Satz des zureichenden Grundes oder das Principium rationis sufficientis, durch Hülfe dessen wir betrachten / daß keine Begebenheit wahrhaftig und würklich vorhanden / kein Satz echt oder der Wahrheit gemäß sein kann, wo nicht ein zureichender Grund sei / warum das Factum oder der Satz sich vielmehr so und nicht anders verhalte; ob gleich diese Gründe uns sehr öfters ganz und gar unbekannt sein können.“]

Die Baronin wiegt 350 Pfund, ihre Tochter Kunigunde ist 17 Jahre alt, „frisch, mollig und appetitlich“ (S. 10). Diese beobachtet, wie der große Pangloss einer Zofe im Freien „Unterricht in Experimentalphysik“ gibt (S. 12), also mit ihr der Liebe pflegt, sodass man seinen zureichenden Grund (Penis) sehen konnte. Davon angetan lässt Kunigunde sich aufs Knutschen mit Candide ein, worauf dieser fortgejagt wird. – Kunigunde hat einen Bruder.

Satirisch werden auch die bescheidenen Verhältnisse auf dem Schloss beschrieben, das sogar eine Tür und Fenster nebst einigen Wandteppichen aufweist und somit (im Sinn der Theorie des Pangloss) das schönste aller Schlösser ist; der ist „der größte Philosoph der Provinz und somit auch der ganzen Welt“ (S. 11).

Im 2. Kap. macht Candide (= C) seine Erfahrungen mit der besten aller Welten: Halb erfroren wird er von bulgarischen Werbern aufgegriffen und als Gast freigehalten („Wir Menschen sind doch dazu da, uns gegenseitig zu helfen.“, S. 15), dann gefesselt und als Rekrut ausgebildet. Ein Spaziergang wird als Fahnenflucht ausgelegt; er muss Spießruten laufen, der König rettet ihn eher zufällig vor dem Tod und erkennt in ihm „einen in den Dingen dieser Welt reichlich unerfahrenen jungen Metaphysiker“ (S. 17).

Die Freiheit des Willens wird parodiert (frei spazieren gehen wird bestraft; Wahl zwischen Spießruten laufen und erschossen werden, S. 16 f.). Das Erzähltempo ist rasant.

Die fällige Schlacht zwischen Bulgaren und Avaren (3. Kap.) wird in Pangloss’ Sprache berichtet: Die Musketen befreien die beste aller Welten von 9.000 – 10.000 Schurken, die Bajonette sind der zureichende Grund des Todes von weiteren Tausenden … C flieht, er kommt durch zwei verwüstete Dörfer nach Holland. Er bekommt weder Almosen noch Hilfe von einem evangelischen Prediger, der eine Stunde lang über Wohltätigkeit geredet hat; ein Wiedertäufer gibt ihm dagegen Arbeit und Brot.

Auf einem Spaziergang trifft er am nächsten Tag einen verkommenen, kranken Bettler, der beim Husten sein Zähne ausspuckt – damit wird das nächste Kap. vorbereitet.

Dieser Bettler ist niemand anderes als Pangloss (4. Kap.); das Schloss ist verwüstet, die Bewohner sind tot, berichtet dieser. C erkundigt sich „eingehend nach Ursache und Wirkung und nach dem zureichenden Grund“ (S. 23 f.) von seines Lehrers Zustand: Pangloss hatte sich bei der Zofe Paquette die Syphilis geholt – die Geschichte dieser Syphilis wird über Patres, Pagen und Marquisen bis in des Columbus Zeit zurückverfolgt. Pangloss erklärt C das Gute dieser mit der Entdeckung Amerikas verbundenen Krankheit; er wird vom Wiedertäufer Jacques als Buchhalter eingestellt. Dieser widerspricht des Pangloss Theorien: Die Menschen seien böse und nicht so, wie sie geschaffen wurden. Pangloss kontert: „Alles dies ist unerlässlich, auf dem Unglück einzelner baut sich das Wohl der Allgemeinheit auf, so dass also das Glück der Gesamtheit umso größer ist, je mehr privates Unglück es gibt.“ (S. 27).

