Wozu Gedichte schreiben?

In den „Dionysos-Dithyramben“ Nietzsches (1888) gibt es das Gedicht „Zwischen Raubvögeln“. Darin spricht Zarathustra (V. 41 ff.):

„Jetzt –

einsam mit dir,

zwiesam im eignen Wissen,

zwischen hundert Spiegeln

vor dir selber falsch,

zwischen hundert Erinnerungen

ungewiß,

an jeder Wunde müd,

an jedem Froste kalt,

in eignen Stricken gewürgt,

Selbstkenner!

Selbsthenker!

 

Was bandest du dich

mit dem Strick deiner Weisheit?

Was locktest du dich

ins Paradies der alten Schlange?

Was schlichst du dich ein

in dich – in dich?

 

Ein Kranker nun,

der an Schlangengift krank ist;

ein Gefangner nun,

der das härteste Los zog:

im eignen Schachte

gebückt arbeitend,

in dich selber eingehöhlt,

dich selber angrabend,

unbehilflich,

steif,

ein Leichnam –,

von hundert Lasten übertürmt,

von dir überlastet,

ein Wissender!

ein Selbsterkenner!

der weise Zarathustra!…“

Ich wähle bewusst nur diesen Auszug aus einem der Gedichte des Zyklus – philologisch korrekt müsste man den ganzen Zyklus beachten. Mir geht es jedoch um die Einsamkeit eines Denkenden, in der er sich selbst zerstört; dies ist hier wunderbar ausgearbeitet – es ist die Einsamkeit, in der und mit der man nicht leben kann, die jedoch für manche Dichter Bedingung ihres Schreibens zu sein scheint. Schreibend bitten sie beliebige Fremde um ein Gespräch, indem sie sich poetisch äußern und hierauf eine Antwort erwarten, erhoffen, erbitten – aber wehe den Lesern, wenn sie nicht „richtig“ antworten! Ich zitiere aus Celans Brief vom 12. November 1959 an Ingeborg Bachmann, es geht dabei um die Rezension der „Sprachgitter“ durch Günter Blöcker vom 11. Oktober 1959 in der Zeitung „Der Tagesspiegel“: „Du weisst auch – oder vielmehr: Du wusstest es einmal -, was ich in der Todesfuge zu sagen versucht habe. Du weißt – nein, du wusstest – und so muss ich Dich jetzt daran erinnern -, dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. Wer über die Todesfuge das schreibt, was dieser Blöcker darüber geschrieben hat, der schändet die Gräber. / Auch meine Mutter hat nur dieses Grab.“

Hier kanzelt Celan nicht nur den Rezensenten Blöcker ab, hier weist er auch brutal Ingeborg Bachmann zurück, die er doch geliebt hatte und die zur Zeit dieses Briefes mit Max Frisch zusammen lebte und in ihrem Brief vom 9. November um Celans Verständnis geworben hat – sie stand zwischen zwei Männern, die ihr teuer waren.

Wenn man ein Gedicht veröffentlicht, macht es sich in der Öffentlichkeit selbständig. Wenn man seine Seele in dieses Gedicht gelegt hat, ändert das nichts daran, dass Fremde in das Gedicht hineinschauen dürfen und vielleicht keine Seele entdecken. Blöcker hat in seiner Rezension u.a. behauptet, „der Kommunikationscharakter der Sprache“ hemme und belaste Paul Celan weniger als andere; wie sehr er damit recht hat, erkennt man an Celans Reaktion. Dass die „Todesfuge“ für ihn das einzige Grab seiner Mutter ist, müssen die Leser dem Gedicht nicht ansehen. Das Grab seiner Mutter darf man nicht der Öffentlichkeit übergeben. Wenn man es freilich in seiner Einsamkeit der Öffentlichkeit übergeben muss, ist die Katastrophe abzusehen.

Es bleibt die Frage: Wozu soll man Gedichte schreiben?

Theodor Storm: Elisabeth – Analyse

Meine Mutter hat’s gewollt…

Text

http://www.textlog.de/gedichte-elisabeth.html

http://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/Storm/elisab.htm

Den ersten Kontext des 1849 entstandenen Gedicht bildet die Novelle „Immensee“ (1850), über die man sich in den Links unter „Sonstiges“ informieren kann. Darin heißt das ganze 8. Kapitel „Meine Mutter hat’s gewollt“: Man sitzt zusammen, spricht über Volkslieder, Reinhard holt einige davon aus seinen Papieren und erklärt ihre Bedeutung: „Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten.“ Gemeinsam mit Elisabeth singt er „Ich stand auf hohen Bergen“; dann liest er, neben Elisabeth sitzend, still mit ihr das Lied „Meine Mutter hat’s gewollt“, hier noch ohne Überschrift. Elisabeth ist betroffen und geht hinaus; ihre Mutter verhindert, dass er ihr folgt. Später geht er an den See und versucht in der Nacht vergeblich, die Wasserlilie zu pflücken – dabei ist die Wasserlilie offensichtlich ein Symbol Elisabeths. Wir haben also insgesamt, dezent angedeutet, die Situation zwischen Elisabeth und Reinhard vor uns, die im Gedicht als Situation der Ich-Sprecherin vorausgesetzt wird; die Interpretation der Novelle impliziert eine Interpretation des Gedichts, was Storm später durch die Überschrift „Elisabeth“ legitimiert hat.

Das Gedicht ist im Volksliedton verfasst: drei Hebungen pro Vers mit freier Füllung; einzige Ausnahme ist V. 10: „Was fang ich an!“ Die ersten vier Verse jeder Strophe sind im Paarreim aneinander gebunden, der fünfte Vers nimmt den Reim der beiden ersten Verse wieder auf und schließt so die Strophe ab. Die kurzen Verse sind semantische Einheiten, durchweg kurze Sätze; nur V. 11 und V. 15 sind Adverbiale. Die Sprache ist also ganz einfach.

