Droste-Hülshoff: Mondesaufgang
An des Balkones Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich;
Hoch über mir, gleich trübem Eiskrystalle,
Zerschmolzen, schwamm des Firmamentes Halle,
Der See verschimmerte mit leisem Dehnen,
– Zerfloßne Perlen oder Wolkenthränen? –
Es rieselte, es dämmerte um mich,
Ich wartete, du mildes Licht, auf dich!
Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm,
Tief unter mir Gezweige, Ast und Stamm,
Im Laube summte der Phalänen Reigen,
Die Feuerfliege sah ich glimmend steigen;
Und Blüthen taumelten wie halb entschlafen;
Mir war, als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid,
Und Bildern seliger Vergangenheit.
Das Dunkel stieg, die Schatten drangen ein, –
Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein! –
Sie drangen ein, wie sündige Gedanken,
Des Firmamentes Woge schien zu schwanken,
Verzittert war der Feuerfliege Funken,
Längst die Phaläne an den Grund gesunken,
Nur Bergeshäupter standen hart und nah,
Ein finstrer Richterkreis, im Düster da.
Und Zweige zischelten an meinem Fuß
Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß,
Ein Summen stieg im weiten Wasserthale
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale;
Mir war, als müsse etwas Rechnung geben,
Als stehe zagend ein verlornes Leben,
Als stehe ein verkümmert Herz allein,
Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein.
Da auf die Wellen sank ein Silberflor,
Und langsam steigst du, frommes Licht, empor;
Der Alpen finstre Stirnen strichst du leise,
Und aus den Richtern wurden sanfte Greise,
Der Wellen Zucken ward ein lächelnd Winken,
An jedem Zweige sah ich Tropfen blinken,
Und jeder Tropfen schien ein Kämmerlein,
Drin flimmerte der Heimathlampe Schein.
O, Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Des Lebens zarten Widerschein geschlungen,
Bist keine Sonne, die entzückt und blendet,
In Feuerströmen lebt, in Blute endet –
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o ein mildes Licht!
Erläuterungen im Droste-Portal:
Phalänen/Phaläne] Spanner aus der Schmetterlingsfamilie der Phalaenidae.
Verzittert] verzittern: hier: „von optischen erscheinungen ‚zitternd verzucken, verblassen‘“ (Grimm, Deutsches Wörterbuch).
Silberflor] Flor: zartes Gewebe, Schleier.
(https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/gedichte-1844-1848/mondesaufgang/ Text und Erläuterungen)
Dieses Gedicht wurde für den geplanten Musenalmanach für 1845 (Schücking/Geibel) geschrieben. Ein lyrisches Ich erzählt zunächst, wie es darauf wartete, dass der Mond aufging, und was es dabei erlebte (Str. 1-4); dann erzählt es, wie der Mond aufging (5). In (6) wendet es sich an den Mond persönlich (wie bereits in V. 2, V. 8 und V. 18) und bekennt ihm, was er mit seinem milden Licht für das Ich bedeutet: Sein milder Schein rettet das Ich aus den Gefährdungen der Finsternis. (Str. 1-4, Gefährdung in Str. 3 f.)
Um ein Gesamtbild des ersten Teils (Str. 1-4) zu gewinnen, soll im Einzelnen untersucht werden, wo das Ich ist, was es tut, was es sieht, was es hört und wie ihm zumute ist. Das Ich steht auf einem Balkon (V. 1) und wartet auf den Mondesaufgang (Überschrift); der Balkon ist hoch angebracht, in Höhe der Lindenbäume (V. 9 f.). Zweimal erwähnt das Ich, dass es wartete (V. 2, V. 8). Es sieht den trüben Himmel (V. 3 f.) und einen matt schimmernden See (V. 5 f., ein Wassertal wird nur erwähnt, V. 27) und in der Ferne Berge (V. 23, die Alpen, V. 35), die ihm nah sind – das imaginierte oder gesehene Bild lässt an einen Standpunkt auf der Meersburg am Bodensee denken. Es sieht die Dämmerung (V. 7), die Feuerfliegen (V. 12), Blüten (V. 13), wachsende Dunkelheit (V. 17), Schatten (V. 17), verschwimmenden Himmel (V. 20), düstere Berge (V. 23 f.) – während des Wartens wird es dunkler, was als bedrohlich erlebt wird (und worauf gleich eingegangen wird), so dass es sich mit der bangen Frage an den Mond wendet: „Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein?“ (V. 18) Auch bei dem, was es hört, geht eine Veränderung vor: Der See dehnt sich leise (V. 5 – darunter kann ich mir nichts vorstellen), es rieselt (V. 7), Schmetterlinge summen (V. 11); dann zischeln Zweige bedrohlich (V. 25), ein gefährliches Summen ertönt (V. 27).
