In den Geschichten vom Herrn Keuner ist die Hauptperson Herr Keuner, der Fragen von Mitmenschen gestellt bekommt oder Erklärungen abgibt. Er antwortet stets mit Weisheiten, die auch von Brecht stammen könnten (Wikipedia, 6/2022, unter „Inhalt“)
Da die Geschichten vom Herrn Keuner aus einzelnen, voneinander unabhängigen Geschichten bestehen, ist es schwierig, eine allgemeine Interpretation zu erstellen. (…) Die Geschichten vom Herrn K. spiegeln aber Brechts persönliche Meinungen und politische Ansichten wider. Darum wird Herr K. gerne auch als Spiegelbild Brechts gedeutet. (Wikipedia, unter „Deutung/Interpretation“)
Die Figur war zunächst als handelnde Person in das Stück [„Fatzer“, 1926] einbezogen und nahm im Verlauf der Bearbeitungen Brechts immer mehr die Rolle des kritischen Kommentators (im Sinne des epischen Theaters) ein. Herr Keuner wird als Denkender dargestellt, der nur wenig Empathie mit anderen Personen zeigt und darum eher unsympathisch wirkt. Er ist hilfsbereit, solange keine speziellen Opfer von ihm verlangt werden. Er beurteilt die Tugenden, die Menschen schätzen, als gut, weil sie nützlich sind, und nicht wegen irgendwelcher Gefühle. (Wikipedia, unter „Herr Keuner“)
Die Wikipedia lässt uns mit ihrem Artikel „Geschichten vom Herrn Keuner“ eher fragend als belehrt zurück. Ich wende mich den Keunergeschichten zu, die in den „Kalendergeschichten“ stehen und mir unangenehm aufgefallen sind, um meinerseits als kritischer Kommentator Herrn K.s Auftreten zu würdigen, der nach Walter Benjamin nur als denkender Vermittler (im Dialekt von Brechts Heimatstadt Augsburg spricht man „keiner“ als „koiner“) in Erscheinung tritt. (Wikipedia, unter „Literaturkritik“)
Freundschaftsdienste
In dieser Geschichte nennt Herr K. den „Freundschaftsdienst“ des alten Arabers „richtig, weil er keine besonderen Opfer verlangte“.
Die erste Frage an Herrn K. lautet: Wieso hat der Araber den drei jungen Leuten überhaupt einen Freundschaftsdienst geleistet? Richtig ist, dass dieser Dienst nur einfache mathematische Kenntnisse verlangte (½ + 1/6 + 1/9 = 17/18), so dass das Kamel, das er ihnen „zur Verfügung“ stellt, ihnen nicht (bzw. nur zum Rechnen) zur Verfügung gestellt wird.
Zweite Frage an Herrn K.: Was unterscheidet Freunde von Fremden? Das Kamel konnte er genauso gut Fremden „zur Verfügung stellen“, und die drei jungen Leute waren ja auch nicht seine Freunde, sondern Fremde.
Brecht selber hat von seinen Freundinnen Margarete Steffin und Ruth Berlau ganz andere Dienste eingefordert, als Herr K. den drei drei jungen Leuten geleistet hat. Brecht kann also Herrn K.s Bewertung der Freundschaftsdienste nicht gutheißen. Und ich heiße sie auch nicht gut. Wer ist also Her K., ist er wirklich Spiegelbild oder Sprachrohr Brechts?
Gastfreundschaft
Wenn Herr K. Gastfreundschaft in Anspruch nahm, „bemühte er sich, sein Wesen so zu ändern, daß es zu der Behausung paßte“ (allerdings mit dem Vorbehalt, dass seine Vorhaben dadurch nicht gestört würden). Wenn er Gastfreundschaft gewährte, rückte er ein Möbel zum Gast passend zurecht. „Und es ist besser, ich entscheide, was zu ihm paßt!“ sagte er.