Die Sprecherin des Gedichts, das lyrische Ich, eine verheiratete Frau, reflektiert ihre Situation: Sie hat auf Drängen der Mutter „den andern“ genommen und auf den verzichtet, den sie von Herzen liebte. Sie beklagt ihre unglückliche Situation: Ihr Herz „hat es nicht gewollt“ (V. 5), hat also nicht den Geliebten vergessen wollen: Sie ist unglücklich. In der 2. Strophe klagt sie ihre Mutter deswegen an (V. 6 f.); sie bekennt: „Was sonst in Ehren stünde, / Nun ist es worden Sünde.“ (V. 8 f.) Was sonst in Ehren stünde, ist ihre Ehe; wieso sie zur „Sünde“ geworden ist, wird nicht erläutert. Es könnte sein, dass sie mit ihrem Geliebten Ehebruch begangen hat; als wahrscheinlicher erscheint mir, dass sie ihre Ehe als Liebesverrat gegenüber dem Geliebten empfindet und sie deshalb als Untreue, als „Sünde“ bewertet. Und dann folgt der verzweifelte Ruf „Was fang ich an!“ (V. 10), der außerhalb des normalen Taktes steht (s.o.). In der letzten Strophe zieht sie eine Bilanz ihres Lebens: Sie hat Leid anstatt (so lese ich „Für…“, V. 11) Stolz und Freude „gewonnen“ – eine bittere Ironie. Sie klagt zweimal „Ach“ (V. 13 f.), „eine Interjection, welche der natürliche Ausdruck nicht nur aller Leidenschaften, mit allen ihren Schattirungen, sondern auch aller Gemüthsbewegungen und lebhaften Vorstellungen überhaupt ist. Es ist also, und zwar 1) eigentlich und zunächst, der Ausdruck des Schmerzens, und zwar nach allen seinen Stufen und Abänderungen“ (Adelung). Mit „Ach“ leitet sie ihre unmöglichen Wünsche (Konjunktiv II, V. 8 f.) nach einem anderen Leben ein; selbst zu betteln und einsam zu leben („über die braune Heid“, V. 15) wäre ihr lieber, als in der ungewollten Ehe zu bleiben. Doch ihre Wünsche zerschellen an der Wirklichkeit; sie muss sich in ihr Schicksal fügen und leiden.

Die Reime sind einfach, aber sinnvoll: „besessen / vergessen“ (V. 3 f.) umschreibt den Riss, der durch ihr Leben geht; „klag ich an / nicht wohlgetan“ (V. 6 f.) gilt dem falschen Handeln der Mutter; „in Ehren stünde / worden Sünde“ (V. 8 f.) umschreibt den Widerspruch zwischen der schönen Möglichkeit und der bitteren Wirklichkeit, usw.

Im Gedicht lebt die soziale Wirklichkeit fort, dass früher oft nicht die Söhne oder Töchter selber ihre Gatten aussuchten, sondern dass die Eltern diese Wahl nach Aspekten des sozialen Nutzens für die Familie trafen; diese Praxis wird dann problematisch, wenn sich gegen die Ehe als Konvention die Idee der Liebesheirat, gegen die Familie als lebenslang dominierenden sozialen Verband die Idee des Individuums stellt oder Geltung beansprucht. Dann sind tragische Konflikte vorprogrammiert: Der Mensch, hier die junge Frau leidet am Konflikt zwischen dem, was sie tun muss, und dem, was sie hätte tun mögen und tun möchte. Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ ist eine Novelle, in der ein solcher Liebeskonflikt (mit der typischen Situation des Rangunterschieds) durchgespielt wird. Dass auch Liebesehen scheitern können (Gottfried Keller: Ehescheidung) oder eventuell scheitern müssen (Nietzsche: Von der Überzeugung und der Gerechtigkeit), wusste man aber auch schon zu Storms Lebzeiten.

http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=3489 (Einbettung in die Novelle „Immensee“, 1850)

Sonstiges

https://de.wikipedia.org/wiki/Immensee_(Storm) (über die Novelle)

http://literaturen.net/theodor-storm-immensee-interpretation-1093 (dito)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Storm,+Theodor/Erz%C3%A4hlungen/Immensee (Text der Novelle)

Kutschera: Die Zukunft des Christentums – Besprechung

Der „Inhalt“ des Buches wird im Wesentlichen bereits unter http://www.roterdorn.de/inhalt.php?xz=rezi&id=11001 vorgestellt.

Die von Kutschera diskutierte Problematik (von Bonhoeffer bis Bibelkritik) ist seit langem bekannt; Kutschera will das Christentum von seinen mythischen Elementen befreien und so dessen wahren Kern, einen Glauben mündiger Menschen für die Zukunft bewahren. Dabei zieht er die Grenze zwischen „mythischer“ Erzählung und „wirklicher“ Erfahrung willkürlich: GOTT, Auferstehung und ewiges Leben, die Kutschera bewahren will, sind ja nicht weniger mythisch als Jungfrauengeburt, Sühnetod des Gottessohnes und Transsubstantiation. Wenn man ehrlich ist, kann man das Apostolische Glaubensbekenntnis nicht in eine mythische und eine wahre Hälfte aufteilen.

Kutschera betreibt wie viele andere ein Rückzugsgefecht gegenüber den Ansprüchen autonomer Vernunft; dabei lässt sich immer weniger Terrain verteidigen, wie die Erfahrung zeigt. Für das Verständnis solcher Rückzugsgefechte ist ein Diktum Nietzsches (Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 108) elementar: Neue Kämpfe. – Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Höhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen! Kutschera hat den Schatten noch nicht besiegt; er will die aus der Vergangenheit mythischen Glaubens verbliebene Hohlform des Verlangens nach Sinn und Ewigkeit mit stark verdünnter Glaubenssuppe füllen.

Nietzsches „Morgenröte“ eines unerschrockenen, ehrlichen Unglaubens sieht so aus: 501. 
Sterbliche Seelen! – In Betreff der Erkenntniss ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft: dass der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nöthig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem musste. Denn damals hieng das Heil der armen „ewigen Seele“ von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab, sie musste sich von heut zu morgen entscheiden, – die „Erkenntnis“ hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – es ist Alles nicht so wichtig! – und gerade desshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Grossartigkeit in’s Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich! Die grössten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden, – ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserem Thun jetzt voranlaufen.

Kutscheras Religionsphilosophie ist 1990 unter dem Titel „Vernunft und Glaube“ erschienen und als pdf-Datei greifbar (http://epub.uni-regensburg.de/12583/1/ubr05420_ocr.pdf), entsprechend auch in einer html-Fassung. Er fasst im Vorwort das Ergebnis so zusammen: In ihren Grundzügen entspricht die Antwort, die im folgenden auf die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft gegeben wird, jener von Kant. Mit ihm bin ich der Ansicht, daß sich Annahmen über eine transzendente Wirklichkeit theoretisch weder begründen noch widerlegen lassen (vgl. insbesondere die Abschnitte 1.2 und 1.4). Mit ihrer Unwiderlegbarkeit kann sich der Glaubende nicht zufriedengeben, denn zur Rechtfertigung seiner Haltung braucht er positive Gründe. Kants entscheidender Beitrag liegt im Hinweis auf die Möglichkeit einer praktischen Legitimierung des Glaubens. Dem entspricht im folgenden der Übergang von der Frage nach einer theoretisch-rationalen zu einer praktisch-rationalen Begründung religiösen Glaubens (vgl. 2.4 und 4.1). Vom Ansatz Kants unterscheidet sich der hier entwickelte vor allem in folgenden Punkten: Während sein praktisches Argument vom Faktum unserer Verpflichtung durch ein objektives Sittengesetz ausgeht, dessen Geltung nach seiner Meinung jedermann kraft seiner Vernunft evident ist, sehe ich in der Anerkennung objektiver Pflichten und Werte eine Entscheidung, die nicht nur Sache der Vernunft, sondern des ganzen Menschen ist (vgl. 2.4). Dadurch erhält die Begründung religiöser Annahmen gegenüber Kant ein deutlich subjektiveres Moment (vgl. 4.1). Für Kant besteht Glaube ferner in einem Fürwahrhalten von Sätzen; ich verstehe ihn als Haltung, die neben doxastischen wesentlich auch emotionale und voluntative Komponenten umfaßt (vgl. 2.4 und 3.4). Für Kant sind religiöse Aussagen endlich theoretische (metaphysische) Aussagen, hier wird ihre Signifikanz hingegen vor allem in ihrem Gehalt gesehen: in der Art und Weise, wie sie die Wirklichkeit, von der sie reden, dem Erleben nahebringen (vgl. 1.4). Daraus ergibt sich, deutlicher als bei Kant, daß sie unsere theoretische Erkenntnis nicht erweitern. (S. VIII f.)

