Heine: Schloßlegende – Text und Interpretation

Schloßlegende

Zu Berlin im alten Schlosse,
Sehen wir, aus Stein gemetzt,
Wie ein Weib mit einem Rosse
Sodomitisch sich ergötzt.

Und es heißt: daß jene Dame
Die erlauchte Mutter ward
Unsres Fürstenstamms; der Same
Schlug fürwahr nicht aus der Art.

Ja, sie hatten alle wenig
Von der menschlichen Natur!
Und an jedem Preußenkönig
Merkte man die Pferdespur.

Stets brutal zugleich und blöde,
Stallgedanken, jammervoll,
Ein Gewieher ihre Rede,
Eine Bestie jeder Zoll.

Du allein, du des Geschlechtes
Letzter Sprößling, fühlst und denkst
Wie ein Mensch, und hast ein echtes
Christenherz, und bist kein Hengst.

(Heine: Nachgelassene Gedichte 1845-1856)

https://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/HeineNachlese/schlossl.htm (Text „Schloßlegende“)

https://www.academia.edu/33323590/Schm%C3%A4hrede_Heinrich_Heines_Poetik_des_Fluchens (Caspar Battegay: Schmährede. – Interpretation des Gedichts im Kontext von Heines Gedichten)

Heinrich Heine im Vormärz

Heinrich Heine ist eine Hausnummer für sich, „Heine im Vormärz“ ein Thema für viele Dissertationen, das ich unmöglich erschöpfen kann. Mit dieser Einschränkung erlaube ich mir, auf einige Gedichte hinzuweisen:

Karl I. (Analyse dazu in meinem Blog)

Marie Antoinette

Bei des Nachtwächters Ankunft in Paris

Die Tendenz (gegen „Dichter“)

Zur Beruhigung

Deutschland. Ein Wintermärchen, darin vor allem (aber nicht nur!)

Caput III (Ankunft in Aachen)

Caput VI (der Liktor als derjenige, der die Gedanken des Dichters in die Tat umsetzt)

Caput XXV (Deutschlands derzeitiger Zustand)

Heinrich Heines Autobiografie (1888) – gelesen

Heinrich Heine‘s Autobiographie. Nach seinen Werken, Briefen und Gesprächen. Herausgegeben von Gustav Karpeles, Berlin 1888. Karpeles, der Heines Werke herausgegeben hatte, hat hier eine Fleißarbeit vorgelegt, bei der er sich auf seine Gesamtausgabe der Werke stützen konnte. Man hört also auf knapp 600 Seiten dauernd die Stimme Heines, was ebenso belebend wie auf die Dauer ermüdend ist.

Heine zählte sich selbst zu den „exceptionellen“ Zeitgenossen (Brief an Alexander von Humboldt, 11. 1. 1846). Am stärksten haben mich die Erzählungen Heines von seiner Kindheit und Jugend berührt, etwa wie er im Schlossgarten die Marmorstatue der nackten Göttin küsste; wie er nach der Beschreibung seines Großonkels reflektiert, dass es eine Solidarität der Generationen und der Völker gibt, „und die ganze Menschheit liquidiert am Ende die große Hinterlassenschaft der Vergangenheit…“; was er von der zauberkundigen Göchin erzählt und davon, wie er das rote Sefchen geküsst hat.

Man findet viel Witz und viele Wortspiele bei Heine; als Beispiel zitiere ich die letzte Strophe des Hamburg-Gedichts „Sei mir gegrüßt, du große“: „Die Thore [Hamburgs, N.T.]  jedoch, die ließen / Mein Liebchen entwischen gar still; / Ein Thor ist immer willig / Wenn eine Thörin will.“ In einem Brief an August Ewald (25. 1. 1837) deutet er an, dass er sich dauernd um seine Frau kümmern müsse; gegen seine alte Meinung, „daß man in der Liebe besitzen müßte“, lobt er jetzt das Platonische; „es verhindert einen nicht, am Tage zu träumen und des Nachts zu schlafen, und jedenfalls ist es nicht sehr kostspielig“.

Ein Thema für sich ist Heines Verhältnis zu Goethe (vgl.  „Goethe in Heine’s Werken, dargestellt von Walter Robert-Tornow“, 1883) ; so variiert Heine mehrfach das Motiv der „zwei Seelen … in meiner Brust“ mit den Stichworten schwärmerische Begeisterung / Lebensgenuss (Brief an Moser vom 1. Juli 1825) oder Streben in die weite Welt / Sehnsucht nach der wohlbekannten Stube Deutschland (über „London“). „Im Grunde aber sind ich und Goethe zwei Naturen, die sich in ihrer Heterogenität abstoßen müssen.“ (Brief an Moser, s.o.) So ist die rühmende Beschreibung Goethes, die er nach seinem Besuch bei ihm im Oktober 1824 verfertigt, nicht ohne Ironie geschrieben; er bescheinigt dem Alten Genie, nennt ihn göttlich, hat ihm seine eigenen Schriften zukommen lassen, vergleicht ihn mit Zeus, aber dann „blickte ich unwillkürlich zur Seite, ob ich nicht auch neben ihm den Adler sähe mit den Blitzen im Schnabel“, um ihm im Gespräch die sächsischen Pflaumen zu loben: Satire pur.

Echte Widersprüche findet man aber auch. 1831 beendete Heine die langjährige Freundschaft mit Moses Moser: „Du verstehst es [mein Leben und Streben, N.T.] noch nicht, hast nie mein Leben und Streben verstanden, und unsere Freundschaft hat daher nicht aufgehört, sondern vielmehr nie existiert.“ (Brief vom 27. Juni 1831) In einem Brief vom 8. November 1836 bittet er Moser jedoch wieder um Geld. Direkt lustig ist es, wenn Heine an seinen Verleger Campe schreibt, er habe in der Bretagne „die köstlichsten Volkslieder“ gesammelt (Brief vom 14. September 1840), während er an anderer Stelle bekennt: „Von den schönen Volksliedern, die ich dort zu sammeln gedachte, vernahm ich keinen Laut.“

Man findet also viele Perlen, aber man muss sich durch dicke Schichten des Immergleichen (Kopfschmerzen, Augenleiden, Geldmangel, Verleumdungen, literarische Fehden, Projekte und Auseinandersetzungen mit Verlegern) wühlen, um sie zu finden. Dabei denkt man dann an die Vorteile einer Biografie, die ein Fremder verfasst hat, der die mühevolle Arbeit des Suchens bereits erledigt hat und einem die Perlen in schöner Anordnung zeigt. Wenn man aber Aufklärung über die Entstehung bestimmter Werke sucht, findet man sie in dem in fünf große Abschnitte eingeteilten Buch: Kindheit und Jugend / Studentenjahre / Wanderjahre / Im Exil / Die Matratzengruft; diese Abschnitte sind übersichtlich in 58 Kapitel unterteilt. Für einen Heine-Freund ist das Buch ein großes Geschenk.

Heine, Werke (mit Kommentaren):

https://archive.org/details/heinrichheiness01hein/page/n7 (E. Elster)

https://archive.org/details/heinrichheiness02hein/page/n6 Bd. 2

https://archive.org/details/heinrichheiness03hein/page/n7 Bd. 3

https://archive.org/details/heinrichheiness04hein/page/n6 Bd. 4

https://archive.org/details/heinrichheiness05hein/page/n6 Bd. 5

https://archive.org/details/heinrichheiness06hein/page/n6 Bd. 6

https://archive.org/details/heinrichheiness06hein/page/n6 Bd. 7

https://archive.org/details/werkehein01heinuoft/page/n12 (Friedemann, 1.)

https://archive.org/details/werkehein05heinuoft/page/n14 2.

https://archive.org/details/werkehein09heinuoft/page/n10 3.

https://archive.org/details/werkehein09heinuoft/page/n10 4.

Unter „Sämtliche Werke“ findet man mehrere Ausgaben:

https://archive.org/details/smtlichewerkei01heinuoft/page/n7 (Insel 1911)

https://archive.org/details/smtlichewerkei02heinuoft/page/n8 2.

https://archive.org/details/smtlichewerkei03heinuoft/page/n8 3.

https://archive.org/details/smtlichewerkei04heinuoft/page/n8 4.

https://archive.org/details/smtlichewerker05heinuoft/page/n8 5.

https://archive.org/details/smtlichewerkei06heinuoft/page/n6 6.

https://archive.org/details/smtlichewerkei07heinuoft/page/n7 7.

https://archive.org/details/smtlichewerkei08heinuoft/page/n6 8.

https://archive.org/details/smtlichewerkei09heinuoft/page/n6 9.

https://archive.org/details/smtlichewerkei10heinuoft/page/n8 10.

https://archive.org/details/smtlichewerkei00heinuoft/page/n8 Register

u.a.

A. Holl: Wo Gott wohnt (1976) – gelesen

Von Adolf Holl kenne ich zwei Bücher, „Jesus in schlechter Gesellschaft“ (1971) und „Tod und Teufel“ (1973); das erste trifft weithin den Ton Tralala, das zweite hat mir gut gefallen, da es auch die Geschichte seiner Entfremdung vom Priesterberuf erzählt – was aber genau darin steht, weiß ich nicht mehr, ich muss es mal wieder lesen. Jetzt habe ich mir antiquarisch „Wo Gott wohnt“ (1976) gekauft, aufgrund einer uralten Empfehlung einer guten Bekannten: Hier wird die Geschichte des biblischen Gottes erzählt, dessen Zeit inzwischen um ist, damit ihm der kleine Gott Jesus nachfolgen kann, der alle 155 Jahre ein Jahr älter wird und deshalb jetzt gerade erwachsen ist, so dass von ihm noch etwas zu erwarten ist.

Im Hintergrund des Buches steht die Erkenntnis, dass die Israeliten nicht immer den gleichen GOTT verehrt haben, dass es verschiedene Namen und Vorstellungen des GOTTes gab, dass er zuerst neben anderen Göttern stand, ehe er als EINZIGER verehrt wurde… was natürlich im Religionsunterricht so nicht gesagt wurde und was die meisten katholischen Bischöfe vermutlich heute noch nicht wissen, da sie stramm eine ahistorische Dogmatik gelernt haben. Die letzte seriöse Darstellung des Problems, die ich kenne, stammt von Werner H. Schmidt: Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte (3. Auflage 1979; es gibt eine 7., verbesserte Auflage); vermutlich gibt es neuere Darstellungen, ich habe das nicht mehr verfolgt. Aus dieser Geschichte der Gottesvorstellungen macht Adolf Holl nun eine Geschichte GOTTes, der sich selber entwickelt – für die in griechischer Philosophie Denkenden (wie die Kirchenväter und die Konzilien) ein grauenhafter und lästerlicher Gedanke.

