Mein Gespräch mit F. Nietzsche über seine frühen Einsichten [Fragmente von 1876 – Kritische Studienausgabe Bd. 8]
Herr Nietzsche, beginnen wir mit Ihnen und Ihrem Beruf. Sie sind Altphilologe, befassen sich also mit der Kultur der Antike, vor allem mit griechischen und lateinischen Schriftstellern. Wozu ist das heute noch gut?
„Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewöhnung ist sein Verdienst.“
Wenn Sie so langsam lesen, schaffen sie nicht viel an einem Tag.
„Sich Zeit lassen zum Denken: das Quellwasser muß wieder zusammenlaufen.“
Sind Ihre Kollegen fleißiger als Sie?
„Über den Fleiss machen die Gelehrten viele schöne Worte; die Hauptsache ist, dass sie sich ohne ihren Fleiss zu Tode langweilen würden.“
Das klingt beinahe so, als ob Sie das Lob der Faulheit sängen.
„Es ist ein Unglück der Thätigen dass ihre Thätigkeit immer ein wenig unvernünftig ist: sie rollen so bewusstlos fort wie der Stein fällt.“
Wenn Sie so leben und arbeiten, Herr Nietzsche, bekommen Sie vieles von dem, was in der Welt geschieht, überhaupt nicht mit.
„Die moderne Krankheit ist: ein Übermaaß von E r f a h r u n g e n. Deshalb gehe jeder zeitig mit sich heim um nicht an den Erfahrungen sich zu verlieren.“
Sie lehren nicht nur an der Universität, sondern haben auch an einem Gymnasium in Basel die alten Sprachen unterrichtet. Wie beurteilen Sie die Organisation des Unterrichts an dieser Schulform?
„Hauptfehler des heutigen Unterrichts ist, daß er stundenweise gegeben wird und alles durcheinander.“
Sie sprechen etwas abfällig von „alles durcheinander“ – könnten die Schüler so nicht lernen, Querverbindungen herzustellen, selbständig zu denken, den vermeintlichen Autoritäten zu widersprechen?
„Dreiviertel aller Lügen sind durch die Antithese in die Welt gekommen.“
Wie kann man denn verhindern, dass wir zum schnellen Widersprechen verführt wird? Kann man eine einseitige Sicht der Dinge vermeiden?
„Um eine Sache g a n z zu sehen, muss der Mensch zwei Augen haben, eins der Liebe und eins des Hasses.“
Aufklärung war das Ziel des vergangenen Jahrhunderts, Aufklärung ist auch ein Hauptmotiv Ihres Denkens. Welcher Mechanismus hält die Menschen in ihrer Unmündigkeit fest?
„Das Ansehen der Ärzte beruht auf der Unwissenheit der Gesunden und Kranken: und diese Unwissenheit wiederum beruht auf dem Ansehen der Ärzte.“
Das klingt so, als ob wir politisch wieder mit 1776 und 1789, intellektuell mit Voltaire und Kant beginnen müssten.
„Ein freidenkender Mensch macht die Entwicklung ganzer Generationen durch.“
Bleibt die Aufklärung politisch und sozial ohne Ergebnis, ohne Folgen?
„Der neue Glaube kann keine Berge, wohl aber Worte versetzen.“
Wie würden Sie die Freiheit, die Sie erhoffen, umschreiben? Welche Merkmale machen einen freien Menschen aus?
„Mit der Freiheit steht es wie mit der Gesundheit: sie ist individuell.“
Können wir mit individueller Freiheit leben? Brauchen wir als Wesen, die wie Staubkörner im Weltall sind, nicht einen letzten Halt, also jemand oder etwas, zu dem wir aufschauen und an dem wir uns festhalten?
„Den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit soll man wie die ersten Zähne verlieren, dann wächst einem erst das rechte Gebiss.“
Aber es gibt doch bei vielen so etwas wie ein metaphysisches Bedürfnis?
„Das sogenannte metaphysische Bedürfniß beweist nichts über eine diesem Bedürfnisse entsprechende Realität: im Gegentheil, weil wir hier bedürftig sind, so hören wir die Sprache des Willens, nicht die des Intellekts und gehen irre, wenn wir dieser Sprache glauben. Ein Gott wäre anzunehmen, wenn er beweisbar wäre, o h n e daß ein Bedürfniß ihn uns nöthig erscheinen ließe.“
Widersprechen die christlichen Feste und Gebräuche, widersprechen die zahlreichen Kirchen im ganzen Land nicht sichtbar ihrem Skeptizismus?
„Beim Anblick der zahllosen Kirchen, welche das Christenthum einstmals baute, muß man sich sagen: es ist gegenwärtig nicht genug Religion da, um diese Gebäude abzutragen. Ebenfalls: es fehlt jetzt an Religion, um die Religion auch nur zu vernichten.“
Wie kann das sein: Wie kann Gott tot sein, wenn die Gotteshäuser bestehen?
„Wenn man einen G l a u b e n umwirft, so wirft man nicht die F o l g e n um, welche aus ihm herausgewachsen sind. Diese leben vermöge des Herkommens weiter: das Herkommen schließt die Augen über den Verband von Glauben und Folge. Die Folge erscheint ihrer selbst wegen da zu sein. Die Folge verleugnet ihren Vater.“
Wovon lebt letztlich das unfreie Denken? Was hindert die Menschen, ihrem metaphysischen Bedürfnis nicht nachzugeben?
