Es gibt zwei Sorten Ratten…
Text
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Heine/ratten.htm (mit Erläuterungen)
http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Gedichte/Nachlese/Zeitgedichte/Die+Wanderratten (Nachlese: Zeitgedichte)
„Die Wanderraten“ sind unter der Überschrift „Aus dem Schwanengesange eines deutschen Dichters“ erst 1869 erschienen, in der „Gartenlaube“; wann das Gedicht entstanden ist, ist unklar. Heute steht es unter „Zeitgedichte“ in den Nachgelesenen Gedichten Heines. Es hat Züge einer Ballade oder Fabel. Die Form ist eigenwillig: In den beiden ersten Versen jeder Strophe sind drei Hebungen zu finden, in den beiden letzten vier Hebungen; alle mit freier Füllung. Ab Strophe 10 besitzen auch die beiden ersten Verse vier Hebungen. Die Verse weisen Paarreim und einen unbetonten Auftakt auf; nur in V. 45, vielleicht auch in V. 41-43 ist das erste Wort betont, vielleicht auch in V. 55. Die Form ist also volkstümlich, auf breite Rezeption angelegt. Das Gedicht weist eine Reihe sprachlicher Feinheiten auf, die hier nur summarisch erläutert werden können.
Es spricht ein Mensch über „die Wanderraten“; er wertet die Ratten („Bestialisierung“ als Mittel der bürgerlichen Polemik) als Tiere deutlich ab (v.a. ab 4. Str.) und nimmt dabei später ausdrücklich in der wörtlichen Rede die Perspektive der von den heranstürmenden Ratten bedrohten Bürger ein: „O wehe! Wir sind verloren…“ (V. 33 f.).
In den ersten drei Strophen werden die Wanderratten eingeführt und in ihrem „Wandern“ beschrieben. Dabei fällt auf, dass ihr Vormarsch („in ihrem grimmigen Lauf“, V. 7) unaufhaltsam ist; sie sind die hungrigen Ratten, die wie eine eigene Art von den satten unterschieden werden (V. 1 ff.). Mit den Adjektiven „vergnügt“ und „grimmig“ (V. 3, 7) werden erstmals menschliche Attribute auf die Ratten übertragen.
Dies geschieht vermehrt in Str. 4-7, wo die Eigenart der „radikalen“ Ratten (V. 16) so eindeutig umschrieben wird, dass sie als die Kommunisten zu erkennen sind: „egal“ (also gleich), „radikal“, ohne Religion (V. 20 bedarf einer weiteren Klärung), wollen fressen und saufen, „ohne Geld“ (also arm) und wünschen „aufs neue zu teilen die Welt“ (V. 28): revolutionäre Neugestaltung der Eigentumsverhältnisse. Durch die Verlagerung auf die Rattenebene werden die unbefriedigten Bedürfnisse der Armen einmal (aus der Perspektive der „bedrohten“ Bürger) tierhaft abgewertet, aber auch als elementar und unabweisbar erwiesen – die spielerische Note in Heines politischer Kritik. Sie zeigt sich auch in den zahlreichen Wortspielen: Käuze/Schnäuze (statt Schnauzen, V. 14); „geschoren egal“ (egalité); radikal/rattenkahl (mit Anspielung zudem auf „ratzekahl“). Die Vermischung der Ebenen Ratte-Mensch kommt in den geschorenen Köpfen (V. 15), dem Fehlen von Religion (V. 17 ff.), dem Hinweis auf die Weiber (V. 20), der Zusammenstellung Hölle/Katze und dem Hinweis auf Geld und Revolution paradox-spielerisch zum Ausdruck. Wiederholungen (V. 22 f., V. 27) unterstreichen die Dringlichkeit der Rattenbedürfnisse.
