Droste-Hülshoff: Mondesaufgang – Text und Analyse

Droste-Hülshoff: Mondesaufgang

An des Balkones Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich;
Hoch über mir, gleich trübem Eiskrystalle,
Zerschmolzen, schwamm des Firmamentes Halle,
Der See verschimmerte mit leisem Dehnen,
– Zerfloßne Perlen oder Wolkenthränen? –
Es rieselte, es dämmerte um mich,
Ich wartete, du mildes Licht, auf dich!

Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm,
Tief unter mir Gezweige, Ast und Stamm,
Im Laube summte der Phalänen Reigen,
Die Feuerfliege sah ich glimmend steigen;
Und Blüthen taumelten wie halb entschlafen;
Mir war, als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid,
Und Bildern seliger Vergangenheit.

Das Dunkel stieg, die Schatten drangen ein, –
Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein! –
Sie drangen ein, wie sündige Gedanken,
Des Firmamentes Woge schien zu schwanken,
Verzittert war der Feuerfliege Funken,
Längst die Phaläne an den Grund gesunken,
Nur Bergeshäupter standen hart und nah,
Ein finstrer Richterkreis, im Düster da.

Und Zweige zischelten an meinem Fuß
Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß,
Ein Summen stieg im weiten Wasserthale
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale;
Mir war, als müsse etwas Rechnung geben,
Als stehe zagend ein verlornes Leben,
Als stehe ein verkümmert Herz allein,
Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein.

Da auf die Wellen sank ein Silberflor,
Und langsam steigst du, frommes Licht, empor;
Der Alpen finstre Stirnen strichst du leise,
Und aus den Richtern wurden sanfte Greise,
Der Wellen Zucken ward ein lächelnd Winken,
An jedem Zweige sah ich Tropfen blinken,
Und jeder Tropfen schien ein Kämmerlein,
Drin flimmerte der Heimathlampe Schein.

O, Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Des Lebens zarten Widerschein geschlungen,
Bist keine Sonne, die entzückt und blendet,
In Feuerströmen lebt, in Blute endet –
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o ein mildes Licht!

Erläuterungen im Droste-Portal:

Phalänen/Phaläne] Spanner aus der Schmetterlingsfamilie der Phalaenidae.

Verzittert] verzittern: hier: „von optischen erscheinungen ‚zitternd verzucken, verblassen‘“ (Grimm, Deutsches Wörterbuch).

Silberflor] Flor: zartes Gewebe, Schleier.

(https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/gedichte-1844-1848/mondesaufgang/ Text und Erläuterungen)

Dieses Gedicht wurde für den geplanten Musenalmanach für 1845 (Schücking/Geibel) geschrieben. Ein lyrisches Ich erzählt zunächst, wie es darauf wartete, dass der Mond aufging, und was es dabei erlebte (Str. 1-4); dann erzählt es, wie der Mond aufging (5). In (6) wendet es sich an den Mond persönlich (wie bereits in V. 2, V. 8 und V. 18) und bekennt ihm, was er mit seinem milden Licht für das Ich bedeutet: Sein milder Schein rettet das Ich aus den Gefährdungen der Finsternis. (Str. 1-4, Gefährdung in Str. 3 f.)

Um ein Gesamtbild des ersten Teils (Str. 1-4) zu gewinnen, soll im Einzelnen untersucht werden, wo das Ich ist, was es tut, was es sieht, was es hört und wie ihm zumute ist. Das Ich steht auf einem Balkon (V. 1) und wartet auf den Mondesaufgang (Überschrift); der Balkon ist hoch angebracht, in Höhe der Lindenbäume (V. 9 f.). Zweimal erwähnt das Ich, dass es wartete (V. 2, V. 8). Es sieht den trüben Himmel (V. 3 f.) und einen matt schimmernden See (V. 5 f., ein Wassertal wird nur erwähnt, V. 27) und in der Ferne Berge (V. 23, die Alpen, V. 35), die ihm nah sind – das imaginierte oder gesehene Bild lässt an einen Standpunkt auf der Meersburg am Bodensee denken. Es sieht die Dämmerung (V. 7), die Feuerfliegen (V. 12), Blüten (V. 13), wachsende Dunkelheit (V. 17), Schatten (V. 17), verschwimmenden Himmel (V. 20), düstere Berge (V. 23 f.) – während des Wartens wird es dunkler, was als bedrohlich erlebt wird (und worauf gleich eingegangen wird), so dass es sich mit der bangen Frage an den Mond wendet: „Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein?“ (V. 18) Auch bei dem, was es hört, geht eine Veränderung vor: Der See dehnt sich leise (V. 5 – darunter kann ich mir nichts vorstellen), es rieselt (V. 7), Schmetterlinge summen (V. 11); dann zischeln Zweige bedrohlich (V. 25), ein gefährliches Summen ertönt (V. 27).

Die Dämmerung (Str. 1 und 2) zeigt sich im Attribut „trübe“ (V. 3), im Partizp „zerschmolzen“ (V. 4), in den Verben „verschimmern“ (V. 5, plus Adverb „leise“) und „dämmern“ (V. 7), im Glimmen der Fliegen (V. 12); sie wird eher als anheimelnd, das steigende Dunkel (V. 17) als bedrohlich erlebt (Str. 3 und 4): Schatten dringen ein (V. 17), so dass der Mond bang als Retter gefragt wird (V. 18) und das Ich sich vor Gericht gestellt sieht (ab V. 24).

Der Schnitt zwischen den Strophen (2) und (3) ist deutlich: Zuerst fragte das Ich, so erzählt es, ganz unbefangen: „Ich wartete, du mildes Licht, auf dich.“ (V. 8, vgl. V. 2). Ihm war dabei, „als treibe hier ein Herz zum Hafen“ (V. 14). Der Hafen ist das Ziel der Reise, hier der Lebensreise (vgl. Eichendorff: Der Einsiedler); dass es sich um die Lebensreise handelt, ergibt sich auch aus der Parallele am Ende von (4), wo eine Gerichtssituation erlebt wird: das Totengericht (V. 29-32). In der Dämmerung ist das Herz „übervoll von Glück und Leid“ und „Bildern seliger Vergangenheit“ (V. 15 f.). Das alles ist im irrealen Vergleich gesagt: „Mir war, als“ ob…. (V. 14) – das Ich erlebt also im Warten auf den Mond eine Art Rückblick am Ende eines gelungenen Lebens. Mit steigender Dunkelheit ändert sich das: Die eindringenden (Gefahr!) Schatten kommen „wie sündige Gedanken“ (V. 19); dieser Vergleich weist das Ich resp. die Droste als sehr katholisch aus – gegen sündige Gedanken kann man sich nicht wehren. Das Firmament selbst scheint zu schwanken (V. 20), wie beim Weltende; die Berge werden bedrohlich als „hart und nah“ (V. 23) erlebt, werden in der Apposition als „finstrer Richterkreis“ (V. 24) bezeichnet. Damit klingt das Thema von (4) an: das Gericht.

Das Zischeln der Zweige ist wie ein Todesgruß, ein Summen wie Gemurmel vor dem Tribunal (V. 25 f.), in zwei Vergleichen wird das Gericht am Lebensende vorgestellt. Wie dem Ich dabei im Gegensatz zu seinem Befinden in der Dämmerung (V. 14 ff.) zumute ist, wird im zweiten Teil von (4) wieder in einem irrealen Vergleich berichtet: „als müsse etwas Rechnung geben“ (V. 29), so ist dem Ich jetzt zumute; vorbereitet wird dieses Gefühl durch den Eindruck der Berge als „Richterkreis“ (V. 24). Es fällt auf, dass „etwas“ statt Ich als Subjekt genannt wird; das Etwas wird als „ein verlorenes Leben“ und „ein verkümmert Herz“ qualifiziert (V. 30 f.) – ein Gegensatz zu dem vorhin genannten glücklichen Herzen (V. 15 f.). Das Attribut „verloren“ neben dem Adverbial „zagend“ (V. 30), das Attribut „verkümmert“ (V. 31) und das Satzadjektiv „einsam“ (V. 32) markieren den bedrückten Zustand des Herzens, das dem „etwas“ (V. 29) entspricht. Das Herz steht hier für die Gesamtheit des Ichs, während Ich nur das momentan erlebende Subjekt ist, wogegen dem Herzen auch die ganze Vergangenheit des Ichs zugerechnet wird (vgl. V. 15 f.; V. 30: verlorenes Leben, V. 32: Schuld). Worin die Schuld besteht, wird nicht gesagt; sie besteht jedenfalls nicht in den sündigen Gedanken, die ja nur vergleichsweise genannt waren (V. 19), sondern in der unabwendbar aufgeladenen Schuld eines ganzen Lebens. Wesentlich ist, dass das Ich allein seinen Richtern gegenübersteht (V. 31), dass es dort einsam ist (V. 32), dass nur Volksgemurmel von Zuschauern imaginiert (V. 28, Vergleich) und Warnung oder Todesgruß der Zweige erlebt werden (V. 25 f.). Der im Vergleich genannte „Todesgruß“ (V. 26) deutet an, dass die Gerichtsszene das Totengericht am Ende des Lebens ist; dass die Blüten „wie halb entschlafen“ (V. 13) taumeln, meint zunächst das abendliche Schlafen (s. V. 21 f.), weist untergründig aber schon auf den Todesschlaf hin. Mit einem betonten „Da“ (V. 33) ändert sich die Situation schlagartig.

Betrachten wir an dieser Stelle die Form des Gedichts, das aus sechs Strophen zu acht Versen besteht, die jeweils fünf Jamben aufweisen und in Paarreimen miteinander verbunden sind. Jeweils der dritte bis sechste Vers weisen eine Silbe zusätzlich auf (weibliche Kadenz), wodurch die mittleren Verspaare sich von den umschließenden abgrenzen. Wegen des Satzbaus können die Verspaare meistens sinnvolle Reime aufweisen; denn je zwei Verse bilden meistens einen Satz oder zumindest einen einzigen Gedanken (V. 1 f.: was ich tat; V. 3 f.: das Firmament; V. 5 f.: ich und du; usw.; Ausnahmen sind V. 13 f.; V. 19 f. und V. 29 f.). Nur selten wird die erste Silbe gegen den Takt betont (V. 3, 9, 10 als Kontrast zu 9, 22, 32), wodurch das ruhige Erzählen etwas lebhafter wird; echte Enjambements findet man selten, in den ersten vier Strophen nur in V. 1 und V. 27. Auf die Wortfelder des Dämmerns, der Dunkelheit und des Gefährdenden ist bereits hingewiesen worden. Welchen Eindruck die umgebende Natur auf das empfindende Ich macht, wird in zahlreichen Vergleichen beschrieben (V. 3, 6, 14, 19, 20, 24, 26, 28, 29), die grammatisch nicht immer die Form des Vergleichs haben.

Da“ ging der Mond auf (V. 33 f.), erzählt das Ich, in der Situation höchster Gefahr (V. 25 ff.); es wechselt in seiner Erleichterung ins Präsens (steigst, V. 34), als es das Licht gewahrte: Silberflor (V. 33), frommes Licht“ (V. 34) – „fromm“ im Sinn von gut, zahm (vs. drohende Dunkelheit). Wie durch das Erscheinen des Lichts die Bedrohung verschwand und alles sich änderte, berichtet das Ich erleichtert (V. 35-40): die Berge, die Wellen, die blinkenden Tropfen; diesem Blinken verdankt das Ich es, dass es „der Heimathlampe Schein“ (V. 40) zu sehen meint, wie es vergleichsweise sagt (schien, V. 39). Mond, das ist Licht, das ist Heimat, auch in der Dunkelheit der Nacht. – Hier sei auf die Bedeutung des Lichts in zwei anderen Gedichten der Droste hingewiesen: In „Im Moose“ ist von „der Heimat Licht“ und „meiner Schlummerlampe Schein“ die Rede; in „Der Knabe im Moor“ sieht das Kind im Augenblick der Rettung ein Licht, „[d]ie Lampe flimmert so heimatlich“. Dass Licht in einer noch nicht elektrisch erleuchteten Welt Zeichen der Rettung war, ist allen Kulturen gemeinsam.

Die letzte Strophe hebt sich von den vorhergehenden ab: Das Ich erzählt nicht mehr, sondern zieht in der persönlichen Anrede an den Mond („O Mond“, V. 41) quasi das Fazit seines Erlebens, welches nur sein altes Verhältnis zum Mond („du mildes Licht“, V. 2 und V. 8; „mein milder Schein“, V. 18) bestätigt. Es bekennt sich zu ihm, indem es in drei Anläufen sagt, was der Mond ihm ist: wie ein später Freund, keine gefährliche Sonne, ein mildes Licht (V. 41 ff.). Zunächst wird der Mond im Vergleich ein später junger Freund eines alten Menschen genannt (V. 41 f.); im Relativsatz (V. 42-44) werden die Qualitäten des Freundes aufgezählt, er beschenkt den Verarmten mit seiner Jugend und hat so um dessen sterbende Erinnerungen „[d]es Lebens zarten Widerschein geschlungen“ – hier kommen die Kontraste jung-alt und Leben-Sterben zum Tragen. Wieso der Mond jung ist, bleibt offen: Er ist es einfach als den alten Menschen belebend; sein Scheinen ist „Widerschein“ des Lebens (V. 44); es kommt mir vor, als sei der junge Freund Mond der Ersatz für den „untreu“ gewordenen Levin Schücking (wenn man das Gedicht als Äußerung der Droste lesen will, Schücking war 17 Jahre jünger als sie). Das zweite Attribut des Mondes besteht darin, nicht Sonne zu sein, die zwar entzückt (V. 45), aber tödlich wirkt (V. 45 f.), wogegen des Mondes mildes Scheinen steht. Das dritte Attribut ist in sich zwiespältig: Das Gedicht des kranken Sängers dient diesem sicher zum Trost (V. 47); dazu passt das Prädikat „ein mildes Licht“, aber nicht dessen Attribut „fremd“ (V. 48). Dieses Attribut muss aus der Parallele zum Gedicht des Sängers gelöst und rein auf den Mond als solchen bezogen werden, auch wenn es damit im Widerstreit mit der Tatsache steht, dass der Mond wie ein Freund ist (V. 41). Dass der Mond als „mildes Licht“ angesprochen wird, steht am Anfang (V. 2) und am Ende (V. 48) des Gedichts und rahmt so die Erzählung ein. Was zur Form von (1)-(4) gesagt wurde, gilt auch für die Strophen (5) und (6); hier bilden alle Doppelverse eine semantische Einheit.

Wenn ich das Gedicht der Droste lese, muss ich an Goethes Gedicht „An den Mond“ (1775) denken: „Füllest wieder Busch und Tal/ Still mit Nebelglanz / Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz.“ Es ist in beiden Gedichten das gleiche Lösen der Seele, was im Mondschein erlebt wird, nur dass die Droste von der vorhergehenden Beklemmung erzählt, während bei Goethe das Lösen entfaltet wird. In der Romantik ist der Mond ein viel beachtetes und intensiv erlebtes Objekt (Eichendorff: Mondnacht; Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes); wir können dieses Gedicht der Droste getrost zur Romantik zählen.

https://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_motiv/deu_lit_motiv_3_2.htm (Lichtsymbolik)

https://www.mdr.de/kultur/wgt/wgt-mond-kulturgeschichte-100.html (Faszination Mond)

https://de.wikipedia.org/wiki/Caspar_David_Friedrich#/media/Datei:Caspar_David_Friedrich_-_Zwei_M%C3%A4nner_in_Betrachtung_des_Mondes.jpg (C. D. Friedrich: Zwei Männer…)

http://www.schneid9.de/literatur/mondesaufgang.html (gelehrte Analyse, die ich nachträglich gefunden habe; Schneider beschreibt den Aufbau rein inhaltlich und fasst Str. 5 und 6 zusammen; wenn man sich wie ich am sprachlichen Handeln orientiert, muss die Haupteinteilung Str. 1-5 / Str. 6 sein; innerhalb der ersten fünf Strophen passt dann Schneiders inhaltliches Schema)

Droste-Hülshoff: An Levin Schücking – Text und Analyse

An*** Kein Wort, und wär’ es scharf wie Stahles Klinge

Kein Wort, und wär’ es scharf wie Stahles Klinge,
Soll trennen, was in tausend Fäden Eins,
So mächtig kein Gedanke, daß er dringe
Vergällend in den Becher reinen Weins;
Das Leben ist so kurz, das Glück so selten,
So großes Kleinod, einmal sein statt gelten!

Hat das Geschick uns, wie in frevlem Witze,
Auf feindlich starre Pole gleich erhöht,
So wisse, dort, dort auf der Scheidung Spitze
Herrscht, König über Alle, der Magnet,
Nicht frägt er ob ihn Fels und Strom gefährde,
Ein Stral fährt mitten er durchs Herz der Erde.

Blick’ in mein Auge – ist es nicht das deine,
Ist nicht mein Zürnen selber deinem gleich?
Du lächelst – und dein Lächeln ist das meine,
An gleicher Lust und gleichem Sinnen reich;
Worüber alle Lippen freundlich scherzen,
Wir fühlen heilger es im eignen Herzen.

Pollux und Castor, – wechselnd Glühn und Bleichen,
Des Einen Licht geraubt dem Andern nur,
Und doch der allerfrömmsten Treue Zeichen. –
So reiche mir die Hand, mein Dioskur!
Und mag erneuern sich die holde Mythe,
Wo überm Helm die Zwillingsflamme glühte.