Wenn ich es recht sehe, hatte Heinrich Heine als erster die Idee, eine Biografie Gottes zu schreiben; diese Idee ist in sich kritisch, weil sie ein Ende GOTTes impliziert, Schwäche und Tod – das Gegenteil GOTTes. Bei Adolf Holl wird dieses Ende zugunsten des kleinen Gottes Jesus begrüßt: Holl greift dafür auf Christus-Darstellungen in den Katakomben zurück, „Darstellungen einer knabenhaften Gestalt: eine Art Hirtenjunge, ohne Bart [ganz wichtig, El war nämlich ein alter Mann mit Bart, S. 37, N.T.], ähnlich dem griechischen Gott Orpheus“ – „Jesus, der den Tod überlistet, unangestrengt und bei bester Gesundheit“ (S. 118). Dieser kleine Gott wendet sich vom Himmel ab und den Menschen zu, zum Schluss fährt er mit Luzifer und der Geist-Taube per Bus bis zur Endstation. Was sie da tun, wird nicht mehr erzählt.

Auf der Basis einiger historischer Fakten, in freier Variation biblischer Erzählungen und mit viel Fiktion und Fantasie erzählt Holl auszugsweise biblische und kirchliche Geschichte(n) nach – insgesamt wieder in der Methode Tralala. Das ist ganz nett, mehr aber auch nicht; eine marxistisch-kritische Darstellung der ganzen Geschichte hat Walter Beltz geschrieben: „Gott und die Götter. Biblische Mythologie“ (1975). Lesenswert sind Leszek Kolakowskis geistreiche Kommentare zu einzelnen biblischen Geschichten, „Der Himmelsschlüssel. Erbauliche Geschichten“ (1964). Was Jack Miles‘ „Gott. Eine Biographie“ (1996) taugt, weiß ich nicht; ich hänge zwei Rezensionen an, die ich im Netz gefunden habe.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-am-achten-tag-schuf-gott-sich-selbst-11306703.html

https://hansarandt.wordpress.com/2015/01/03/das-selbstbewusstsein-gottes/

Heinrich Heines Entwicklung als Dichter

Die Biographie von Heines Dichtung zerfällt nach Laura Hofrichter grob in drei Epochen: die frühe Zeit der romantischen Lieder (bloßes Spiel der subjektiven Phantasie, in traditioneller Fom), abgelöst durch die Zeit der „Reisebilder“ (v.a. ab „Die Harzreise“, 1824), in denen Heine sich in Prosa der Welt zuwandte, ohne seine Subjektivität aufzugeben, und die späte Phase ab 1840, in der er eine neue Form der Poesie erfand, der seine bedeutenden Gedichte angehören und in der Bild und Begriff einander entsprechen. Oft sei hier irgendeine Form von Reise, Fahrt, Prozession u.ä. das Strukturmittel, welches die verschiedenartigsten Themen zusammenhalte – so gelinge es ihm, lyrisch zu bleiben, „der Zwangsjacke der Handlung zu entkommen […] und sich gleichzeitig den Zugang in die Weite der Welt offenzuhalten“.

Laura Hofrichter (1919-1962), von der man heute nur noch ein Heine-Buch im Internet findet, hat mit „Heinrich Heine. Biographie seiner Dichtung“ (1966, Kleine Vandenhoeck-Reihe 230) ein sympathisches Buch geschrieben, das sich leicht liest und Lust macht, Heine selber zu lesen. Die Kleine Vandenhoeck-Reihe war in den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine intellektuell bedeutende Taschenbuch-Reihe, die bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen angesiedelt und einem weltoffenen Protestantismus verpflichtet war – eigentlich eher einem evangelischen Christentum (mit Platz auch für Adorno, Hans Jonas und Karl Löwith) als einem Protestantismus, der sich ja per definitionem gegen etwas richtet.

Ich habe das Buch wohl 1975/76 zur Vorbereitung meiner Erweiterungsprüfung in Deutsch gekauft, weil auch Heine als Düsseldorfer und damit Rheinländer neben Heinrich Böll (und Franz Kafka) zu meinen Prüfungsautoren gehörte. Damals habe ich es nicht gelesen; dieser Tage sah ich das nach mehreren Umzügen leicht angestoßene Buch im Regal, wollte es schon fortwerfen und habe mich dann doch entschlossen, es zu lesen. Das habe ich nicht bereut. Ich werde mit der Lektüre der „Harzreise“ fortfahren.

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Heine (Heinrich Heine)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz68461.html#ndbcontent (Heine – Leben)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich (Heine – Werke)

http://gutenberg.spiegel.de/autor/heinrich-heine-257 (dito)

https://de.wikisource.org/wiki/Heinrich_Heine (dito)

https://de.wikipedia.org/wiki/Reisebericht (Reisebericht, Reiseliteratur)

http://universal_lexikon.deacademic.com/291051/Reiseliteratur (dito)

Laura Hofrichter, 1919 in Prag geboren, studierte ab 1948 in Toronto moderne Sprachen und promovierte 1954 über „Heinrich Heines Entwicklung als Dichter“; sie verstarb im Herbst 1962. Requiescat in pace.

Theodor Storm: Die Nachtigall – Analyse

Das macht, es hat die Nachtigall…

Text

http://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/Storm/nachtig.htm

http://www.textlog.de/gedichte-nachtigall.html

Die Nachtigall hat in der Liebesdichtung einen festen Platz: Ich nenne nur vier Beispiele aus der deutschen Literatur und zitiere die erste Strophe eines Gedichtes von Heine:

Anna Louisa Karsch (1722-1791): Klagen einer Braut an ihre Nachtigall

Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-1776): Die Nachtigall

Johann Martin Miller (1750-1814): An die Nachtigall

Heinrich Heine (1797-1856): Die Linde blühte, die Nachtigall sang…

„Die Linde blühte, die Nachtigall sang,

Die Sonne lachte mit freundlicher Lust;

Da küßtest du mich, und dein Arm mich umschlang,

Da preßtest du mich an die schwellende Brust.“ (Buch der Lieder: Lyrisches Intermezzo, erstmals 1823)

Theodor Storms Gedicht, 1856, entstanden, wurde 1864 veröffentlicht. Es behandelt die Veränderung im Leben eines jungen Mädchens, das auf dem Weg vom Kind zur Frau ist – ein Lebensalter, von dem Theodor Storm besonders angezogen war. Der Sprecher betrachtet das Mädchen als Außenstehender, er kommt nicht als Figur im Gedicht vor. Er trägt eine poetische Erklärung der von ihm beschriebenen Veränderungen vor – das ist das Gedicht.

Von der Logik des Sprechens her beginnt man am besten mit der 2. Strophe. Da wird „Sie“ (V. 6) eingeführt, ein namenloses Mädchen, das für alle Mädchen seines Alters steht: „Sie war doch sonst ein wildes Blut“ (V. 6), aber jetzt ist sie eben anders; wie sie jetzt auftritt, wird in den folgenden Versen im Präsens beschrieben (V. 7-10). Sie geht „tief in Sinnen“ (V. 7) und „weiß nicht, was [sie] beginnen [soll]“ (V. 10). Die ganze Unsicherheit der Pubertierenden  kommt in diesem Reim zum Ausdruck.

Die fünf Verse jeder Strophe sind so wie im Gedicht „In Bulemanns Haus“ organisiert, nur dass hier wirklich der Jambus durchgehalten ist: abwechselnd vier und drei Hebungen mit zugehöriger männlicher/weiblicher Kadenz und Reim, also folgendermaßen:

4 Hebungen – männlich – a

3 Hebungen – weiblich – b

4 Hebungen – männlich – a

4 Hebungen – männlich – a

3 Hebungen – weiblich – b

Das ist ein „unechter“ Kreuzreim, die „eingeschobene“ 4. Zeile gibt der Strophe einen beschwingteren Charakter, wiederholt oder vertieft auch inhaltlich den 3. Vers, welcher wegen der männlichen Kadenz im Takt direkt in den 4. übergeht, wogegen nach dem 2. Vers eine Pause gemacht wird. Die reimenden Verse schließen sinnvoll aneinander an: Sommerhut/der Sonne Glut (V. 8 f.) mit „wildes Blut“ (V. 6); diese Serie steht im Kontrast zu „tief in Sinnen/weiß nicht, was beginnen“ (V. 7/10), welche ihrerseits wiederum zueinander passen.

Das Mädchen weiß also mit sich nichts anzufangen; aber der Sprecher weiß die Erklärung dafür: „Das macht, es hat die Nachtigall / Die ganze Nacht gesungen“ (V. 11 f.), und deshalb sind „die Rosen aufgesprungen“. Die Nachtigall ist schon der Vogel, der traditionell mit der Liebe verbunden ist (s.o.); wenn nun vom Gesang der Nachtigall die Rosen berührt sind, ist damit das zweite deutliche Liebessymbol ins Geschehen integriert. So wie die Rosen durch das Lied der Nachtigall „aufgesprungen“ sind, so ist plötzlich das Gleiche in dem bisher wilden Mädchen geschehen, durch den Hall des Rufs der Nachtigall und den Widerhall des Rufs in ihr: Wenn man die Beschreibung in der 2. Strophe wörtlich nimmt, entfaltet die Rose ihre ersten Blätter – in Blüte steht sie noch nicht. Die Satzbildung in V. 11 ist sehr eigenwillig: „Das macht -“, und jetzt müsste das Subjekt folgen: Wer macht das? Der Satz bricht jedoch ab, sodass wir uns am besten hinter dem unvollständigen Satz einen Doppelpunkt denken; denn es folgt die Erklärung in einem nicht weiter angeschlossenen Hauptsatz („es hat die Nachtigall / Die ganze Nacht gesungen“). Diese umgangssprachliche Konstruktion begleitet den erklärenden Hauptsatz mit einem Augenzwinkern: Ja, ja, so ist es im Leben.

Das rhythmische Schema gleicht dem der 2. Strophe; hier besteht zwischen den Reimen jedoch kein Kontrast, sondern eine Entsprechung: Nachtigall – Schall – Widerhall – gesungen – aufgesprungen (Folge von „gesungen“); hinter dem 2. Vers der Strophe wird eine größere Pause gemacht (etwas stärker als in der 2. Strophe), wodurch der Übergang von Vers 3 nach Vers 4 noch beschwingter wird, wie es sich für den Gesang der Nachtigall gehört.