Dieses Buch ist von Otto Muck SJ besprochen worden: http://www.uibk.ac.at/philtheol/muck/publ/religioeser_glaube.pdf

Im Jahr 2000 ist Kutscheras Buch „Die großen Fragen. Philosophisch-theologische Gedanken“ bei de Gruyter erschienen.

Eine Würdigung von Kutscheras Philosophie gibt es unter http://www.philosophie.uni-osnabrueck.de/Publikationen%20Lenzen/Franz%20von%20Kutschera.pdf;

einen kurzen Überblick über Religionsphilosophie bietet http://de.wikipedia.org/wiki/Religionsphilosophie;

das Skript einer Vorlesung ist http://www.vaticarsten.de/theologie/relphil_funda/Religionsphilosophie%20Script%20anke.pdf,

Folien https://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/beckermann/Veranstaltungen/GKTheoPhil/02-Religionsphilosophie.pdf

Dem Philosophen Franz von Kutschera verlieh die Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München am 19. Nov. 2010 die Ehrendoktorwürde.

P.S.

Über die Zukunft des Christentums zu spekulieren ist ohnehin müßig – keiner weiß, was auf uns zukommt. Wenn es jedoch darum geht zu klären, was vermutlich vom Christentum bleibt, sollte man nicht dogmatische Fragen diskutieren, sondern lieber mentalitätsgeschichtlich-historisch forschen: Im Christentum wurden mentale Muster individuellen Identitätsbewusstseins ausgebildet, die sich im 18. Jahrhundert verändert haben und heute weiter verändern (Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas, 2004, S. 282 f.).

Nietzsche: Vereinsamt – Analyse

Ein nicht benannter Sprecher wendet sich an ein Du, nachdem er zunächst seine Eindrücke vom nahenden Winter, von den zur Stadt fliegenden Krähen beschrieben (V. 1-3) und die gepriesen hat, welche „jetzt noch“, also vor dem Winter Heimat haben (V. 4).
In den nächsten vier Strophen wendet er sich an ein Du – vielleicht an sich selbst, dann würde er seine eigene Situation reflektieren; dieses Du ist in die Welt entflohen und hält jetzt inne, lange schon zurückschauend. Wegen dieses Widerspruchs wird es als „Narr“ bezeichnet (V. 7); der Ausruf „ach“ könnte auf die Identität von Sprecher und Du hinweisen: Klage des an seinem Verlust Leidenden.
In den letzten drei Strophen wird dem Ich klargemacht, was es zu tun hat: Es kann wegen seines Verlustes nirgends mehr Halt machen (Str. 3), ist zu immer weiterem Wandern verflucht (4. Strophe) und wird deshalb aufgefordert, aufzubrechen und das gewählte Schicksal des Wüstenvogels auch zu übernehmen (Str. 5).

An dieser Stelle ist etwas zu den Metaphern zu sagen: Die Welt wird als Wüste, welche stumm und kalt ist (V. 10), deklariert, metaphorisch als Tor zu tausend Wüsten; damit steht sie im Gegensatz zur Stadt, vor der das Du geflohen ist und die den Krähen Schutz und wohl auch Heimat bietet. Die Krähen schreien, aber die Wüste ist stumm, weil dort niemand ist.
Die zweite Metapher ist das Du als Vogel, womit es eine Gegengröße zu den Krähen ist. Als solche wird es aufgefordert, zu fliegen und das Wüsten-Vogel-Lied zu singen bzw. zu schnarren.
Wesentlich in der Ansprache an das Du ist es, dass der Sprecher insgesamt die Logik des Aufbrechens aufdeckt. Wer aufgebrochen ist, darf und kann nicht innehalten (Str. 2 und 3), auch wenn der Verlust gespürt wird (Str. 2). Die Notwendigkeit, die Logik des Aufbruchhandelns wird metaphorisch als Fluch gedeutet und der Logik des Rauch-Weges gleichgesetzt: in immer größere Kälte hinein.
In Str. 1 und 6 wird im Schlussvers das Schicksal der Heimatlosen allgemein und damit auch das des angesprochenen „Vogels“ beklagt, auch indem im Gegenzug die gepriesen werden, die vor dem Winter eine Heimat haben (oder finden, wie die Krähen).
Betont sind die Wörter, die das Schicksal des Flüchtlings ausdrücken:
Stadt (V. 2), als Heimat (V. 4);
starr (V. 5), bleich (V. 13) als Zustand des Flüchtlings;
entflohn – (nirgends) halt – verflucht: das Schicksal des Vogels;
Narr (zweimal): als der, der seinen eigenen Weg nicht begreift.
die Imperative „Flieg“ und „Versteck“ als Forderungen an ihn.
Der ungleichmäßige Rhythmus (zwei- und vierhebige Jamben), der Kreuzreim und die Enjambements drängen zu einem schnellen Sprechtempo. Doch die beiden Zeichen – und ! gebieten Pausen, damit der Vogel die Mahnungen des Sprechers auch begreifen kann. Er ist und bleibt „vereinsamt“.
(Natürlich ist diese Analyse nicht vollständig; sie stellt den Versuch dar, in 20 min das zu erfassen, was ein Schüler Kl. 11 in zwei Schulstunden zu Papier bringen sollte.)