Wir haben hier Herrn K. als einen im Prinzip charakterlosen Menschen vor uns, der sich der Umgebung bedenkenlos anpasst (allerdings mit dem Vorbehalt…), der seinerseits dann auch nicht zögert, seine Gäste nicht als Subjekte, sondern als Verfügungsmasse zu behandeln. Aus der Gastfreundschaft ist die Freundschaft eliminiert, die „Gäste“ sind nur noch Gebrauchsgegenstände. Wer ist dieser Herr K.? (Einen Anklang an „Gastfreundschaft“ höre ich auch in „Über die Störung des ‚Jetzt für das Jetzt‘“.)
Wenn Herr K. einen Menschen liebte
Genauso wie seine Gäste behandelt Herr K. einen Menschen, den er liebt: Er macht sich einen Entwurf von ihm und will den Menschen seinem Entwurf anpassen: Imperialismus der „Liebe“.
Ich denke an Max Frischs Gegenentwurf: „Du sollst dir kein Bildnis machen“: „Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei.“ Wichtig ist auch, was Felix Schottlaender in seinem Buch „Des Lebens schöne Mitte“ über die Liebe schreibt – ich kann es nur aus dem Gedächtnis rekonstruieren: Im Stadium der Verliebtheit entwerfen wir ein Zauberbild der Geliebten und müssen dann mit der Zeit uns damit abfinden, dass sie dieses Zauberbild nicht ist, sondern ein Mensch mit Schwächen – wie ich selber. – Sowohl Frisch wie Schottlaender widersprechen dem Egomamen Herrn K.
Herrn K.s Lieblingstier
Nachdem Herr K. alle möglichen Gründe dafür aufgezählt hat, dass der Elefant sein Lieblingstier ist, folgt als letzter: „Er tut etwas für die Kunst: Er liefert Elfenbein.“
Das läuft darauf hinaus, dass der Elefant liebenswert ist, weil er verwertbar ist oder verwertbares Material liefert. Gegenüber einem Tier ist das eine verbreitete Einstellung. Sie zeigt, wer dieser Herr K. ist: Jedermann.
Das Altertum
Hier kritisiert Herr K. gerade, dass Menschen „als Gebrauchsgegenstände betrachtet wurden“ – das sei ein Merkmal des Altertums, und zwar des gegenwärtigen (kapitalistischen) „Altertums“, womit auf eine revolutionäre Hoffnung angespielt wird.
Hier stört mich nicht die Meinung Herrn K.s, sondern sein Gedankengang. Er betrachtet offensichtlich ein abstraktes Bild von Kannen und erkennt darin, dass die Maler die formlos gewordenen Dinge „wieder zurechtrücken“ mussten und die Kunden „ausgehungert nach Unbestechlichkeit“ waren. Darüber kann man diskutieren – aber jetzt erfolgt ein ideologischer Bruch: „Die Arbeit war unter viele verteilt, das sieht man an diesem Bild.“ Das halte ich für fragwürdig; und weil man aus der vorhin gelobten abstrakten Kanne kein Wasser ausgießen könnte, muss es „viele Menschen gegeben haben, welche ausschließlich als Gebrauchsgegenstände betrachtet wurden“. Diese Logik ist einfach absurd – hier verwirren kommunistische Träume (Brechts) den Gedankengang des Herrn K. (Auch in „Form und Stoff“ setzt Herr K. sich mit abstrakter Malerei auseinander.) – Dass übrigens Herr K. selber Menschen als Gebrauchsgegenstände betrachtet, ist bereits oben nachgewiesen worden.
Der Gesandte
Diese Erzählung macht erzähltechnisch Schwierigkeiten. Zunächst wird erzählt, dass Herr K. das subversive Verhalten des fremden Gesandten richtig findet, weil dieser nur so Erfolg haben konnte. Dann wird berichtet, dass der Gesandte gemaßregelt wurde, „als er zurückkam“, was Herr K. ebenfalls billigt und mit der Vermutung begründet, jener habe sich an das gute Essen gewöhnt und den Verkehr mit Verbrechern fortgesetzt… Davon war jedoch nicht die Rede – er wurde gemaßregelt, „als er zurückkam“, nicht Monate später. Hier lässt der Erzähler Herrn K. unsauber argumentieren.