Diese 3. Strophe wird nun auch bereits als 1. Strophe verwendet, wo sie kleines grammatisches Problem erzeugt: „Das macht“ schließt an nichts an, es gibt zu Beginn noch nichts zu erklären. Poetisch wird so jedoch mit den beiden Symbolträgern Nachtigall und Rose dezent das Thema „Liebe“ intoniert. Bereits die Überschrift „Die Nachtigall“ hatte ein entsprechendes Signal gesendet.

Das Gedicht gehört zu den am häufigsten vertonten Gedichten Theodor Storms, wie ja auch die Liebesgedichte Heines häufig vertont sind und als Lieder ein eigenständiges Leben gewonnen haben.

http://www.litde.com/analysen-zur-fiktion-in-der-literatur/ (W. Hincks Kommentar in „Stationen der deutschen Lyrik“ kann man auf dieser Seite finden.)

Vortrag

http://www.deutschelyrik.de/index.php/die-nachtigall.html (Fritz Stavenhagen)

http://www.youtube.com/watch?v=bto4cOhQhkY (schwer verständlich)

http://www.youtube.com/watch?v=NzTjslafNSA (Claire DiVizio: Alban Berg)

http://www.youtube.com/watch?v=izfgm1MDdb0 (Heather Harper: dito)

http://www.youtube.com/watch?v=goQUhOtjgBE (Sofia Fomina: dito)

http://www.youtube.com/watch?v=n25fiiziMdg (Aris Christofellis: dito)

http://www.youtube.com/watch?v=43ui0d6mZEk (dito: Chor)

http://www.youtube.com/watch?v=NInT6RC8MVc (Régine Crespin: vier Lieder Bergs)

Sonstiges

http://www.recmusic.org/lieder/get_text.html?TextId=38696 (Liste der Vertonungen)

Silhouette Konewkas für das Gedicht

http://de.wikipedia.org/wiki/Nachtigall (Nachtigall)

http://www.youtube.com/watch?v=IXC79XHT8Yo (Evelyn Künneke: Sing, Nachtigall, sing)

Eva Poluda über den Beginn der weiblichen Adoleszenz

Heine: Enfant perdu – Interpretation

Verlorner Posten in dem Freiheitskriege…

Text

http://www.textlog.de/heine-gedichte-enfant-perdu.html

http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Gedichte/Romanzero/Zweites+Buch.+Lamentationen/Lazarus (Zyklus „Lazarus“)

Es gibt heute auf youtube verschiedene Songs mit dem Titel „enfant perdu“ (oder ähnlich); bereits in Goethes Ballade „Der Gott und die Bajadere“ sieht der Gott „ein verlornes schönes Kind“ (V. 15). „Enfant perdu“ ist ein Topos, der bereits in Ovids „Metamorphosen“ auftaucht und zunächst ganz wörtlich gemeint, später auch metaphorisch gebraucht wird.

Michael Werner („Heines poetisch-politisches Vermächtnis“) hat das vermutlich im Sommer 1849 entstandene Gedicht „Enfant perdu“ interpretiert (in: Interpretationen. Gedichte von Heinrich Heine, RUB 8815, S. 181 ff.); ich stütze mich weithin auf seine Ausführungen.

Im Zyklus „Lazarus“ betrachtet Heine seinen Tod aus einer Außenperspektive (vgl. auch „Gedächtsfeier“). Der Zyklus beschließt das Buch „Lamentationen“ im „Romanzero“; unser Gedicht ist das letzte Gedicht im Zyklus, die Nr. 20, und steht damit an exponierter Stelle. In Nr. 18 sieht Heine den Tod des Dichters in Analogie zum Ende eines Theaterstücks: „Der Vorhang fällt…“, zum Schluss erlischt die letzte Lampe: „Das arme Licht war meine Seele.“ In Nr. 19 übergibt er im „Vermächtnis“ alle seine Leiden seinen Feinden und wünscht, dass „der Herr“ ihr Angedenken vertilge. In Nr. 20, „Enfant perdu“, bietet er dann seine hervorgehobene Selbstinterpretation für die Nachgeborenen.

Der ursprünglich vorgesehene Titel des Gedichts war „Verlorene Schildwacht“. Die Schildwache war „eigentlich der vor jeder Wache stehende Posten vor dem Gewehr, der ehemals die hier aufgehängten Schilde und Waffen zu bewachen hatte; im weiteren Sinn jeder aufgestellte Einzelposten im Garnison– und Lagerdienst“ (Wikipedia). Das lyrische Ich erzählt davon, wie es „in dem Freiheitskriege“ (V. 1) seinen Posten verwaltet hat (1. – 5. Str.), und zieht dann Bilanz, indem es die gegenwärtige Situation dieses Postens beschreibt (6. Str.).

Das lyrische Ich, nennen wir es ruhig Heine, sieht sich seit 30 Jahren „in dem Freiheitskriege“; damit meint es „den durch Aufklärung und Revolution eingeleiteten universalen Kampf um die Befreiung des Menschen vom Menschen“ (M. Werner, S. 184). Seit 30 Jahren: Das ist die Zeit von Heines literarischem Schaffen, die Zeit seines Erwachsenenlebens. Darin war er ein „verlorener Posten“ (V. 1), wie er auch in der Vorrede zu „Lutetia“ sagt; er habe einen hoffnungslosen Kampf ausgefochten (V. 3 f.), wobei er auf seine persönliche Situation (krank in Paris im Exil) anspielt, wenn er auch im militärischen Bild bleibt.

In den beiden nächsten Strophen berichtet er von seinem Schicksal als Einzelkämpfer; er grenzt sich gegen seine von ihm bewachten Freunde ab, die er durch „das laute Schnarchen“ („dieser Braven“!) als Schlafmützen charakterisiert, wogegen er als Einzelkämpfer durchweg wach geblieben sei, auch „wenn ich ein bißchen schlummrig war“ (V. 8). Seine Dichtung erklärt er mit der Redensart vom Pfeifen im Wald, das sich bei Angst einstellt, wobei er durch „die frechen Reime eines Spottgedichts“ (V. 12) seine Angst bekämpft habe – beinahe schon ein Topos seines literarischen Schaffens [vgl. das erste Gedicht in „Die Heimkehr“ im „Buch der Lieder“, 1827].

In den beiden nächsten Strophen berichtet er von Kampfsituationen, wo er selber geschossen hat oder auch verwundet wurde: „Die Wunden klaffen – es verströmt mein Blut.“ (V. 20 – damit wird schon das Ende vorbereitet).

In der 6. Strophe beschreibt er, was das Ergebnis dieses Wachdienstes ist: „Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen -“ (V. 21); damit greift er die Stichworte vom verlorenen Posten (V. 1) und von seiner Verwundung (V. 20) auf und verbindet sie. Im Vorgriff auf seinen Tod beschreibt er die militärische Situation: „Der eine fällt, die andern rücken nach -“ (V. 22). Damit sieht er sich in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang des Kampfes, fordert indirekt aber auch dazu auf, nachzurücken und seinen Posten zu übernehmen. In den Schlussversen stellt er in einem Kontrast den Kampf für die Freiheit über sein Leben: Ich falle unbesiegt / nur mein Herze brach (V. 23 f.). Er hat also die Stellung gehalten, wenn er selber auch stirbt; der einzelne Soldat ist ersetzbar, der Sieg der Armee hat Vorrang. Der Kontrast wird dann in der Verwendung des Verbs „brechen“ ausgestaltet: Waffen nicht gebrochen / Herze brach (V. 23 f.) – woran das Herz bracht, wird nicht gesagt: Er fällt, im Kampf unbesiegt. Das ist Kampfpathos und kleine Leidensgeste zugleich.

Das in der Überschrift „Enfant perdu“ gesetzte Thema bleibt unbestimmt: Die Rolle der Eltern, welche ihr Kind verloren haben, kommt nicht zur Sprache, ihre Rolle wird nicht besetzt. Der Titel ist trauriger als der Soldat, der vor seinem Tod seinen Posten für den nächsten räumt; ein verlorenes Kind kann man nicht unbesiegt nennen. So muss man den Titel auf V. 4 und auf die Existenz Heines im Exil beziehen.

Das Strukturprinzip des Gedichts ist die „Parallelisierung von persönlicher Biographie und Weltgeschichte“ (M. Werner, S. 190), die man auch sonst noch bei Heine findet: Exilsituation, persönliche Krankheit und politische Reaktion treffen 1849 zusammen und setzen Heine zu. Auch die Selbstdarstellung als Soldat im Freiheitskrieg gibt es bereits an anderer Stelle: „Die Poesie, wie sehr ich sie auch liebte, war mir immer nur heiligen Spielzeug […]; denn ich war ein braver Soldat im Befreyungskriege der Menschheit.“ (Reise von München nach Genua) Dass der Soldat fällt, hängt mit dem historischen Ort des verlorenen Postens zusammen: Er ist noch in der alten Zeit geboren und muss sich mit den Gespenstern der Vergangenheit herumschlagen.

Das Takt des Gedichtes ist der fünfhebige Jambus, also der Vers des klassischen deutschen Dramas, was zum tragischen Charakter des Gedichts passt. Es wechseln weibliche und männliche Kadenzen, entsprechend dem Prinzip des Kreuzreims. Dadurch werden jeweils zwei Verse zu einer größeren Einheit verbunden, was auch semantisch in den Strophen 1, 2, 3, 6 realisiert wird; in den Strophen 4 und 5 geht es nach dem 2. Vers im Enjabement ungebremst weiter. Entgegen dem Takt sind die Versanfänge in V. 2, 13, 16, 23 sinngemäß betont; auch sonst weicht der Rhythmus gelegentlich vom Takt ab. Die anaphorischen Ich-Satzanfänge (V. 3-5) entsprechen einem einfachen Erzählstil. Die Erwähnung des Schnarchens (V. 7), die Attribute „brühwarm“ (V. 16 – passt zum Bauch) und „schnöde“ gehören der Umgangssprache an und zeigen, dass der Bericht vom Befreiungskampf kein Heldenepos ist. Die Wiederholung „Die Wunden klaffen“ (V. 20, 21) hat hier den erzählstrategischen Wert, auf das Ende des Berichts und des Lebens vorzubereiten.

Michael Werner sieht im Gedicht eine „permanente[n] Bedeutungs- und Perspektivenverschiebung“ (S. 188); als überzeugendstes Beispiel kann er dafür den Tempuswechsel in der letzten Strophe anführen, und zwar im letzten Vers: Indem vom Brechen des Herzens im Präteritum gesprochen wird, indem der Sprecher also vom eigenen Tod als etwas bereits Ereigneten spricht, werde „zugleich ein Verfremdungs- und ein Intensivierungseffekt“ erzielt (S. 190). Aber auch der Wechsel von „Enfant/Posten“ und der von „unbesiegt/gebrochenes Herz“ mögen zu der genannten Perspektivenverschiebung gehören, vielleicht auch die bereits genannten Stilbrüche. Kämpfer und Dichter wollte Heine sein, und zum letzteren gehört am Ende ein gebrochenes Herz.