(Text und Erläuterungen: https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/ausgabe-1844/gedichte-vermischten-inhalts/kein-wort-und-war-es-scharf-wie-stahles-klinge/)

Normalerweise werden die drei Sterne in der Überschrift heute durch den Namen Levin Schücking ersetzt. Schücking, 1814 in Meppen geboren, studierte Jura und kam 1837 nach Münster; in der sogenannten Heckenschriftsteller-Gesellschaft verkehrte er unter anderem mit der 17 Jahre älteren A. von Droste-Hülshoff. Er gab bald die Juristerei auf, wandte sich ganz der Literatur zu und wurde dabei von der Droste gefördert. Ab 1838 war er der enge Vertraute der Droste; die gegenseitige Sympathie wuchs und war so groß, dass er sie 1839-1841 wöchentlich besuchte. 1841 wurde er durch ihre Vermittlung Bibliothekar bei deren Schwager, dem Freiherrn von Laßberg, auf Schloss Meersburg am Bodensee; er vermittelte seinerseits den Abdruck von „Die Judenbuche“ in Cottas „Morgenblatt für gebildete Leser“ (1842), wofür sie ein ordentliches Honorar bekam. 1842/43 arbeitete er als Prinzenerzieher, ehe er 1843 Redakteur der Allgemeinen Zeitung in Augsburg wurde. 1843 heiratete er die Schriftstellerin Louise von Gall, wodurch die persönlichen Beziehungen zur Droste deutlich eingeschränkt wurden. Heute liest man „An Levin Schücking“ als persönliches Bekenntnis der Droste; bei der Veröffentlichung 1844 konnte das Gedicht wegen *** noch als bloß fiktives Rollengedicht verstanden werden.

Ein lyrisches Ich wendet sich an ein geliebtes Du und fleht es an, trotz großer Differenzen die Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. In der ersten Strophe äußert es beschwörend seinen Wunsch, dass die Gemeinschaft fortbestehen soll. In Strophe (2) und (3) wird von ihm begründet, wieso diese Gemeinschaft in Wahrheit doch bestehe. Den Schluss bildet seine Bitte, diese Gemeinsamkeit auch im Zeichen des Händedrucks zu bestätigen.

Mit dem betonten Pronomen „Kein“ trägt das Ich seinen Wunsch (soll trennen, Modalverb) vor, dass die vielfach bestehende Verbindung nicht aufgelöst werde (V. 1 f.). Der Bezug auf ein möglicherweise trennendes Wort ist hier ganz allgemein gehalten, mag sich im Leben der Droste auf eine bestimmte Auseinandersetzung beziehen. Gegen ein trennendes Wort werden die „tausend Fäden“ aufgeboten, die man eben nicht durch Worte abschneiden kann; das Bild der Fäden wird im Vergleich „wie Stahles Klinge“ aufgenommen – die Klinge könnte die Fäden durchschneiden, aber ein selbst überaus scharfes Wort nicht, sagt, genauer: fordert das Ich („soll“, V. 1). Diese Forderung wird in V. 3 f. in einem neuen Bild wiederholt; zu ergänzen ist „sei“ in V. 3 (der Konjunktiv „Dringe“, V. 3, erfordert auch im Hauptsatz einen Konjunktiv und schließt damit „ist“ aus). Hier wird die Einheit im Bild eines Bechers reinen Weins vorgestellt, der durch einen überaus mächtigen Gedanken bitter werden könnte, aber eben nicht soll (zweites „kein“, V. 3). Dieses Bild ist schräg: dass ein Wort reinen Wein trüben oder beschädigen könnte. In den beiden nächsten Versen begründet das Ich seinen Wunsch, dass die Gemeinschaft weiterhin bestehen möge: In dieser Gemeinschaft kann es bzw. können beide „sein statt gelten“.

Woher diese Gegenüberstellung „sein – gelten“ stammt, weiß ich nicht; ich finde sie schon bei Lessing in seinem Gedicht „Ich“ (1752). Schopenhauer hat in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ (1844) den Unterschied folgendermaßen umschrieben: Er sagt, „daß was den Unterschied im Loose der Sterblichen begründet sich auf drei Grundbestimmungen zurückführen läßt. Sie sind:

1) Was Einer ist: also die Persönlichkeit, im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.

2) Was Einer hat: also Eigenthum und Besitz in jeglichem Sinne.

3) Was Einer vorstellt: unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung Anderer ist, also eigentlich wie er von ihnen vorgestellt wird. Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.“
Schopenhauer führt das im Folgenden dann breiter aus. Für uns genügt die Einsicht, dass mit „sein“ das bezeichnet wird, was einer wirklich ist, und mit „gelten“ das, was andere sich unter ihm vorstellen. Das lyrische Ich schätzt es offenbar hoch ein, in Gemeinschaft mit dem Du es selber sein zu können („einmal sein statt gelten“, V. 6), statt ständig darauf bedacht sein zu müssen, was die anderen wohl von ihm halten. Diese Möglichkeit sei ein „großes Kleinod“ (V. 6), ein seltenes Glück (V. 5), das man unbedingt festhalten müsse, weil das Leben ja so kurz ist und demgemäß dieses Glück selten geschenkt wird. Ich lese also die Verse 5 f. so: Das Leben ist kurz – [darum] das Glück ist selten – [Parenthese:] es ist ein großes Kleinod – [Attribut zu „Glück“:] einmal sein statt gelten.

Die sechs Verse der ersten Strophe bestehen aus fünfhebigen Jamben; je zwei Verse bilden eine semantische Einheit. Die ersten vier Verse sind im Kreuzreim, die beiden letzten im Paarreim miteinander verbunden. V. 1 und V. 3 weisen eine Silbe zusätzlich aus (weibliche Kadenz), wodurch die Verse 2 und 4 stärker durch eine Pause beendet werden (Einheit der Verse 1 f. und 3 f.). Von den Reimen passen nur V. 5 f. semantisch: „sein statt gelten“ ist der Inhalt des seltenen Glücks.

Es folgt in (2) eine erklärende Begründung, wieso trotz aller Spannungen zwischen den beiden eine Einheit besteht. Diese Begründung erfolgt im Bild des Magneten und seiner beiden Pole (ich halte den Hinweis zu V. 10 auf den Mesmerismus für falsch): Die feindlich starren Pole sind der Plus- und der Minuspol, die zusammen („auf der Scheidung Spitze“, V. 9) den Magnet ausmachen. Der sei „König über Alle“ Gegensätze (V. 10) und damit auch über die durch „das Geschick“ herbeigeführte Spannung zwischen den beiden (V. 7 f.); die Droste mag dabei an Schückings Hinwendung zu einer anderen Frau denken. Die Entscheidung des Schicksals wird im Vergleich als frevler Witz (Einfall) bezeichnet; „frevel“, ein veraltetes Adjektiv, ist so viel wie frech, ruchlos, verbrecherisch; es steht für die Sicht des lyrischen Ichs. Die Kraft des Magneten, also den Grund seines Königtums, erklärt das Ich in V. 11 f.: Er fährt (als Achse)„durchs Herz der Erde“ und erscheint dann als magnetischer Nord- und Südpol, und keine Naturgewalt kann ihn aufhalten (V. 9). „Ein Stral“ ist „wie ein Strahl“ oder „als ein Strahl“ zu lesen. Für die Form von Strophe (2) gilt das Gleiche wie für (1), nur dass hier V. 11/12 parallele Aussagen sind.

In (3) wird erneut begründet, dass die alte Gemeinschaft eigentlich fortbesteht. Mit dem betonten Imperativ „Blick’“ wird in einer rhetorischen Frage die Gleichheit von Auge und Zürnen der beiden unterstellt, also von Aussehen und Gemüt; ebenso sei das Lächeln in Lust und Sinnen gleich, behauptet das Ich (V. 15 f.), wobei „Sinnen“ wohl die Gedanken sind, über die man lächelt. In den beiden letzten Versen wird geheimnisvoll auf eine Gleichheit des Fühlens verwiesen, wobei es vermutlich um die Liebe geht; dabei besteht die Gemeinsamkeit darin, dass „[w]ir“ (V. 18) – im Gegensatz zu allen anderen, welche nur freundlich scherzen (V. 17) – es heiliger „im eignen Herzen“ fühlen (V. 18; noch stärker als der Komparativ „heilger“ wäre die Grundstufe „heilig“, welche die Grenze gegen die anderen noch stärker zieht). Auch diese auszeichnende Gemeinsamkeit bestätigt in der Sicht des Ich, dass die alte Gemeinschaft fortbesteht. Den gleichen Gedanken wie in V. 17 f. finden wir bereits in Goethes Gedicht „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“, das aber nicht veröffentlich war. Die reimenden Verse 17/18 sind also im Kontrast verbunden, während die Reime in V. 13/15 und V. 14/16 die Gleichheit der beiden betonen.

r das Verständnis der letzten Strophe muss man ein wenig ausholen und mit der griechischen Mythologie beginnen. Dort sind Kastor und Polydeukes, lateinisch Castor und Pollux, Brüder, von verschiedenen Vätern gezeugt und am gleichen Tag von der gleichen Mutter geboren, die einfach unzertrennlich waren; ursprünglich galt Zeus als Vater beider Jungen, daher „Dioskuren“, nach der späteren Sage war er nur Vater des Polydeukes, der daher unsterblich war, aber aus Liebe zu seinem gefallenen Bruder auf dieses Vorrecht verzichtete. Dioskuren ist aber auch der Name eines Sternbildes, der Zwillinge, worin ein Stern ein veränderlicher Stern ist, dessen Helligkeit sich unregelmäßig verändert; auf das Sternbild wird in V. 19 f. angespielt, wobei das „wechselnd Glühn und Bleichen“ die Unregelmäßigkeiten des einen Sterns überzeichnet und auf beide ausdehnt. Diese hier unterstellte Wechselseitigkeit wird vom lyrischen Ich als „der allerfrömmsten Treue Zeichen“ gedeutet (V. 21), da kein Stern dem anderen dauernd etwas wegnehme; „fromm“ (V. 21) wird hier altertümlich als brav, artig verstanden. Was das Ich von Pollux und Castor gesagt hat, wird als wahre Prämisse vorausgesetzt, auf die sich nun die abschließende Bitte stützt: „So reiche mir die Hand, mein Dioskur!“ (V. 22) Damit werden Ich und Du als Dioskuren verstanden, die so unzertrennlich sind wie die Sterne und die Brüder des antiken Mythos, worin das Recht begründet ist, trotz aller Gegensätze (V. 8 f.) um das Zeichen der Versöhnung zu bitten: Reiche mir die Hand. Es folgt eine abschließende Bitte, die auf Erneuerung der alten Freundschaft zielt (V. 23 f.); den Inhalt der alten Mythe, die hier allegorisch herangezogen wird, kann ich nicht klären: Was wird in der alten Mythe genau erzählt? Was für eine Mythe ist das? Klar ist nur, dass die Zwillingsflamme die Einheit zweier Flammen meint. Ob es sich dabei, wie im Droste-Portal vorgeschlagen, um das Elmsfeuer handelt, weiß ich nicht – dazu passt der Helm nicht (V. 24), welcher in der holden Mythe einen Platz haben müsste. Im Herder-Conversations-Lexikon von 1854 finden wir den Hinweis, dass das Elmsfeuer „den Alten als Zeichen des Schutzes der Dioskuren“ galt, welche als Helfer in vielen Notlagen angerufen wurden. „Zwillingsflamme“ ist ein Neologismus der Droste, den man in alten Wörterbüchern nicht findet; in der heutigen Esoterik dient er zur Bezeichnung des seelenverwandten Geliebten – eine Vorstellung, die eben auch in Goethes Gedicht „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“ vorliegt. Durch „So“ (V. 22) wird die Bitte als logische Folge der Tatsache hingestellt, dass Ich und Du Pollux und Castor sind, deren vorbildliche Treue (V. 21) sich auch in der Situation der höchsten Spannung bewähren soll. Im Reim passen V. 19/21 (Phänomen/Deutung) und V. 23/24 (Mythe/Inhalt) zusammen.

Ergebnis: Wir haben ein Liebesgedicht vor uns, in dem ein verstoßenes Ich sein Herz offenlegt und, gestützt auf Bilder und Analogien, dem Du erklärt, dass trotz größter Differenzen die alte Verbundenheit in Wahrheit noch besteht – und fleht, dass sie wieder hergestellt werde.

https://www.droste-portal.lwl.org/de/biographie/lebenslauf/ (Biografie der Droste)

https://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/neunzehntes/fruehromantik/droste/start.htm (dito)

https://cedires.com/wp-content/uploads/2019/11/Schopenhauer_Arthur_Parerga-und-Paralipomena_full-text-but-modern-typeface.pdf (Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit)

https://imperium-romanum.info/wiki/index.php?title=Dioskuren (Dioskuren)

https://de.wikipedia.org/wiki/Zwillinge_(Sternbild) (Sternbild Zwillinge)

https://www.wetter.de/cms/wetterlexikon-sankt-elms-feuer-2400204.html (Elmsfeuer)

http://www.zeno.org/Herder-1854/A/Elmsfeuer?hl=elmsfeuer (Elmsfeuer, 1854)

http://www.zeno.org/Pierer-1857/A/Elmsfeuer,+St.?hl=elmsfeuer (Elmsfeuer, 1857)

https://www.mumag.de/gedichte/les_ge.html (Lessing: Ich)

https://gedichte.xbib.de/Goethe_gedicht_Warum+gabst+du+uns+die+tiefen+Blicke.htm (Goethe: Warum gabst du uns die tiefen Blicke, 1776)

Droste-Hülshoff: Im Moose – Text und Analyse

Droste-Hülshoff: Im Moose

Als jüngst die Nacht dem sonnenmüden Land
Der Dämmrung leise Boten hat gesandt,
Da lag ich einsam noch in Waldes Moose.
Die dunklen Zweige nickten so vertraut,
An meiner Wange flüsterte das Kraut,
Unsichtbar duftete die Heiderose.

Und flimmern sah ich durch der Linde Raum
Ein mattes Licht, das im Gezweig der Baum
Gleich einem mächt’gen Glühwurm schien zu tragen,
Es sah so dämmernd wie ein Traumgesicht,
Doch wußte ich, es war der Heimat Licht,
In meiner eignen Kammer angeschlagen.

Ringsum so still, daß ich vernahm im Laub
Der Raupe Nagen, und wie grüner Staub
Mich leise wirbelnd Blätterflöckchen trafen.
Ich lag und dachte, ach, so manchem nach,
Ich hörte meines eignen Herzens Schlag,
Fast war es mir, als sei ich schon entschlafen.

Gedanken tauchten aus Gedanken auf,
Das Kinderspiel, der frischen Jahre Lauf,
Gesichter, die mir lange fremd geworden;
Vergeßne Töne summten um mein Ohr,
Und endlich trat die Gegenwart hervor,
Da stand die Welle, wie an Ufers Borden.

Dann, gleich dem Bronnen, der verrinnt im Schlund
Und drüben wieder sprudelt aus dem Grund,
So stand ich plötzlich in der Zukunft Lande;
Ich sah mich selber, gar gebückt und klein,
Geschwächten Auges, am ererbten Schrein
Sorgfältig ordnen staub’ge Liebespfande.

Die Bilder meiner Lieben sah ich klar,
In einer Tracht, die jetzt veraltet war,
Mich sorgsam lösen aus verblichnen Hüllen,
Löckchen, vermorscht, zu Staub zerfallen schier,
Sah über die gefurchte Wange mir
Langsam herab die karge Träne quillen.

Und wieder an des Friedhofs Monument,
Dran Namen standen, die mein Lieben kennt,
Da lag ich betend, mit gebrochnen Knieen,
Und — horch, die Wachtel schlug! Kühl strich der Hauch —
Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch,
Mich leise in der Erde Poren ziehen.

Ich fuhr empor und schüttelte mich dann,
Wie einer, der dem Scheintod erst entrann,
Und taumelte entlang die dunklen Hage,
Noch immer zweifelnd, ob der Stern am Rain
Sei wirklich meiner Schlummerlampe Schein,
Oder das ew’ge Licht am Sarkophage.

Die Überschrift „Im Moose“ gibt an, wo das erzählte Geschehen sich abspielt: Kürzlich lag das lyrische Ich in der Abenddämmerung im Moos des Waldes und hing seinen Gedanken nach. Das Ich ist weder als Frau noch als Mann zu erkennen – die maskuline Form beim Vergleich „wie einer…“ (V. 44) besagt nichts über das Geschlecht der sprechenden Figur, da vermutlich ein generisches Maskulinum vorliegt.

Das 1842 entstandene Gedicht ist folgendermaßen aufgebaut: In den ersten sieben Strophen wird erzählt, wie das Ich im Moos lag und was es dabei erlebte; in der letzten Strophe wird berichtet, wie es aufsprang und wie ihm dabei zumute war. Der erste Teil ist noch einmal unterteilt: In Strophe (1)-(3) wird erzählt, wie das Ich da lag, was es dabei wahrnahm und tat; in Str. (4)-(7) berichtet es von den Gedanken, die ihm dabei durch den Kopf gingen: Gedanken an seinen Lebensgang, vor allem an das künftige Altern und Sterben. Was wird erzählt? In der vordergründig heimeligen Situation, wo das Ich in der Dämmerung im Moos liegt, begegnet es in Gedanken seinem Altern und seinem Tod; es springt entsetzt und noch benommen auf und taumelt davon.