Nietzsche: Vereinsamt – Prozess des Verstehens: ein Versuch
Überschrift „Vereinsamt“: Wer? Warum?
1. Strophe: Es wird eine Situation beschrieben:
* Krähen ziehen zur Stadt.
* Bald wird es schnein. (Wer erwartet das?)
* Gepriesen werden alle (Menschen), die eine Heimat haben.
– Stadt als Heimat, als Schutz vor Winterkälte?
2. Strophe: Es wird (von wem?) ein Du angesprochen, wer ist das?
* Das Du steht starr, schaut rückwärts.
* Es ist vor Winters in die Welt geflohen. Beides zusammen ergibt: „du Narr“
* zeitliche Dimension: Nun – vor Winters;
– „in die Welt“ heißt: von der Stadt weg? und vom Schutz weg?
3. Strophe: Dem Du wird etwas erklärt:
* dass die Welt ein Tor zu tausend Wüsten ist, stumm und kalt, eine Anti-Heimat;
* dass das Du nirgends Halt machen kann oder darf (modal!?),
weil sein Verlust so riesengroß ist.
– Was hat das Du verloren, die Stadt-Heimat?
– Warum kann es nirgends Halt machen?
a) Welt ist unendlich groß (tausend Wüsten),
b) in der Welt ist man heimatlos: Kälte (ewiger Winter).
– Warum hat es „alles“ verloren? Es ist selber in die Welt geflohen!
4. Strophe, parallel der 2. Strophe: Wieder ist das Du angesprochen,
wieder in seinem „Nun“: bleich, also wie starr in der Welt-Kälte stehend,
also zur Winterwanderschaft verflucht (bestimmt sein),
also vom Bewegungsgesetz des Rauches bestimmt: raus in die größere Kälte!
5. Strophe: Der Sprecher zieht die Konsequenzen für das Du:
Er fordert, dass der Vogel fliegt (aufbricht) und sein eigenes
Lied singt (Wüstenvogel: in die Welt fliegender Vogel, Anti-Krähe)
und sein blutendes Herz versteckt „in Eis und Hohn“.
– Wesen Herz blutet? Das dessen, der rückwärts schaut;
das eigene Leiden verstecken in der Kälte, Eis als das Element des
Winters, der Welt, der Kälte.
* Die Rede an das Du läuft also auf zwei Forderungen hinaus.
Das Du ist selber in die Welt hinaus geflohen,
hält nun (!) inne, kann das aber nach Einsicht des Sprechers nicht wirklich tun,
weil das Gesetz der von ihm gewählten Bewegung anderes gebietet;
deshalb soll es nun (!) die angefangene Bewegung fortsetzen.
6. Strophe: Der Sprecher wendet sich vom Du ab, wieder der Situation zu,
und beklagt die Heimatlosen, zu denen auch das Du gehört.
Fazit: Erkenntnisgrund sind die Sprechakte des Sprechers und dann die Sätze (nicht Wörter!), in denen er jene realisiert, im Sinn-Zusammenhang: schreiend zur Stadt-Heimat fliegen (Krähen) vs. in die stumme Welt-Wüste gehen (du); Heimat haben vs. Kälte erleiden. // Unklar bleibt hier das Verhältnis von Sprecher und Du.