In den beiden nächsten Strophen klagt der Berichterstatter aus der Perspektive der von den Ratten bedrohten Bürger: „O wehe!“ (V. 29, 33) In V. 35 kippt dann die Perspektive in die eines distanziert außen Stehenden (Wechsel des Personalpronomens „wir“ zu „sie“); die Distanz merkt man an der abwertenden Bezeichnung „Pfaffen“ (V. 38) und der ironischen Umschreibung des Eigentums als „Palladium des sittlichen Staats“ (V. 39 f.). Palladium ist Kultbild der Göttin Athene, dessen Besitz den Bestand der Stadt verbürgte; wenn hier das Eigentum als das wahre Götterbild der Bürger bezeichnet wird, so wird damit die bürgerliche Religion als bloße Fassade der Besitzverhältnisse entlarvt (dahin gehört auch „sittlich“ als Staatsattribut, V. 40), zugleich aber auch die angebliche Religionslosigkeit der Ratten relativiert – die bedrohten Bürger glauben ebenfalls nicht wirklich an Gott, sondern an ihr Eigentum. In V. 40 liegt eine ironische Verdrehung von Hegels Staatstheorie vor: Der sittliche Staat ist gerade der Staat, der das Lebensrecht der Bürger höher als das Recht der Reichen auf ihr Eigentum einstuft. Was hier der Sprecher ironisch verdreht, haben die Bürger zuvor in der Wirklichkeit verdreht.
In den letzten vier Strophen nimmt der Sprecher wieder eine andere Position ein: Er spricht die verängstigten Bürger als „ihr lieben Kinder“ an (V. 44) und gibt ihnen Ratschläge, wie man mit der Rattenplage fertig werden kann. In den beiden ersten Strophen zählt er auf, was alles nicht hilft: Das sind nämlich die bisher eingesetzten Mittel der Armutsbekämpfung (bzw. Bekämpfung der Armen) durch fromme Reden, militärische Gewalt, philosophische Argumente und rhetorische Tricks (V. 41-48). Hier werden wieder die beiden Ebenen Ratten-Menschen vermengt (V. 47 f.). In den beiden letzten Strophen erklärt er, wie man die Ratten besänftigen kann; dies erklärt er bildhaft in der Vermengung der beiden Ebenen Essen-Reden, wobei er die falsche Art zu reden bereits in der 12. Strophe zurückgewiesen hatte. Die richtige Art, „logisch“ überzeugend zu „reden“, besteht in der „Suppenlogik mit Knödelgründen“ (V. 50) usw., also in der Sättigung der Hungrigen. Ein netter Scherz (Kontrast) liegt in der letzten Strophe vor: Der schweigende Stockfisch (Anspielung auf die Redensart „stumm wie ein Fisch“) schmeckt „den radikalen Rotten“ besser „als ein [redender] Mirabeau“ (Mirabeau war Wortführer des Dritten Standes in den Generalständen, 1790 Präsident des Jakobinerclubs und 1791 Vorsitzender der Nationalversammlung) – selbst republikanische Reden helfen also nicht gegen die Armut, sondern nur gutes Essen, sagt der Sprecher.
Ein Blick noch auf die Reime des scheinbar holperigen Gedichts, das in Wahrheit höchst geschliffen ist: Die beiden Reimwörter verbinden jeweils zwei zusammengehörende Verse sinnvoll, wobei manchmal zwei, manchmal alle vier Verse eine semantische Einheit bilden. Dafür nur einige Beispiele: Zwei Mittel der Verteidigung reimen sich in „zu den Waffen / die Pfaffen“ (V. 37 f.), zwei Arten des Essens in „Eingang finden / mit Knödelgründen“ usw. – Fazit: ein großes Gedicht, eines der besten Heines!
Die strategischen Prämissen des Gedichts und ähnlicher Texte hat Dolf Oehler dargelegt (in: Interpretationen. Gedichte von Heinrich Heine. Hrsg. von Bernd Kortländer, RUB 8815, S. 248 ff.): Einmal musste Heine (und der Verlag) sich auf die scharfe Zensur in Deutschland einstellen, anderseits auf seine bürgerlichen Leser und ihre Angst vor den Forderungen der Arbeiter bzw. vor dem Kommunismus. Wen die Feinheiten nicht interessieren, der kann hier zu lesen aufhören und zu den Links unten springen.