Heine: Gedächtnisfeier – Analyse

Keine Messe wird man singen…

Text

http://www.textlog.de/heine-gedichte-gedaechtnisfeier.html

http://gutenberg.spiegel.de/buch/379/42 (Zyklus „Lazarus“)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Gedichte/Romanzero/Zweites+Buch.+Lamentationen/Lazarus (Zyklus „Lazarus“)

Im „Romanzero“ (1851), II. Lamentationen, bildet der kleine Zyklus „Lazarus“ den Abschluss; darin ist „Gedächtnisfeier“ das 12. Gedicht. In diesem Zyklus kommt das Schicksal des todkranken Dichters, der sich kaum hinter dem lyrischen Ich versteckt, zur Sprache.

In seinem Testament hatte Heine u.a. verfügt:

§ 6. Wenn ich mich zur Zeit meines Ablebens in Paris befinde und nicht zu weit von Montmartre entfernt wohne, so wünsche ich auf dem Kirchhofe dieses Namens beerdigt zu werden, da ich eine Vorliebe für dieses Quartier hege, wo ich lange Jahre hindurch gewohnt habe.

§ 7. Ich verlange, daß mein Leichenbegängnis so einfach wie möglich sei und daß die Kosten meiner Beerdigung nicht den gewöhnlichen Betrag derjenigen des geringsten Bürgers übersteigen. Obschon ich durch den Taufakt der lutherischen Konfession angehöre, wünsche ich nicht, daß die Geistlichkeit dieser Kirche zu meinem Begräbnisse eingeladen werde; ebenso verzichte ich auf die Amtshandlung jeder andern Priesterschaft, um mein Leichenbegängnis zu feiern. Dieser Wunsch entspringt aus keiner freigeistigen Anwandlung. Seit vier Jahren habe ich allem philosophischen Stolze entsagt und bin zu religiösen Ideen und Gefühlen zurückgekehrt; ich sterbe im Glauben an einen einzigen Gott, den ewigen Schöpfer der Welt, dessen Erbarmen ich anflehe für meine unsterbliche Seele. […]

Im Licht des Testaments sollte man Heines Gedicht „Gedächtnisfeier“ lesen. In der 1. Strophe wird von einem lyrischen Ich ausgesprochen, was es für seine „Sterbetage“ erwartet: dass man keine christliche Messe bei der Begräbnisfeier singt (Heine hatte sich im Juni 1825 taufen lassen), dass man nicht als jüdisches Totengebet das Kaddisch spricht (Heine stammte aus einer jüdischen Familie). Dieses „Nichts“ wird in V. 3 wiederholt; es greift die zwei Negationen der beiden ersten Verse auf, die streng parallel gebaut sind. „Kein“ und „Nichts“ sind jeweils vorangestellt: So nicht.

In den beiden folgenden Strophen, nach dem adversativen Doch“ (V. 5), beschreibt das lyrische Ich, wie es vielleicht zugehen könnte: dass seine Frau Mathilde (Heines Frau!) auf dem Friedhof Montmartre spazieren geht und einen Kranz auf sein Grab legt. Immortellen sind Trockenblumen: „Als Trockenblumen werden im engeren Sinne Blumen bezeichnet, die im getrockneten Zustand für lange Zeit haltbar sind. Der Begriff kann aber auch als Sammelbezeichnung für alles gelten, was aus der belebten Natur stammt und länger als frische Schnittblumen aufbewahrt werden kann; dazu gehören Blüten, Zweige, Früchte, Blätter, Wurzeln, Rinden, Moose, Zapfen und selbst Pilze.“ (Wikipedia) Das Ich sieht auch ihre Trauer voraus, die „Feuchte Wehmut in den Blicken“ (V. 12).

In den beiden letzten Strophen phantasiert es seine Reaktion auf diesen Besuch aus: Es hat seinerseits Mitleid mit seiner müden Frau; es spricht sie als „Süßes, dickes Kind“ (V. 17) an und gibt ihr den guten Rat, mit einer Droschke nach Hause zu fahren, wenn es ihr schon keinen Stuhl zum Ausruhen anbieten kann.

Beginnt das Ich in einem düsteren oder gedämpften Ton von dem zu sprechen, was ihm nach seinem Tod nicht zuteil wird, so spricht es von der 2. Strophe an gelöst und heiter; da geht es um die menschliche Anteilnahme seiner Frau (2. und 3. Strophe) und um „seine“ Anteilnahme an den Beschwernissen, die seine Frau durch den Friedhofsbesuch zu ertragen hat. Das alles ist Zeugnis einer Menschlichkeit vor oder hinter aller Religion; dass religiöse Riten fehlen werden (wie bei einem religiös Verstoßenen), macht dem lyrischen Ich nichts aus – Heine hat es in seinem Testament selber so gewollt.

Die vier Verse jeder Strophe sind im Trochäus gesprochen, jeweils vier Takte, bei denen nur selten die letzte Silbe fehlt. Der 2. / 4. Vers sind im Paarreim verbunden; die reimenden (Doppel)Verse passen semantisch einigermaßen zusammen (keinen Kadosch sagen / an meinen Sterbetagen, V. 2/4), ohne dass damit neue Bedeutungsdimensionen erschlossen würden. Die Sätze gehen immer mindestens über zwei Verse, können sogar eine ganze Strophe ausmachen. Insgesamt wird das in der Umgangssprache gehaltene Gedicht recht zügig gesprochen.

Dem Gedanken an Mathilde, um die er sich auch in seinem Testament gesorgt hat, gilt das 15. Gedicht im „Lazarus“: „An die Engel“; trotz mancher Klage ist der Ton im ganzen Zyklus „Lazarus“ nicht bedrückt, sondern von ironischer Heiterkeit bestimmt. Zum Schluss möchte ich nur die letzten Verse des Gedichtes „Rückschau“, der Nummer 2 im Zyklus, zitieren:

„Jetzt bin ich müd‘ vom Rennen und Laufen,

Jetzt will ich mich im Grabe verschnaufen.

Lebt wohl! Dort oben, ihr christlichen Brüder,

Ja, das versteht sich, dort sehn wir uns wieder.“

Sonstiges

http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Autobiographisches/Testament (Heines Testament)

http://de.wikipedia.org/wiki/Kaddisch (Kaddisch, zu „Kadosch“)

http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Messe_(Gottesdienst) (Deutsche Messe)

http://de.wikipedia.org/wiki/Messe_(Musik) (Messe)

http://de.wikipedia.org/wiki/Lutherische_Messen_(Bach) (Messen: Bach)

https://norberto42.wordpress.com/2013/06/09/heine-nicht-gedacht-soll-seiner-werden-analyse/

Heine: Schelm von Bergen – Analyse, Interpretation

Im Schloß zu Düsseldorf am Rhein…

Text

http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/hei_h31.html

http://www.textlog.de/heine-gedichte-schelm-bergen.html

http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Gedichte/Romanzero/Erstes+Buch.+Historien/Schelm+von+Bergen

Das Gedicht ist am 31. Mai 1846 in der Kölnischen Zeitung als „romantisches Lied“ veröffentlicht worden; ehe es 1851 in den „Romanzero“ übernommen wurde, wurde es von Heine sprachlich überarbeitet. Die Erstfassung ist mir nicht bekannt. Dem Gedicht liegt eine Sage zugrunde, die von Karl Lyncker (1854) so wiedergegeben wird:

224. Der Schelm und die Kaiserin.

Eine dritte Sage erzählt, die Kaiserin habe einmal auf einem Hofballe mit einem unbekannten Ritter getanzt, der durch seine Anmuth und edle Haltung Aller Augen auf sich gezogen. Der Kaiser frägt ihn endlich nach seinem Namen und Herkommen, denn Niemand hatte ihm sagen können, wer der fremde Ritter war. Da erhält er die schreckliche Antwort, daß er der Schelm von Bergen sei. Mit Entsetzen weichen alle Umstehenden zurück vor ihm, der es gewagt hatte, durch seine entehrende Berührung die allverehrte Kaiserin zu beflecken und der ergrimmte Kaiser zürnt ihm sein Todesurtheil zu; aber der Schelm trat unbetroffen vor ihn hin und sagte: »Gnädigster Kaiser, mein Tod macht das Geschehene nicht ungeschehen; wollt Ihr den Schaden kuriren, so macht aus mir, was Eure Höflinge sind!« Und der Rothbart lächelte wieder gnädig: »Du bist ein Schelm mit Rath und That und magst’s denn auch bleiben; drum knie nieder, Ritter Schelm von Bergen!« Der Schelm that’s und empfing den Ritterschlag.

In den ersten drei Worten wird schon gesagt, dass es mehrere Sagen gibt, in denen der auffällige Familienname „Schelm[e] von Bergen“ ätiologisch erklärt wird. Von Heine wird das Geschehen nach Düsseldorf in den Karneval verlegt; statt des Kaisers und der Kaiserin agieren die Herzogin und der Herzog. Das Geschehen wird dramatisch (mit Wechselrede von Schelm und Herzogin) als Ballade von einem unbeteiligten Erzähler erzählt.

Im ersten Teil (Str. 1 – 5) wird zuerst die Szene des Geschehens beschrieben (Maskenball im Düsseldorfer Schloss); die Hauptfiguren sind die Herzogin und ihr schöner Tanzpartner, dessen Identität schon verborgen angedeutet wird (3. Str.). Die Situation ist bestimmt von Lachen, Musik und Freude; die Menschen sind einander nahe; es ist jedoch eine Welt des Scheins, welchen die Masken erzeugen.

Es folgt der Dialog des Tänzers mit der Herzogin (Str. 6 – 8): Der Tänzer will sich von ihr trennen; sie lacht weiterhin und will sein Gesicht sehen, er jedoch verweigert das, weil „Schrecken und Grauen“ (V. 26), Nacht und Tod (V. 30) zu ihm gehören – eine Gegenwelt zur Welt der lachenden Herzogin. Die drei Strophen sind streng parallel aufgebaut: Hier wird Spannung erzeugt, die auf eine Entladung drängt.

Im nächsten Teil der Erzählung (Str. 9 – 10), die jetzt im Präteritum (bisher im Präsens) vorgetragen wird, wird durch das ungestüme Handeln der Herzogin die Maske des Mannes entfernt; die Menschen werden aus der Scheinwelt des Karnevals in die Realität gestoßen, die Freude weicht dem Entsetzen: Der Mann ist der Scharfrichter von Bergen, es besteht größte Distanz zwischen ihm und der Herzogin. Entsprechend „stürzt [sie] fort zu ihrem Gemahl“ (V. 40), die Menschen weichen vor ihm zurück. Es droht eine Katastrophe.