Herr K. rechtfertigt die Maßregelung dann in einer Metaphernreihe: eine tödliche Aufgabe übernehmen (und ausführen) – er starb – er wurde begraben (= streng gemaßregelt). Mit dieser Reihe liegt die Logik des Versagens im erfolgreichen Handeln selbst: Um die Aufträge seiner Regierung erfolgreich auszuführen (= tödliche Aufgabe), musste der Gesandte sich bei den Feinden anbiedern (= er starb), wofür er „da“ (= damals) zu loben, aber später zu tadeln (= begraben) war. Das ist eine echt dialektische (kommunistische) Betrachtung, nach der man gerade den erfolgreichen Gesandten maßregeln oder sogar liquidieren darf: Der Zweck heiligt die Mittel und verdirbt den Täter, so dass er auch ohne (vermutete) spätere Verfehlungen verurteilt werden kann. – Herr K. hat die Logik seiner Metaphern noch nicht zur Hand oder nicht verstanden, als er zunächst die Vermutung späteren Versagens des Gesandten äußerte. Der Gesandte wird wieder wie ein Gebrauchsgegenstand behandelt, s.o.!
Hungern
Zunächst sagt Herr K.: „Ich kann überall hungern.“ Damit weist er die Frage nach seinem Vaterland zurück. Dann korrigiert er seine Antwort: „(I)ch kann überall leben, wenn ich leben will, wo Hunger herrscht.“ Das heißt: Ich kann überall leben; ich habe kein Vaterland. Damit ist die Ausgangsfrage beantwortet.
Die folgende Unterscheidung: selber Hunger haben / dagegen sein, dass Hunger herrscht, trägt nichts mehr zur Beantwortung der Frage nach dem Vaterland bei, sondern klärt nur über das Wohlbefinden Herrn K.s auf. Die Logik, wie die beiden Teile der Erzählung zusammenhängen, bleibt mir verborgen.
Überzeugende Fragen
Hier spricht Herr K. als kommunistischer Funktionär, der von „unserer Lehre“ annimmt, „daß wir auf alles eine Antwort wissen“, was viele abschrecke. Er will „im Interesse der Propaganda“ (und nicht im Interesse der Wahrheit!) „eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen“ (statt: sind).
Hier entlarvt Herr K. sich selbst – er ist meilenweit von Brechts „Lob des Zweifels“ oder dem Gedicht „Der Zweifler“ entfernt, ein zynischer Funktionär!
Fazit
Wer ist Herr K.? Das ist von Geschichte zu Geschichte verschieden; sicher ist er nicht einfach das Sprachrohr Brechts – das kann er sein („Wenn die Haifische Menschen wären“), aber er ist es nicht immer. Er ist einfach eine Figur, richtiger: ein bloßer Name ohne festen Charakter, dem man verschiedenste Einfälle und Geschichten anhängen kann. In „Der hilflose Knabe“ demonstriert er (dem Knaben und dem Leser), dass es sinnlos ist, bloß um Hilfe zu schreien, statt sich mit anderen Beraubten zu solidarisieren und gemeinsam vorzugehen; dadurch wird sein anscheinend zynisches Handeln zutiefst sinnvoll. Auch das gehört zu Herrn K. Und manchmal ist er bloß ein mieser Typ.
https://nosologoethevlc.files.wordpress.com/2013/03/brecht-geschichten-keuner.pdf (Text)
https://monoskop.org/images/e/e0/Brecht_Bertolt_Geschichten_vom_Herrn_Keuner_1949.pdf (Herr K. in den „Kalendergeschichten“, Text)
http://www.g.eversberg.eu/DUpdf/BrechtKeuner.pdf (Textgeschichte einiger Geschichten)
https://literaturkritik.de/id/10199 (allgemeine Leseanweisung)
https://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/316016_soi_05_01.pdf (eine Interpretation bei Klett)
https://st-ursula-gk.de/export/sites/einrichtungen/gymnasium-st-ursula-geilenkirchen/der-unterricht/fach/Deutsch/.galleries/downloads/Brecht-Bertolt_Der-hilflose-Knabe.pdf (Interpretation „Der hilflose Knabe“)
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichten_vom_Herrn_Keuner (Info)