Die Dämmerung (Str. 1 und 2) zeigt sich im Attribut „trübe“ (V. 3), im Partizp „zerschmolzen“ (V. 4), in den Verben „verschimmern“ (V. 5, plus Adverb „leise“) und „dämmern“ (V. 7), im Glimmen der Fliegen (V. 12); sie wird eher als anheimelnd, das steigende Dunkel (V. 17) als bedrohlich erlebt (Str. 3 und 4): Schatten dringen ein (V. 17), so dass der Mond bang als Retter gefragt wird (V. 18) und das Ich sich vor Gericht gestellt sieht (ab V. 24).
Der Schnitt zwischen den Strophen (2) und (3) ist deutlich: Zuerst fragte das Ich, so erzählt es, ganz unbefangen: „Ich wartete, du mildes Licht, auf dich.“ (V. 8, vgl. V. 2). Ihm war dabei, „als treibe hier ein Herz zum Hafen“ (V. 14). Der Hafen ist das Ziel der Reise, hier der Lebensreise (vgl. Eichendorff: Der Einsiedler); dass es sich um die Lebensreise handelt, ergibt sich auch aus der Parallele am Ende von (4), wo eine Gerichtssituation erlebt wird: das Totengericht (V. 29-32). In der Dämmerung ist das Herz „übervoll von Glück und Leid“ und „Bildern seliger Vergangenheit“ (V. 15 f.). Das alles ist im irrealen Vergleich gesagt: „Mir war, als“ ob…. (V. 14) – das Ich erlebt also im Warten auf den Mond eine Art Rückblick am Ende eines gelungenen Lebens. Mit steigender Dunkelheit ändert sich das: Die eindringenden (Gefahr!) Schatten kommen „wie sündige Gedanken“ (V. 19); dieser Vergleich weist das Ich resp. die Droste als sehr katholisch aus – gegen sündige Gedanken kann man sich nicht wehren. Das Firmament selbst scheint zu schwanken (V. 20), wie beim Weltende; die Berge werden bedrohlich als „hart und nah“ (V. 23) erlebt, werden in der Apposition als „finstrer Richterkreis“ (V. 24) bezeichnet. Damit klingt das Thema von (4) an: das Gericht.