„Der Herzog ist klug“ (V. 41), weiß der Erzähler zu berichten, um so die Lösung des Problems einzuleiten (11. und 12. Strophe). Der Herzog löst die Spannung, überbrückt die Differenz zwischen seiner Gattin und jenem Mann, indem er ihn durch einen Ritterschlag adelt und ihm so den gleichen Rang wie seine Gattin verleiht (zugesteht).

„So ward der Henker ein Edelmann / Und Ahnherr der Schelme von Bergen…“ (V. 49 f.); damit schließt die Erzählung, indem sie in den alten ätiologischen Schluss der Namenserklärung mündet. 1844 war der letzte Namensträger des Geschlechts gestorben, sodass der Erzähler mit Fug und Recht mit dem schönen Kontrast schließen kann: Das Geschlecht blühte einst am Rhein, „Jetzt schläft es in steinernen Särgen.“ (V. 52)

Sowohl in der alten Sage wie in Heines Gedicht liegt der Namengebung ein Wortspiel zugrunde, welches von dem eigenwilligen Familiennamen förmlich provoziert wird: Bei Lyncker ist es „Schelm“ als Schlaumeier oder Spaßvogel, bei Heine (die heute veraltete Bedeutung) „Schelm“ als Henker. Ich gebe hier kurz zunächst die Wortgeschichte (nach Pfeifer im DWDS), dann die Wortbedeutung nach dem DWDS und dem Wortschatz Uni Leipzig (Dornseiff-Bedeutungsgruppen) wieder:

Schelm m. ‘Spaßvogel, schalkhaftes Kind, Schlingel’. Ahd. scalmo (9. Jh.), scalm (11. Jh.), skelmo (Hs. 12. Jh.), mhd. schalm(e), schelm(e) ‘Pest, Seuche’ nimmt in mhd. Zeit auch die Bedeutung ‘toter Körper, Aas’ an, entwickelt sich von da aus zum Schimpfwort im Sinne von ‘Bösewicht, Schurke, Betrüger, Dieb, Verräter’ und zum Beinamen des als unehrbar geltenden Scharfrichters und Schinders; vgl. noch Ende 18. Jh.: dein Vater ist zum Schelm ( ‘Verräter’) an mir geworden (Schiller). Im 17. Jh. beginnt diese pejorative Bedeutung sich zu ‘armer Kerl, bemitleidenswerter Mensch’ und dann zu ‘loser, neckischer Mensch’ abzuschwächen, und Schelm kann sogar den Charakter eines Kosewortes erhalten (vgl. kleiner Schelm, 18. Jh.). Die Herkunft des nur im Dt. auftretenden Substantivs (anord. skelmir ‘Teufel’ und die entsprechenden schwed. dän. norw. Formen sind Entlehnungen aus mnd. schelm) ist ungewiß […]. (DWDS)

1 zu Scherz, Neckerei, lustigen und mutwilligen Streichen aufgelegter Mensch, Schalk, Spaßvogel

der alte Parkwächter ist als Schelm bekannt

vertraulich Schlingel, Frechdachs

du bist schon ein rechter kleiner Schelm

bildlich

in jmds. Augen sitzt der Schelm (jmd. ist zu lustigen, mutwilligen Streichen aufgelegt, ist übermütig)

2 veraltet ehrloser, unehrlicher Mensch, Betrüger, Dieb

ein verlogener, zungenfertiger Schelm (DWDS)

Dornseiff-Bedeutungsgruppen:

  • 10.22 Witz: Hofnarr, Humorist, Karikaturist, Narr, Satiriker, Schalk, Schelm, Scherzbold, Spaßmacher, Spaßvogel, Spötter, Witzbold
  • 10.52 Liebe: Auserwählter, Dicker, Engel, Hase, Lieber, Liebster, Männe, Schatz, Schelm, Schlingel, Strick, Strolch, Stromer, Süßer
  • 11.52 Schlau: Filou, Leisetreter, Pfiffikus, Schelm, Schlauberger, Schlaumeier, Schlitzohr, stilles, Wolf
  • 15.53 Betrug: Bauernfänger, Betrüger, Beutelschneider, Fälscher, Falschmünzer, Falschspieler, Frömmler, Gaukler, Heuchler, Hochstapler, Komödiant, Krimineller, Lockvogel,Lügner, Pharisäer, Rechtsbrecher, Schelm, Schieber, Schuft
  • 21.8 Unredlich: Bösewicht, Delinquent, Erpresser, Filou, Ganove, Gauner, Gewalttäter, Halunke, Kanaille, Krimineller, Rechtsbrecher, Schädling, Schelm, Schieber, Schuft, Schurke,Schwerverbrecher, Schwindler, Straftäter (Wortschatz Uni Leipzig)

Helmut Landwehr hat über eine Neuinterpretation des „Romanzero“ 2000 promoviert; von ihm gibt es eine große Interpretation (1. Link unten) sowie die noch stärker ausgearbeitete Interpretation aus seiner 2001 veröffentlichten Dissertation (die beiden nächsten Links) – ich empfehle eine intensive Lektüre der Texte. Ich folge allerdings seiner Interpretation weithin nicht, weil ich

  • eine Differenz zwischen den drei ersten und den beiden folgenden Strophen nicht erkennen kann,
  • die allegorische Deutung der Herzogin als Figur „Literatur“ (und des ganzen Geschehens) nicht nachvollziehen kann,
  • die Interpretation des Tempuswechsels in der 9. Strophe für verwegen halte,
  • in Herzog und Herzogin wirklich nicht das Prinzenpaar aus dem Karneval erkennen kann – die Szene spielt schließlich im Schloss, die Erzählung endet ätiologisch.

Trotzdem regt Landwehrs Interpretation dazu an, nach der politischen Bedeutung dieser Ballade zu fragen. Es leuchtet mir ein, dass die in der „Realität“ vom Herzog vollzogene Aufhebung des Standesunterschieds zwischen dem deklassierten Henker und seiner adeligen Frau politische Bedeutung haben kann: Vorbild dessen, was in der sozialen Realität zu geschehen hat; dass also die im Karneval vollzogene Aufhebung aller Standesunterschiede Vorbild für die soziale Realität in Deutschland zu sein hat. Dafür spricht, dass das Sagen-Geschehen im Düsseldorfer Karneval spielt und dass das Gedicht in Köln veröffentlicht worden ist. Schade, dass man nicht die Leser vom 1846 und 1851 fragen kann, wie sie das Gedicht verstanden haben.

Kurz etwas zur Form des Gedichts: vier Verse pro Strophe, abwechselnd vier und drei Hebungen mit abwechselnd männlicher und weiblicher Kadenz bei freier Füllung, Paarreim der 2. / 4. Verse. Dadurch entstehen praktisch zwei Langverse pro Strophe, weil ja am Ende des 1. / 3. Verses keine Pause zu machen ist. Die Verspaare bilden in der Regel (außer V. 38, der in V. 39 übergeht) eine semantische Einheit; trotzdem passen die sich reimenden Wörter bzw. Verse fast immer sinnvoll zusammen (außer in der 9. und 13. Strophe): Mummenschanz gehalten / tanzen die bunten Gestalten (1. Str.); jene vorüberwalzen / grüßen mit Schnalzen (3. Str.) usw. – das heißt, die auch die ganze Strophe eine semantische Einheit bildet, sei es in der Entsprechung (1., 3., … Str.), sei es im Kontrast (7., 8. Str.). Von den Anaphern sind die vier „Da“ (V. 3 – 5) wichtig, welche die Beschreibung des Ortes mit der Erzählung des Geschehens verbinden; das Lachen der Herzogin beherrscht die ersten acht Strophen (Wiederholung) und schlägt in die Stille (10. Str.) um, die Nähe der Tänzer in die Flucht der Herzogin – das ist bereits oben bei der Beschreibung des Aufbaus gesagt worden. Wiederholungen gibt es in der Parallelität der drei Strophen 6 – 8, Alliterationen en masse (l- V. 6, Sch- V. 16, l- V. 23 und 31).

Im Unterschied zu „Pfalzgräfin Jutta“ haben wir hier ein bedeutendes Gedicht Heines vor uns – oder habe ich bei „Pfalzgräfin Jutta“ bloß die Bedeutung nicht erkannt?

http://www.reinhard-doehl.de/forschung/heine_schelm.htm (Interpretation Landwehrs)

http://www.verlagdrkovac.de/volltexte/0316/Teil_1._Der_Interpretationsansatz.pdf mit http://www.verlagdrkovac.de/volltexte/0316/Teil_2._Exemplarische_Interpretationen.pdf (große Interpretation: aus der Dissertation Landwehrs, 2001)

http://de.wikipedia.org/wiki/Schelm_von_Bergen

Sonstiges

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lyncker,+Karl/Sagen/Deutsche+Sagen+und+Sitten+in+hessischen+Gauen/224.+Der+Schelm+und+die+Kaiserin (Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen – vgl. Nr. 222 und 223)

http://www.sagen.at/texte/sagen/deutschland/bayern/spessart/schelm.html (Sage: Barbarossa – nur eine der drei Versionen von Lyncker)

http://de.wikipedia.org/wiki/Schelme_von_Bergen (Familie Schelme von Bergen)

http://schelmenstube.falbor.eu/der_schelm.php (Sagen)

http://de.wikipedia.org/wiki/Schelm (Schelm)

http://de.wiktionary.org/wiki/Schelm („Schelm“)

http://www.duden.de/rechtschreibung/Schelm („Schelm“)

http://www.dwds.de/?qu=Schelm&view=1 („Schelm“: Wortgeschichte)

http://de.wikipedia.org/wiki/Karneval,_Fastnacht_und_Fasching (Karneval)

http://de.wikipedia.org/wiki/Mummenschanz (Mummenschanz)