Die Situation der Dämmerung (V. 2) wird in den drei ersten Strophen dynamisch gesehen; das Land ist sonnenmüde (V. 1, ein Neologismus), die Nacht hat schon ihre Boten gesandt: die Dämmerung (V. 1 f.) – die Nacht zieht sozusagen die Zeit oder den Sonnentag zu sich heran. Die Attribute der Dämmerung selbst verraten das nicht (dunkle Zweige, V. 4; mattes Licht, V. 8; dämmernd, V. 10); aber im Vergleich „dämmernd wie ein Traumgesicht“ ist schon die Nacht mit dem Schlaf präsent, ebenso im irrealen Vergleich „als sei ich schon entschlafen“ (V. 18). Das Partizip „entschlafen“ meint hier zunächst „eingeschlafen“, lässt aber mit dem Unterton „gestorben“ schon die Todesbilder von (7) anklingen: Die Parallele ‚Übergang der Natur zur Nacht // Übergang des Ichs zum Tod‘ ist an dieser Stelle direkt greifbar, beherrscht sonst untergründig das erzählte Geschehen. Zu dieser Parallele gehören auch die Personifikationen der Natur: Die Nacht sendet Boten (V. 1 f.); die Zweige nicken (V. 4); das Kraut flüstert (V. 5); (indirekt) das Licht als der Heimat Licht (V. 11), also als Schlummerlampe (V. 47): Teil dieser dämmernden Natur, die der Nacht entgegenstrebt, ist das Ich, das im Geist seiner Nacht, seinem Tod entgegensieht und -geht (7). Auch ist das Ich nicht vom Reden und Lärmen der Menschen umgeben, sondern von der Stille der Natur (flüstern, V. 5; still, V. 13; leise, V. 15; der Herzschlag ist zu hören, V. 17). Viertens weiß das Ich, dass das matt durch die Bäume scheinende Licht „der Heimat Licht“ (V. 11) ist, die Lampe des eigenen Zimmers – Signal der Einheit von Natur und Ich.

Was die Flora in (1) und (2) angeht, bin ich unsicher; ich halte die Heiderose (V. 6) für kein Waldgewächs und die Linde (V. 7) für keinen Waldbaum, lasse mich aber gern eines Besseren belehren; in Jüchen stehen Linden auf dem aufgegebenen Judenfriedhof.

Die Form der Strophen ist durchweg die gleiche: Sechs Verse aus fünfhebigen Jamben machen eine Strophe aus; das Reimschema ist a-a-b-c-c-b, wobei die b-Verse eine Silbe zusätzlich haben (weibliche Kadenz), während die anderen Verse eine männliche Kadenz aufweisen und so nicht nur durch den Reim zusammengehören. Jeweils drei Verse bilden einen Satz bzw. eine semantische Einheit. In (1)-(3) ist das offensichtlich, in den anderen Strophen (v.a. in den drei letzten) wäre das nachzuweisen; nur in (6) bildet die ganze Strophe diese semantische Einheit. Die Reime dienen durchweg nur dem Wohlklang: Die Verse mit den b-Reimen sind weit voneinander entfernt, bei den anderen Reimen stellen die beiden Verse manchmal Parallelen dar (V. 4/5; 16/17), manchmal geht der zweite Vers grammatisch direkt in den b-Vers über (V. 8 f.; 11 f.; 14 f.) – das Bild von Reim, Sinn und Satz ist also nicht einheitlich. Der Jambus dient dem ruhigen Erzählen, die weiblichen Kadenzen markieren zusätzlich zum Satzbau eine Pause.

Ich lag und dachte, ach, so manchem nach…“ (V. 16); mit diesem Vers wird der Raum für verschiedene Gedanken eröffnet. Die Interjektion „ach“ zeigt an, wie das Ich von seinem Gedankenspiel bewegt wird. „Ach“ ist „der natürliche Ausdruck nicht nur aller Leidenschaften, mit allen ihren Schattirungen, sondern auch aller Gemüthsbewegungen und lebhaften Vorstellungen überhaupt“ (Adelung), hier am ehesten Ausdruck der Wehmut, da das Ich zunächst auf seine Vergangenheit zurückblickt (V. 20 ff.). Die „Gedanken“ (V. 19), von denen das Ich berichtet, sind Bilder; dreimal erwähnt das Ich, dass es etwas „sah“ (V. 28, 31, 35); ein Gedanke ergibt sich aus dem anderen (V. 19), ein Bild folgt auf das nächste, sogar „[v]ergessne Töne“ kann das Ich wieder hören (V. 22). Drei Verse sind den Erinnerungen gewidmet, zwei der Gegenwart (V. 23 f., eigentlich sogar nur V. 23), die aber nur pauschal genannt wird und eher zur Zukunft überleitet (V. 25 ff.), der viel Platz in den Gedanken eingeräumt wird. Das Bild der Gegenwart in V. 24 muss noch gedeutet werden: Welche Welle stand da? Ich denke an Goethes Gedicht „Dauer im Wechsel“ (1804) und nehme an, dass auch die Droste das Gedicht und das Bild der rollenden Welle kannte: „Und was sich an jener Stelle / Nun mit deinem Namen nennt, / Kam herbei wie eine Welle / Und so eilt’s zum Element.“ (V. 29-32) Die Gegenwart ist dann der Moment, wo die Welle stillzustehen scheint , „wie an Ufers Borden“; dieser Vergleich ist nicht ganz gelungen, da die Wellen ja am Ufer entlang ziehen (oder dagegen schlagen, jedenfalls nicht stehen bleiben).

Mit einem eigenwilligen Vergleich leitet das Ich dann zu den Bildern seiner Zukunft über; Gegenwart und Zukunft sind dem Ich zwei getrennte Größen, die unterirdisch miteinander verbunden sind wie zwei Brunnen mittels einer kommunizierenden Röhre (oder wie die Donau bei ihrem zeitweiligen Verschwinden, s. Artikel „Donauversinkung“ in Wikipedia). Durch dieses Bild wird erklärt, wieso das Ich „plötzlich“ (V. 27) sich in der Zukunft sah. Die erste Situation, in der das Ich sich erblickte, ist die eines alten Menschen, der „staub’ge Liebespfande“ im Schrank oder auf einem Bord ordnet (V. 28-30), der Bilder seiner Lieben zur Betrachtung aus ihren Hüllen herausnimmt (V. 31-33), auch beinahe verrottete Löckchen (V. 34), und der darüber vor Rührung weinen muss (V. 35 f.) – der Zustand der Locken („zu Staub zerfallen schier“, V. 34), die zudem Locken einer verstorbenen Person sind, führt dem Ich den Weg aller Lebenden vor Augen und berührt es so, dass es weinen muss. Die Merkmale des Alters sind vielfältig: gebückt und klein (V. 28), geschwächtes Auge (V. 29), gefurchte Wange (V. 35), karge Träne (V. 36). Diese Todesnähe wird in der folgenden Strophe in zwei weiteren Bildern realisiert: Das Ich sah sich am Familiengrab knien oder liegen (V. 37-39) und dann sich selber als verwesende Leiche (V. 40-42). Von den Lieben sind nur noch die Namen übrig (V. 38), nur im Gebet gibt es noch eine Verbindung zu ihnen (V.39); dass das Ich am Grab „lag“, gar „mit gebrochnen Knieen“ (V. 39), durch diese Tatsache rückt es selber in die Nähe des Todes. Im letzten Bild (V. 40-42) sah das Ich dann sein Auflösung in der Erde, von deren Poren es aufgesogen wird (V. 41 f.), weil es zu ihr gehört; im Vergleich „gleich einem Rauch“ (V. 41) ist ihm schon alle Substanz entzogen, ist es pure Vergänglichkeit wie der Rauch, der dahinzieht und verweht. Die einleitenden Signale sind der Ruf der Wachtel und ein kühler Hauch; ob die Wachtel über ihre pure Existenz als Vogel hinaus hier etwas zu bedeuten hat, kann ich nicht ausmachen, der kühle Hauch deutet die Nähe der (ewigen) Nacht an. Das Adverb „leise“ (V. 42) nimmt die Stille der Dämmerung in der Eingangssituation (3) auf, wo der Lärm des Tages und des Lebens längst verklungen ist.

Ich fuhr empor“ (V. 43), berichtet das Ich; dass es sich schüttelte, bezeugt sein Erschrecken – vor dem letzten Bild, muss man logisch ergänzen, und der Vergleich bestätigt das: „Wie einer, der dem Scheintod erst entrann“ (V. 44), den man also gerade begrub oder schon begraben hatte, der zumindest bereits herausgeputzt im Sarg lag und dessen inne wurde. Auch das Taumeln (V. 45) zeugt von dem Schrecken, der das Ich ergriffen hat. Das Bild des eigenen Todes war immer noch nicht verschwunden, ließ das Ich zumindest an der Bedeutung des Lichtscheins zweifeln: War der ein Zeichen des Lebens oder des Todes? (V. 46-48) – Der „Stern am Rain“ (V. 46) ist entweder das matte Licht (V. 8) der Ausgangssituation oder ein Stern als Licht der Nacht, die inzwischen hereingebrochen war; die Gleichsetzung mit „meiner Schlummerlampe Schein“ (V. 47, vgl. 11 f.) ist problematisch, weil die heimelige Situation „Im Moose“ durch den Schrecken und das Aufspringen vergangen ist und in V. 11 f. auch keine wirkliche Identität mit der Zimmerleuchte hergestellt wurde. So kann ich der Schlummerlampe Schein nur im Kontrast zum „ew’ge[n] Licht am Sarkophage“ (V. 48) verstehen: Licht als Anzeichen sicheren oder beendeten Lebens, worüber das Ich im Zweifel war.

Das Ich hat von diese ereignisarmen und doch so wichtigen Stunde ruhig erzählt; einige Taktstörungen am Versanfang, wo die erste Silbe statt der zweiten betont wird (V. 6, 9, 13, 18 u.a.), machen das Erzählen ein wenig lebhafter.

Es wäre interessant, dieses Gedicht mit „Im Grase“ (1844) zu vergleichen; auch dort spielt die Linde eine Rolle, in einer friedvollen Situation drängen sich Todesahnungen auf, doch zum Schluss wird das Leben stürmisch bejaht.

https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/ausgabe-1844/fels-wald-und-see/im-moose/ (ursprüngliche Textform 1842)

https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/gedichte-1844-1848/im-grase/ (Droste-Hülshoff: Im Grase, 1844)

https://www.uni-goettingen.de/de/symbolik-der-linde/41770.html (Symbolik der Linde)

https://www.lwf.bayern.de/wissenstransfer/forstliche-informationsarbeit/144564/index.php (dito)

L. Schücking: Lebenserinnerungen, Bd. 1 – gelesen

Auf Schückings „Lebenserinnerungen“ bin ich durch Zufall gestoßen, als ich die Autobiografie Gutzkows suchte. Heute habe ich den ersten Band der Lebenserinnerungen zu Ende gelesen: ein freundliches Buch, das mich in großen Teilen bezaubert hat. Besonders haben mir die beiden ersten Kapitel gefallen, „Die Knabenzeit“ im Emsland und „Jugendleben“. Schücking charakterisiert den damaligen Menschenschlag im Emsland anschaulich und verständlich: „Das Kind verlangt Antworten, und da die stumme Natur sie ihm nicht giebt, giebt es sie sich selbst. Liegt doch das ewige Räthsel in dieser Stummheit der Natur, die uns doch wieder mit einem so merkwürdigen beständigen Drange, uns etwas sagen zu wollen, gesellt scheint. (…) Wie aber sollte das Kind dieser stummen Schöpfung nicht eine Sprache unterlegen und sich wunderbare phantastische Dinge von ih[r] sagen lassen, das Kind, das noch unduldsam ist und sich empört gegen Räthsel und nicht die später sich einfindende Weisheit hat, Räthsel auf sich beruhen lassen zu können!“ So erklärt Schücking die emsländische Spökenkiekerei, und gleich darauf berichtet er von der stigmatisierten Nonne von Dülmen.

Ansonsten berichtet er von seinen ersten schriftstellerischen Versuchen, von seiner Tätigkeit als Hofmeister oder Bibliothekar und von der Begegnung mit vielen Zeitgenossen, wobei besonders Gutzkow, die Droste und Freiligrath herausstechen. Eine Zeit lang lebte er auf dem Schloss des Schwagers der Droste am Bodensee, dann in Ellingen, kam nach Augsburg, war öfter bei Freiligrath am Rhein; er charakterisiert seine Braut, das Leben in Darmstadt, den liebenswürdigen alten Kerner…

Lesenswert ist das Buch für Leute, die solche Figuren des 19. Jahrhunderts kennen und von ihnen als Menschen etwas erfahren möchten; und, wie gesagt, als Bericht über eine Kindheit und Jugend im frühen 19. Jahrhundert, deren Schönheiten und Fehler von den Reflexionen des alten Mannes kommentiert werden.

https://archive.org/details/3473971_1/page/n3/mode/2up Lebenserinnerungen. Erster Band, 1886.

https://de.wikipedia.org/wiki/Levin_Sch%C3%BCcking Levin Schücking

https://archive.org/details/3473971_2 Lebenserinnerungen, Bd. 2, 1886

https://archive.org/details/annettevondroste00schc/page/158/mode/2up Annette von Droste. Ein Lebensbild, 1871

https://archive.org/details/briefe00schgoog Briefwechsel mit der Droste, 1893

Droste-Hülshoff: Die Taxuswand – Analyse der Bilder und Metaphern

Ich stehe gern vor dir…

Text

http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Droste/Werk/Lyrik/Ausgabe_1844/taxuswand/index2_html

http://www.wortblume.de/dichterinnen/taxuswan.htm

http://www.wissen-im-netz.info/literatur/droste/gedichte/04.htm (dort das 9. Gedicht)

Das Gedicht ist 1842 erschienen (Brief der Droste an L. Schücking).

„Bereits um das Jahr 1819, so wird überliefert, hatte Annette ein Liebesverhältnis zu Heinrich Straube (1794 – 1847), Göttinger Student der Rechte, geboren in Kassel, [er] arbeitete später als kurfürstlich hessischer Prokurator und Oberappelationsrat in Kassel, und August von Arnswaldt (1798 – 1855), auch Student der Universität Göttingen, später mecklenburgisch königlich hannoverscher Legationsrat, Herr auf Hardenborstel und Hoja, sowie auf Gustaevel und Schönlage, dessen Vater Kurator der Universität war.

Er war mit den Gebrüdern Grimm befreundet. Von August von Arnswaldt wird berichtet, daß er literarisch sehr bewandert war, dass er aber auch von unerbittlicher, religiöser Strenge sein konnte, die ihn dann alle Poesie und Romantik verwerfen ließ.

Über die Ursachen des Scheiterns der Liebesaffären zwischen Heinrich Straube und Annette D. sowie das Liebesverhältnis zwischen August von Arnswaldt und Annette ist viel gerätselt und spekuliert worden. Fest steht, dass die Liebe zwischen Annette und Straube einer Familienintrige zum Opfer gefallen ist, inszeniert vor allem von der Tante Anna von Haxthausen, die vier Jahre jünger war als Annette und 1830 August von Arnswaldt heiratete. Fraglich sind allerdings die Gründe für die Intrige. (…)

Heinrich Straube und August von Arnswaldt gehörten beide dem Bökendorfer Kreis an und lernten hier Annette von Droste Hülshoff kennen. (…) Initiatoren, Träger und Mittelpunkt des „Bökendorfer Kreises“ waren zunächst die Brüder Werner und August von Haxthausen, aber auch deren Schwestern, vor allem Anna, die später August von Arnswaldt heiratete; Ludowine und Ferdinandine von Haxthausen gehörten zu diesem Kreis literarisch ambitionierter junger Leute. Sie beteiligten sich zusammen mit vielen Freunden und Bekannten der Familie an der Sammlung von Märchen, Sagen und literarischem Volksgut. Wilhelm Grimm kam erstmals 1811, sein Bruder Jakob 1846 nach Bökendorf. Am häufigsten war dort ihr Bruder, der Maler Ludwig Emil Grimm, zu Gast. Er hielt seine Eindrücke in zahlreichen Zeichnungen, Aquarellen und Karikaturen in Bild und Schrift fest.“ (http://www.arnswald.de/droste-huelshoff.html)

„1820 Die (freundschaftliche) Beziehung zu dem Göttinger Jura-Studenten Heinrich Straube nimmt auf dem Bökerhof nach einer Intrige ein abruptes und unglückliches Ende; diese ‚Jugendkatastrophe’ hat die 23jährige Droste in den Gedichten Die Taxuswand und Blumentod thematisiert.“ (http://www.droste-gesellschaft.de/cms/?navi=27, vgl. http://www.droste-forum.de/droste-galerie) Vgl. http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/annette-von-droste-huelshoff/gedichte-von-droste-huelshoff-mit-illustrationen-von-gerhard-wedepohl.html, dort auch Bild einer Taxuswand, welches aber m.E. dem Gedicht nicht gerecht wird – die Taxuswand muss die Bank verdecken.