Heine hat 1855 im Entwurf einer Vorrede zu „Lutetia“ zunächst über die Zensur als über die Bedingung geschrieben, unter der seine Briefe in der Augsburger Allgemeinen Zeitung 1840/43 veröffentlicht wurden. Dann fährt er fort:
Waren die Republikaner ein bedenkliches Thema für den Korrespondenten der Allgemeinen Zeitung, so waren es noch in höherm Grade die Sozialisten oder, um das Schrecknis bei seinem rechten Namen zu nennen, die Kommunisten. Und dennoch gelang es mir, dieses Thema in der Allgemeinen Zeitung zu besprechen. Gar manchen Brief unterdrückte die Redaktion, in der wohlmeinenden Furcht, daß man den Teufel nicht an die Wand malen dürfe. Aber nicht alles durfte sie vertuschen, und, wie gesagt, es gelang, das fürchterliche Thema zur Sprache zu bringen, zu einer Zeit, wo noch niemand eine Ahnung von seiner wahren Bedeutung hatte. Ich malte den Teufel an die Wand, oder, wie ein geistreicher Freund sich ausdrückte, ich machte ihm eine höllische Reklame. Die Kommunisten, die vereinzelt in allen Landen verbreitet, ohne bestimmtes Bewußtsein ihres Wollens, erfuhren durch die Allgemeine Zeitung, daß sie wirklich existierten, erfuhren auch bei solcher Gelegenheit ihren wirklichen Namen, der manchem dieser armen Findelkinder der alten Gesellschaft ganz unbekannt war. Durch die Allgemeine Zeitung erhielten die zerstreuten[232] Kommunistengemeinden authentische Nachrichten über die täglichen Fortschritte ihrer Sache, sie vernahmen zu ihrer Verwunderung, daß sie keineswegs ein schwaches Häuflein, sondern die stärkste aller Parteien, daß ihr Tag noch nicht gekommen, daß aber ruhiges Warten kein Zeitverlust sei für Leute, denen die Zukunft gehört. Dieses Geständnis, daß den Kommunisten die Zukunft gehört, machte ich im Tone der größten Angst und Besorgnis, und ach! diese Tonart war keineswegs eine Maske! In der Tat, nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit, wo jene dunklen Ikonoklasten zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie alsdann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt, sie zertrümmern alle jene phantastischen Schnurrpfeifereien, die dem Poeten so lieb waren; sie hacken mir meine Lorbeerwälder um, und pflanzen darauf Kartoffeln; die Lilien, welche nicht spannen und arbeiteten, und doch so schön gekleidet waren wie König Salomon, werden ausgerauft aus dem Boden der Gesellschaft, wenn sie nicht etwa zur Spindel greifen wollen; den Rosen, den müßigen Nachtigallbräuten, geht es nicht besser; die Nachtigallen, die unnützen Sänger, werden fortgejagt, und ach! mein »Buch der Lieder« wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft – Ach! das sehe ich alles voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Kommunismus bedroht ist – Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt derselbe [– so feindlich er allen meinen Interessen und Neigungen ist –] auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann, in meiner Brust sprechen zwei Stimmen zu seinen Gunsten, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen, die vielleicht nur diabolische Einflüsterungen sind – aber ich bin nun einmal davon besessen, und keine exorzierende Gewalt kann sie bezwingen – Denn die erste dieser Stimmen ist die Logik – der Teufel ist ein Logiker, sagt Dante – ein schrecklicher Syllogismus behext mich, und kann ich der Prämisse nicht widersprechen: »daß alle Menschen das Recht haben zu essen«, so muß ich mich auch allen Folgerungen fügen – ich könnte darüber unklug werden, alle Dämonen der Wahrheit tanzen triumphierend um[233] mich her, und am Ende ergreift mich eine verzweiflungsvolle Großmut, wo ich ausrufe: [Sie ist längst gerichtet, verurteilt, diese alte Gesellschaft. Mag ihr Gerechtigkeit widerfahren! Mag sie zerschlagen werden, diese alte Welt, wo die Unschuld zugrunde ging, wo der Egoismus gedieh, wo der Mensch ausgebeutet wurde durch den Menschen! Mögen sie von Grund aus zerstört werden, diese übertünchten Gräber, wo die Lüge und die schreiende Ungerechtigkeit hausten! und] gesegnet sei der Krautkrämer, der einst aus meinen Gedichten Tüten verfertigt, worin er Kaffee und Schnupftabak schüttet für die armen alten Mütterchen, die in unsrer heutigen Welt der Ungerechtigkeit vielleicht eine solche Labung entbehren mußten – fiat justitia, pereat mundus!