Heine: Pfalzgräfin Jutta – Analyse

Pfalzgräfin Jutta fuhr über den Rhein…

Text

http://www.textlog.de/heine-gedichte-jutta.html

http://de.wikisource.org/wiki/Pfalzgr%C3%A4fin_Jutta

Das Gedicht entstand wahrscheinlich 1845–1846. Heine veröffentlichte es 1846 unter der Überschrift Frau Jutte im Morgenblatt für gebildete Leser [2. September, mit einigen anderen Gedichten]. Pfalzgräfin Jutta wurde in erster Linie durch das Volkslied Albertus Magnus aus „Des Knaben Wunderhorn“ angeregt, einem Werk, mit dem Heine seit seiner Jugend vertraut war. […] Im Unterschied zur Vorlage werden bei Heine die schauerlich-dämonischen Züge einseitig betont, ohne daß er Reue oder Erlösung der Frau andeutet. Die Lokalisierung der Sage am Rhein ist Heines Erfindung und entspricht wohl seiner Neigung, die Rheinlandschaft zur Kulisse romantisch-schauerlicher Geschichten zu machen. Die Verlagerung dürften Rheinsagen erleichtert haben, aus denen der Autor einzelne Züge in neuer Deutung aufgreift. Die sieben aus dem Rhein auftauchenden Jünglinge erinnern an die sieben Riffe bei Oberwesel, die sieben Jungfrauen. Sie erhielten ihren Namen von sieben schönen Schwestern, die auf dem nahe gelegenen Schloß Schönberg lebten. Aloys Schreiber, Heines Gewährsmann für rheinische Geschichte und Sagenwelt auch noch in der Pariser Zeit, berichtete über sie, sie hätten allen jungen Rittern in der Nähe und Ferne die Köpfe und – Herzen verrückt. Aber wunderbar, sie waren eben so spröde als schön, und wurden darum in die sieben Felsenspitzen verwandelt, welche gleich unter Wesel, bey seichtem Wasser, aus dem Rheine hervorragen, und die sieben Jungfrauen heißen (Handbuch für Reisende am Rhein, 3. Auflage, Heidelberg 1822, S. 170). […] Zu Stand und Namen der Protagonistin Pfalzgräfin Jutta könnte Heine durch die Burg Gutenfels über Kaub angeregt worden sein.“ (Kommentar DHA) Heute steht das Gedicht im „Romanzero“ (1851), in der Abteilung „I. Historien“.

Das Gedicht ist eine Schauerballade von einer Blaubart-Gräfin. Den Rahmen bildet eine Beschreibung der Situation: Pfalzgräfin Jutta fährt mit ihrer Zofe „bei Mondenschein“ (V. 2) im Kahn über den Rhein. In dieser nächtlich-unheimlichen Situation hält die Gräfin eine kleine Ansprache an ihre Zofe (V. 4-14); darin weist sie die Zofe (und so die Leser) auf die hinter ihnen schwimmenden sieben Leichen hin (V. 4-7) und erklärt ihr darauf, wer das ist und wie das Phänomen zustande kommt (3. Str.). Der letzte Vers ist in allen Strophen gleich: „So traurig schwimmen die Todten!“ (V. 7, 14, 21)

In der 1. Strophe wird eine schauerliche Szene etabliert: nächtliche Fahrt auf dem Rhein, sieben Leichen schwimmen hinter dem Boot; der letzte Vers (V. 7) scheint Mitgefühl der Gräfin mit ihnen zu bezeugen. In der 2. Strophe wird das dämonische Wesen der Gräfin offenbar: Sie hat ihre Liebhaber „sogleich“ nach deren Liebesbekenntnis ertränken lassen: „Zur Sicherheit, / Daß sie nicht brächen ihren Eid“ (V. 10 f.) Diese irrationalen Morde geben dem Schlussvers einen dämonisch-irren Klang. Zudem lacht sie höhnisch (V. 15 f.), wie der Erzähler berichtet. Die grausige Szene wird dadurch abgerundet, dass die Leichen „wie schwörend“ immer noch die Finger aus dem Wasser erheben (V. 18 f.), als seien sie bei ihrer Ermordung verhext worden, als seien sie immer noch Zeugen des Verbrechens, und puppenhaft nicken. Voller Mitgefühl klingt dann der letzte Satz des Erzählers: „So traurig schwimmen die Todten!“ (V. 21)

Die Form des Gedichtes ist originell: In jeder Strophe gibt es zunächst vier Verse mit vier Hebungen bei freier Füllung und mit männlicher Kdenz (volkstümlich-balladenhaft); es folgen zwei Verse mit zwei Hebungen und weiblicher Kadenz. Diese sechs Verse weisen Paarreime auf. Die verkürzten 5. und 6. Verse jeder Strophe werden, da sie nur zwei Hebungen und weniger Silben aufweisen, langsamer gesprochen; in ihnen stehen die schrecklichen Einzelheiten, seien sie nun von der Gräfin oder vom Erzähler berichtet: Die Leichen schwimmen hinterher (V. 5 f.); die Männer wurden nach dem Treueschwur ersäuft (V. 12 f. – niedere Spracheben, setzt die Männer auf die Stufe von Tieren); sie heben noch immer die Schwurhand und nicken gespenstisch (V. 19 f.). Der 7. Vers jeder Strophe ist der schon zitierte gleiche Vers vom Schwimmen der Toten. Die Reime sind insgesamt semantisch sinnvoll: „über den Rhein / bei Mondenschein“ (V. 1 / 2); „voll Jugendlust / an meine Brust“ (V. 8 / 9) usw.; nur V. 3 f. fallen dabei aus.

Im 19. Jahrhundert hat das Gedicht großen Eindruck bei den Lesern gemacht; wir sind heute durch entsprechende Filme an ganz andere Grausamkeiten gewöhnt, für mich variiert das Gedicht nur ein Rheinsage, ohne dass mich ein Schauer ergriffe. Der Rhythmus (und der Text V. 3-7) erinnert mich ein wenig an Goethes „Erlkönig“. Wenn es nach mir ginge, müsste es nicht in den Kanon von Heines bleibenden Gedichten aufgenommen werden, weil uns kein Blick in das Innere der dämonischen Pfalzgräfin gewährt wird, sodass die berichtete Ermordung der Liebhaber episodisch bleibt.

http://urts55.uni-trier.de:8080/Projekte/HHP/searchengine/werke/baende/D01/getpage?pageid=D03S0652&mode=2 (Kommentar DHA, zur Entstehung, dort bis S. 655)

Sonstiges

http://www.histsem.uni-freiburg.de/mertens/graf/obwes_v.htm#t4 (Zu Rheinsagen, Beispiel: die Sieben-Jungfrauen-Sage)

http://www.literatur-archiv-nrw.de/lesesaal/Essays/Joseph_A__Kruse___Berg__und_Burgen_schau_n_herunter_/seite_1.html (Literarische Rheinbilder)

Heine: Nicht gedacht soll seiner werden! – Analyse

Nicht gedacht soll seiner werden!…

Text

http://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/HeineNachlese/gedacht.htm

http://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/HeineNachlese/ (Nachgelesene Gedichte, dort „Nachgelesene Gedichte 1845-1856“, III. Abteilung: Lamentationen)

Der pathetische Refrain „Nicht gedacht soll seiner werden!“, den es fünfmal im Gedicht gibt, stammt aus dem AT, genauer aus einer Strafandrohung, die Hesekiel (Ezechiel) im Namen des HERRN gegen die Ammoniter ausspricht: „Du must dem Fewr zur speise werden / vnd dein Blut mus im Land vergossen werden / vnd man wird dein nicht mehr gedencken / Denn ich der HERR habs geredt.“ (Hes 21,32 – Lutherbibel 1545) „Du sollst dem Feuer zum Fraß werden, und dein Blut soll im Lande vergossen werden, und man wird nicht mehr an dich denken; denn ich, der HERR, habe es geredet.“ (Hes 21,37 – Lutherbibel 1984) Umgekehrt gibt es bei Jesaja die Zusage des immerwährenden Gedenkens: „Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“ (Jes 49,14 f.) Und im Neuen Testament gibt es als zentralen Auftrag das Gebot Jesu: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ („Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: ‚Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.’“1 Kor 11,25) Das Thema Erinnern/Vergessen ist ein zentrales Motiv in den biblischen Religionen, denen Heine vielleicht nicht angehörte, aber die er bestens kannte und als Dichter auch nutzte.

Heines Gedicht „Nicht gedacht soll seiner werden!“ finden wir in den Nachgelesenen Gedichten 1845 – 1856, dort unter den „Lamentationen“. Das Gedicht beginnt mit diesem Satz als Zitat eines Wortes „der armen alten Esther Wolf“ (V. 2 f.), einer unbekannten Jüdin; das lyrische Ich berichtet davon (1. Str.), dieses Wort gut behalten zu haben. In den folgenden Strophen reflektiert es diesen in religiösem Fanatismus gesprochenen ungeheuerlichen Satz, den als Verdammungsurteil Gottes über die Ammoniter der Profet Hesekiel sich ausgedacht hatte (s.o.), was es in abgewandelter Form als damnatio memoriae bei den Römern gab (s. die Links unten). In Rom war die damnatio jedoch kein reales vollständiges Vergessen des Verdammten; „vielmehr wurde die Erinnerung an ihn durch die Verfluchung seines Namens bewusst wachgehalten – nicht zufällig kennt man fast jeden, der in Rom der damnatio verfiel, mit Namen“ (wikipedia).

In der 2. Str. wird die Löschung des Andenkens vom lyrischen Ich als höchste Form („die Blume“, V. 7 – ein bitterer Euphemismus) der Verwünschung bewertet. In der 3. Strophe spielt das lyrische Ich eine solche Verwünschung durch, indem es sich selbst bzw. dem eigenen Herzen gebietet, bei all seinen Äußerungen („die Fluten deiner Klagen und Beschwerden“, V. 9 f.) jenen einen nie zu erwähnen (V. 11). In der 4. Strophe wird die Verwünschung zunächst allgemein wiederholt (V. 13 f.) – dann wendet sich das lyrische Ich direkt an den Verwünschten und beschimpft ihn drohend als dunklen Hund, „Du verfaulst mit meinem Fluche!“ (V. 16) Hier zeigt sich, dass man in seinem Vernichtungswillen doch von dem sprechen muss, dessen man nicht mehr gedenken will – konsequent wäre es, ihn einfach nicht mehr zu erwähnen; aber dann könnte man seinen Hass nicht ausleben, sich mit niemandem mehr darüber verständigen, dass man JENEN nicht mehr erwähnen will.

In den beiden letzten Strophen wird als letzte schreckliche Konsequenz der damnatio ausfabuliert, dass „selbst am Auferstehungstage“ (V. 17) die Engel den Namen des Verstoßenen nicht vorlesen werden, wenn ausnahmslos alle zum Gericht aufgerufen werden: „Nicht gedacht soll seiner werden!“ (V. 24) Die Verstoßung wäre demnach bereits das Endgericht GOTTES vor dem Tag des letzten Gerichts: eine Anmaßung religiöser Selbstgerechtigkeit – einen solchen Verstoß gegen die Regeln könnte sich nicht einmal GOTT selbst erlauben. Diese Tatsache legt den Gedanken nahe, dass es sich in den beiden letzten Strophe um eine ironische Überspitzung und damit um eine (satirische) Kritik der damnatio-Praxis handeln könnte; das würde dann auch für die 4. Strophe gelten, ebenso für die 3. Strophe – eine innere Unmöglichkeit darzustellen ist eine bekannte satirische Technik. Dann hätten wir doch eine Logik im Aufbau des Gedichts: Am Ende stände die Satire.