Das Zischeln der Zweige ist wie ein Todesgruß, ein Summen wie Gemurmel vor dem Tribunal (V. 25 f.), in zwei Vergleichen wird das Gericht am Lebensende vorgestellt. Wie dem Ich dabei im Gegensatz zu seinem Befinden in der Dämmerung (V. 14 ff.) zumute ist, wird im zweiten Teil von (4) wieder in einem irrealen Vergleich berichtet: „als müsse etwas Rechnung geben“ (V. 29), so ist dem Ich jetzt zumute; vorbereitet wird dieses Gefühl durch den Eindruck der Berge als „Richterkreis“ (V. 24). Es fällt auf, dass „etwas“ statt Ich als Subjekt genannt wird; das Etwas wird als „ein verlorenes Leben“ und „ein verkümmert Herz“ qualifiziert (V. 30 f.) – ein Gegensatz zu dem vorhin genannten glücklichen Herzen (V. 15 f.). Das Attribut „verloren“ neben dem Adverbial „zagend“ (V. 30), das Attribut „verkümmert“ (V. 31) und das Satzadjektiv „einsam“ (V. 32) markieren den bedrückten Zustand des Herzens, das dem „etwas“ (V. 29) entspricht. Das Herz steht hier für die Gesamtheit des Ichs, während Ich nur das momentan erlebende Subjekt ist, wogegen dem Herzen auch die ganze Vergangenheit des Ichs zugerechnet wird (vgl. V. 15 f.; V. 30: verlorenes Leben, V. 32: Schuld). Worin die Schuld besteht, wird nicht gesagt; sie besteht jedenfalls nicht in den sündigen Gedanken, die ja nur vergleichsweise genannt waren (V. 19), sondern in der unabwendbar aufgeladenen Schuld eines ganzen Lebens. Wesentlich ist, dass das Ich allein seinen Richtern gegenübersteht (V. 31), dass es dort einsam ist (V. 32), dass nur Volksgemurmel von Zuschauern imaginiert (V. 28, Vergleich) und Warnung oder Todesgruß der Zweige erlebt werden (V. 25 f.). Der im Vergleich genannte „Todesgruß“ (V. 26) deutet an, dass die Gerichtsszene das Totengericht am Ende des Lebens ist; dass die Blüten „wie halb entschlafen“ (V. 13) taumeln, meint zunächst das abendliche Schlafen (s. V. 21 f.), weist untergründig aber schon auf den Todesschlaf hin. Mit einem betonten „Da“ (V. 33) ändert sich die Situation schlagartig.
Betrachten wir an dieser Stelle die Form des Gedichts, das aus sechs Strophen zu acht Versen besteht, die jeweils fünf Jamben aufweisen und in Paarreimen miteinander verbunden sind. Jeweils der dritte bis sechste Vers weisen eine Silbe zusätzlich auf (weibliche Kadenz), wodurch die mittleren Verspaare sich von den umschließenden abgrenzen. Wegen des Satzbaus können die Verspaare meistens sinnvolle Reime aufweisen; denn je zwei Verse bilden meistens einen Satz oder zumindest einen einzigen Gedanken (V. 1 f.: was ich tat; V. 3 f.: das Firmament; V. 5 f.: ich und du; usw.; Ausnahmen sind V. 13 f.; V. 19 f. und V. 29 f.). Nur selten wird die erste Silbe gegen den Takt betont (V. 3, 9, 10 als Kontrast zu 9, 22, 32), wodurch das ruhige Erzählen etwas lebhafter wird; echte Enjambements findet man selten, in den ersten vier Strophen nur in V. 1 und V. 27. Auf die Wortfelder des Dämmerns, der Dunkelheit und des Gefährdenden ist bereits hingewiesen worden. Welchen Eindruck die umgebende Natur auf das empfindende Ich macht, wird in zahlreichen Vergleichen beschrieben (V. 3, 6, 14, 19, 20, 24, 26, 28, 29), die grammatisch nicht immer die Form des Vergleichs haben.
„Da“ ging der Mond auf (V. 33 f.), erzählt das Ich, in der Situation höchster Gefahr (V. 25 ff.); es wechselt in seiner Erleichterung ins Präsens (steigst, V. 34), als es das Licht gewahrte: Silberflor (V. 33), frommes Licht“ (V. 34) – „fromm“ im Sinn von gut, zahm (vs. drohende Dunkelheit). Wie durch das Erscheinen des Lichts die Bedrohung verschwand und alles sich änderte, berichtet das Ich erleichtert (V. 35-40): die Berge, die Wellen, die blinkenden Tropfen; diesem Blinken verdankt das Ich es, dass es „der Heimathlampe Schein“ (V. 40) zu sehen meint, wie es vergleichsweise sagt (schien, V. 39). Mond, das ist Licht, das ist Heimat, auch in der Dunkelheit der Nacht. – Hier sei auf die Bedeutung des Lichts in zwei anderen Gedichten der Droste hingewiesen: In „Im Moose“ ist von „der Heimat Licht“ und „meiner Schlummerlampe Schein“ die Rede; in „Der Knabe im Moor“ sieht das Kind im Augenblick der Rettung ein Licht, „[d]ie Lampe flimmert so heimatlich“. Dass Licht in einer noch nicht elektrisch erleuchteten Welt Zeichen der Rettung war, ist allen Kulturen gemeinsam.