Hier haben wir mit Pangloss (= P) den ersten Fall, dass Figuren erzählerisch recycelt werden: Ihr Geschick wendet sich total, was einmal erzähltechnisch ökonomisch ist, aber auch der großen Theorie des P widerspricht: Die Welt ist doch nicht stabil eingerichtet … Auf der Fahrt nach Lissabon gerät ihr Schiff in einen Sturm und der Leser so ins 5. Kapitel:

Das Schiff geht unter; nur C und P überleben mitsamt einem üblen Matrosen, während der gute Jacques wie die anderen absäuft. P beweist, dass die Reede von Lissabon eigens dazu angelegt worden war, dass Jacques dort den Tod fand … Der Matrose raubt und hurt in der verwüsteten Stadt; P schwadet zuerst und rettet dann doch den verschütteten C. P erklärt den wenigen Überlebenden, dass das Erdbeben notwendig eintreten musste und „daß sich Ereignisse dort abspielen müssen, wo sie entstehen. Also ist alles gut.“ (S. 31)

Im Theoretisieren geraten C und P an einen Spitzel der Inquisition, wodurch eine Anschlussstelle fürs Weitererzählen geschaffen wird.

Von jetzt an raffe ich die Darstellung, weil das Prinzip der Erzählens klar geworden sein sollte:

  1. Kap. Wie man zur Verhinderung von Erdbeben ein schönes Autodafé veranstaltete, und wie Candide ausgepeitscht wurde

P wird aufgehängt, andere werden verbrannt; C wird von Zweifeln an P.s Lehre befallen.

  1. Kap. Wie Candide von einem alten Weib gepflegt wurde, und wie er den Gegenstand seiner Liebe wiederfand

Kunigunde, die nicht gestorben war, ist die Herrin der Alten, die ihn gepflegt hat.

  1. Kap. Kunigundes Geschichte

Kunigunde (= K) verwirft als Augenzeugin des Autodafés (6. Kap.) P.s Lehre, „alles in der Welt sei aufs beste bestellt“ (S. 44).

  1. Kap. C ersticht die beiden „Besitzer“ K.s; sie fliehen mit der Alten.
  2. Kap. Sie reisen nach Südamerika, C wird Oberst; sie diskutieren P.s Lehre.
  3. und 12. Kap. Die Alte, eine vormals schöne Papsttochter, erzählt ihre Lebensgeschichte. – Hier wie auch sonst wird teils von Figuren, teils vom Erzähler erklärt, dass Schinden, Morden usw. allgemein üblich ist: ein Kommentar zu P.s Lehre! Die Alte weiß, dass jeder „mehr als einmal sein Leben verflucht und sich […] so oder so für den allerunglücklichsten Menschen gehalten hat“ (S. 65).
  4. Kap. C sieht sich nun erfahren genug, gegen die Theorie P.s Einwände zu machen.

K soll einen Gouverneur heiraten, C. muss fliehen.

  1. Kap. Cacambo, ein Diener C.s, taucht als Figur auf und ist kundiger Führer in Südamerika. Bei den Jesuiten in Paraguay ist der Pater Kommandant K.s Bruder.

Ein Beispiel für die im Roman immer präsente Sozial- und Kirchenkritik: Cacambo beschreibt C die Zustände in Paraguay: „Den Padres gehört dort alles, dem Volke nichts – das Ganze ist ein Meisterwerk der Vernunft und Gerechtigkeit! Ich für meinen Teil kenne nichts Verehrungswürdigeres als diese Padres.“ Denn in Amerika bekämpfen sie die Könige von Spanien und Portugal, in Europa nehmen sie ihnen die Beichte ab (S. 73).