Die formalen Besonderheiten des Gedichts sind der vierhebige Trochäus und der Paarreim der Verse 2/4 jeder Strophe; dreimal wird nach Vers 2 eine semantische Einheit abgeschlossen (2., 3., 4. Strophe), dreimal nicht. In den ersten drei Fällen sind die Reime sinnvoll, wenn man sie auf den ganzen Doppelvers bezieht, z.B. „ausgelöscht auf Erden / nicht gedacht soll seiner werden“ (V. 6/8). Mehrfach leiten Enjambements von einem Vers in den nächsten (V. 2, 9, 18, 19, 21, 22), sodass das Gedicht insgesamt recht zügig gesprochen wird, was dem Zorn auf den Ausgestoßenen gerecht wird.

Entgegen der Analyse von www.dradio.de (s.u.) kann ich zunächst keinen geplanten Aufbau des Gedichts erkennen; die 1. und die 5./6. Strophe stehen vorn und hinten natürlich an dem ihnen zukommenden Platz, aber die drei mittleren Strophen sind doch eher beliebig positioniert, sie könnten ihre Reihenfolge auch vertauschen. So ist das Gedicht noch nicht vollendet und daher zu Recht nur in den Nachgelesenen Gedichten zu finden. Falls man sich jedoch für die satirisch-ironische Lesart entscheidet, sieht die Sache anders aus: Bericht (1. Str.) – Bewertung der damnatio (2. Str., mit ironischem Euphemismus) – satirische Ausführung der damnatio (3. – 6. Str.). Dann gewinnt der Hinweis, dass es sich um Worte der armen alten Frau Wolf handelt (V. 2 f.), nachträglich eine neue Qualität: Die damnatio-Formel ist nichts als Geschwätz eines alten Weibes.

In den „Lamentationen“, Teil II des „Romanzero“ (1851), finden wir im Lazarus-Zyklus zwei weitere Gedichte, in denen das Motiv der damnatio, der Tilgung des Gedächtnisses eine Rolle spielt. Da ist einmal „Gedächtnisfeier“, wo Heine den Gedanken durchspielt, dass man bei seinem Tod weder das jüdische Totengebet (Kadosch) beten noch eine katholische Messe halten wird; „doch vielleicht“ (V. 5) wird seine Frau Mathilde bei einem Spaziergang sein Grab besuchen, das reicht offensichtlich als Ersatz für die Liturgie. Das ist der leichtere Fall: Heine wird ja nicht direkt verdammt werden, sondern nur nicht religiös-offiziell verabschiedet werden. Ernster ist der Fall in „Vermächtnis“, wo er seine körperlichen Leiden all seinen Feinden zu vermachen gedenkt und zum Schluss ein Kodizill (eine einseitige, jederzeit widerrufliche letztwillige Anordnung) erlässt:

„Kodizill zu dem Vermächtnis:

In Vergessenheit versenken

Soll der Herr eu’r Angedenken,

Er vertilge eu’r Gedächtnis.“

Da wird dem HERRN die Aufgabe übertragen, für die Tilgung ihres Gedächtnisses zu sorgen – ein böser Wunsch, der aber nicht sonderlich ernst genommen werden muss, weil das ganze Gedicht ein ironisches Spiel ist: „Christlich will ich drin [im Testament] bedenken / Meine Feinde mit Geschenken.“

So hebt sich „Nicht gedacht soll seiner werden!“ aus den drei Gedichten als dasjenige heraus, wo der Verdammungswunsch am strengsten durchgespielt wird (aber nur in der ersten Lesart – in der zweiten Lesart ist die Behandlung des Motivs in allen Gedichten gleichermaßen spöttisch). Auf wen sich dieser von der alten Frau Wolf geäußerte Fluch bezieht, bleibt unklar – es könnte sein, dass Heine sich selbst als einen von allen Verstoßenen gesehen hat; als einen, der zwischen allen Stühlen gesessen und nirgendwo sich ideologisch festgelegt hat. Denn solche Flüche treffen nur die Abtrünnigen, und abtrünnig war Heine wahrhaftig, sowohl als Jude wie als Getaufter. Dass er bereits im Kaiserreich, dann natürlich im Dritten Reich zu den Geächteten gehörte, entbehrt nicht der Logik des Parteienkampfes: Rache für seine Verachtung der dumpfen Nationalisten (vgl. die Vorrede zu Lutetia!).

Verdammung der Abtrünnigen: Nietzsche hat konsequent den Gedanken zu Ende geführt, dass wir aus Treue zu uns selbst „Verräter“ werden müssen (Menschliches, Allzumenschliches I, 629-637). „Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, -“ (Nr. 638).

http://www.dradio.de/download/174043/ (dort S. 8 f.)

Sonstiges

http://johannaschall.blogspot.de/2012/02/ein-wirklich-vernichtender-fluch.html (Bild und weitere Texte zum Thema)

http://www.textlog.de/heine-gedichte-lamentationen.html („Lamentationen“, Teil II des „Romanzero“)

http://de.wikipedia.org/wiki/Damnatio_memoriae

http://en.wikipedia.org/wiki/Damnatio_memoriae

http://library.fes.de/pdf-files/kmh/04333.pdf (Jan-Christoph Hauschild über Heine)

Heine: Die Wanderratten – Analyse

Es gibt zwei Sorten Ratten…

Text

http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Heine/ratten.htm (mit Erläuterungen)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Gedichte/Nachlese/Zeitgedichte/Die+Wanderratten (Nachlese: Zeitgedichte)

„Die Wanderraten“ sind unter der Überschrift „Aus dem Schwanengesange eines deutschen Dichters“ erst 1869 erschienen, in der „Gartenlaube“; wann das Gedicht entstanden ist, ist unklar. Heute steht es unter „Zeitgedichte“ in den Nachgelesenen Gedichten Heines. Es hat Züge einer Ballade oder Fabel. Die Form ist eigenwillig: In den beiden ersten Versen jeder Strophe sind drei Hebungen zu finden, in den beiden letzten vier Hebungen; alle mit freier Füllung. Ab Strophe 10 besitzen auch die beiden ersten Verse vier Hebungen. Die Verse weisen Paarreim und einen unbetonten Auftakt auf; nur in V. 45, vielleicht auch in V. 41-43 ist das erste Wort betont, vielleicht auch in V. 55. Die Form ist also volkstümlich, auf breite Rezeption angelegt. Das Gedicht weist eine Reihe sprachlicher Feinheiten auf, die hier nur summarisch erläutert werden können.

Es spricht ein Mensch über „die Wanderraten“; er wertet die Ratten („Bestialisierung“ als Mittel der bürgerlichen Polemik) als Tiere deutlich ab (v.a. ab 4. Str.) und nimmt dabei später ausdrücklich in der wörtlichen Rede die Perspektive der von den heranstürmenden Ratten bedrohten Bürger ein: „O wehe! Wir sind verloren…“ (V. 33 f.).

In den ersten drei Strophen werden die Wanderratten eingeführt und in ihrem „Wandern“ beschrieben. Dabei fällt auf, dass ihr Vormarsch („in ihrem grimmigen Lauf“, V. 7) unaufhaltsam ist; sie sind die hungrigen Ratten, die wie eine eigene Art von den satten unterschieden werden (V. 1 ff.). Mit den Adjektiven „vergnügt“ und „grimmig“ (V. 3, 7) werden erstmals menschliche Attribute auf die Ratten übertragen.

Dies geschieht vermehrt in Str. 4-7, wo die Eigenart der „radikalen“ Ratten (V. 16) so eindeutig umschrieben wird, dass sie als die Kommunisten zu erkennen sind: „egal“ (also gleich), „radikal“, ohne Religion (V. 20 bedarf einer weiteren Klärung), wollen fressen und saufen, „ohne Geld“ (also arm) und wünschen „aufs neue zu teilen die Welt“ (V. 28): revolutionäre Neugestaltung der Eigentumsverhältnisse. Durch die Verlagerung auf die Rattenebene werden die unbefriedigten Bedürfnisse der Armen einmal (aus der Perspektive der „bedrohten“ Bürger) tierhaft abgewertet, aber auch als elementar und unabweisbar erwiesen – die spielerische Note in Heines politischer Kritik. Sie zeigt sich auch in den zahlreichen Wortspielen: Käuze/Schnäuze (statt Schnauzen, V. 14); „geschoren egal“ (egalité); radikal/rattenkahl (mit Anspielung zudem auf „ratzekahl“). Die Vermischung der Ebenen Ratte-Mensch kommt in den geschorenen Köpfen (V. 15), dem Fehlen von Religion (V. 17 ff.), dem Hinweis auf die Weiber (V. 20), der Zusammenstellung Hölle/Katze und dem Hinweis auf Geld und Revolution paradox-spielerisch zum Ausdruck. Wiederholungen (V. 22 f., V. 27) unterstreichen die Dringlichkeit der Rattenbedürfnisse.

In den beiden nächsten Strophen klagt der Berichterstatter aus der Perspektive der von den Ratten bedrohten Bürger: „O wehe!“ (V. 29, 33) In V. 35 kippt dann die Perspektive in die eines distanziert außen Stehenden (Wechsel des Personalpronomens „wir“ zu „sie“); die Distanz merkt man an der abwertenden Bezeichnung „Pfaffen“ (V. 38) und der ironischen Umschreibung des Eigentums als „Palladium des sittlichen Staats“ (V. 39 f.). Palladium ist Kultbild der Göttin Athene, dessen Besitz den Bestand der Stadt verbürgte; wenn hier das Eigentum als das wahre Götterbild der Bürger bezeichnet wird, so wird damit die bürgerliche Religion als bloße Fassade der Besitzverhältnisse entlarvt (dahin gehört auch „sittlich“ als Staatsattribut, V. 40), zugleich aber auch die angebliche Religionslosigkeit der Ratten relativiert – die bedrohten Bürger glauben ebenfalls nicht wirklich an Gott, sondern an ihr Eigentum. In V. 40 liegt eine ironische Verdrehung von Hegels Staatstheorie vor: Der sittliche Staat ist gerade der Staat, der das Lebensrecht der Bürger höher als das Recht der Reichen auf ihr Eigentum einstuft. Was hier der Sprecher ironisch verdreht, haben die Bürger zuvor in der Wirklichkeit verdreht.