Zweite Analyse

Dieses Gedicht erschließt sich wie so viele nicht als eine Abfolge von Ereignissen, wie  sie in Erzählungen dargeboten werden, oder in der systematischen Gedankenführung einer Erörterung, sondern vom Sprecher und seinem Tun her. Ein nicht benannter Sprecher wendet sich an ein Du, nachdem er zunächst seine Eindrücke vom nahenden Winter sowie von den zur Stadt fliegenden Krähen beschrieben (V. 1-3) und alle diejenigen  gepriesen hat, welche „jetzt noch“, also in der Nähe des Winters Heimat haben (V. 4).
Der Rhythmus der ersten Strophe ist wie bei den späteren von der unterschiedlichen Länge der Verse bestimmt: ein Wechsel von zwei- und vierhebigen Jamben; das bedeutet, dass V. 1 und 3 langsam gesprochen werden, weil sie als Verse die gleiche Sprechzeit wie die längeren Verse 2 und 4 „beanspruchen“; zudem bestehen V. 1 und 3 aus relativ eigenständigen Sätzen. Beschleunigt wird das Sprechen dann durch die Reimform Kreuzreim, die zunächst keinen Ruhepunkt bietet, durch eine Art Enjambement in V. 1 und 3 (deutlicher in der 3. und 5. Strophe) und eben die Tatsache, dass in V. 2 und 4 jeweils vier Takte unterzubringen sind. „schrein“ und „Stadt“ werden betont, Spekte des Krähenlebens, danach „bald“ als Ankündigung einer großen Veränderung, ein bisschen auch „wohl“ in „wohl dem“ (V. 4). Stark wird „Heimat“ betont als das Reich der Geborgenheit, auch „schnein“ als der neue Zustand, welcher sich spürbar ankündigt. Der Gedankenstrich in V. 3 gebietet eine Pause und gibt dem „schnein“ noch mehr Gewicht, der in V. 4 setzt einen Akzent auf „Heimat“.
In den nächsten vier Strophen wendet der Sprecher sich an ein Du – vielleicht an sich selbst, dann würde er seine eigene Situation reflektieren; die andere Möglichkeit wäre, dass er als nichtgenanntes Ich sich an ein vor ihm stehenes Du wendet. Wenn man das Verhältnis von Ich und Du insgesamt betrachtet und sieht, wie das Du energisch aufgefordert wird, sein selbstgewähltes Schicksal anzunehmen (vgl. Str. 5), wird man den mitleidigen Ausruf „ach!“ (V. 6) als Mitleid mit sich selbst auslegen können und dann die Situation so verstehen, dass ein Ich zu sich selber spricht.
Das Ich nimmt also nun sich selbst wahr, als „starr“ und „bleich“ stehend, also dem Gesetz der Kälte unterworfen, dazu rückwärts schauend – zur Stadt, wie sich aus der Fluchtrichtung „Welt“ ergibt (V. 7 f.). Das Ich fragt sich also, warum es überhaupt  geflohen ist, wenn es sich doch zurücksehnt – wer so widersprüchlich handelt, ist ein „Narr“; so beschimpft das Ich sich (Du) wegen seiner eigenen Inkonsequenz.
Es greift dann das Stichwort „Welt“ auf und erklärt sich, was „Welt“ als Ziel der eigenen Flucht bedeutet: „ein Tor / zu tausend Wüsten stumm und kalt“. Damit ist Welt als Bereich der gesteigerten (hyperbolisch: tausendfach, V. 10) Kälte definiert, der das Ich durch seine Flucht zugehört. Es hat also freiwillig die Stadt-Heimat aufgegeben. In den nächsten drei Strophen wird dem Ich klargemacht, was es gemäß der Logik seiner eigenen Entscheidung zu tun hat: Es kann wegen seines Verlustes nirgends mehr Halt machen (Str. 3), ist zu immer weiterem Wandern verflucht (4. Strophe) und wird deshalb aufgefordert, aufzubrechen und das gewählte Schicksal des Wüstenvogels auch zu übernehmen (Str. 5).
Eine neue Selbstvergewisserung besagt, dass das Ich „zur Winter-Wanderschaft“ verflucht“ ist (V. 14); „verflucht“ heißt, dass diese Wanderschaft unentrinnbare Bestimmung höherer Gewalten ist; Winter-Wanderschaft ist der Gegensatz zum Verweilen in der Heimat (V. 4). Damit fällt das Ich nicht unter die, die zu preisen sind (V. 3 f.), sondern gehört zu denen, über deren Geschick nur „Wehe!“ (V. 23 f.) steht. In einem Vergleich mit dem Bewegungsgesetz des Rauches wird die innere Notwendigkeit der unaufhörlichen Winter-Wanderschaft erklärt: Der Rauch steigt immer weiter empor, muss stets „nach kältern Himmeln“ suchen; immer tiefer in die Kälte hinein, das ist die Logik dieser Bewegung. Über die Kälte ist der lebensfeindliche Winter (Str. 1) mit der Wüstenwelt (V. 9 f.) verbunden. Die Welt, als Wüste, welche stumm und kalt ist (V. 10), deklariert, metaphorisch das Tor zu tausend Wüsten, steht damit im Gegensatz zur Stadt, vor der das Du geflohen ist und die den Krähen Schutz und wohl auch Heimat bietet. Die Krähen schreien, aber in der Wüste ist es stumm, weil dort niemand ist.
Die zweite Metapher ist das Du als Vogel, womit es eine Gegengröße zu den Krähen ist. Als solche wird es aufgefordert, zu fliegen und das Wüsten-Vogel-Lied zu singen bzw. zu schnarren (5. Str.). Diese Aufforderung trägt das Ich vor, weil es das Lebens- und Bewegungsgesetz verstanden hat und so dem Du klarmachen kann.  Es folgt die zweite Aufforderung, welche mit dem unpassenden Selbstmitleid (V. 5 f.) konsequent aufräumt: „Versteck… dein blutend Herz in Eis und Hohn!“ (V. 19 f.) „Eis und Hohn“ ergibt einen Bildbruch, da man zwar das blutende, also an der Heimatlosigkeit leidende Herz vielleicht „in Eis“ verstecken kann (obwohl auch schon unklar ist, wie das geschehen soll: Es kann nur heißen, in die stumme kalte Wüste hineinzugehen), sicher aber nicht „in Hohn“ – man kann sein Leiden allerdings hinter höhnischen Reden verbergen.
Nachdem das Ich sich oder dem Du solchermaßen klargemacht hat, was zu tun ist, wenn man einmal aus der Stadt-Heimat geflohen ist, wendet der Sprecher sich wieder der vorwinterlichen Landschaft zu und wiederholt seine erste Äußerung, diesmal nur mit der Wehklage über die Heimatlosen. In dieser Wehklage entfernt sich das sprechende „Ich“ vom Du und seiner Entscheidung, in die Welt zu fliehen; entweder wird man also doch den Sprecher und das Du auf zwei verschiedene Personen verteilen – dann kann das Ich an seiner Wertschätzung von Heimat-Haben festhalten; oder man wird einen Riss in der einen Person annehmen müssen, der trotz ihrer Entscheidung zur Flucht die Heimat fehlt – Heimat, welche von den anderen Vögel vor Winter angeflogen wird, während der Wüsten-Vogel in die Kälte aufbrechen muss. Spricht für die zweite Möglichkeit nicht die erneute Verwendung des Prädikats „Narr“ (V. 19)? Auch im Denken des Sprechers hakt es; denn wenn die Welt ein Tor zu kalten Wüsten ist, ist völlig gleichgültig, wann man dahin flieht – „vor Winters“ (V. 8) bedeutet das Gleiche wie eine Flucht zu einem anderen Zeitpunkt: Die Zeitangabe und die Metaphern vertragen sich nicht miteinander; die Metaphern machen rationale Erwägungen zunichte.
Der Rhythmus in den Strophen 2 – 5 gleicht dem der 1. Strophe; außerhalb des Jambus sind noch „nun“ (V. 5 und 13) und der Imperativ „Flieg“ (V. 17) betont, die 6. Strophe ist rhythmisch gleich der ersten.
Betont sind insgesamt die Wörter, die das Schicksal des Flüchtlings ausdrücken:
„starr“ (V. 5), „bleich“ (V. 13) als Zustand des Flüchtlings;
„entflohn“ – „(nirgends) halt“ – „verflucht“: das Schicksal des Vogels;
„Rauche“ und „kältern“: die Vergleichsgröße;
„schnarr“ und „Lied“: das Gebot der Stunde;
„Narr“ (zweimal): als der, der seinen eigenen Weg nicht begreift;
„Eis“ und „Hohn“ als die passenden Verstecke;
die Imperative „Flieg“ und „Versteck“ als Forderungen an ihn.
Warum ist der Flüchtling vor der Stadt – das wird so zwar nicht gesagt, ist aber im Gegenzug zur „Welt“ und zum Krähenziel „Stadt“ anzunehmen – geflohen? Das wird nicht klar; es ist ein pures Faktum, wenn man nicht eine Abneigung gegen die Stadt als Ort der schreienden Krähen annehmen will. Mit aller Vorsicht könnte man auch im Riss, der durch den Flüchtling geht, ein Bild der Zerrissenheit Nietzsches sehen. Aber das ist eine andere Frage, die hier nicht zu erörtern ist.
[Auch diese zweite Analyse ist nicht vollständig; die zahlreichen Alliterationen verdienten noch, beachtet zu werden: stehst – starr (V. 5), Winter-Wanderschaft (V. 14) u.a.; auch die Semantik der Reime gehörte beachtet: „Nun stehst du bleich / dem Rauche gleich“, sodass die Kälte der Welt ihren doppelten Ausdruck findet. „Flieg, Vogel, schnarr / Versteck, du Narr“, es heißt nämlich, konsequent zu handeln, usw.]

Hier spricht Nietzsche (2)

Zweites Gespräch mit F. Nietzsche über seine frühen Einsichten [Sentenzen von 1877 – Kritische Studienausgabe, Bd. 8]

Herr Nietzsche, mir ist aufgefallen, dass Sie selber von Sentenzen sprechen, während heute in der Literatur normalerweise von Aphorismen gesprochen wird; ich übernehme, nachdem ich Ihre unveröffentlichten Äußerungen von 1877 kennengelernt habe, gern Ihren Sprachgebrauch. Was ist eine Sentenz?

„Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle: dies heisst sehr viel verlangen.“

Sie haben in diesem Jahr gelegentlich über die Leistungen von Sentenzen nachgedacht. Warum schreiben Sie selber Sentenzen?

„Eine Sentenz muss, um geniessbar zu sein, erst aufgerührt und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichten) versetzt werden. Das verstehen die Meisten nicht und desshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen.“

Nicht so bescheiden, Herr Nietzsche! Sie schreiben im Konzept einer Vorrede für „Menschliches, Allzumenschliches“, dass Sie ein „Reisebuch unterwegs zu lesen“ machen wollten; aber weil wir heute insgesamt nicht wirklich reisen, wenn wir verreisen, will ich das Bild „Reisebuch“ ruhen lassen. – Sprechen wir lieber von Ihnen: Sie gehen mit Ihren jetzigen Gedanken unmittelbar bis an Ihr nächstes Buch „Menschliches, Allzumenschliches“ heran. Sie können mit manchen früheren Gedanken nicht mehr zufrieden sein – es erklingen neue Töne.

„Wer sich erlaubt öffentlich zu sprechen ist verpflichtet sich auch öffentlich zu widersprechen, sobald er seine Meinungen ändert.“

Ich habe den Eindruck, dass Sie in den letzten Jahren eine Lebensschwelle überschritten haben, vielleicht die magische Altersgrenze 30 – Sie sind vom Jahrgang 1844.