  1. Kap. K.s Bruder erzählt seine Geschichte. C ersticht ihn, als der Pater ihn angreift, weil C (mit nur 71 statt 72 adeligen Ahnen!) es wagt, K heiraten zu wollen.
  2. Kap. Und wieder triumphiert das Völkerrecht, das es erlaubt, seinen Nächsten zu töten, falls er ein Feind ist. Außerdem treiben manche Damen es mit Affen, die ja bekanntlich zu einem Viertel Menschen sind … Unsere Reisenden wären beinahe aufgegessen worden, beinahe – als Gegner der Jesuiten überleben sie.
  3. Kap. Die beiden kommen versehentlich ins Land Eldorado und erleben dort die andere, die schöne alte Welt.
  4. Kap. Eldorado ist ein utopisches Gegenbild Europas (bzw. der Welt): Gäste werden bewirtet, Gefängnisse gibt es nicht, die Menschen streiten sich nicht und verbrennen keine Ketzer … Dort ist es besser als in Westfalen, stellt C fest (S. 93,97). „Eines ist sicher – man muß eben reisen.“, denkt C (S. 97). – Sie reisen ab, um als reich beschenkte Leute in Europa zu leben und K freizukaufen.
  5. Kap. Von den vielen Hammeln und dem Gold, mit dem sie beladen sind, bleiben ihnen nur zwei. Sie treffen einen von Weißen geschundenen Neger: C erwägt, ob er nicht seinen Optimismus aufgeben muss – Optimismus, „das ist der Wahnsinn, zu behaupten, daß alles gut sei, auch wenn es einem schlecht geht“ (S. 105). – Der vollständige Titel des Romans lautet bekanntlich: Candide oder der Optimismus.

Cacambo reist mit viel Geld ab, um K loszukaufen. C wird fast um sein ganzes Vermögen betrogen (hat aber später immer noch Geld). C wählt sich unter den Unglücklichsten den Gelehrten Martin als Reisebegleiter aus.

  1. Kap. Martin ist Manichäer: Er hat nur Böses in der Welt erlebt. – Einer der beiden Hammel C.s wird beim Untergang eines Piratenschiffs gerettet.
  2. Kap. Martin und C philosophieren.
  3. Kap. Was Candide und Martin in Frankreich erlebten – ein Land von Verrückten (das Land Voltaires!); nebenbei bekommen Theater- und Kunstkritiker ein paar Seitenhiebe ab (S. 125 ff.). Martin vertritt das Gegenteil von P.s Lehre: „Ich finde im Gegenteil, daß bei uns alles verkehrt geht: kein Mensch ist sich über seinen Stand und seine Aufgabe im klaren“, die Zeit vergehe in Zänkereien usw. (S. 130).

Ein betrügerischer Abbé schreibt einen fingierten Liebesbrief der K und knöpft C Geld ab, worauf sich viele in Paris verstehen. Unsere beiden Freunde stechen in See.

  1. Kap. Zwischenlandung in England, wo kurzerhand ein Admiral erschossen wird. Sie reisen nach Venedig weiter, um Cacambo mit K zu finden.
  2. Kap. Sie finden die beiden jedoch nicht. Nur in Eldorado ist die Welt gut, stellt Martin fest. – Sie treffen die verliebt mit einem Mönch turtelnde Paquette, die als Nutte in Wahrheit unglücklich ist.
  3. Kap. Besuch beim Edelmann Poccurante, der zwar die besten Kunstwerke der Welt besitzt, aber an allen viel zu kritisieren hat. [Parallele zum 22. Kap.]

Objektive Ironie: C hält den Edelmann für großartig, für einen überlegenen Geist: „Nichts vermag ihm zu gefallen.“ (S. 156) Doch ist Poccurante nicht allem überlegen, wie C meint, sondern unglücklich, wie Martin es sieht.

  1. Kap. C speist in Gesellschaft von sechs absetzten Königen, worunter einer Sultan war. Cacambo, jetzt Sklave des Sultans, taucht auf – die Erzählung beginnt sich zu runden, von nun an tauchen die alten Figuren wieder auf: Er weist C in die Türkei, wo K als Sklavin lebt.
  2. Kap. Darauf neigt C wieder zu P.s Lehre. Cacambo erzählt seine Geschichte und wird freigekauft. C trifft P. und K.s Bruder, die als Galeerensklaven auf dem Schiff arbeiten, wieder. Er kauft sie frei, sie brechen zu K auf.
  3. Kap. Die Freigekauften erzählen ihre Geschichten; für P als Philosophen ist es „unmöglich, meine Worte zu widerrufen, um so weniger, als Leibniz ja nicht unrecht haben kann und es im übrigen nichts Schöneres auf der Welt gibt als die prästabilierte Harmonie, den erfüllten Raum und die immaterielle Substanz“ (S. 174).
  4. Kap. Man trifft die furchtbar hässlich gewordene K und kauft sie mitsamt der Alten los. K drängt aufs Heiraten; ihr Bruder widersetzt sich dem, weil die Kinder nicht in ein deutsches Ordensstift eintreten dürften.
  5. Kap. Nur der Widerstand des Bruders reizt C, K zu heiraten; der Bruder wird zwangsweise zu den Jesuiten zurückgeschickt. – C hat am Ende von seinem Reichtum nur eine kleine Meierei und eine hässliche und zänkische Frau. Die klugen Köpfe disputieren oder langweilen sich. Paquette und der Mönch treffen bettelarm bei ihnen ein.