Das Geschehen ist relativ einfach: Das lyrische Ich steht vor einer Taxushecke und spricht freudig sie an; dabei erinnert es sich daran, was ihm diese Hecke und das damit verbundene Liebeserleben einst bedeutet haben, als es jung war. Damit kontrastiert es seinen derzeitigen Zustand: „Nun aber bin ich matt“ (V. 41) und alt, die Liebe ist vorbei (V. 28), es möchte nur noch Ruhe haben.

Ich möchte hier lediglich die Bilder und Metaphern untersuchen, welche das lyrische Ich in der Auseinandersetzung mit der Taxushecke und seinen Erinnerungen verwendet; ich halte mich an die Textgestalt, wie sie der erste Link oben bietet.

„Fläche“ (V. 2) ist ein Bild, das noch sehr nah an der Wirklichkeit einer Hecke ist; „schartiges Visier“ ist ein kühneres Bild aus der Welt ritterlicher Bewaffnung – dass das Visier vor der „Brau[e]“ (V. 4) des Liebsten stand, verdankt sich dem Reim (zu „rauh“); angemessen wäre das Gesicht als der hinter dem Visier befindliche Körperteil.

Es folgt ein Vergleich der Taxushecke mit einem grundierten Tuch (V. 5), der sich durch das ganze Gedicht hinzieht (V. 5-8; V. 30; V.42). „Grundieren“: ‚den grund herstellen‘, besonders ‚den ersten anstrich (aus kreide, leim etc.), die untere farbschicht auftragen‘ (DWB). Auf dieser Grundierung ist dann als Bild der bleiche Krönungszug aufgetragen (V. 7 f.). „Bleich“ ist der Zug, weil er längst vergangen ist (vgl. „kalt“, V. 10; „alt“, V. 12; „fort“, V. 28; „damals“, V. 33). Das Bild des Krönungszugs wird ausgestaltet: Dem Ich gehörte damals die Krone (V. 9 f.), ihm wurde gesungen (V. 11 f.); auch der Vergleich des eigenen Rufs mit dem Hornstoß (V. 23 f.) gehört wohl in den Kontext des Krönungszugs. Das zweite Bild, mit dem die Bedeutung der Taxushecke erfasst wird, ist das vom „Vorhang am Heiligthume“ und vom „Paradiesesthor“ (V. 13 f.); das sind zwei unterschiedliche Bilder aus dem Bereich der Religion, welche die Abgrenzung des weltlichen Außen vom heiligen Innen markieren; diese Abgrenzung wird mit den Blumenbildern Dorn/Blume (V. 15 f.) aufgegriffen und in der 3. Strophe sachlich (grüne Gartenbank…) expliziert.

Das Bild vom Paradiestor ist recht konventionell; das Bild vom Tempelvorhang ist ungewöhnlich – es passt nicht zum Bild vom Krönungszug, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist der Krönungszug etwas Weltlich-Lautes, und zweitens gehört er deswegen vor und nicht hinter den Tempelvorhang. In der 3. Strophe wird das Geschehen hinter den Vorhang verlegt, während der Krönungszug auf dem grundierten Tuch nach der Bildlogik vor dem Vorhang sein müsste. Zu Deutsch: Das grundierte Tuch passt nicht zum Tempelvorhang; im Sinn der Bildlogik hätte die Droste sich etwas bescheidener fassen sollen. Das gilt auch für den Hornstoß (V. 24), der nicht in die reale Idylle der Gartenbank passt.

In der 4. Str. wird die Liebe als zartes „Epheureis“ bezeichnet (V. 25); das passte vielleicht zum Vorhang vor dem Heiligtum. Die Syntax von V. 25-27 verstehe ich nicht, die Längenangabe „Sechs Schritte“ (V. 27) ist vollends unverständlich.

V. 29 wendet das Ich sich von der Vergangenheit in die trübe Gegenwart; „schleichen“ verdankt sich (unpassend) wieder dem Reim, „achtzehn“ dem Rhythmus. „Lebensbuch“ ist ein traditionelles Bild, wozu „Jahre [aus dem Buch] streichen“ (V. 31) passt. Dass die Hecke der „Liebe Thron“ (V. 35) sei, führt zum Bild vom Krönungszug zurück, ist aber sachlich verfehlt: Auf die Taxushecke würde sich wohl niemand gern setzen. Die Bezeichnung „Wächter“ (V. 36) passt jedoch zur Funktion der Abschirmung der Bank vor neugierigen Blicken (vgl. V. 17 f.). Der Kontrast Schlaf/Wachen (V. 37 ff.) passt nicht ganz zum Liebeserleben; hier soll er jedoch vor allem zur Mattigkeit und dem Wunsch nach Ruhe (6. Str.) überleiten. Das Verb „vergleiten“ wird selten gebraucht: ausgleiten, dahingleiten (DWB). „Saum“ (V. 42) ist vom grundierten Tuch (V. 5) genommen; „vergleiten“ passt zum Blattvergleich (V. 43 f.), aber nicht recht zum Saum. Der Vergleich der Taxushecke mit einem Hafen (V. 45 f.) gelingt nicht ganz; hinter der Hecke könnte sich der Bereich der Ruhe eröffnen, aber die Taxushecke selbst erscheint mir nicht wie ein ruhiger Hafen – „Hafen“ verdankt sich dem Reimwort „schlafen“.

Überschaut man die Bilder und Metaphern des Gedichts, so stellt man zwei Schwächen fest: Es sind der Bilder zu viele, sie passen nicht immer zueinander. Zweitens verdanken sich manche nur dem Reim, was eigentlich ein Anfängerfehler ist – meine ich jedenfalls. Die Taxuswand anzusprechen und so die Erinnerung an die vergangene Liebe zu entwickeln, ist allerdings originell.

Eibe/Taxus

http://www.frost-burgwedel.de/index.php?seite=detail/taxus

https://de.wikipedia.org/wiki/Eiben

http://www.baumkunde.de/Taxus_baccata/

http://www.fug-verlag.de/on2314?bildanzeige=7765 (Taxushecke)

http://www.gartenratgeber.net/pflanzen/eiben-taxus-baccata.html (dito)

http://www.emsland.com/emsland/orte/soegel/detail-soegel/detail/klostergarten-clemenswerth.html (dito)

Sonstiges

http://www.nach100jahren.de/ueber-annette-von-droste/ (über die Droste – viele Materialien!)

http://www.deutsche-biographie.de/sfz45558.html (Biografie)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Droste-H%C3%BClshoff,+Annette+von (Leben und Werke der Droste)

http://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/neunzehntes/fruehromantik/droste/start.htm (Leben der Droste, mit Bildern und Gedichten)

http://de.wikipedia.org/wiki/Annette_von_Droste-H%C3%BClshoff (ähnlich)

http://www.der-schwache-glaube.de/?p=952 (dito)

http://www.schultreff.de/biographien/b0139t00.htm (dito, ohne Bilder)

http://www.grupello.de/dateien/C091.pdf („Zu früh, zu früh geboren“ Die Modernität der Droste)

https://archive.org/stream/dielyrikderannet00pfeiuoft/dielyrikderannet00pfeiuoft_djvu.txt (Die Lyrik der Droste – Diss. 1923)

http://www.gedichte.levrai.de/gedichte_von/droste_annette_von_droste_huelshoff.htm (Gedichte der Droste)

http://www.wissen-im-netz.info/literatur/droste/gedichte/index.htm (dito)

http://www.zgedichte.de/dichter_27.html (dito)

http://www.thokra.de/html/droste-hulshoff_5.html (dito)

http://www.dein-eigenes-gedicht.de/ausgewaehlte_gedichte/klassiker/droste.html (dito)

http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/annette-von-droste-huelshoff/gedichte-von-droste-huelshoff-mit-illustrationen-von-gerhard-wedepohl.html (Gedichte mit Illustrationen)

http://www.literaturportal-westfalen.de/main.php?id=00000157&author_id=00000080 (Droste im Literaturportal Westfalen)

http://www.xlibris.de/Epochen/Biedermeier (Epoche: Biedermeier)

http://blog.zeit.de/schueler/2012/02/17/thema-literatur-des-biedermeier-1815-1848/ (dito)

http://www.youtube.com/results?search_query=lyrik%20f%C3%BCr%20alle%20Folge%2049&sm=3 (Droste bei Lutz Görner: Lyrik für alle, bis Folge 53!)

Droste-Hülshoff: Am Turme – Analyse

Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm…

Text

http://www.poemswithoutfrontiers.com/Am_Turme.html (mit engl. Übersetzung)

http://www.g.eversberg.eu/DUpdf/FrauenLyrik.pdf (dort das 2. Gedicht, mit Erläuterungen)

http://bdsae.org/annette-von-droste-hulshoff-arno-thaller/ (mit Parodie plus Erläuterungen dazu)

http://www.poezio.net/version?poem-id=543&version-id=1089,1090 (mit Übersetzung in Esperanto)

Das Gedicht, 1842 entstanden, ist recht einfach zu verstehen: Eine Frau spricht als lyrisches Ich von ihren Wünschen (Str. 1-3), die dem entgegenstehen, was sie tun muss (Str. 4): Sie möchte mit dem Sturm kämpfen (V. 5 ff.), möchte in die schäumenden Wogen springen und das Walross jagen (V. 13 ff.), möchte im mit den Wellen kämpfenden Schiff das Steuerruder ergreifen und losjagen (V. 21 ff.). Die einzige Möglichkeit, solche wilde Freiheit zu leben, besteht darin, dass sie offensichtlich allein „auf hohem Balkone am Turm“ (V. 1) steht und ihr offenes Haar im Wind flattern lässt („gleich einer Mänade“, V. 3, also gleich einer der ausgelassenen Frauen im Gefolge des Dionysos). In der letzten Strophe erklärt sie ihre Wünsche und ihr Tun: Wäre sie ein Mann, „so würde der Himmel mir raten“ (V. 28), d.h. es gäbe Gelegenheit, ihre wilden Wünsche auszuleben: als Jäger, als Soldat oder anders. Nun (V. 29), da sie „nur“ eine Frau ist, muss sie „sitzen so fein und klar / gleich einem artigen Kinde“ (V. 29 f.), was für eine Erwachsene demütigend ist, und darf „nur heimlich lösen mein Haar / und lassen es flattern im Winde“ (V. 31 f.) – eine symbolische Handlung, die den Anspruch auf Freiheit und freie Bewegung (statt stillem Sitzen) verborgen auszuleben erlaubt.

Die verschiedenen Szenen ihrer Freiheitsfantasien ergeben sich aus den Beschränkungen, denen Frauen zu ihrer Zeit (19. Jh.) unterliegen, und aus ihrem Standort mit seinen Möglichkeiten: Sie steht auf dem Balkon am Turm (V. 1) und erlebt dort den freien Wind; sie schaut hinunter auf den Strand (V. 9, evtl. des Bodensees) und sieht „drüben“ im Wasser einen Wimpel wehen (V. 17).

Das Gedicht besteht aus vier Strophen, die zweigeteilt sind: Situation/Wunsch (Str. 1-3) bzw. irreale Möglichkeit/Wirklichkeit (Str. 4). Jeweils zwei Verse bilden eine rhythmische Einheit mit ihrem Wechsel von 4 und 3 Hebungen, dem Kreuzreim und männlichem/weiblichem Schluss, was ein zügiges Durchsprechen der Doppelverse erfordert (meistens Enjambements). Die Füllungen zwischen den Hebungen sind frei; die erste Silbe eines Verses ist meistens unbetont (außer V. 14, 25, 27, 30), was das zügige Sprechen erleichtert. Für die Semantik der Reime muss man nur die jeweils zweiten Verse betrachten: schreiende Stare / flatternde Haare (V. 2/4: wildes Erleben); kräftig umschlingen / ringen (V. 6/8: Kampf); usw. Die Sprachebene liegt oft über der Umgangssprache (umstrichen vom Stare, V. 2; gleich einer Mänade, V. 3; o toller Fant, V. 5; Sehne an Sehne, V. 7; usw. Ein Fant ist ein junger Bursch, abwertend bezeichnet; „Sehne an Sehne“: im direkten körperlichen Kontakt). Formal gleichen sich die Strophen mit ihrer Teilung nach dem 4. Vers, dem dreimaligen o- im 5. Vers und dem und-Anschluss im 7. Vers.

Wenn man das Gedicht biografisch liest, zeigt es die Unzufriedenheit resp. Sehnsüchte und die Selbstbeschränkung einer 45jährigen unverheirateten adeligen Frau in der Mitte des 19. Jahrhunderts; es gelingt ihr nicht, ihrer Neigung zu folgen und aus dem vorgegebenen Lebenskreis mit seinen Konventionen auszubrechen, wozu sicher auch ihre Mutterbindung und ihre starke Religiosität beigetragen haben.

Wenn man in Ruhe über das Gedicht nachdenkt, muss man feststellen: Viel ist der Droste hier nicht eingefallen. Selbst wenn man die konservative, weil letztlich rollenbestätigende Fantasie „Ja, wenn ich ein Mann wäre…“ akzeptiert, sind die darin fantasierten Lebensvollzüge nur die von körperlich kräftigen jungen Männern; Jäger und Soldaten werden genannt – bedeutende Jäger und Soldaten des 19. Jahrhunderts kenne ich allerdings nicht. Jäger und Soldaten standen in Diensten des Adels, also im Rang unter der Droste, sie werden als knackige Jungs fantasiert. Die Reduktion des Mannes auf die körperlich sich frei entfaltende Kraft entspringt der kompensatorischen Fantasie einer älteren kränklichen Dame; emanzipatorisch und sachlich bedeutsam war das Gedicht bereits für ihre Zeitgenossen kaum, höchstens als Zeugnis des Leidens an der Frauenrolle. Auch wenn „Am Turme“ heute zu den (feministisch) geschätzten Gedichten der Droste gehört, ist es allenfalls historisch interessant: als Zeugnis des Leidens, nicht als Formulierung einer Utopie.

http://board.raidrush.ws/threads/384522-Gedichtsinterpretation-Annette-von-Droste-H%C3%BClshoff-%E2%80%9EAm-Turme%E2%80%9C

http://www.uni-protokolle.de/foren/viewt/154661,0.html (wie man so interpretiert)

http://lyrikonline.hep-verlag.ch/mod/data/view.php?d=2&rid=254 (Text plus kurze Erklärung)

http://de.wikipedia.org/wiki/Am_Turme

http://blogs.cornell.edu/glp-kpp25/2011/12/08/5-die-bedeutung-des-meeres-interpretationen-von-frauen-zu-verschiedenen-zeiten/

Meine Empfehlung an Annette von D-H: Ein Gedicht Tucholskys vom 1. April 1927 lesen, die ersten drei Strophen von „Oh Frau“:

Oh Frau!
Lerne du das Flugzeug steuern,
lerne Vollmatrosen heuern,
lenke nur ein Viergespann
wie ein Mann.

Männer werden immer kleiner,
unerreichbar ist nichts mehr –:
Liebe Frau! Es fliegt dir einer
immer hinterher.

Rechne du Gehaltstabellen,
dirigiere du Kapellen,
weil die Frau ja alles kann
wie ein Mann. (…)

Vortrag

http://vorleser.net/droste_turme/hoerbuch.html (Julia Nogli, etwas zu schnell)

http://www.lutzgoerner.de/gdt/248/ (Lutz Görner, als er noch jünger war: gut, noch etwas schematisch)

http://www.rezitator.de/gdt/569/ (Lutz Görner, etwas älter: besser)

Sonstiges

http://www.nach100jahren.de/ueber-annette-von-droste/ (über die Droste – viele Materialien!)

http://www.deutsche-biographie.de/sfz45558.html (Biografie)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Droste-H%C3%BClshoff,+Annette+von (Leben und Werke der Droste)

http://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/neunzehntes/fruehromantik/droste/start.htm (Leben der Droste, mit Bildern und Gedichten)

http://de.wikipedia.org/wiki/Annette_von_Droste-H%C3%BClshoff (ähnlich)

http://www.der-schwache-glaube.de/?p=952 (dito)

http://www.grupello.de/dateien/C091.pdf („Zu früh, zu früh geboren“ Die Modernität der Droste)

https://archive.org/stream/dielyrikderannet00pfeiuoft/dielyrikderannet00pfeiuoft_djvu.txt (Die Lyrik der Droste – Diss. 1923)

http://www.gedichte.levrai.de/gedichte_von/droste_annette_von_droste_huelshoff.htm (Gedichte der Droste)

http://www.wissen-im-netz.info/literatur/droste/gedichte/index.htm (dito)

http://www.zgedichte.de/dichter_27.html (dito)

http://www.thokra.de/html/droste-hulshoff_5.html (dito)

http://www.dein-eigenes-gedicht.de/ausgewaehlte_gedichte/klassiker/droste.html (dito)

http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/annette-von-droste-huelshoff/gedichte-von-droste-huelshoff-mit-illustrationen-von-gerhard-wedepohl.html (Gedichte mit Illustrationen)

http://www.literaturportal-westfalen.de/main.php?id=00000157&author_id=00000080 (Droste im Literaturportal Westfalen)

http://www.xlibris.de/Epochen/Biedermeier (Epoche: Biedermeier)

http://blog.zeit.de/schueler/2012/02/17/thema-literatur-des-biedermeier-1815-1848/ (dito)

http://www.youtube.com/results?search_query=lyrik%20f%C3%BCr%20alle%20Folge%2049&sm=3 (Droste bei Lutz Görner: Lyrik für alle, bis Folge 53!)