„Geist der Jugendlichkeit, der Vorrechte, selbst zu einigen Unarten hat, – diess fehlt mir jetzt.“

Anderseits ist die Jugend auch die Zeit der Irrtümer, des Suchens: Ist es nicht gut für jeden, wenn sie vorüber ist?

„Wenn der Mensch  s o f o r t  mit  E i n s i c h t  in die Wahrheit begabt wäre, die Schule des Irrthums nicht durchgemacht hätte?“

Das wäre allerdings auch ein Verlust – aber man muss schon über 30 oder 40 Jahre sein, um die Zeit des Suchens nicht als vertan zu betrachten. Worin besteht der Gewinn Ihrer jugendlichen Irrtümer?

„Man  m u ß  Religion und Kunst verstehen – sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaus sehen können; bleibt man darin, so  v e r s t e h t  man sie nicht. Ebenso ist die Metaphysik eine Stufe, auf der man gestanden haben muß.“

Und was gewinnt man, wenn man sie überwindet?

„Man muss eine Zeitlang im metaphysischen Dunstkreis gelebt haben, nur um zu erfahren, wie wohl es thut in nüchterner Morgenfrische alle Dinge zu sehen und tiefen Athem in reiner Luft zu schöpfen.“

Wie schätzen Sie Ihren derzeitigen Stand der Erkenntnis ein? Sind Sie der Wahrheit näher gekommen? Haben Sie sie gefunden?

„Nachdem ich von Jahr zu Jahr mehr gelernt habe, wie schwierig das Finden der Wahrheit ist, bin ich gegen den Glauben, die Wahrheit gefunden zu haben mißtrauisch geworden: er ist ein Haupthinderniß der Wahrheit.“

Vielleicht sollen wir noch einmal am Beispiel die Eigenart der alten Denkweise darstellen.

„Ist für etwas z.B. Eigenthum Königthum die Empfindung erst erregt, so wächst sie fort, je mehr man den Ursprung vergißt. Zuletzt redet man bei solchen Dingen von ‚Mysterien‘, weil man sich einer überschwänglichen Stärke der Empfindung bewußt ist, aber genau genommen keinen rechten Grund dafür angeben kann. Ernüchterung ist auch hier von Nöthen, aber eine ungeheure Quelle der Macht versiegt freilich.“

Wie meinen Sie das? Welche Quelle versiegt?

„Wenn die Menschen nicht für Götter Häuser gebaut hätten, so läge die Architektur noch in der Wiege. Die Aufgaben, welche sich der Mensch auf Grund falscher Annahmen stellte (z.B. Seele loslösbar vom Leibe), haben zu den höchsten Culturformen Anlaß gegeben. Die ‚Wahrheiten‘ vermögen solche Motive nicht zu geben.“

Und was macht Ihre neue Denkweise aus?

„Aristoteles meint, der Weise sojo  [Lies „sophós“, N.T.] sei der, welcher sich nur mit dem Wichtigen Wunderbaren Göttlichen beschäftige. Da steckt der Fehler in der ganzen Richtung des Denkens. Gerade das Kleine Schwache Menschliche Unlogische Fehlerhafte wird übersehn und doch kann man nur durch sorgfältigstes Studium desselben  w e i s e  werden.“

Wodurch ist auf Seiten der Philosophen das falsche Denken zustande gekommen? Es müssen doch methodische Fehler vorliegenen, wenn man so selbstgewiss in die falsche Richtung marschiert.

„Der Fehler fast jeder Philosophie ist ein Mangel an Menschen-Kenntniss, eine ungenaue psychologische Analyse. Die Moralisten fördern insofern die Erkenntniss mehr als sie sich bei den vorhandenen Analysen der menschlichen Handlungen nicht beruhigen.

Um die falschen psychologischen Facta breitet der Philosoph sein Naturwissen und hüllt alles in metaphysisches Bedürfniss.“

Die Grenze zwischen Philosophie, die ihren Namen verdient, und allen tiefsinnigen Spekulationen muss also ganz streng gezogen werden.

„Eine Philosophie mit religiösen Bedürfnissen erfassen heisst sie völlig missverstehen. Man sucht einen neuen Glauben, eine neue Autorität – wer aber Glaube und Autorität will, der hat es an den hergebrachten Religionen bequemer und sicherer.“

Sie sprechen auch davon, dass die Popularität des Philosophierens zu Ihrer Zeit darauf beruhte, dass es „ein vergnügliches, unter Umständen geistreiches Herumwerfen der philosophischen Ideen-Fangbälle“ war (23/126). Was macht eine lockere „Philosophie“ attraktiv – abgesehen davon, dass sie wenig Mühe bereitet?

„Philosophie ist die Fata Morgana welche die Lösung den ermüdeten Jüngern der Wissenschaften vorspiegelt.“

Eine Ihrer methodischen Entdeckungen ist es, die Geschichte der moralischen Empfindungen zu erforschen oder zu rekonstruieren. Welche persönlichen Motive stecken hinter dieser Methode?

„Es ist kein Zweifel, dass zur Vermehrung der geistigen Freiheit in der Welt die Gewissenbisse wesentlich beigetragen haben. Sie reizten häufig zu einer Kritik der Vorstellungen, welche, auf Grund früherer Handlungen, so schmerzhaft wirkten; und man entdeckte, dass nicht viel daran war, ausser der Gewöhnung und der allgemeinen Meinung innerhalb der Gesellschaft, in welcher man lebte. Konnte man sich von diesen beiden losmachen, so wichen auch die Gewissensbisse.“

Gibt es andere bedeutende Entdeckungen in Fragen der Moral, welche sich der historischen Methode verdanken?

„Das  M i t g e f ü h l  mit dem Nächsten ist ein  s p ä t e s  Resultat der Cultur: wie weit muß die Phantasie entwickelt sein, um anderen wie uns selber nachzufühlen (erst wenn wir gelernt unsere eigenen  n i c h t  gegenwärtigen Schmerzen und Freuden durch die Erinnerung nachzufühlen und wie gegenwärtige zu empfinden). Vielen Antheil hat gewiß die Kunst, wenn sie uns lehrt, Mitleiden selbst mit vorgestellten Empfindungen unwirklicher Personen zu haben.“

Mitgefühl mit dem Nächsten, mit den Mitmenschen scheint Ihre Sache nicht zu sein. Sie gehen auch viel allein spazieren, weichen den volkstümlichen Lustbarkeiten aus.

„Man muss sehr flach sein, um aus den gewöhnlichen Gesellschaften nicht mit Gewissensbissen heimzukehren.“

Sie scheinen von der Intelligenz Ihrer Mitmenschen nicht überzeugt zu sein?

„Mancher trifft den Nagel, aber nicht auf den Kopf, er macht das Problem heillos schief. Es wäre besser, er hätte die Sache ganz verfehlt.“

Wie kann man denn mit solchen Mitmenschen zu Rande kommen?