Und die zweite der beiden zwingenden Stimmen, von welchen ich rede, ist noch gewaltiger, als die erste, denn sie ist die des Hasses, des Hasses, den ich jenem gemeinsamen Feinde widme, der den bestimmtesten Gegensatz zu dem Kommunismus bildet, und der sich dem zürnenden Riesen schon bei seinem ersten Auftreten entgegenstellen wird – ich rede von der Partei der sogenannten Vertreter der Nationalität in Deutschland, von jenen falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blödsinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht, und die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen – Ja, die Überreste oder Nachkömmlinge der Teutomanen von 1815, die bloß das altdeutsche Narren-Kostüm gewechselt und sich die Ohren etwas verkürzen ließen – ich haßte und bekämpfte sie Zeit meines Lebens, und jetzt, wo das Schwert der Hand des Sterbenden entsinkt, erquickt ihn die Überzeugung, daß ihnen ganz sicher der Kommunismus den Garaus macht, nicht mit einem Keulenschlag, nein, mit einem bloßen Fußtritt; wie man eine Kröte zertritt, wird der Riese sie zertreten. [Damit wird er beginnen.] Aus Haß gegen die Nationalisten könnte ich schier die Kommunisten lieben. Wenigstens sind sie keine Heuchler, die immer die Religion und das Christentum im Munde führen; die Kommunisten, es ist wahr, besitzen keine Religion (einen Fehler muß doch der Mensch haben), sie sind sogar Atheisten (was gewiß eine große Sünde ist), aber in ihren obersten Prinzipien huldigen sie einem Kosmopolitismus, einer allgemeinen Völkerliebe, einem Weltbürgertum aller Menschen, welches ganz übereinstimmend ist mit dem Grunddogma des Christentums, so daß sie in Wesen und Wahrheit viel christlicher sind als unsere deutschen Maulchristen, die das Gegenteil predigen und üben. (Aus der Vorrede zu „Lutetia“)
Oehler verweist noch auf den Text „Geständnisse“ (http://www.heinrich-heine.net/gestd.htm oder http://gutenberg.spiegel.de/buch/365/1) als einen Paralleltext zur Vorrede und zum Gedicht.
http://lk2012.wikispaces.com/file/view/Heinrich+Heine+präsentieren.odt (dort S. 7-10: schülerhaft bis schwach)
http://lk2012.wikispaces.com/file/view/13.1A+Prüfungsbogen+Lyrik+Heine.doc (Lösungserwartung: Prüfungsbogen im Zentralabitur?)
[Cordula Hupfer: „Und Zuckererbsen nicht minder“ Die kulinarische Metaphorik im Gesamtwerk Heinrich Heines, 2005, – leider nur bruchstückhaft im Netz]
Vortrag
http://www.nuttymp3.com/mp3/423171 (schwach)
http://www.deutschelyrik.de/index.php/die-wanderratten.html (Fritz Stavenhagen, gut)
http://www.youtube.com/watch?v=qB-R44v0Sjg (J. K. Förster)
http://www.youtube.com/watch?v=GeIsuSnFbzs (?, mäßig)
http://www.youtube.com/watch?v=Nc-b2-y5IZc (vertont: Reifrock)
Sonstiges
http://www.bionity.com/de/lexikon/Wanderratte.html (Wanderrate)