Zur Illustration des Gedichts füge ich die Äußerungen Bertha von Suttners (geb. 1843) an, die die Mädchenträume ihrer 1840 geborenen Protagonistin Martha in den 1850er Jahren so beschreibt: „Ach, warum war ich nicht als Knabe zur Welt gekommen! (auch ein in dem roten Heft gegen das Schicksal oft vorgebrachter, fruchtloser Vorwurf) – da hätte ich doch Erhabenes erstreben und leisten können. Vom weiblichen Heldentum bietet die Geschichte nur wenige Beispiele. Wie selten kommen wir dazu, die Gracchen zu Söhnen zu haben, oder unsere Männer zu den Weinsberger Toren hinauszutragen, oder uns von säbelschwingenden Magyaren zuschreien zu lassen: „Es lebe Maria Theresia, unser König!“ Aber wenn man ein Mann ist, da braucht man nur das Schwert umzugürten und hinauszustürzen, um Ruhm und Lorbeer zu erringen – sich einen Thron erobern – wie Cromwell, ein Weltreich – wie Bonaparte! Ich erinnere mich, dass der höchste Begriff menschlicher Größe mir in kriegerischem Heldentum verkörpert schien. Für Gelehrte, Dichter, Länderentdecker hatte ich wohl einige Hochachtung, aber eigentliche Bewunderung flößten mir nur Schlachtengewinner ein. Das waren ja die vorzüglichen Träger der Geschichte, die Lenker der Länderschicksale; die waren doch an Wichtigkeit, an Erhabenheit – an Göttlichkeit beinahe – über alles andere Volk so erhaben, wie Alpen- und Himalayagipfel über Gräser und Blümlein des Thales.

Aus alledem brauche ich nicht zu schließen, daß ich eine Heldennatur besaß. Die Sache lag einfach so: ich war begeisterungsfähig und leidenschaftlich; da habe ich mich natürlich für dasjenige leidenschaftlich begeistert, was mir von meinen Lehrbüchern und von meiner Umgebung am höchsten angepriesen wurde.“

(„Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte“, von Bertha von Suttner. Erster Band 1889, S. 4 f.)

Droste-Hülshoff: Am letzten Tage des Jahres – Analyse

Das Jahr geht um…

Text

http://www.gedichtepool.de/autor/autor_d/droste.htm

http://www.g.eversberg.eu/DUpdf/FrauenLyrik.pdf (dort S. 3)

http://users.unimi.it/dililefi/CASTELLARI/Antologie/Antologia%20A&B_2011_12.pdf (dort S. 34 – diese Auswahl zeigt, welchen Stellenwert das Gedicht in der deutschen Literatur hat)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Droste-H%C3%BClshoff,+Annette+von/Gedichte/Geistliches+Jahr+in+Liedern+auf+alle+Sonn-+und+Festtage (der unmittelbare Kontext: Das geistliche Jahr)

Drostes Gedicht „Am letzten Tage des Jahres (Sylvester)“ ist das letzte Gedicht ihres großen Zyklus „Das geistliche Jahr“; durch den klugen Kommentar Winfried Woeslers (Gedichte und Interpretationen, Bd. 4, RUB 7893, S. 147 ff.) bin ich darauf hingewiesen worden, dass man das Gedicht nicht ohne Kenntnis des Zyklus verstehen kann. Zunächst also einige Informationen zu diesem Zyklus:

„1819/20 hatte Annette von Droste-Hülshoff mit der Arbeit an ihrem ‚Geistlichen Jahr’ begonnen. Ursprünglich war das Werk – geistliche Lieder, die sich rund um das Kirchenjahr drehten – als erbauliche Lektüre für die Großmutter Anna Maria von Haxthausen gedacht, die selbst religiöse Gedichte verfasste. Die Autorin bemerkte jedoch bald, dass sich ihre Verse nicht für die fromme Großmutter eigneten, da aus ihnen ein Bekenntnis des Seelenzustandes der Droste, die von Glaubenszweifeln gequält wurde, herauszulesen waren. Sie schenkte den ersten Teil des ‚Geistlichen Jahres’ der Mutter mit einem Brief, in dem sie erklärend auf die Problematik der Gedichte einging. Therese von Droste las das Werk und legte es kommentarlos in einen Schrank. Einige Tage später nahm die dichtende Tochter das ‚Geistliche Jahr’ wieder an sich und betrachtete es fortan wieder als ihr ‚geheimes Eigenthum’.“ (http://www.nach100jahren.de/therese-von-droste/) „Fast zwanzig Jahre später nahm die Autorin die Arbeit auf Drängen ihres literarischen Mentors Christoph Bernhard Schlüter wieder auf. Im Laufe des Jahres 1839 entstanden 46 weitere Texte, deren Abfassung die Droste psychisch und physisch sehr angriff. »Das Hingeben an die rein religiöse Poesie«, schrieb sie, habe »etwas den Körper und alle Nerven zu furchtbar Erschütterndes«. Damals war die 42-Jährige bereits schwer von Krankheit gezeichnet. Sie schrieb einem Freund: »bethen Sie für mich, daß ich nicht gar zu unreif weggenommen werde, – es hat große Gefahr! der heftige Blutandrang nach dem Kopfe nimmt von Jahr zu Jahr mehr Ueberhand, und ich zweifele kaum an einem plötzlichen Ende. – doch darf ich plötzlich nennen was ich Jahre lang voraus sehe? so lassen wir Gottes Gnaden verkommen.« An Schlüter schrieb die Autorin: »Wollte Gott, ich könnte diese Lieder herausgeben, es wäre gewiß das Nützlichste, was ich mein Lebelang leisten kann, … aber es geht nicht.« Sie spielt hier auf familiäre Rücksichten an, die sie zu nehmen hatte. Als eine Art literarischer Testamentsvollstrecker gab Schlüter den Text 1851 aus dem Nachlass der Autorin heraus.“ (http://www.literaturportal-westfalen.de/main.php?id=00000081&article_id=00000068&SID=rawyvopflb)

Clemens Heselhaus berücksichtigt in seiner Analyse (in: Die deutsche Lyrik, Bd. II, hrsg. von Benno von Wiese, S. 159 ff.) die Textgeschichte und verschiedene Lesarten – dazu fehlen mir die Hilfsmittel; ich möchte nur die Grundzüge einer Analyse liefern. Es fällt sogleich auf, wie stark das Gedicht von der Todesthematik beherrscht wird. Dafür mag es zwei Gründe geben: a) Zum Rückblick an Silvester gehört für die Droste offenbar der Blick auf die Toten des Jahres und der Gedanke ans eigene Ende, wie das Gedicht „Silvesterabend“ zeigt:

„Am letzten Tage des Jahres
Da dacht‘ ich, wie mancher tot,
Den ich bei seinem Beginne
Noch lustig gesehn und rot;
Wie mancher am Sargesbaume
Gelacht unterm laubigen Zelt,
Und wie vielleicht auch der meine
Zur Stunde schon sei gefällt.“

b) Wichtiger ist die Tatsache, dass „Das geistliche Jahr“ das Kirchenjahr begleitet, aber nicht mit dem letzten Sonntag nach Pfingsten endet, sondern eben mit dem bürgerlichen Jahresende; gleichwohl wirkt sich die eschatologische Thematik des Kirchenjahresendes auch hier aus.

Der zeitliche Rahmen ist die letzte Stunde des Jahres vor Mitternacht (V. 3 – Läuten um Mitternacht, V. 51), die erlebt wird: „Das Jahr geht um“ (V. 1) – „Das Jahr ist um!“ (V. 54); es handelt sich jedoch um ein fiktives Erleben – die Droste war Silvester 1839 krank und hat das Gedicht im Januar 1840 geschrieben. Das Gedicht ist eine gedichtete religiöse Selbstdarstellung“ (Heselhaus); das lyrische Ich übernimmt „die Rolle des religiösen Sprechers“ (Woesler), der vorbildlich am Jahresende dem eigenen möglichen Tod begegnet, sein Gewissen erforscht, zerknirscht ist und Gott um seine Gnade bittet.

Das Ich setzt sich bewusst der letzten Stunde des Jahres aus und wird so gewahr, wie schnell das Jahr vergangen, wie der (Lebens)Faden sausend abgerollt ist (V. 1 f.). Am Bild der Sanduhr, auch „Stundenglas“ genannt, offenbart sich dem Ich die Todesnähe: Das letzte Stündchen des Jahres verweist auf die eigene letzte Stunde (V. 3, vgl. auch V. 11 f.), der Sand rieselt „in sein Grab“ (V. 4), was den Tod der einst lebendigen Zeit (Personifikation) bedeutet. Das Ich spricht die Zeit selber an (V. 10), die Todesnähe macht es schaudern (V. 10).

Vor dem Tod hat der Christenmensch sein Gewissen zu erforschen; die Katholiken waren angehalten „Reue und Leid zu erwecken“ (so z.B. in einer Sage aus Baden). Das Ich erkennt seine schlimmen Verfehlung (Str. 3), der Sturm begleitet die Gewissenserforschung (Str. 4, wird zum Bild seines schlechten Treibens, Str. 5). Der Vorwurf „Du Sündenkind!“ (V. 24) leitet zu einer neuen Selbstanklage über (Str. 5). Zum Verständnis der Trümmerbilder (5. Str.) muss man wissen, „daß die Droste den Zustand der Gott nahen Seele immer wieder im Bild des festen Gebäudes, den der Gott fernen Seele mit Hilfe der Trümmer metaphorisch ausdrückt“ (Woesler – so zum Beispiel hier oder hier).

Darauf wendet das Ich sich wieder seiner Umgebung zu (Lämpchen, 6. Str.), die Öllampe wird ihm zum Symbol des eigenen schwindenden Lebenslichts, mit Ausblick auf das offene Grab. Die hier und in V. 37-39 geäußerte Todeserwartung war in einer ursprünglich zwischen V. 36/37 eingeschobenen Strophe mit dem Hinweis auf eigene Krankheiten begründet worden (C. Heselhaus; vgl. „Am Sonntage nach Weihnachten“). Damit verbindet sich erneut die Selbstanklage (V. 40-42). Wieder wendet sich das Ich von seinem Innern nach außen und sieht einen Stern (V. 45), der ihm als Stern der Liebe (Gottes) Hoffnung und zugleich den Vorwurf der Verzagtheit macht (V. 46 ff.) – das Ich ist zutiefst unsicher, wie es vor dem richtenden Gott bestehen soll. Solche ambivalente Angst ist das Ergebnis eines Glaubens, der massiv mit Höllendrohungen operierte – schon der kleinste Fehler beim Bereuen oder Beichten konnte ewige Verdammnis nach sich ziehen („ekklesiogene Neurose“).

Da hört das Ich die Glocken zur Mitternacht läuten: „Horch, welch Gesumm?“ (V. 49) Statt dass sie ihm wie dem verzweifelten Faust Erlösung verkünden, tönen sie erneut „Sterbemelodie!“ (V. 50) Da rafft das gepeinigte Ich sich zu einem Gebet an Gott im Vertrauen auf dessen Gnade auf: „O Herr! Ich falle auf das Knie: / Sei gnädig meiner letzten Stund!“ (V. 52 f.) Der letzte Vers „Das Jahr ist um!“ nimmt V. 1 auf und rahmt so die ganze Äußerung; im Anschluss an V. 50 ff. und den Hinweis auf die letzte Stunde (V. 53) bedeutet der Vers etwa: Mein Tod ist nah, die letzte Stunde hat geschlagen.

Das Gedicht lebt vom Wechsel der Perspektive: Das Ich blickt nach außen und nach innen, es erlebt und es reflektiert das alles, was ihm dabei an Symbolen des Todes und des Gerichts begegnet. Innen- und Außenwelt greifen ineinander, wie die Personifikationen zeigen (Zeit, 9 f.; Jahr, V. 20-22; der Docht, V. 32 f.; die Glocke, V. 51).

„Das Gedicht ist alternierend gebaut, mit dem ungewöhnlichen Reimschema abcbca; die letzte Zeile bezieht sich – wiederum einen kleinen Kreis bildend [wie der Jahreszyklus, N.T.] – also jeweils auf die erste zurück. Diese durch den Reim gebundenen ersten und letzten Zeilen einer Strophe haben nur vier Silben, alle Verse einen betont männlichen Ausgang.“ (Woesler) Die vielen Enjambements lockern aber diese starre Form auf. Heselhaus hält den Wechsel von Halbversen und vollen Versen für semantisch bedeutsam – gegen solche Einsichten bin ich skeptisch. Ich schaue lieber auf die Semantik der Reime bzw. reimenden Verse: Faden sollt sich ab / Zeit rieselt ins Grab (V. 2/4, Entsprechung); was mir aus dem herzen stieg / halber Sieg (V. 15/17, Vorgang-Ergebnis). Viele Reime kann man jedoch nicht so verstehen, weil am Versende der Satz, also die Sinneinheit weitergeht (V. 9, 10, 11, 16, 19 usw.).

Woesler weist auf die Fragen hin, die sich zum Schluss des Gedichtes häufen (V. 8, 25, 35, 44-49). Sie zeigen seines Erachtens, „welche existenzielle Problematik die Autorin bewegt (…) Hier hält sie bewußt die Schwebe zwischen existenzieller Angst und fiktionaler Wirklichkeit“ (vgl. V. 37-39). Mit solchen Verweisen vom lyrischen Ich auf die Autorin muss man vorsichtig sein; ohne ausdrücklichen Nachweis biografischer Entsprechungen sind solche Verweise fragwürdig, aber der Jahreszyklus scheint doch einiges Persönliche der Droste zu enthalten. („Am Sonntage nach Weihnachten“ spricht die Droste offensichtlich von ihrer eigenen Geschichte als der einer oft Kranken.)

Ich verweise (im Anschluss an Woesler) auf einige wenige Gedichte der Droste, die unser Gedicht erhellen können: „Neujahrsnacht“, enthält christliche Reflexionen zum Jahreswechsel; „Am Pfingstmontage“, voll Spannung zwischen Zweifel und Glaubenwollen. Für das selbstquälerische Sündenbewusstsein, das in unserem Gedicht als literarische Fiktion präsentiert wird, verweise ich auf die Links zur ekklesiogenen Neurose – auch wenn manche heute meinen, solche Neurosen leugnen zu dürfen, hat es sie gegeben (und gibt es sie wohl auch heute noch).

Vortrag

http://www.literaturportal-westfalen.de/main.php?id=00000081&article_id=00000068&media_id=00000204#Audio

Das geistliche Jahr

http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Droste/Werk/Lyrik/GeistlicheGedichte

http://www.nach100jahren.de/tag/geistliches-jahr/

http://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Droste-HuelshoffAnnetteVon 

Sonstiges

http://www.deutsche-biographie.de/sfz45558.html (Biografie)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Droste-H%C3%BClshoff,+Annette+von (Leben und Werke der Droste)

http://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/neunzehntes/fruehromantik/droste/start.htm (Leben der Droste, mit Bildern und Gedichten)

http://de.wikipedia.org/wiki/Annette_von_Droste-H%C3%BClshoff (ähnlich)

http://www.der-schwache-glaube.de/?p=952 (dito)

http://www.nach100jahren.de/ueber-annette-von-droste/ (über die Droste)

http://www.grupello.de/dateien/C091.pdf („Zu früh, zu früh geboren“ Die Modernität der Droste)

https://archive.org/stream/dielyrikderannet00pfeiuoft/dielyrikderannet00pfeiuoft_djvu.txt (Die Lyrik der Droste – Diss. 1923)

http://www.gedichte.levrai.de/gedichte_von/droste_annette_von_droste_huelshoff.htm (Gedichte der Droste)

http://www.wissen-im-netz.info/literatur/droste/gedichte/index.htm (dito)

http://www.zgedichte.de/dichter_27.html (dito)

http://www.thokra.de/html/droste-hulshoff_5.html (dito)

http://www.dein-eigenes-gedicht.de/ausgewaehlte_gedichte/klassiker/droste.html (dito)

http://www.literaturportal-westfalen.de/main.php?id=00000157&author_id=00000080 (Droste im Literaturportal Westfalen)

http://www.xlibris.de/Epochen/Biedermeier (Epoche: Biedermeier)

http://blog.zeit.de/schueler/2012/02/17/thema-literatur-des-biedermeier-1815-1848/ (dito)

ekklesiogene Neurose

http://de.wikipedia.org/wiki/Ekklesiogene_Neurose

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46173662.html

http://religionskritik4.blogspot.de/2016/11/pathogene-religiositat.html

http://www.neuro24.de/show_glossar.php?id=483

http://www.stadtgottes.de/stago/ausgaben/2012/09/themen/Zwangsneurosen.php

https://kirchenopfer.de/seelische-stoerungen/

https://portal.hogrefe.com/dorsch/ekklesiogene-neurose/

http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/archiv/beitrag_details?k_beitrag=1643622&k_produkt=1840090

Droste-Hülshoff: Im Grase – Analyse

Süße Ruh’, süßer Taumel im Grase…

Text

http://www.poemswithoutfrontiers.com/Im_Grase.html (mit engl. Übersetzung)

http://www.lyrik-und-lied.de/ll.pl?kat=typ.show.poem.eb&&ds=389&id=586&add=&start=0

http://www.g.eversberg.eu/DUpdf/FrauenLyrik.pdf

„Im Grase“, vermutlich 1844 entstanden, gibt den Interpreten viele Rätsel auf, wie Heinz Rölleke in seiner Interpretation (in: Gedichte und Interpretationen, Bd. 4, RUB 7893, 1983/2000, S. 158 ff.) darlegt. Ich kann hier nur meine Lesart darstellen, indem ich kenntlich mache, wo und wie ich die im Gedicht vorhandenen Ellipsen oder Leerstellen fülle und warum ich es gerade so tue.