„Die Klugheit gebietet, sich für das,  w a s   m a n   g i l t , auch zu  g e b e n  oder vielleicht für etwas Geringeres.“

Zu Ihnen: Sie fühlen sich in der Nähe einer Frau bedroht. Auch schöne Frauen könnten Sie nicht mit dem Gedanken an eine Ehe spielen lassen?

„Ich finde den Mangel an Gerechtigkeitssinn bei Frauen  e m p ö r e n d. Wie sie mit ihrem dolchspitzen Verstand verdächtigen usw.“

Soll das heißen, dass nur wenige Frauen in Ihren Augen etwas wert sind – sozusagen die „männlichen“, besonders gebildeten Frauen?

„Unterschätzen wir auch die flacheren lustigen lachsüchtigen Weiber nicht, sie sind da zu erheitern, es ist viel zu viel Ernst in der Welt. Auch die Täuschungen auf diesem Gebiete haben ihren Honigseim.“

Ich möchte noch auf die Politik zu sprechen kommen. Eine der großen Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts ist der Sozialismus. Worin liegt seine Kraft?

„Der Socialismus beruht auf dem  E n t s c h l u s s  die Menschen g l e i c h  zu setzen und gerecht gegen jeden zu sein: es ist die höchste Moralität.“

Am Sozialismus werden Sie noch mehr Kritik üben, etwa in „Menschliches, Allzumenschliches“. Vielleicht sollten wir auch einen Blick auf unsere rührigen Politiker werfen.

„Die munteren hüpfenden Bewegungen des Wallfisches machen Freude als ob sie Spiel und Lust bedeuteten: inzwischen ist es die Qual die die Natur im Innern ihm macht. So bewundert man die Munterkeit großer Staatsmänner.“

Deutschland war nach 1871 vom militärischen Erfolg über Frankreich geblendet; heute fehlt es an Ideen, vor allem aber an Geld.

„Die deutsche Zukunft ist nicht die der deutschen Geldbeutel.“

Eine letzte Frage, Herr Nietzsche. Ihre Begeisterung für Richard Wagner und seine Musik scheint nicht mehr ungetrübt zu sein. Was soll man tun, wenn eine so große Liebe zerbricht?

„Erfahrene Menschen kehren ungern zu Gegenden, zu Personen zurück, die sie einst sehr geliebt haben. Glück und Trennung sollen an ihren Enden zusammengeknüpft werden: da trägt man den Schatz mit fort.“

Vielen Dank, Herr Nietzsche, für dieses Gespräch.

(Das Gespräch fand am Abend des 28.12. 1997 in Jüchen statt.)

Hier spricht Nietzsche (1)

Mein Gespräch mit F. Nietzsche über seine frühen Einsichten [Fragmente von 1876 – Kritische Studienausgabe Bd. 8]

Herr Nietzsche, beginnen wir mit Ihnen und Ihrem Beruf. Sie sind Altphilologe, befassen sich also mit der Kultur der Antike, vor allem mit griechischen und lateinischen Schriftstellern. Wozu ist das heute noch gut?

„Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewöhnung ist sein Verdienst.“

Wenn Sie so langsam lesen, schaffen sie nicht viel an einem Tag.

„Sich Zeit lassen zum Denken: das Quellwasser muß wieder zusammenlaufen.“

Sind Ihre Kollegen fleißiger als Sie?

„Über den Fleiss machen die Gelehrten viele schöne Worte; die Hauptsache ist, dass sie sich ohne ihren Fleiss zu Tode langweilen würden.“

Das klingt beinahe so, als ob Sie das Lob der Faulheit sängen.

„Es ist ein Unglück der Thätigen dass ihre Thätigkeit immer ein wenig unvernünftig ist: sie rollen so bewusstlos fort wie der Stein fällt.“

Wenn Sie so leben und arbeiten, Herr Nietzsche, bekommen Sie vieles von dem, was in der Welt geschieht, überhaupt nicht mit.

„Die moderne Krankheit ist: ein Übermaaß von  E r f a h r u n g e n. Deshalb gehe jeder zeitig mit sich heim um nicht an den Erfahrungen sich zu verlieren.“

Sie lehren nicht nur an der Universität, sondern haben auch an einem Gymnasium in Basel die alten Sprachen unterrichtet. Wie beurteilen Sie die Organisation des Unterrichts an dieser Schulform?

„Hauptfehler des heutigen Unterrichts ist, daß er stundenweise gegeben wird und alles durcheinander.“

Sie sprechen etwas abfällig von „alles durcheinander“ – könnten die Schüler so nicht lernen, Querverbindungen herzustellen, selbständig zu denken, den vermeintlichen Autoritäten zu widersprechen?

„Dreiviertel aller Lügen sind durch die Antithese in die Welt gekommen.“

Wie kann man denn verhindern, dass wir zum schnellen Widersprechen verführt wird? Kann man eine einseitige Sicht der Dinge vermeiden?

„Um eine Sache  g a n z  zu sehen, muss der Mensch zwei Augen haben, eins der Liebe und eins des Hasses.“

Aufklärung war das Ziel des vergangenen Jahrhunderts, Aufklärung ist auch ein Hauptmotiv Ihres Denkens. Welcher Mechanismus hält die Menschen in ihrer Unmündigkeit fest?

„Das Ansehen der Ärzte beruht auf der Unwissenheit der Gesunden und Kranken: und diese Unwissenheit wiederum beruht auf dem Ansehen der Ärzte.“

Das klingt so, als ob wir politisch wieder mit 1776 und 1789, intellektuell mit Voltaire und Kant beginnen müssten.

„Ein freidenkender Mensch macht die Entwicklung ganzer Generationen durch.“

Bleibt die Aufklärung politisch und sozial ohne Ergebnis, ohne Folgen?

„Der neue Glaube kann keine Berge, wohl aber Worte versetzen.“

Wie würden Sie die Freiheit, die Sie erhoffen, umschreiben? Welche Merkmale machen einen freien Menschen aus?

„Mit der Freiheit steht es wie mit der Gesundheit: sie ist individuell.“

Können wir mit individueller Freiheit leben? Brauchen wir als Wesen, die wie Staubkörner im Weltall sind, nicht einen letzten Halt, also jemand oder etwas, zu dem wir aufschauen und an dem wir uns festhalten?

„Den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit soll man wie die ersten Zähne verlieren, dann wächst einem erst das rechte Gebiss.“

Aber es gibt doch bei vielen so etwas wie ein metaphysisches Bedürfnis?

„Das sogenannte metaphysische Bedürfniß beweist nichts über eine diesem Bedürfnisse entsprechende Realität: im Gegentheil, weil wir hier bedürftig sind, so hören wir die Sprache des Willens, nicht die des Intellekts und gehen irre, wenn wir dieser Sprache glauben. Ein Gott wäre anzunehmen, wenn er beweisbar wäre,  o h n e  daß ein Bedürfniß ihn uns nöthig erscheinen ließe.“

Widersprechen die christlichen Feste und Gebräuche, widersprechen die zahlreichen Kirchen im ganzen Land nicht sichtbar ihrem Skeptizismus?