„Es ist in der Art der gebundenen Geister, i r g e n d e i n e E r k l ä r u n g keiner vorzuziehn; dabei ist man genügsam, Hohe Cultur verlangt, manche Dinge ruhig unerklärt stehen zu lassen: επεχω.“
Sie haben im September eine Reihe von Notizen „Menschliches und Allzumenschliches“ überschrieben. Ich darf Ihnen verraten, dass Sie 1878 ein ganzes Buch unter einem ähnlichen Titel veröffentlichen werden – Sie sind offenbar an einer Stelle angekommen, wo neue Einsichten sich Ihnen aufdrängen. Fangen wir mit dem Allzumenschlichen an.
„Menschen, deren Umgang uns unangenehm ist, thun uns einen Gefallen, wenn sie uns einen Anlass geben, uns von ihnen zu trennen. Wir sind hintendrein viel eher bereit, ihnen aus der Ferne Gutes zu erweisen oder zu gönnen.“
Kennen Sie ein anderes Beispiel für unsere allzumenschliche Güte?
„Man schenkt jemandem lieber sein ganzes Herz als sein ganzes Geld. – Wie kommt das? – Man schenkt sein Herz und hat es noch, aber das Geld hat man nicht mehr.“
Gibt es in dieser allzumenschlichen Suppe auch Brocken, die sie nicht mögen und am liebsten ausspucken würden?
„Jeder, der geheimnissvoll von seinem Vorhaben spricht, oder der merken lässt, dass er gar nicht davon spreche, stimmt seine Mitmenschen ironisch.“
In den 10 Geboten des Freigeistes [Herbst 1876: 19/77] heißt das zweite: „Du sollst keine Politik treiben.“ Aus welchem Grund lehnen Sie das politische Agieren und Taktieren ab?
„Ein Staatsmann zertheilt die Menschen in zwei Gattungen, erstens Werkzeuge, zweitens Feinde. Eigentlich giebt es also für ihn nur Eine Gattung von Menschen: Feinde.“
Sie setzen also auf Freundschaft, nicht auf Feindschaft. Welches Ideal menschlicher Verbundenheit schwebt Ihnen vor?
„Die, welche sich mit uns freuen können, stehen höher und uns näher als die, welche mit uns leiden. Mitfreude macht den „Freund“ (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefährten. – Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergänzung durch die noch höhere Ethik der Freundschaft.“
Sie halten nicht viel vom Mitleid mit den Mitmenschen, mit unserem Nächsten?
„Herzliches Mitleid mit sich selbst ist die höchste Empfindung, zu der es der Mensch gebracht hat.“
Unser Gespräch ist inzwischen bei der Ethik angekommen, bei der Frage also, wie wir richtig und gut leben können. Wissen wir, was wir tun sollen? Gibt es eine verlässliche Grundlage der Ethik?
„Auf die reine Erkenntniss der Dinge lässt sich keine der bisherigen Ethiken gründen; aus ihr folgt allein diess, dass man sein muss, wie die Natur, weder gut noch böse. Die Forderung, gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen.“
Wenn wir weder gut noch böse, sondern einfach dasein müssen, fallen die Maßstäbe fort. Wie können wir dann noch urteilen?
„Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, niemand für sein Wesen: richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich richtet.“
Also auch das, was böse ist oder was wir böse nennen, hat seinen eigenen Wert?
„Man unterschätzt den Werth einer bösen That, wenn man nicht in Anschlag bringt, wie viel Zungen sie in Bewegung setzt, wie viel Energie sie entfesselt und wie vielen Menschen sie zum Nachdenken oder zur Erhebung dient.“
Nein, im Ernst gesprochen: Haben böse Taten wirklich ihr Gutes?
„In Lastern und bösen Stimmungen sammelt sich oft der gute Hang in uns sein Quellwasser, um dann stärker hervorzubrechen. Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.“
Sie haben vorhin spöttisch bemerkt, dass man lieber sein Herz als sein Geld verschenkt. Heißt das, dass die Liebe eine Illusion ist?
„Der Eitele und der Verliebte wähnen, einer andren Person wegen eitel oder verliebt zu sein.“
Sie selber sind nicht verheiratet, und ich darf Ihnen verraten, dass Sie auch nie heiraten werden. Aber manchmal sind Sie mit Heiratsanträgen schnell bei der Hand. Woher kommen diese Widersprüche?
„Die Illusion des Geschlechtstriebs ist ein Netz, das, wenn es zerrissen wird, sich immer von selbst wieder strickt.“
Aber eine Ehe findet doch nicht nur im Bett statt, auf Dauer sogar zu einem geringen Teil. Gibt es andere Gründe, welche es schwierig erscheinen lassen, verheiratet zu sein?
„Das Beisammensein der Ehegatten ist das Hauptmittel, um eine gute Ehe selten zu machen, denn selbst die besten Freundschaften vertragen diess nur selten.“
Spontan fällt mir hierzu Schopenhauers Parabel von den Stachelschweinen ein: Sie frieren, wenn sie weit voneinander entfernt leben, und verletzen sich gegenseitig, wenn sie zu nah beieinander sind.
Herr Nietzsche, was Ihr Denken betrifft, galt dieses Gespräch Ihren Anfängen. Sie haben einiges gesagt, was Sie sicher noch vertiefen, ausbauen, vielleicht auch verschärfen werden. Wir dürfen auf weitere Gespräche mit Ihnen gespannt sein. Ich danke Ihnen. Bis zum nächsten Mal!
(Das Gespräch fand am 28. Dezember 1997 in Jüchen statt.)
Wenn ich mich nicht irre, habe ich diese Art des Interviews erfunden – die ersten drei Gespräche dieser Art sind in meinem Buch „Kennen Sie Nietzsche?“ (dtv 30655, November 1997) veröffentlicht worden. – Vgl. auch meinen Beitrag bei lehrer-online zur Methode: http://www.lehrer-online.de/nietzsche-gespraech.php?sid=21948063412221184625880218022310