Es spricht ein lyrisches Ich, das in einer Wiese zu liegen scheint (V. 2, V. 5) und eine Liebessituation erlebt. Wenn man sorgfältig liest, wird man diese Situation jedoch nur für eine imaginierte halten können; denn die drei Wenn-Sätze (V. 4, 5, 9 ff.) passen nicht in eine erlebte Situation, sondern nur in eine vorgestellte.

Das Ich stellt sich also vor, in süßer Ruh im Gras zu liegen (V. 1 f.), während die/der Liebende sich über einen beugt und lacht und spricht (V. 5-7). Diese Situation ist vor allem süß (V. 1, wiederholt), ist ein „Taumel“ (V. 1), reißt hin und weg wie eine Flut (V. 3), die tief (wiederholt) und trunken (t-Alliteration, V. 3) ist. Es folgen zwei Wenn-Sätze, die sich auf die ganze bisherige Beschreibung beziehen können, vielleicht aber auch nur auf die Existenz der in V. 3 gepriesenen tiefen Flut. Die Wenn-Sätze geben hier keine Bedingung an, sondern sind im Sinn einer Aufzählung zu lesen: „Und wenn dann die Wolke verraucht…“ Die in dieser Situation verschwindende Wolke gibt es später auch bei Brecht („Erinnerung an die Marie A.“: „Und als ich aufsah, war sie nimmer da.“). Das Flut-Erleben wird im Bild vom schwimmenden Haupt aufgenommen (V. 5); Taumel und Müdigkeit (V. 1, 5) können sich nach dem Liebesakt einstellen. Die Taumel-Bewegung ist auch in den Äußerungen der/des Liebenden: Das Lachen „gaukelt“, die Stimme „säuselt und träuft [tropfenweise rinnen]“ herab, eben wie eine Lindenblüte fällt (V. 8) – die Lindenblüte ist m.E. wegen ihrer eigenartigen Bewegungsweise vergleichsweise genannt, nicht wegen der Symbolik des Lindenbaums, sie gaukelt und schaukelt. „gaukeln“ (= „Lächerliche Bewegungen, possenhafte Stellungen, wunderliche Geberden machen“, Adelung 1811) ist wie die anderen Verben metaphorisch gebraucht.

Es folgt im Vergleich der fallenden Lindenblüte eine Überraschung: wie die Blüte „auf ein Grab“ (V. 8) fällt. Dieser Zielort passt eigentlich gar nicht in eine Liebessituation – wenn er trotzdem nebenher und scheinbar harmlos genannt wird, deutet das in einem die Vergänglichkeit der Liebe an. Dieser dezente Hinweis wird im folgenden Wenn-Satz (2. Strophe) ausdrücklich aufgegriffen: In der Vorstellung des Ichs werden in der Situation erfüllter Liebe (1. Str.) auch die vergangenen Liebesgeschichten wieder lebendig: Wenn jede [Liebes]Leiche zum Leben erwacht und sich rührt, wenn alle die toten Schätze sich „berühren mit schüchternem Klang“… – dann findet die gegenwärtige Liebe ihren Zielort wie die Lindenblüte, dann erweisen sich aber auch die alten „toten“ Liebschaften als nicht gänzlich vergangen: Sie „berühren sich mit schüchternem Klang / Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt“ (V. 15 f.). Was „im Schutt verwühlt“ (V. 14) war oder schien, vermag noch leise, schüchtern (V. 15) nachzuklingen, ist also nicht gänzlich zertrümmert und verloren, wenn auch vergangen: „Tote Lieb’, tote Lust, tote Zeit“ (V. 15), alle toten Liebenden erwachen zu einem scheuen Leben.

Hier wechselt das Ich seine Perspektive: Es tritt reflektierend zur Betrachtung der süßen Ruh und der tiefen Flut zurück und bedenkt (3. Str.), dass sie ihre Vergänglichkeit in sich tragen (vgl. V. 8 und die 2. Str.): Es sind Stunden flüchtiger „als der Kuß / Eines Strahls auf den trauernden See“ (V. 17 f.), also aufs ganze (Er)Leben gesehen nur ein Moment – wobei der Kuss des Strahls (Metapher) direkt in den Bereich der Liebe verweist; dieser Vergleich wird noch dreimal variiert. Im kleinen Lied des Vogels „aus der Höh“ werden das süße Lachen und die liebe Stimme (V. 6 f.) aufgegriffen, die genauso herabtropfen wie des Vogels Lied (träufen/niederperlen, V. 7/20). Des Käfers Blicht- oder Lichtstrahl (V. 21) nimmt in seinem Nu noch einmal den Sonnenstrahl (V. 17 f.) auf; es folgt der kurze Händedruck beim Abschied als Signum der Flüchtigkeit (V. 23 f.). Kuss und Händedruck, Zeichen der Liebe, rahmen die naturhaften Phänomene flüchtigen Lebens ein. Das Ich hat die Wahrheit über die Stunden der Liebe offengelegt – doch in welchem Ton hat es gesprochen? Es hat die Flüchtigkeit, die Vergänglichkeit des Schönsten beklagt: „Auch das Schöne muß sterben!“ (Schiller: Nänie) Dieser Einsicht setzt das lyrische Ich sein großes „Dennoch“ (V. 25) entgegen. Es wendet sich an den „Himmel“ (V. 25) und bittet mit Inbrunst: „[Gib] immer mir nur / Dieses Eine“ (V. 25 f.), die vergängliche Liebe. Dabei greift es die drei in der 3. Strophe genannten flüchtigen Phänomene auf: den singenden Vogel, den blitzenden Lichtstrahl, die drückende Hand (V. 26 ff.) – sie alle sollen trotz ihrer Kürze einen Liebespartner finden: der Vogel eine mit ihm ziehende Seele, der Strahl einen farbigen Saum (s.u.), die Hand den antwortenden Händedruck des Ichs. Im letzten Vers fasst das Ich seine guten Wünsche zusammen: „Und für jedes Glück meinen Traum“ (V. 32). Der Traum vom Glück soll der Begleiter jedes Glücks sein und bleiben, auch wenn das Glück nach eigener Einsicht immer flüchtig ist. Zu solchem Glück sagt das Ich „Ja“. Dies wird auch durch die drei Possessiva der 1. Person (V. 30-32) bekräftigt. Das Ich könnte auch die beiden letzten Verse aus Schillers „Nänie“ zitieren:

„Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich;
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.“

Es bleibt noch zu klären, was der farbig schillernde Saum (V. 30) sein könnte; ich denke an die Spektralfarben, die jeder gebrochene Lichtstrahl erzeugt. Selbst der kärgliche (knappe, ärmliche, schlechte) Strahl vermag noch ein buntes Spektrum zu erzeugen; selbst die flüchtige Liebe kann Erfüllung und Glück bringen – soll es immer wieder bringen, bittet das Ich den Himmel (Gott).

Bisher haben wir v.a. die sprachlich-gedankliche Bewegung des lyrischen Ichs verfolgt: Wie es zu Beginn mitfühlend seine Vorstellung einer Liebesbegegnung mitsamt der Erinnerung an vergangene Lieben beschrieben, wie es dann im zweiten Teil sich reflektierend und bewertend der Erfahrung der Flüchtigkeit aller Liebe gestellt hat. Jetzt müssen wir uns zumindest kurz dem Rhythmus und den sprachlichen Feinheiten zuwenden. Die Verse umfassen acht oder neuen Silben, sie weisen dabei drei oder vier Hebungen mit freier Füllung auf. Die erste Silbe hat oft einen zumindest schwachen Akzent, die letzte Silbe eines Verses durchweg einen starken; manchmal könnte man streiten, ob 3 oder 4 oder auch nur 3½ Hebungen vorliegen – soll man zum Beispiel die drei „Wenn“ betonen? Soll man in V. 13 nicht nur die drei Nomina, sondern auch die erste Silbe (Tó-) betonen? Der einzige Vortrag, den ich kenne (Lutz Görner), kann hier nicht weiterhelfen. Jeder zweite Vers ist durch Paarreim an sein Pendant gebunden; da zwei Verse jeweils als syntaktisch-semantische Einheiten verstanden werden können, ist es nicht verwunderlich, dass sich durchweg sinnvolle Reime ergeben: vom Aroma umhaucht / am Azur verraucht (V. 2/4, zwei Eindrücke); gaukelt herab / wie die Blüte aufs Grab (V. 6/8, Abwärtsbewegung); usw. Die einzige Ausnahme bildet V. 26, wo der Einschnitt mitten im Vers liegt und am Ende ein Enjambement den Gedanken fortführt. Das ergibt insgesamt ein bewegtes Sprechen, das doch nach jedem zweiten Vers einen Ruhepunkt findet. Die zahlreichen Wiederholungen (süß, tief, Flut, leise, tote, jeder, wenn), vor allem aber die Aufzählungen und der Satzbau (häufig Einschnitte am Versende, auch in den Versen mit ungerader Nummer) dämpfen das Tempo deutlich, während Enjambements es unregelmäßig beschleunigen (V. 5, 7, 9, 15?, 17, 25, 27, 29). Rölleke weist auf zahlreiche Assonanzen und Alliterationen (s-, w-, sch-, gl-, l- in V. 1-16) hin. Die beiden Vergleiche am Ende der Strophen 1 und 2 schließen diese ab und setzen die Strophen parallel.

Die Sprachebene ist deutlich höher als die Umgangssprache (Taumel im Gras; Arom’; tief trunkene Flut; usw.), es werden altertümlich-dichterische Ausdrücke verwendet (träufen, V. 7; Odem, V. 11). Die zahlreichen Auslassungen von Vokalen (Ruh’; Arom; trunkne; Lindenblüt’ – allein in Str. 1) dienen dem Rhythmus (Silbenzahl pro Vers) und wirken teilweise „gehoben“.

Wir sollten darauf verzichten, das Gedicht „Im Grase“ biografisch bei der Droste zu verorten – ich weiß auch nicht, ob sie solche Situationen mit ihrem Levin erlebt hat und dabei auf vergangene Episoden zurückblicken konnte. Es genügt, dass hier allgemeine Erfahrungen dichterisch gestaltet sind; dabei ist das bewusste „Dennoch“ der 4. Strophe eine Geste, die dieses lyrische Ich auszeichnet und nicht von jedem Leser mitvollzogen werden wird. – Für eine so streng katholisch erzogene und gebliebene Frau wie die Droste, die ja unverheiratet war, war das im 19. Jh. schon ein recht gewagtes Gedicht.

Das Gedicht stellt hohe Anforderungen an den Sprecher; wenn ich daran denke, dass ich es einmal Schülern meines Philosophiekurses in einer Klausur vorgesetzt habe, kann ich heute nur mit dem Kopf schütteln – das war noch in der Zeit, als ich Klausuren konzipierte, ohne meine Lösungserwartung gleich mit zu formulieren. Übrigens scheint mir „Im Moose“ eine Vorübung für „Im Grase“ gewesen zu sein.

http://www.litde.com/stationen-der-deutschen-lyrik/die-wirklichkeit-der-landschaften/von-drostehlshoff-ii-im-grase-alle-poren-zur-natur-geffnet.php

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=WnlONvqcWew (dort ab 4:55 – Text verändert: Lutz Görner, mit Einschränkungen hilfreich)

Sonstiges

http://www.zeno.org/Literatur/M/Droste-H%C3%BClshoff,+Annette+von (Leben und Werke der Droste)

http://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/neunzehntes/fruehromantik/droste/start.htm (Leben der Droste, mit Bildern und Gedichten)

http://de.wikipedia.org/wiki/Annette_von_Droste-H%C3%BClshoff (ähnlich)

http://www.grupello.de/dateien/C091.pdf („Zu früh, zu früh geboren“ Die Modernität der Droste)

https://archive.org/stream/dielyrikderannet00pfeiuoft/dielyrikderannet00pfeiuoft_djvu.txt (Die Lyrik der Droste – Diss. 1923)

http://www.gedichte.levrai.de/gedichte_von/droste_annette_von_droste_huelshoff.htm (Gedichte der Droste)

http://www.zgedichte.de/dichter_27.html (dito)

http://www.thokra.de/html/droste-hulshoff_5.html (dito)

http://www.dein-eigenes-gedicht.de/ausgewaehlte_gedichte/klassiker/droste.html (dito)

http://www.literaturportal-westfalen.de/main.php?id=00000157&author_id=00000080 (Droste im Literaturportal Westfalen)

http://www.xlibris.de/Epochen/Biedermeier (Epoche: Biedermeier)

http://blog.zeit.de/schueler/2012/02/17/thema-literatur-des-biedermeier-1815-1848/ (dito)

Linde, Symbol

https://www.uni-goettingen.de/de/symbolik-der-linde/41770.html (Symbolik der Linde)

https://www.lwf.bayern.de/wissenstransfer/forstliche-informationsarbeit/144564/index.php (dito)

http://www.das-lindenblatt.info/frei/?autor=Michel%20Brunner&titel=Mythos%20Linde&text=mythoslinde

http://www.natuerlich-online.ch/fileadmin/Natuerlich/Archiv/2004/08-04/42-45_Linde.pdf

http://www.bunkahle.com/Kraeuter/Pflanzenbeschreibungen/Linde.pdf

https://de.wikipedia.org/wiki/Sommer-Linde

http://www.baumkunde.de/pics/gr/0020pic_more1_gr.jpg (Lindenblüte)

Droste-Hülshoff: Das Spiegelbild – Analyse

Schaust du mich an aus dem Kristall…

Text

https://gedichte.xbib.de/Droste-H%FClshoff_gedicht_Das+Spiegelbild.htm

„Eine Phase höchster poetischer Inspiration erlebte die Autorin im Winter 1841/42, den sie zu Besuch bei ihrer Schwester Jenny von Laßberg auf der Meersburg am Bodensee verbrachte. Angespornt durch ihren ‚Seelenfreund’ Levin Schücking, gelang es ihr, fast täglich ein neues Gedicht zu verfassen. Es entstand damals der Grundstock ihrer zweiten Gedichtsammlung, die 1844 erschien und viele ihrer be­kannten Texte enthält, so Das Spiegelbild, Am Thurme oder die heimatbezogenen Haidebilder mit ihrer Einsicht in die Doppelbödigkeit der Natur.“ (http://www.droste-gesellschaft.de/cms/?navi=2)

Das lyrische Ich erblickt sich im Spiegel; es spricht zu seinem Spiegelbild, um die eigentümliche Erfahrung der Begegnung mit dem eigenen Bild im Spiegel zu verarbeiten. Das ist für mich ungewöhnlich, da ich in solchen Fällen der Spiegelbetrachtung mit mir selbst spreche, nicht zu meinem Spiegelbild. Das Ich erlebt sein Bild als ein ihm Fremdes und setzt sich damit auseinander. Eine  ähnliche Erfahrung finden wir in den Gedichten von Hugo Salus (1866 – 1929, „Das Spiegelbild“: http://gedichte.xbib.de/Salus_gedicht_Das+Spiegelbild.htm: „ein wesenloses Ich“) und Rochus Otto Manderup Heinrich zu Lynar (1793 – 1860, „Das Spiegelbild“: http://gedichte.xbib.de/Lynar_gedicht_061.+Das+Spiegelbild.htm: „Was ist’s, daß mich mein Spiegelbild
/ Unheimlich oft mit Grau’n erfüllt?“); möglicherweise ist Salus‘ Text vom Gedicht der Droste angeregt [Lynars Gedichte sind bereits 1843 bei Brockhaus erschienen].

Das lyrische Ich spricht also sein Spiegelbild mit „du“ an (V. 1), als wäre diese seine Doppelung ein selbständiges Wesen; dies tut es, weil ihm das Bild fremd vorkommt. Zu dieser Fremden (ich nehme an, dass das lyrische Ich für die Droste spricht, was aber nicht zwingend notwendig ist) steht das Ich in einer ambivalenten Beziehung – diese ist das Thema das Gedichts.

Den Aufbau des Gedichts erfasse ich als eine Dreiteilung: In den ersten beiden Strophen stellt das lyrische Ich die elementare Fremdheit des Spiegelbildes fest (V. 7), relativiert diese aber, indem es die Möglichkeit, das Bild zu lieben oder zu hassen, einräumt, falls dieses als Person aus dem Spiegel herausträte (V. 11 ff. „Und dennoch…“). In der 3./4. Strophe setzt es die Beschreibung seiner möglichen ambivalenten Reaktionen auf diese selbständige Bildperson fort. Die beiden Strophen 5 und 6 gleichen im Aufbau den Strophen 1 und 2: Zuerst wird wieder die Nichtidentität (Fremdheit) beklagt, darauf folgt eine Relativierung mit „Und dennoch…“ (V. 36 ff., vgl. V. 11 ff., wiederum an das [un]mögliche Heraustreten der Person aus dem Spiegel gebunden).