Die letzte Strophe hebt sich von den vorhergehenden ab: Das Ich erzählt nicht mehr, sondern zieht in der persönlichen Anrede an den Mond („O Mond“, V. 41) quasi das Fazit seines Erlebens, welches nur sein altes Verhältnis zum Mond („du mildes Licht“, V. 2 und V. 8; „mein milder Schein“, V. 18) bestätigt. Es bekennt sich zu ihm, indem es in drei Anläufen sagt, was der Mond ihm ist: wie ein später Freund, keine gefährliche Sonne, ein mildes Licht (V. 41 ff.). Zunächst wird der Mond im Vergleich ein später junger Freund eines alten Menschen genannt (V. 41 f.); im Relativsatz (V. 42-44) werden die Qualitäten des Freundes aufgezählt, er beschenkt den Verarmten mit seiner Jugend und hat so um dessen sterbende Erinnerungen „[d]es Lebens zarten Widerschein geschlungen“ – hier kommen die Kontraste jung-alt und Leben-Sterben zum Tragen. Wieso der Mond jung ist, bleibt offen: Er ist es einfach als den alten Menschen belebend; sein Scheinen ist „Widerschein“ des Lebens (V. 44); es kommt mir vor, als sei der junge Freund Mond der Ersatz für den „untreu“ gewordenen Levin Schücking (wenn man das Gedicht als Äußerung der Droste lesen will, Schücking war 17 Jahre jünger als sie). Das zweite Attribut des Mondes besteht darin, nicht Sonne zu sein, die zwar entzückt (V. 45), aber tödlich wirkt (V. 45 f.), wogegen des Mondes mildes Scheinen steht. Das dritte Attribut ist in sich zwiespältig: Das Gedicht des kranken Sängers dient diesem sicher zum Trost (V. 47); dazu passt das Prädikat „ein mildes Licht“, aber nicht dessen Attribut „fremd“ (V. 48). Dieses Attribut muss aus der Parallele zum Gedicht des Sängers gelöst und rein auf den Mond als solchen bezogen werden, auch wenn es damit im Widerstreit mit der Tatsache steht, dass der Mond wie ein Freund ist (V. 41). Dass der Mond als „mildes Licht“ angesprochen wird, steht am Anfang (V. 2) und am Ende (V. 48) des Gedichts und rahmt so die Erzählung ein. Was zur Form von (1)-(4) gesagt wurde, gilt auch für die Strophen (5) und (6); hier bilden alle Doppelverse eine semantische Einheit.
Wenn ich das Gedicht der Droste lese, muss ich an Goethes Gedicht „An den Mond“ (1775) denken: „Füllest wieder Busch und Tal/ Still mit Nebelglanz / Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz.“ Es ist in beiden Gedichten das gleiche Lösen der Seele, was im Mondschein erlebt wird, nur dass die Droste von der vorhergehenden Beklemmung erzählt, während bei Goethe das Lösen entfaltet wird. In der Romantik ist der Mond ein viel beachtetes und intensiv erlebtes Objekt (Eichendorff: Mondnacht; Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes); wir können dieses Gedicht der Droste getrost zur Romantik zählen.
https://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_motiv/deu_lit_motiv_3_2.htm (Lichtsymbolik)
https://www.mdr.de/kultur/wgt/wgt-mond-kulturgeschichte-100.html (Faszination Mond)
https://de.wikipedia.org/wiki/Caspar_David_Friedrich#/media/Datei:Caspar_David_Friedrich_-_Zwei_M%C3%A4nner_in_Betrachtung_des_Mondes.jpg (C. D. Friedrich: Zwei Männer…)
http://www.schneid9.de/literatur/mondesaufgang.html (gelehrte Analyse, die ich nachträglich gefunden habe; Schneider beschreibt den Aufbau rein inhaltlich und fasst Str. 5 und 6 zusammen; wenn man sich wie ich am sprachlichen Handeln orientiert, muss die Haupteinteilung Str. 1-5 / Str. 6 sein; innerhalb der ersten fünf Strophen passt dann Schneiders inhaltliches Schema)