P, C und M treffen einen alten freundlichen Mann (S. 182 ff., womit das Geschehen den entscheidenden Dreh zum Abschluss bekommt), der sich nicht um Konstantinopel und die Ermordung von Wesiren kümmert. Er lädt sie zu sich ein und bewirtet sie köstlich. Er bebaut mit seinen Kindern 20 Morgen Land: „Die Arbeit hält drei große Übel von uns fern: die Langeweile, das Laster und die Not.“ (S. 183) Nach dem Besuch beim alten Türken schwadroniert P wieder, aber C und M wollen im Garten arbeiten, „ohne viel zu grübeln, das ist das einzige Mittel, um das Leben erträglich zu machen“, sagt M (S. 184). So arbeitet denn jeder in der Gemeinschaft an seiner Stelle; und als P seine alten Theorien erneut vorträgt, antwortet C: „Sehr richtig, aber wir müssen unsern Garten bestellen.“ (S. 184)

Figuren, Thema und Konstruktion des Romans „Candide oder Der Optimismus“

Der Held des Romans ist Candide. Er kehrt sich von der These des Optimismus ab, dass wir in der besten aller Welten bzw. in einer von Gott „gut“ geschaffenen Welt leben. Sein Gegenspieler ist Pangloss, der in ihm diesen naiven Glauben durch schlaue Worte bestärkt.

Candide entwickelt sich von einem naiven „Jüngling“ zu einem vernünftigen Mann, der auf leere Spekulationen verzichtet und seiner Arbeit nachgeht. Die Stufen der Entwicklung sind diese:

* Glaube an des Pangloss Lehre;

* Zweifel an dieser Lehre [hier findet jedoch keine „Entwicklung“ statt, sondern es wird nur eine Position bezweifelt; die erzählten Ereignisse haben ihren Wert eher als Anlass zur Kirchen- und Sozialkritik!];

* Einsicht in die Möglichkeit guten Lebens, vermittelt durch das Beispiel des alten Türken.

Gleichwohl bzw. deshalb haben wir keinen Entwicklungsroman vor uns:

* Die Figuren sind bloße Träger von antimetaphysischen Schicksalen und Vertreter von Ideen; sie haben kein Eigenleben als Charaktere.

* An ihnen wird vorgeführt, wie unsinnig des Pangloss Lehre (und die europäische Sozialordnung) ist.

* Der Gegenspieler Candides ist weniger der Schwätzer Pangloss als seine eigene Naivität. Für diese Naivität steht schon das westfälische Schloss Thunder ten Tronck – welche ein Name! – der Arsch der Welt. (Martin ist philosophisch ein Gegner des Pangloss, aber sie produzieren nur Theorien bzw. Ideologie.)

* Die Einsicht Candides ist nicht Ergebnis einer Reifung, sondern eher zufällig, nämlich an einem Beispiel gewonnen: Der Roman hätte auch mit Kap. 20 enden können – nur das 30. Kapitel wäre noch nötig, um das Geschehen abzuschließen.

Der Erzähler ist die interessanteste „Figur“: Er erzählt zu Beginn (ironisch) im Sinn der Lehre des Pangloss, kann aber auch Candide offen die Auffassung Voltaires vertreten lassen (z.B. Definition des Optimismus, S. 105). Wir haben also quasi einen ironisch-auktorialen Erzähler vor uns.