Zunächst (1. Str.) spricht das lyrische Ich über den Beginn einer Begegnung mit seinem Spiegelbild, die es schon öfter erlebt hat (konditional „Schaust du mich an…“, V. 1, mit dem Hauptsatz „dann flüstre ich“, V. 6 f.). Dabei fallen ihm die Augen als bleich (Nebel, V. 2; verbleichen, V. 3), die Gesichtszüge als „wunderlich“ (V. 4 – die „zwei Seelen“ mit dem Spionenvergleich müssen wohl für eine Ambivalenz stehen; sie bezeugen hier Fremdheit, während die zwei Seelen in der eigenen Brust jedem aufmerksamen Selbstbeobachter bekannt sein dürften) auf. Das Bild wird als „Phantom“ erlebt und bezeichnet (V. 7); das ist „ein Blendwerk, eine Erscheinung, ein Gespenst“ (Krünitz), ein „Trug- oder Schreckbild, Luftgesicht“ (Damen Conversations Lexikon, 1834/38): Davon grenzt das Ich sich erschrocken, entsetzt ab: „du bist nicht meinesgleichen“ (V. 7), obwohl der Spiegel ja gerade ein identisches Bild der Person, nur seitenverkehrt, liefert. Worin diese Spiegel-Erfahrung begründet ist, soll zum Schluss bedacht werden.

Die ganze erste Strophe ist ein einziger Satz, wobei hinter V. 3 und V. 6 jeweils eine kleine Pause gemacht wird. Das Tempo des Sprechens ist entsprechend der Erregung des Ichs recht hoch, wozu auch der vierhebige Jambus beiträgt, durchweg mit männlicher Kadenz, nur in V. 3 und 7 mit weiblicher. Das Reimschema ist so eigenwillig wie der Aufbau der Strophe aus 7 Versen: a – a – b – c – c – c – b. Dieser schwungvolle Aufbau hält sich durch; in allen Strophen (bis auf die 5.) wird nach Vers 3 eine Pause gemacht, nur in der 5. nach V. 5. In der 1. Strophe kommt noch eine Pause in V. 6 hinzu (Ende des Nebensatzes hinter „Umschleichen“), ähnlich in der 6. Strophe in V. 7 (hinter dem Einschub: Gedankenstrich). Die einzelnen Verse sind wegen der Satzlänge keine selbständigen Gedanken, daher braucht man prinzipiell nicht nach der Semantik der Reime zu suchen; nur in „Kristall/Nebenball“ (V. 1 f.) liegt vielleicht ein Kontrast vor.

Mit der 2. Strophe wird syntaktisch V. 7 fortgesetzt: Das Subjekt „Du“ ist ausgelassen; diese Ellipse beschleunigt das Sprechen und setzt die anklagende Beschreibung des Phantoms fort: wie es als Traumgestalt das Ich zu Tode erschreckt („eisen“ und „blassen“ als Neologismen). Es folgt in der Rede des Ichs die erste Kehrtwendung „Und dennoch…“ (V. 11); mit der Anrede „dämmerndes Gesicht“ (V. 11) wird die anfängliche Beschreibung (V. 2 f.) aufgenommen, mit dem „Doppellicht“ (V. 12) die anfänglich genannte Ambivalenz (V. 4-6). Das Doppellicht (Neologismus für „Zwielicht“, enthält „die vorstellungen ‘halb, gespalten, geteilt’ oder ‘zweifelhaft, schwankend‘“, Deutsches Wörterbuch) ist wiederum sachlich nicht zu erklären – wie das Bild der zwei Seelen in den Gesichtszügen (solches kann man nicht im Spiegel sehen!) – sondern als beschriebene Erfahrung festzuhalten. Es folgt ein eigentümlicher Gedanke: „Trätest du vor“ (V. 13) – was natürlich unmöglich ist, also ein Gedankenexperiment einleitet, welches den Ernstfall realer Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild eröffnet: Was geschähe dann? „ich weiß es nicht“ (V. 13), bekennt das Ich, das Bild zu lieben und zu hassen wäre möglich: Ambivalenz gegenüber dem eigenen Bild. Die hier noch nicht zu klärende Sachfrage ist, ob damit auch eine Ambivalenz gegenüber dem eigenen Ich ausgedrückt wird, welches man nach allgemeinem Verständnis (wenn auch nicht zwingend!) doch liebt – möglich ist es, aber nicht zwingend erforderlich; denn die Erfahrung mit dem eigenen Spiegelbild ist recht eigentümlich, wie zum Schluss noch erklärt werden soll.

Die Sprache des lyrischen Ichs ist gehoben („der Träume Hut“, V. 8; Neologismen sind die Verben „eisen“ und „blassen“, eine Locke blassen, V. 10). Die Reime „dämmerndes Gesicht / Doppellicht“ (V. 11 f.) verbinden Ähnliches, „hassen“ (V. 14) könnte als Reaktion auf „blassen“ (V. 10) verstanden werden. Auf der gleichen Sprachebene bewegt sich das lyrische Ich in der 3. Strophe (Gedanken leisten Fron, V. 16; des Auges Glast, V. 18 – „Glast“ ist so viel wie „Glanz“: „Im Oberdeutschen ist statt dessen von alten Zeiten her auch Glaß, Glast, Glest, Glis, Gliz üblich gewesen. Der tag mit siner glesten, König Wenzel. Din spilnder ougen glast, der von Gliers. Der lichten Sonnen glast, S. Sachs. Aus welchem Worte es durch die sonst nicht ungewöhnliche Einschaltung des n entstanden ist, wo es nicht unmittelbar von beyder gemeinschaftlichem Stammworte Glo, Lo, Licht, gloa, leuchten, herkommt.“ (Adelung, 1811)

Wie gesagt, wird in den Strophen 3 und 4 konsequent die Ambivalenz des Ichs gegenüber dem potenziell eigenständigen Spielbild durchgespielt: Verehrung der tiefen Gedanken (der Stirn), aber große Distanz gegenüber dem kalten Blick (3. Str.); liebevolle Zuwendung zu des Mundes weichen Zügen, aber Abscheu vor seinen höhnenden Worten (4. Str.) – das zielt schon eindeutig auf eine Stellungnahme gegenüber dem eigenen Ich, nicht bloß gegenüber dem Bild; die großen Gedanken und der Spott sind nämlich dem Bild nicht anzusehen, die kennt das Ich von sich selbst, auch wenn es dafür leicht verzerrte Gesichtszüge bemüht (V. 27).

Bei den Reimen fallen „Thron / Fron“ (V. 15 f.), „schüchtern blicken / weit rücken“ (V. 17/21), „kalter Glast  / gebrochen fast“ (V. 18 f.), „lind / Kind“ (V. 22 f.), „bergen / fliehen wie vor Schergen“ (V. 24/28) und die drei Reime V. 25-27 als semantisch korrespondierend auf. Auch in der 4. Strophe liegt das Ich wieder deutlich über dem Niveau der Umgangssprache (Fron leisten, kalter Glast, ein scheuer Gast, Schergen). In V. 18-20 fällt auf, dass dem Gesicht des Bildes eine Todeskälte zu entströmen scheint (Adjektive: kalt, tot, gespenstig); die Wirkung dieser Kälte hat das Ich gleich zu Beginn seiner Begegnung mit dem Bild bereits verspürt (V. 9 f.).

In den Strophen 5 und 6 wird die gleiche Bewegung wie in den Strophen 1 und 2 vollzogen. Der Beginn „du bist nicht ich“ (V. 29) und die Bestürzung über die Fremdheit des Bildes entsprechen fast wörtlich V. 7; darauf folgt erneut die ambivalente Zuwendung zum Bild, eingeleitet mit der Partikel „dennoch“ (V. 36, vgl. V. 11). Der Schluss ist jedoch keine platte Wiederholung, sondern weist gegenüber der gleichen Figur zu Beginn auch Neues auf. In Str. 5 wird der Gedanke mehr als angedeutet, dass die Seele des als fremd erkannten Bildes (dreimal „fremd“, V. 30, 33) im Inneren des lyrischen Ichs schlummert. Dieser Gedanke wird zwar rhetorisch abgewehrt („Gnade mir Gott“, V. 34, plus Konjunktiv II in V. 35 – „ruhet“ ist die vom Reim geforderte Umwandlung des Konjunktivs „ruhte“), aber indem er ausgesprochen und abgewehrt wird, wird er schon als wahr anerkannt. Der Vergleich mit dem Zögern des Moses vor dem brennenden Dornbusch (Ex 3) ist nicht nur Ausdruck gehobener Frömmigkeit, sondern auch ein wenig verfehlt: Moses ging ganz unbeschwert auf den Dornbusch zu, weshalb der HERR ihm Zurückhaltung gebieten musste („Komm nicht näher heran!“ Ex 3,5).

Auch die Reaktion auf das aus dem Rahmen heraustretende Spiegelbild fällt ein wenig anders als bisher aus; das Ich bekennt nämlich, sich „Zu deinen Schauern wie gebannt“ zu fühlen (V. 37), was es im Vergleich als Verwandtschaft erkennt (V. 36). Schauer: „Eine schnell vorüber gehende Erschütterung der Haut, dergleichen man bey einem plötzlichen Anfalle der Kälte, bey einem hohen Grade des Schreckens, des Abscheues, der Angst u. s. f. empfindet.“ (Adelung, 1811) Die Schauer des Bildes sind also diejenigen, welche es beim Ich auslöst, und mit dem Schrecken verbindet sich die Faszination („gebannt“, V. 37) – diese Verbindung ist von Rudolf Otto als typisch für die Begegnung mit dem Göttlichen (Numinosen) beschrieben worden. Wenn Liebe sich mit der Furcht verbindet (V. 38), ist das die entsprechende Antwort auf die Erfahrung des numinos Fremden.

Das erwartete leise Zittern (V. 41, statt der Flucht, vgl. V. 21 f., und des Hasses, V. 14, der der bloßen Furcht gewichen ist, V. 38) drückt die erfahrene Ambivalenz aus. Durch „Mich dünkt“ (V. 42) ein wenig relativiert, bleibt als negative Reaktion nur „um dich weinen“ (V. 42) übrig. Dieses Weinen muss man nach Hass (V. 14), Flucht (V. 21), Furcht (V. 38) als Abschwächung der bisherigen Ablehnung begreifen; sachlich ist die Bedeutung von „weinen um dich“ nicht ganz klar – so wird am ehesten ein Verlust ausgedrückt (http://www.myvideo.de/watch/7797687/Zarah_Leander_Ein_paar_Traenen_werd_ich_weinen_um_dich; vgl. „Du hattest schon einen Platz, kleine Maus, doch wir haben Dich verloren und wir weinen um Dich!“ oder „Aber wir, die wir zurück geblieben sind, sind voller Trauer, wir weinen um dich Bernie, weil du nicht mehr hier bist.“ u.ä. Wendungen im Internet!). In diesem Verständnis wäre „um dich weinen“ m.E. nicht ganz geeignet, die volle Ambivalenz von Fremdheit und Verwandtschaft, von Liebe und Furcht auszudrücken. Das Weinen müsste so sein, dass im Verlust auch ein Gewinn gespürt wird – dann wäre es der angemessene Schluss des Gedichts. Vielleicht kann man den Schluss „retten“, wenn man ihn so versteht, dass das lyrische Ich das Phantom als Phantom verloren und als Verwandte bewahrt hat – aber das wäre kein Grund zum Weinen!?

Von den Reimen sind die in V. 32-34 als besonders sinnvoll zu erwähnen, auch V. 36 f. und V. 37/42 passen gut zueinander. Die Sprache ist wieder erhaben („aus des Kristalles Rund“, der Mosesvergleich und V. 35 als Beispiele). Das Tempo ist ein wenig niedriger als zu Beginn, weil gelegentlich nach einzelnen Versen eine kleine Pause zusätzlich gemacht wird (V. 29, 31, 32, 37, 39, 40 zusätzlich zu den großen Pausen).

Wir haben ein Gedicht vor uns, in dem aus dem Erleben der Fremdheit des Spiegelbildes Erleben und Anerkennung der Fremdheit des eigenen Ichs werden (6. und Beginn der 7. Strophe); dieser Übergang, in den ambivalenten Wahrnehmungen der ersten vier Strophen vorbereitet, wird in dem verunglückten Schluss V. 42 nicht durchgehalten.

Seit 2014 gibt es file:///Users/norbert/Desktop/Cardarelli%20Laura.pdf (Arbeit über Spiegelbild-Gedichte, mit multimodaler Herangehensweise, dort S. 56 ff. und S. 103 ff.)

Exkurs: Warum mutet das eigene Spiegelbild fremd an? Ein Versuch

So wie die eigene Stimme auf Band fremd klingt, mutet auch das eigene Spiegelbild fremd an. Ich nehme an, dass dies damit zu tun hat, dass dem Spiegelbild jede eigene Aktivität fehlt: Mit ihm ist keine Kommunikation möglich, es äußert sich nicht – und deshalb (oder umgekehrt) hat es auch kein Innen. Es ist bloße Fassade ohne jede Tiefe, auch wenn man ihm in die Augen schaut – man sieht nichts. Darüber erschrickt man, ich jedenfalls. Vgl. auch: „Er hatte damals […] einen Blick in den Spiegel geworfen, aus dem ihm seine schmalen, tief liegenden Augen angeschaut hatten, als betrachteten sie jemanden, den sie nicht kannten. Zwischen den buschigen Augenbrauen hatten sich zwei steile Falten eingekerbt, unter denen eine große Nase mit einer kleinen runden Geschwulst im Nasenwinkel das Gesicht beherrschte. Der Mund war unauffällig, aber nicht ganz verschlossen, irgendwie zögernd. Ich bin es, hatte er gedacht, aber ich weiß nicht, was ich von mir halten soll. Das Gesicht war leicht verzogen von unterdrückter Spannung. Er hatte es so lange angeschaut, bis es ihm wie ein erstarrtes Brodeln erschien.“ (Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort, Köln 2009, S. 109) – Übrigens: Wenn man in Worten und Taten zeigt, wer man ist (so Hannah Arendt: Vita activa, § 24 f.), kann man in einem Spiegelbild nichts davon sehen; man kann einen Körper sehen, aber nicht das Ich, das über seinen Körper verfügt, sich in ihm betätigt… Ich ist eine Kompetenz, aber kein Ding, keine Substanz.

Theorie: Hans Lipps, 1941 in Russland gefallen, schreibt in seinem Buch „Die menschliche Natur“ (1941, S. 28): „Sich selbst erblicken hieße: sich selbst ins Gesicht, d. i. ins Auge sehen. Was irgendwie unmöglich ist. Man kommt sich merkwürdig fremd vor im Spiegel. Optik zwingt hier den Blick, gleichsam ins Leere vorzustoßen, sofern der – formal – andere nur seine gleichsinnige Verdoppelung ist, dem Blick mit dem Gegenstand auch der Gegen‚stand‘ versagt bleibt. Fremd wirkt das eigene Gesicht im Spiegel. Nicht weil man sich anders sich vorgestellt hätte. Es bleibt wesentlich unerkannt, sofern es überhaupt nicht als Physiognomie gesehen werden kann. Denn es liegt im Begriff einer Physiognomie, daß man interpretierend auf etwas hierin Standhaltendes zukommen kann.

Entsprechend fremd klingt aber auch die eigene Stimme aus dem Grammophon. In der Stimme ist man da für die anderen. Man erkennt jemanden darin. Man vernimmt ihn dabei, nämlich ihn selbst. Aber nur in der Richtung von meinesgleichen kann man jemand vernehmen. Ich kann nicht mich selbst vernehmen. Daß ich mit mir selbst ‚sprechen‘ kann, darf hier nicht irre machen.“

P.S. Ronald David Laing spricht von einem ursprünglichen Gesicht des Menschen, das nicht mit dem identisch ist, was man im Spiegel sieht: „Doch wie sieht das ursprüngliche Gesicht eines Menschen aus, bevor er geboren wird? Dieses Gesicht, das wir für unser Gesicht halten, ist weit von unserem ursprünglichen Gesicht entfernt, und wenn wir uns mit diesem Gesicht identifizieren, sind wir in gewissem Sinne bereits entwurzelt, aus unserem Ursprung herausgerissen, eingefangen vom Zauber der Spiegelbilder, die sich selbst spiegeln (…). Es ist unmöglich, das eigene ursprüngliche Gesicht zu beschreiben. Man kann nur indirekt darauf Bezug nehmen. Manche gehen so weit, daß sie versuchen, ihr ursprüngliches Gesicht zu charakterisieren, aber das ist für diejenigen zu weitreichend, die selber noch weiter gegangen sind.“ (Die Tatsachen des Lebens, rororo 7402, S. 109 f.)

2. P.S. Eine wichtige Rolle spielt das Spiegelbild in Döblins Roman „November 1918“, Band 3: „Heimkehr der Fronttruppen“. Dort wird erzählt, wie der Dramatiker Stauffer seine Skrupel, sich auf seine neue Liebe einzulassen (Lucie, die quasi 20 Jahre auf ihn gewartet hat), durch einen Blick in den Spiegel überwindet: „Und da blickte ihm aus dem Spiegel ein bekümmerter älterer Herr zu. Der Herr schien bestürzt zu sein.“ (dtv 1389, München 1978, S. 159) Als er das Bild fragt, wie dieses sich entscheiden würde, „blickte ihn das Spiegelbild wehmütig an, und Stauffer begriff“ (S. 159). Das Spiegelbild sagt ihm dann, dass auch er sich verändert hat, ohne dass Lucie ihm deswegen Vorwürfe machte – er müsse daher  akzeptieren, dass auch Lucie sich verändert habe. „Und wie das Spiegelbild ihm das aufrichtig und überzeugend mitteilte, legte Stauffer seine Stirn an das freundliche Glas und stimmte ihm zu.“ (S. 160, im Kapitel „Erwin und Lucie“) – Natürlich ist die Begegnung mit dem sprechenden Spiegelbild surreal, aber eben doch realistisch erzählt: Das Spiegelbild hat einem etwas zu sagen. – Vielleicht hilft auch weiter: https://bollnow-gesellschaft.de/getmedia.php/_media/ofbg/201411/65v0-orig.pdf (Bollnow: Das Symbol des Spiegels bei Rilke, dort S. 250 ff.)