„Beim Anblick der zahllosen Kirchen, welche das Christenthum einstmals baute, muß man sich sagen: es ist gegenwärtig nicht genug Religion da, um diese Gebäude abzutragen. Ebenfalls: es fehlt jetzt an Religion, um die Religion auch nur zu vernichten.“

Wie kann das sein: Wie kann Gott tot sein, wenn die Gotteshäuser bestehen?

„Wenn man einen  G l a u b e n  umwirft, so wirft man nicht die  F o l g e n  um, welche aus ihm herausgewachsen sind. Diese leben vermöge des Herkommens weiter: das Herkommen schließt die Augen über den Verband von Glauben und Folge. Die Folge erscheint ihrer selbst wegen da zu sein. Die Folge verleugnet ihren Vater.“

Wovon lebt letztlich das unfreie Denken? Was hindert die Menschen, ihrem metaphysischen Bedürfnis nicht nachzugeben?

„Es ist in der Art der gebundenen Geister, i r g e n d   e i n e  E r k l ä r u n g  keiner vorzuziehn; dabei ist man genügsam, Hohe Cultur verlangt, manche Dinge ruhig unerklärt stehen zu lassen: επεχω.“

Sie haben im September eine Reihe von Notizen „Menschliches und Allzumenschliches“ überschrieben. Ich darf Ihnen verraten, dass Sie 1878 ein ganzes Buch unter einem ähnlichen Titel veröffentlichen werden – Sie sind offenbar an einer Stelle angekommen, wo neue Einsichten sich Ihnen aufdrängen. Fangen wir mit dem Allzumenschlichen an.

„Menschen, deren Umgang uns unangenehm ist, thun uns einen Gefallen, wenn sie uns einen Anlass geben, uns von ihnen zu trennen. Wir sind hintendrein viel eher bereit, ihnen aus der Ferne Gutes zu erweisen oder zu gönnen.“

Kennen Sie ein anderes Beispiel für unsere allzumenschliche Güte?

„Man schenkt jemandem lieber sein ganzes Herz als sein ganzes Geld. – Wie kommt das? – Man schenkt sein Herz und hat es noch, aber das Geld hat man nicht mehr.“

Gibt es in dieser allzumenschlichen Suppe auch Brocken, die sie nicht mögen und am liebsten ausspucken würden?

„Jeder, der geheimnissvoll von seinem Vorhaben spricht, oder der merken lässt, dass er gar nicht davon spreche, stimmt seine Mitmenschen ironisch.“

In den 10 Geboten des Freigeistes [Herbst 1876: 19/77] heißt das zweite: „Du sollst keine Politik treiben.“ Aus welchem Grund lehnen Sie das politische Agieren und Taktieren ab?

„Ein Staatsmann zertheilt die Menschen in zwei Gattungen, erstens Werkzeuge, zweitens Feinde. Eigentlich giebt es also für ihn nur Eine Gattung von Menschen: Feinde.“

Sie setzen also auf Freundschaft, nicht auf Feindschaft. Welches Ideal menschlicher Verbundenheit schwebt Ihnen vor?

„Die, welche sich mit uns freuen können, stehen höher und uns näher als die, welche mit uns leiden. Mitfreude macht den „Freund“ (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefährten. – Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergänzung durch die noch höhere Ethik der Freundschaft.“

Sie halten nicht viel vom Mitleid mit den Mitmenschen, mit unserem Nächsten?

„Herzliches Mitleid mit sich selbst ist die höchste Empfindung, zu der es der Mensch gebracht hat.“

Unser Gespräch ist inzwischen bei der Ethik angekommen, bei der Frage also, wie wir richtig und gut leben können. Wissen wir, was wir tun sollen? Gibt es eine verlässliche Grundlage der Ethik?

„Auf die reine Erkenntniss der Dinge lässt sich keine der bisherigen Ethiken gründen; aus ihr folgt allein diess, dass man sein muss, wie die Natur, weder gut noch böse. Die Forderung, gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen.“

Wenn wir weder gut noch böse, sondern einfach dasein müssen, fallen die Maßstäbe fort. Wie können wir dann noch urteilen?

„Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, niemand für sein Wesen: richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich richtet.“

Also auch das, was böse ist oder was wir böse nennen, hat seinen eigenen Wert?

„Man unterschätzt den Werth einer bösen That, wenn man nicht in Anschlag bringt, wie viel Zungen sie in Bewegung setzt, wie viel Energie sie entfesselt und wie vielen Menschen sie zum Nachdenken oder zur Erhebung dient.“

Nein, im Ernst gesprochen: Haben böse Taten wirklich ihr Gutes?

„In Lastern und bösen Stimmungen sammelt sich oft der gute Hang in uns sein Quellwasser, um dann stärker hervorzubrechen. Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.“

Sie haben vorhin spöttisch bemerkt, dass man lieber sein Herz als sein Geld verschenkt. Heißt das, dass die Liebe eine Illusion ist?

„Der Eitele und der Verliebte wähnen, einer andren Person wegen eitel oder verliebt zu sein.“

Sie selber sind nicht verheiratet, und ich darf Ihnen verraten, dass Sie auch nie heiraten werden. Aber manchmal sind Sie mit Heiratsanträgen schnell bei der Hand. Woher kommen diese Widersprüche?

„Die Illusion des Geschlechtstriebs ist ein Netz, das, wenn es zerrissen wird, sich immer von selbst wieder strickt.“

Aber eine Ehe findet doch nicht nur im Bett statt, auf Dauer sogar zu einem geringen Teil. Gibt es andere Gründe, welche es schwierig erscheinen lassen, verheiratet zu sein?

„Das Beisammensein der Ehegatten ist das Hauptmittel, um eine gute Ehe selten zu machen, denn selbst die besten Freundschaften vertragen diess nur selten.“

Spontan fällt mir hierzu Schopenhauers Parabel von den Stachelschweinen ein: Sie frieren, wenn sie weit voneinander entfernt leben, und verletzen sich gegenseitig, wenn sie zu nah beieinander sind.

Herr Nietzsche, was Ihr Denken betrifft, galt dieses Gespräch Ihren Anfängen. Sie haben einiges gesagt, was Sie sicher noch vertiefen, ausbauen, vielleicht auch verschärfen werden. Wir dürfen auf weitere Gespräche mit Ihnen gespannt sein. Ich danke Ihnen. Bis zum nächsten Mal!

(Das Gespräch fand am 28. Dezember 1997 in Jüchen statt.)

Wenn ich mich nicht irre, habe ich diese Art des Interviews erfunden – die ersten drei Gespräche dieser Art sind in meinem Buch „Kennen Sie Nietzsche?“ (dtv 30655, November 1997) veröffentlicht worden. – Vgl. auch meinen Beitrag bei lehrer-online zur Methode: http://www.lehrer-online.de/nietzsche-gespraech.php?sid=21948063412221184625880218022310