Die Zeit als Dauer der Ereignisse spielt keine Rolle, sie ist nicht greifbar; das trägt zur rasanten Abfolge der Ereignisse bei, die jede Ordnung vermissen lassen. Von den Orten sind vielleicht vier von Bedeutung: Westfalen als tiefste Provinz und Ort des naiv-weltfernen Optimismus Leibniz’scher Prägung, das ferne Südamerika als „Ort“ des utopischen Eldorado, das heimische Frankreich als Land der Betrüger und die fremde Türkei als Land, wo ein Mann (vermutlich ein Moslem) durch sein Beispiel Candide zur Einsicht verhilft (evtl. noch Europa/Südamerika als Schauplatz unchristlichen Treibens).

Eldorado als Gegenbild zeigt einmal, wie unsinnig des Pangloss Lehre in unserer Welt ist, dient aber auch zur Kritik an den christlichen Kirchen und den Machtverhältnissen in der ganzen Welt. Die Kritik an Königen, Geschäftsleuten und „Christen“ taucht bereits im 1. Kap. auf [nur Leute mit 72 Ahnen heiraten dürfen, wobei 72 ohnehin eine unsinnige Zahl von Vorfahren ist, weil die bei strenger Blaublütigkeit im Verfahren des Verdoppelns gezählt werden müssten: 64 wäre eine richtige Vorfahrenzahl; oder im Verfahren 2(n + 2n + 4n usw.)], im 2. Kap. (was Könige veranstalten lassen), im 3. Kap. (wie hartherzig Pfarrer trotz frommer Worte sind) und durchzieht, ja bestimmt das ganze Buch – vielleicht dient sogar des Pangloss Lehre hauptsächlich dazu, die Folie von Voltaires Kritik zu sein; denn philosophisch ist jene bereits mit dem 2. Kapitel erledigt, wenn sie denn überhaupt das 1. Kapitel übersteht.

Außerdem möchte ich noch einige Links zum Verständnis des Romans nennen:

Zur Bedeutung des Erdbebens von Lissabon (1755): http://www.scienzz.de/magazin/art10100.html

Zur logischen Bewertung des „Candide“ ein Auszug aus Schleicherts Buch „Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren“ (Text aus dem Internet, daher ohne Seitenangaben):

„Im Argument ad lapidem wird eine handfeste triviale Tatsache angeführt, durch welche eine subtile, theoretische Argumentation widerlegt werden soll, ohne im einzelnen auf deren eventuell raffinierte Gedankenführung einzugehen. Es macht den Reiz dieser Figur aus, daß nicht ohne weiteres zu entscheiden ist, ob sie überzeugend sein wird oder nicht.

Ein geistesgeschichtlich berühmtes Beispiel ist Voltaires philosophischer Roman Candide, der sich in satirischer Form gegen Leibnizens These richtet, diese unsere Welt mitsamt ihrem ganzen Elend sei die beste aller möglichen. Leibniz hatte das Problem der Theodizee – wir sind ihm ja schon begegnet – dadurch gelöst, daß er philosophisch nachwies, eine bessere Welt als diese, unsere, sei gar nicht möglich.
Anstatt aber auf Leibnizens tiefgründige Argumentation einzugehen, schildert Voltaire im Candide ein einzelnes menschliches Leben, das buchstäblich von einem Unglück ins nächste taumelt. In die Schilderung aller Leiden und Unglücksfälle dieses Lebens werden gelegentlich Kommentare im Stile der Leibniz’schen Philosophie eingeblendet. Voltaire erspart sich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Philosophie, er konfrontiert sie einfach mit der Realität, dies allerdings tut er drastisch.
Die Bewertung von Voltaires Argumentation hat immer geschwankt. Für deutsche Metaphysiker geht Voltaire an Leibnizens Argumenten vorbei, ohne deren Tiefgründigkeit zu begreifen. Voltaire, sagen seine Kritiker, sei seicht, Leibniz aber tief. Die Anhänger Voltaires andererseits meinen, der Roman Candide zeige ein für allemal die Lächerlichkeit der Leibnizschen »Theo-Philosophie«, an der nichts tief sei, außer ihrem Unsinn.“

Zum Theodizeeproblem: Die von Voltaire bekämpfte bzw. verspottete Philosophie Leibniz‘ wollte (u.a.) das Theodizee-Problem lösen: Wie kann ein guter und allmächtiger Gott die vielen Übel in der Welt zulassen? Vgl. dazu http://www.dober.de/religionskritik/leibniztheodizee.html bzw. als größere Darstellung http://www.gkpn.de/theodizee.html; Voltaires Lösung am Schluss des Romans läuft darauf hinaus, solche dummen Grundsatzfragen nicht mehr zu stellen.