3. P.S. Kristina Kuhns Artikel „Spiegel“ im Wörterbuch philosophischer Metaphern (3. Aufl. 2011) verdanke ich den Hinweis auf Herders Fragment „Selbst“ (https://de.wikisource.org/wiki/Selbst; vgl. auch das vorhergehende Fragment https://de.wikisource.org/wiki/Das_Ich): „Vergiß dein Ich: Dich selbst verliere nie.“ Mit diesem zunächst rätselhaften Satz beginnt das Fragment. Ich zitiere die Verse 76 ff., um die Problematik der Droste’schen Selbstbespiegelung zu verstehen:

„Wer sich verlohr, was hätt’ er ohne Sich?
Was in dem Herzen andrer von Uns lebt,
Ist unser wahrestes und tiefstes Selbst.“

Und in der nächsten Strophe wird dem Selbst die Kraft zugeschrieben, uns mit der weiten Welt zu einen und inneren Frieden zu schaffen. Dieses gepriesene Selbst kann man natürlich im Spiegel nicht sehen – was die Droste sehen kann, ist nur die Hülle der Person, gesehen mit den Augen der anderen, dazu noch seitenverkehrt. Kein Wunder, dass sie an diesem Bild verzweifelt! Herder hat in der 3. Strophe seines Gedichts genau dieses Problem behandelt (V. 12 ff.):

„Nicht was du siehest; […] die innre Seherinn,
Die aus der Vorwelt sich die Nachwelt schafft;
Die Ordnerinn, die aus Verwirrungen
Entwirrend webt den Knäuel der Natur […];
Das bist du selbst; die Gottheit ists, wie Du.“

Man kann an diesem Gedicht Herders manches problematisch finden, das sei zugegeben; aber Herder hat 1797 klar gesehen, dass das bloße Spiegelbild nicht dich selbst zeigt. Kristina Kuhn hat selber zwei Gedanken ausgeführt, die die Problematik dieser Selbstbespiegelung vertiefen: 1. Da Frauen für Männer Objekte sein können, kann der Spiegel ihnen nicht zur Selbstvergewisserung dienen. Wo die eigene Autonomie nicht gegeben sei, könne sich weibliche Identität nicht ausbilden (S. 388). – Angesichts der beengten Möglichkeiten des adeligen „Fräuleins“ von Droste-Hülshoff (Konvention und Finanzen) erklärt Kuhns Hinweis, wieso seine Selbstbespiegelung scheitern muss. 2. Kuhn weist ferner darauf hin, dass überhaupt ein „Bild“ nicht der Dynamik der Verhältnisse zwischen Welt und Subjekt etc. gerecht werden kann. „Dynamisiert wäre das Spiegelbild lediglich durch die Bewegungsfolge, die vor dem Spiegel statt hat.“ (S. 389) Das bloße Betrachten des Abbildes könne zu nichts führen.

Als Parallele unbedingt zu beachten: Kurt Tucholsky: Der Mann am Spiegel, 1928. Auch das Gedicht „Tiefer Blick“ (1911) von Anton Wildgans (1881-1932) berührt sich mit dem Gedicht der Droste: http://www.antonwildgans.at/page75.html

4. P.S. Zwei Bücher für die Vertiefung der Spiegelbild- und Gesichtsproblematik: Peter von Matt: … fertig ist das Angesicht (Hanser 1983, suhrkamp taschenbuch 1989); Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts (C. H. Beck 2013, Paperback 2019). Für die Spiegel-Problematik sind (nach Belting) noch zu beachten: das Selbstporträt des Johannes Gumpp https://en.wikipedia.org/wiki/Johannes_Gumpp und Jorge Molders Studien „Points of No return“.

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=Nb63Bpnq_TA (Doris Wolters, gut)

Sonstiges

http://www.zeno.org/Literatur/M/Droste-H%C3%BClshoff,+Annette+von (Leben und Werke der Droste)

http://www.grupello.de/dateien/C091.pdf („Zu früh, zu früh geboren“ Die Modernität der Droste)

Spiegel(bild)

http://www.symbolonline.de/index.php?title=Spiegel

http://www.ureda.de/php/spider/anzeige.php3?id=256

http://www.internetloge.de/symhandb/symb09.htm

https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegel

http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/Esselborn-spiegel.pdf (Spiegelsymbol bei Hesse)

http://abgedichtet.org/files/pdf/spiegelmetapher.pdf (Spiegelmetapher und -literatur)
https://www.youtube.com/watch?v=B-1j-blr_ug (Vortrag: Spiegelmetaphorik)

(Max Klinger: Der Philosoph, 1910: ) – dito schärfer: Klinger, Der Philosoph (1910): https://www.deviantart.com/in2ni/art/Carnet-de-croquis-Max-Klinger-Der-Philosoph-335488848

https://www.thinglink.com/scene/974799956692959233 (M. Pistoletto: L’Etrusco, 1976) oder

https://myfavoriteart.blogspot.com/2012/03/modern-art-museum-of-fort-worth.html (dito)

Das Gedicht der Droste wird inzwischen häufig gelesen; ich habe deshalb einmal versucht, die darin ausgearbeitete Spiegelbild-Erfahrung in den Kontext des Erlebens anderer zu stellen, und zwar unter den Stichworten „Spiegelbild“ und „Spiegelbild Augen“:

http://www.sueddeutsche.de/karriere/lebenskunst-ist-sich-morgens-im-spiegel-anzulaecheln-1.591239 (Spiegelbild)

http://www.bernhard-sandkuehler.de/Selbst.html (dito)

http://www.felten.name/marga/spiegelbuch.html (dito)

http://mymonk.de/nackt-vorm-spiegel/ (dito)

http://undermyskyyy.blogspot.de/2011/09/spiegelbild.html (dito)

http://www.gutefrage.net/frage/ich-habe-angst-meinem-spiegelbild-in-die-augen-zu-kucken (Angst vor dem Spiegelbild)

P.S. Von E. T. A. Hoffmann gibt es die Erzählung „Das verlorene Spiegelbild“, die ersichtlich nach dem Vorbild von Chamissos Novelle geschrieben ist: https://www.projekt-gutenberg.org/etahoff/spiegel/spiegel.html.

Von einem völlig anderen Blick in den Spiegel ist in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften, 2. Buch, die Rede, wo von Agathe erzählt wird: Schon am Morgen, nachdem ihr Bruder abgereist war, hatte sich Agathe sorgfältig betrachtet: es hatte mit dem Gesicht durch einen Zufall angefangen, denn ihr Blick war darauf gefallen und nicht mehr aus dem Spiegel zurückgekommen. Sie wurde so festgehalten, wie man manchmal gar nicht gehen möchte, aber doch immer neue hundert Schritte weiter geht bis zu einem zuletzt erst sichtbar gewordenen Ding, wo man dann endgültig umzukehren vorhat und es wieder unterläßt. In dieser Weise wurde sie ohne Eitelkeit von der Landschaft ihres Ich festgehalten, die ihr unter einem Hauch von Glas vor Augen lag. Sie kam zum Haar, das noch immer wie heller Samt war; sie öffnete ihrem Spiegelbild den Kragen und streifte ihm das Kleid von den Schultern; sie zog es schließlich ganz aus und musterte es bis zu den rosigen Decken der Nägel, wo an Händen und Füßen der Körper endigt und kaum noch sich selbst gehört. Noch war alles wie der blinkende Tag, der sich seinem Zenith nähert: aufsteigend, rein, genau und von jenem Werden durchflossen, das Vor-Mittag ist und sich an einem Menschen oder jungen Tier in der gleichen unbeschreiblichen Weise ausdrückt wie an einem Ball, der seinen höchsten Punkt noch nicht erreicht hat, aber nur wenig darunter ist. »Vielleicht durchschreitet er ihn gerade in diesem Augenblick« dachte Agathe. Dieser Gedanke erschreckte sie. Immerhin konnte es aber auch noch einige Zeit dauern: sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt. Ihr Körper, unbeeinflußt von Sportlehrern und Masseuren wie von Gebären und Muttergeschäft, war von nichts geformt worden als von seinem eigenen Wachstum. Hätte man ihn nackt in eine jener großen und einsamen Landschaften versetzen können, welche die dem Himmel zugekehrte Seite hoher Bergzüge bilden, so wäre er von dem weiten und unfruchtbaren Wogenschlag solcher Höhe wie eine heidnische Göttin getragen worden. In einer Natur dieser Art gießt der Mittag keine Schwaden von Licht und Hitze herab, er scheint bloß noch eine Weile über seinen Höhepunkt anzusteigen und geht unmerklich in die sinkend schwebende Schönheit des Nachmittags über. Aus dem Spiegel kam das etwas unheimliche Gefühl der unbestimmbaren Stunde zurück. (Zweites Buch, Kap. 21 https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohn2/chap021.html)

Droste-Hülshoff: Die Vergeltung – Klassenarbeit

Ballade als Klassenarbeit (Kl. 8)

1. Erläuterungen:
Von einzelnen Schülern (7b – 2004) wurde nach folgenden Wörtern gefragt:
V. 2 Höhn
V. 5 Wolkenstreif in Sinnen
V. 6 (Pfeiler)
V. 9 morschen
V. 11 Geflimmer
V. 18 Höhn
V. 20 Bohlen
V. 25 Verdecke
V. 27 eine Strecke
V. 31 Narwal
V. 40 Kahn
V. 47 Courage
V. 48 (mich) dünkt
V. 60 Grau
V. 65 verronnen
V. 68 Bursche
V. 73 Waten
V. 74 Kiesgeschrill
V. 80 dräut
V. 80 Düne
V. 81 Schranken
V. 82 Hessel
V. 90 hohläugig
V. 94 Gesindels Lügenwort
V. 96 der Scherge
V. 99 Walten
V. 100 Pfaffen
V. 101 Hohnes
V. 102 Ätherhöhn

Aufgabenstellung:
1. Bestimme Wortart und Form der erfragten Wörter!
2. Suche Wörter oder Wendungen, die mit den erfragten Wörtern verwandt sind!
3. Ersatzprobe: Nenne ein anderes Wort, welches die gleiche Bedeutung wie das erfragte Wort besitzt!

Diese Wörterliste war ursprünglich weniger umfangreich und als Hilfe für die Schüler bei der Erarbeitung der Ballade gedacht; die Bearbeitung der Liste ist später zu einer eigenen Aufgabe außerhalb der Klassenarbeit geworden. Die Liste zeigt, welche Wörter einzelne oder viele Schüler einer bilingualen Klasse des Gymnasiums nicht kannten (obwohl sie teilweise bereits in den Erläuterungen standen) – dies nur als Hinweis für Kollegen! Zur nachfolgenden Klassenarbeit gehört also noch eine kürzere Liste mit Erläuterungen unbekannter Wörter.

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1. Klassenarbeit 8 d – 1992/93

Analyse der Ballade „Die Vergeltung” – Zeit: zwei Schulstunden
Aufgabenstellung:

Lies die Ballade nochmals ruhig durch und überlege,
– wer als Sprecher der wörtlichen Rede in Z. 21; 53; 82-84 jeweils in Frage kommt;
– welche Handlungen in Z. 54-56 andeutungsweise beschrieben sind.
Bearbeite dann folgende Aufgaben schriftlich:

1. Bestimme (soweit wie möglich) die zeitliche Abfolge und die Dauer des erzählten Geschehens (Z. 1-16; 17-32; 33; 34-56; 57-64; 65 ff.).

2. Von Z. 37 an vermengt sich kurz die Perspektive des Erzählers
mit der des Kranken.
a) Erkläre an zwei Merkmalen, woran du das erkennst.
b) Erkläre kurz, was dadurch beim Leser bewirkt wird.

3. Erkläre kurz zu Z. 99 f. (jeweils in einem Satz),
– was der Passagier „nun” eigentlich „weiß”,
– warum er das weiß (bzw. zu wissen meint).

4. a) Beschreibe kurz, zu welchen Zwecken der erstmals in Z. 9 genannte „Balken” im Verlauf des Geschehens genutzt wird.
b) Sowohl der Kranke wie der Passagier flehen um Barmherzigkeit (Z. 53 und Z. 93). Stelle kurz dar, wieso die Wiederholung dieses Wortes (und der Bitte) wichtig ist.
c) Erkläre im Anschluß daran, was die Überschrift „Die Vergeltung” besagt.

5. a) Stelle dar, welche Geschehnisse in einem Zeitungsbericht vermutlich bzw. sicher nicht vermerkt wären.
b) Untersuche, welche Angaben in einem Zeitungsbericht über das Geschehen zusätzlich gemacht würden.
c) Erkläre, was sich aus beiden Überlegungen für den „Sinn” der Ballade „Die Vergeltung” ergibt.

Viel Erfolg!

H i n w e i s : Die Bearbeitung der Aufgaben 3. bis 5. ist wichtiger als die der beiden ersten Aufgaben und sollte – falls du wenig Zeit oder Schwierigkeiten hast – vorgezogen werden!

Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor – Analyse

Es wird erzählt, wie ein kleiner Junge durchs Moor geht und dabei Schreckliches erlebt. Das Geschehen wird von einem auktorialen Erzähler berichtet; das ist eine (von der Autorin konstruierte) Erzählerfigur, die alles weiß (z.B.: was das Kind denkt und fühlt, dass ein Schutzengel in seiner Nähe ist usw.) und das Geschehen auch kommentiert. So ist die 1. Strophe ein Kommentar des Erzählers, ebenso V. 6-8 in Str. 5.
Die Erzählung weist einen Spannungsbogen auf: Durch den Kommentar des Erzählers vorbereitet, folgt der Leser sogleich (ab Str. 2) dem ängstlichen Kind; die Spannung erreicht zu Beginn von Str. 5 ihren Höhepunkt, als der Erzähler das Bild des offenen Höllenschlundes zeichnet (klaffende Höhle, die verdammte Margret spricht selbst). Durch den genannten Kommentar, in dem er auf die Nähe des Schutzengels hinweist, leitet der Erzähler die Wende zum Guten, zur Rettung ein. Dem Kommentar folgt in der 6. Strophe der Bericht davon, wie der Junge zu Hause ankommt (Boden ist fest, Lampe flimmert heimatlich, Grenze des Moores ist erreicht, Knabe atmet auf).
Die Spannung (bzw. das Erleben des Schrecklichen) wird durch verschiedene Mittel  vom Erzähler hergestellt: mehrere Vergleiche (V. 3, 10, 15 usw.);  Personifizierungen des Moores und der Pflanzen (V. 6; 17 f. usw.); Gedanken und Empfindungen des Kindes, welches im Moor gebannte Seelen zu hören glaubt. Diese Gedanken und Empfindungen werden insgesamt personal erzählt, etwa V. 12-15 („Hu, hu“); V. 21-24 usw. – das Kind identifiziert verschiedene Geräusche als Äußerungen der Gespenster, ohne dass ausdrücklich gesagt würde: „Das Kind denkt: …“ oder : „Das Kind fühlt: …“. Auch in dem wiederholt geäußerten Wunsch „voran“ (V. 25 f.) drückt sich die Anspannung des Kindes aus. Einmal wird der Ruf der armen Seele wörtlich berichtet (V.  36). Das Kind wird von dem, was es hört (statt: was es sieht) unddann deutet, beherrscht.
Zum Schluss wird, durch den Doppelpunkt angedeutet, ein Gedanke des Kindes wörtlich berichtet (V. 47 f.); weil diese beiden Verse den letzten der 1. Strophe entsprechen, könnte nachträglich auch die 1. Strophe als personal erzählte Vorstellung des Kindes verstanden werden, wäre dann also kein Erzählerkommentar.
Die Qualität der Zischlaute („zischt und singt“, V. 6), heller („gespenstige Melodei“) oder dunkler („hohl…“) Laute wäre gesondert zu untersuchen.
Insgesamt ist das Metrum als Jambus anzusehen, etwa V. 33 f.:
e é / e é / e é / e é /      [Ich nehme hier e statt x, weil ich auf x keinen Akzent setzen kann!]
e é / e e é / e e é / e      (Störungen des Metrums); Synkopen: „ hohl“, „weh“, „wär“,„tief“…
Das Reimschema in jeder Strophe ist zunächst ein Kreuzreim, dann zwei Paarreime;
gleiche Reimwörter werden mit dem gleichen Buchstaben bezeichnet, sodass das Schema so aussähe: a / b / a / b / c / c / d / d usw. Verse mit Kreuzreim werden insgesamt etwas schneller gesprochen. Bedeutsame Reime sind etwa die Verse 1 / 3, 2 / 4 usw.

P.S. Dass der Knabe schließlich „an der Scheide“ (V. 44) steht, wird man wohl erklären müssen: an der Grenze zwischen Moor und festem Boden. Beim Wort „Scheide“ denken die Kinder heute garantiert an etwas anderes…