In den letzten vier Strophen nimmt der Sprecher wieder eine andere Position ein: Er spricht die verängstigten Bürger als „ihr lieben Kinder“ an (V. 44) und gibt ihnen Ratschläge, wie man mit der Rattenplage fertig werden kann. In den beiden ersten Strophen zählt er auf, was alles nicht hilft: Das sind nämlich die bisher eingesetzten Mittel der Armutsbekämpfung (bzw. Bekämpfung der Armen) durch fromme Reden, militärische Gewalt, philosophische Argumente und rhetorische Tricks (V. 41-48). Hier werden wieder die beiden Ebenen Ratten-Menschen vermengt (V. 47 f.). In den beiden letzten Strophen erklärt er, wie man die Ratten besänftigen kann; dies erklärt er bildhaft in der Vermengung der beiden Ebenen Essen-Reden, wobei er die falsche Art zu reden bereits in der 12. Strophe zurückgewiesen hatte. Die richtige Art, „logisch“ überzeugend zu „reden“, besteht in der „Suppenlogik mit Knödelgründen“ (V. 50) usw., also in der Sättigung der Hungrigen. Ein netter Scherz (Kontrast) liegt in der letzten Strophe vor: Der schweigende Stockfisch (Anspielung auf die Redensart „stumm wie ein Fisch“) schmeckt „den radikalen Rotten“ besser „als ein [redender] Mirabeau“ (Mirabeau war Wortführer des Dritten Standes in den Generalständen, 1790 Präsident des Jakobinerclubs und 1791 Vorsitzender der Nationalversammlung) – selbst republikanische Reden helfen also nicht gegen die Armut, sondern nur gutes Essen, sagt der Sprecher.

Ein Blick noch auf die Reime des scheinbar holperigen Gedichts, das in Wahrheit höchst geschliffen ist: Die beiden Reimwörter verbinden jeweils zwei zusammengehörende Verse sinnvoll, wobei manchmal zwei, manchmal alle vier Verse eine semantische Einheit bilden. Dafür nur einige Beispiele: Zwei Mittel der Verteidigung reimen sich in „zu den Waffen / die Pfaffen“ (V. 37 f.), zwei Arten des Essens in „Eingang finden / mit Knödelgründen“ usw. – Fazit: ein großes Gedicht, eines der besten Heines!

Die strategischen Prämissen des Gedichts und ähnlicher Texte hat Dolf Oehler dargelegt (in: Interpretationen. Gedichte von Heinrich Heine. Hrsg. von Bernd Kortländer, RUB 8815, S. 248 ff.): Einmal musste Heine (und der Verlag) sich auf die scharfe Zensur in Deutschland einstellen, anderseits auf seine bürgerlichen Leser und ihre Angst vor den Forderungen der Arbeiter bzw. vor dem Kommunismus. Wen die Feinheiten nicht interessieren, der kann hier zu lesen aufhören und zu den Links unten springen.

Heine hat 1855 im Entwurf einer Vorrede zu „Lutetia“ zunächst über die Zensur als über die Bedingung geschrieben, unter der seine Briefe in der Augsburger Allgemeinen Zeitung 1840/43 veröffentlicht wurden. Dann fährt er fort:

Waren die Republikaner ein bedenkliches Thema für den Korrespondenten der Allgemeinen Zeitung, so waren es noch in höherm Grade die Sozialisten oder, um das Schrecknis bei seinem rechten Namen zu nennen, die Kommunisten. Und dennoch gelang es mir, dieses Thema in der Allgemeinen Zeitung zu besprechen. Gar manchen Brief unterdrückte die Redaktion, in der wohlmeinenden Furcht, daß man den Teufel nicht an die Wand malen dürfe. Aber nicht alles durfte sie vertuschen, und, wie gesagt, es gelang, das fürchterliche Thema zur Sprache zu bringen, zu einer Zeit, wo noch niemand eine Ahnung von seiner wahren Bedeutung hatte. Ich malte den Teufel an die Wand, oder, wie ein geistreicher Freund sich ausdrückte, ich machte ihm eine höllische Reklame. Die Kommunisten, die vereinzelt in allen Landen verbreitet, ohne bestimmtes Bewußtsein ihres Wollens, erfuhren durch die Allgemeine Zeitung, daß sie wirklich existierten, erfuhren auch bei solcher Gelegenheit ihren wirklichen Namen, der manchem dieser armen Findelkinder der alten Gesellschaft ganz unbekannt war. Durch die Allgemeine Zeitung erhielten die zerstreuten[232] Kommunistengemeinden authentische Nachrichten über die täglichen Fortschritte ihrer Sache, sie vernahmen zu ihrer Verwunderung, daß sie keineswegs ein schwaches Häuflein, sondern die stärkste aller Parteien, daß ihr Tag noch nicht gekommen, daß aber ruhiges Warten kein Zeitverlust sei für Leute, denen die Zukunft gehört. Dieses Geständnis, daß den Kommunisten die Zukunft gehört, machte ich im Tone der größten Angst und Besorgnis, und ach! diese Tonart war keineswegs eine Maske! In der Tat, nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit, wo jene dunklen Ikonoklasten zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie alsdann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt, sie zertrümmern alle jene phantastischen Schnurrpfeifereien, die dem Poeten so lieb waren; sie hacken mir meine Lorbeerwälder um, und pflanzen darauf Kartoffeln; die Lilien, welche nicht spannen und arbeiteten, und doch so schön gekleidet waren wie König Salomon, werden ausgerauft aus dem Boden der Gesellschaft, wenn sie nicht etwa zur Spindel greifen wollen; den Rosen, den müßigen Nachtigallbräuten, geht es nicht besser; die Nachtigallen, die unnützen Sänger, werden fortgejagt, und ach! mein »Buch der Lieder« wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft – Ach! das sehe ich alles voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Kommunismus bedroht ist – Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt derselbe [– so feindlich er allen meinen Interessen und Neigungen ist –] auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann, in meiner Brust sprechen zwei Stimmen zu seinen Gunsten, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen, die vielleicht nur diabolische Einflüsterungen sind – aber ich bin nun einmal davon besessen, und keine exorzierende Gewalt kann sie bezwingen – Denn die erste dieser Stimmen ist die Logik – der Teufel ist ein Logiker, sagt Dante – ein schrecklicher Syllogismus behext mich, und kann ich der Prämisse nicht widersprechen: »daß alle Menschen das Recht haben zu essen«, so muß ich mich auch allen Folgerungen fügen – ich könnte darüber unklug werden, alle Dämonen der Wahrheit tanzen triumphierend um[233] mich her, und am Ende ergreift mich eine verzweiflungsvolle Großmut, wo ich ausrufe: [Sie ist längst gerichtet, verurteilt, diese alte Gesellschaft. Mag ihr Gerechtigkeit widerfahren! Mag sie zerschlagen werden, diese alte Welt, wo die Unschuld zugrunde ging, wo der Egoismus gedieh, wo der Mensch ausgebeutet wurde durch den Menschen! Mögen sie von Grund aus zerstört werden, diese übertünchten Gräber, wo die Lüge und die schreiende Ungerechtigkeit hausten! und] gesegnet sei der Krautkrämer, der einst aus meinen Gedichten Tüten verfertigt, worin er Kaffee und Schnupftabak schüttet für die armen alten Mütterchen, die in unsrer heutigen Welt der Ungerechtigkeit vielleicht eine solche Labung entbehren mußten – fiat justitia, pereat mundus!

Und die zweite der beiden zwingenden Stimmen, von welchen ich rede, ist noch gewaltiger, als die erste, denn sie ist die des Hasses, des Hasses, den ich jenem gemeinsamen Feinde widme, der den bestimmtesten Gegensatz zu dem Kommunismus bildet, und der sich dem zürnenden Riesen schon bei seinem ersten Auftreten entgegenstellen wird – ich rede von der Partei der sogenannten Vertreter der Nationalität in Deutschland, von jenen falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blödsinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht, und die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen – Ja, die Überreste oder Nachkömmlinge der Teutomanen von 1815, die bloß das altdeutsche Narren-Kostüm gewechselt und sich die Ohren etwas verkürzen ließen – ich haßte und bekämpfte sie Zeit meines Lebens, und jetzt, wo das Schwert der Hand des Sterbenden entsinkt, erquickt ihn die Überzeugung, daß ihnen ganz sicher der Kommunismus den Garaus macht, nicht mit einem Keulenschlag, nein, mit einem bloßen Fußtritt; wie man eine Kröte zertritt, wird der Riese sie zertreten. [Damit wird er beginnen.] Aus Haß gegen die Nationalisten könnte ich schier die Kommunisten lieben. Wenigstens sind sie keine Heuchler, die immer die Religion und das Christentum im Munde führen; die Kommunisten, es ist wahr, besitzen keine Religion (einen Fehler muß doch der Mensch haben), sie sind sogar Atheisten (was gewiß eine große Sünde ist), aber in ihren obersten Prinzipien huldigen sie einem Kosmopolitismus, einer allgemeinen Völkerliebe, einem Weltbürgertum aller Menschen, welches ganz übereinstimmend ist mit dem Grunddogma des Christentums, so daß sie in Wesen und Wahrheit viel christlicher sind als unsere deutschen Maulchristen, die das Gegenteil predigen und üben. (Aus der Vorrede zu Lutetia)

Oehler verweist noch auf den Text „Geständnisse“ (http://www.heinrich-heine.net/gestd.htm oder http://gutenberg.spiegel.de/buch/365/1) als einen Paralleltext zur Vorrede und zum Gedicht.

http://lk2012.wikispaces.com/file/view/Heinrich+Heine+präsentieren.odt‎ (dort S. 7-10: schülerhaft bis schwach)

http://lk2012.wikispaces.com/file/view/13.1A+Prüfungsbogen+Lyrik+Heine.doc (Lösungserwartung: Prüfungsbogen im Zentralabitur?)

[Cordula Hupfer: „Und Zuckererbsen nicht minder“ Die kulinarische Metaphorik im Gesamtwerk Heinrich Heines, 2005, – leider nur bruchstückhaft im Netz]

Vortrag

http://www.nuttymp3.com/mp3/423171 (schwach)

http://www.deutschelyrik.de/index.php/die-wanderratten.html (Fritz Stavenhagen, gut)

http://www.youtube.com/watch?v=qB-R44v0Sjg (J. K. Förster)

http://www.youtube.com/watch?v=GeIsuSnFbzs (?, mäßig)

http://www.youtube.com/watch?v=Nc-b2-y5IZc (vertont: Reifrock)

Sonstiges

http://www.bionity.com/de/lexikon/Wanderratte.html (Wanderrate)