P.S. Zur logischen Bewertung des „Candide“ ein Auszug aus Schleicherts Buch „Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren“ (Text aus dem Internet, daher ohne Seitenangaben):

„Im Argument ad lapidem wird eine handfeste triviale Tatsache angeführt, durch welche eine subtile, theoretische Argumentation widerlegt werden soll, ohne im einzelnen auf deren eventuell raffinierte Gedankenführung einzugehen. Es macht den Reiz dieser Figur aus, daß nicht ohne weiteres zu entscheiden ist, ob sie überzeugend sein wird oder nicht.

Ein geistesgeschichtlich berühmtes Beispiel ist Voltaires philosophischer Roman Candide, der sich in satirischer Form gegen Leibnizens These richtet, diese unsere Welt mitsamt ihrem ganzen Elend sei die beste aller möglichen. Leibniz hatte das Problem der Theodizee – wir sind ihm ja schon begegnet – dadurch gelöst, daß er philosophisch nachwies, eine bessere Welt als diese, unsere, sei gar nicht möglich.
Anstatt aber auf Leibnizens tiefgründige Argumentation einzugehen, schildert Voltaire im Candide ein einzelnes menschliches Leben, das buchstäblich von einem Unglück ins nächste taumelt. In die Schilderung aller Leiden und Unglücksfälle dieses Lebens werden gelegentlich Kommentare im Stile der Leibnizschen Philosophie eingeblendet. Voltaire erspart sich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Philosophie, er konfrontiert sie einfach mit der Realität, dies allerdings tut er drastisch.
Die Bewertung von Voltaires Argumentation hat immer geschwankt. Für deutsche Metaphysiker geht Voltaire an Leibnizens Argumenten vorbei, ohne deren Tiefgründigkeit zu begreifen. Voltaire, sagen seine Kritiker, sei seicht, Leibniz aber tief. Die Anhänger Voltaires andererseits meinen, der Roman Candide zeige ein für allemal die Lächerlichkeit der Leibnizschen »Theo-Philosophie«, an der nichts tief sei, außer ihrem Unsinn.“

Siehe auch Brandes‘ Aufsatz über Voltaire, speziell den Candide: https://www.projekt-gutenberg.org/brandes/voltair2/chap006.html

Voltaires Roman reizt zur produktiven Auseinandersetzung. Ich kenne vier Beispiele:

Enzensbergers Gedicht „Candide“ (in: Verteidigung der Wölfe, 1957);

Y. Meyer: Ach, Egon, Egon, Egon. Ein Briefwechsel mit Monsieur de Voltaire anläßlich seines „Candide“ (in: Ein Schriftsteller schreibt ein Buch über einen Schriftsteller, der zwei Bücher über zwei Schriftsteller schreibt …, hrsg. von Gerhard Köpf, 1984, S. 147 ff.);

Volker Brauns Rede bei der Entgegennahme des Candide-Preises 2009: „Was Candide in seinem Garten widerfuhr“ (SZ 19. November 2009, S. 14).

Dazu kommt Bruno Preisendörfers Recycling: Candy oder Die unsichtbare Hand. Nach einer berühmten Vorlage des Herrn von Voltaire erzählt und auf den Stand der Neuen Weltordnung gebracht. Illustriert von Wolfgang Würfel. Verlag Das Arsenal, Berlin 2012 (besprochen in der SZ vom 31.01.2012 von Lothar Müller).

In meiner Ausgabe von Elisabeth Frenzels „Motive der Weltliteratur“ fehlt ein Artikel „Candide“ – eine Lücke, finde ich.