Ewald Arenz: Der große Sommer (2021) – gelesen

Ewald Arenz ist u.a. Lehrer und hat ein Buch über vier Jugendliche geschrieben, die vielleicht 14 bis 16 Jahre alt sind; Friedrich oder Frieder ist jedenfalls der älteste von ihnen und ist 16. Dabei ist er zweimal sitzengeblieben, schafft aber zum Schluss die Nachprüfung und kommt in die U II oder Untersekunda, was rechnerisch nicht klappt; genauso wenig kann man in einer Nachprüfung von 5 auf 3 kommen, und zum Mathe-Stoff in O III gehören auch keine Integrale – ich verstehe nicht, wie sich Lehrer Arenz das alles ausdenken konnte. Johann ist sein Klassenkamerad, also zwei Jahre jünger, ähnlich wohl Frieders Schwester Alma und seine im Lauf des Geschehens erworbene Freundin Beate. Cool sind sie alle, Alma und Johann rauchen wie die Schlote, Alkohol gibt es genug, Johann nimmt vielleicht Drogen.

Was geschieht? In den Sommerferien muss Frieder, das erzählende Ich, für die Nachprüfung pauken, wohnt bei seinen total coolen Großeltern, freundet sich mit Beate an, schläft auch mit ihr, besteht mit allen viele Abenteuer (total unglaubwürdig – der Großvater nimmt als Bakteriologe einem Tiger im Zoo einen Abstrich und Blut ab!?), verkracht sich mit Beate; als Johann ihn in einem psychotischen Schub verleumdet, rettet er Johann und versöhnt sich mit Beate, hat das totale Vertrauen der Oma gewonnen, hat in Beate die große Liebe seines Lebens gefunden, was er natürlich sofort weiß (ihre romantische Liebe spiegelt sich in der romantischen Liebe der Großeltern)… und ist am Ende mit ihr wohl verheiratet, wie man den wenigen Notizen einer zweiten Zeitebene entnehmen kann, auf der er als Mann zu einem Grab geht und sie trifft – ich denke zu Johanns Grab, aber das steht da nicht.

Ganz große Gefühle, ganz großer Kitsch, ganz unglaubwürdig – als ob ein 16jähriger um 1980 einen Blick für den Stil der 50er Jahre hätte (und u.a. denkt: „Dass in allem Anfang immer schon ein Ende lag!“), als ob ein Obertertianer den Werther und die Deutschstunde läse, als ob man im Dom die Fenster mit der Hand berühren könnte, als ob in einem verlassenen Bagger der Schlüssel steckte… Ach ja, und Johanns Vater ist auch zwischendurch gestorben, aber so cool wie Johann ist, spült er das mit ein paar Bier weg. Und Frieders Opa, das ist ein Mann, Professor, cool und hart, aber er liebt seinen Enkel und schafft einfach alles. Alles!

SPIEGEL Bestseller. Wen wundert’s?

Jenny Erpenbeck: Kairos (2021) – gelesen

In Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ wird die Geschichte einer großen Liebe in Ostberlin erzählt: Katharina ist 19 und Hans ihre erste große Liebe; Hans ist 53, ein Kulturschaffender, verheiratet, hat schon mehrere Liebschaften hinter sich und könnte wissen, dass die Verliebtheit der großen Liebe nicht von Dauer sein kann. Trotzdem rennt er sich in der Illusion der totalen Vertrautheit fest und erniedrigt schließlich Katharina, spielt sich zum Herrn ihrer Gefühle und Gedanken auf, als besäße er sie wie einen Gegenstand – es tut einem in der Seele weh, wenn man das liest. Das Verhältnis dauert mehrere Jahre, übersteht zwei große Trennungen, das Ende der DDR und eine Abtreibung und endet schließlich irgendwie. Nachgeschoben wird die Einsicht in die Akte des 1988 abgeschalteten IM Galilei, der Hans war; vorausgeschickt ist die Nachricht von seinem Tod – sie konnte an seinem Begräbnis nicht teilnehmen, weil sie gerade in Pittsburgh war, hat seiner aber mit ihrer Lieblingsmusik gedacht. Und sie hat aus zwei Kartons und ihrem Koffer die Geschichte ihrer Liebe rekonstruiert und erzählt, wobei die Erzählstimme sie immer nur Katharina und „sie“ nennt.

Neben der persönlichen gibt es zwei politische Ebenen, die aktuelle vom Ende der DDR, die nach meinem Empfinden die Sicht eines möchtegernsozialistischen Jammerossis zeigt, und – mit Hans’ Kindheit und seinem Umzug in die DDR verbunden – einige Impressionen des Dritten Reiches, darunter natürlich die berüchtigten Himmlerworte von den SS-Leuten, die auch beim Anblick von Leichenbergen anständig geblieben seien. Was diese Reminiszenzen im Roman zu suchen haben, verstehe ich nicht wirklich – vermutlich dienen sie dazu, die angebliche Aufarbeitung der NS-Zeit in der DDR und die Gesinnungskontrolle dort zu rechtfertigen, obwohl aktenkundig ist, dass auch in der DDR Biografien nach 1945 offiziell geschönt wurden.

Fazit: Die Geschichte einer jungen Frau, deren Liebe ausgebeutet wird, und eines alternden Mannes, hinter dessen Liebespathos Herrschsucht steht und die Sorge, wohin er wohl gehen könnte, wenn seine Frau ihn rausschmeißt – gelesen habe ich sie in Ahrenshoop, wo zufällig einige Liebesszenen des Paares gespielt werden, als Hans mit seiner Familie dort Urlaub macht und Katharina sich in der Nähe eingemietet hat. Für eine Einzelkritik hätte ich mir Notizen machen müssen; das habe ich nicht getan, ich war schließlich in Ahrenshoop im Urlaub.

https://www.perlentaucher.de/buch/jenny-erpenbeck/kairos.html (erste Übersicht)

https://www.swr.de/swr2/literatur/jenny-erpenbeck-kairos-100.html (informativ)

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/jenny-erpenbecks-roman-kairos-liaison-in-der-untergehenden-ddr-17512346.html (voll des Lobes)

https://www.sueddeutsche.de/kultur/jenny-erpenbeck-ddr-kairos-roman-1.5396827 (sehr klug, auch mit kritischen Tönen)

L. Uhland: Lauf der Welt – Text und Analyse

Ludwig Uhland: Lauf der Welt

An jedem Abend geh' ich aus,
Hinauf den Wiesensteg.
Sie schaut aus ihrem Gartenhaus.
Es stehet hart am Weg.
Wir haben uns noch nie bestellt,
Es ist nur so der Lauf der Welt.

Ich weiß nicht, wie es so geschah,
Seit lange küss' ich sie.
Ich bitte nicht, sie sagt nicht: ja!
Doch sagt sie: nein! auch nie.
Wenn Lippe gern auf Lippe ruht,
Wir hindern's nicht, uns dünkt es gut.

Das Lüftchen mit der Rose spielt,
Es fragt nicht: hast mich lieb?
Das Röschen sich am Thaue kühlt,
Es sagt nicht lange: gieb!
Ich liebe sie, sie liebet mich,
Doch Keines sagt: ich liebe dich!

Das 1808 veröffentlichte Gedicht erinnert mich an das „Frühlingslied des Rezensenten“, in dem die poetisch übliche Frühlingsbegeisterung nur gedämpft erklingt; so ist es hier mit der Liebe, die ganz unromantisch als ein Ergebnis vom „Lauf der Welt“ dargestellt wird. Der Erzähler berichtet, wie er abends immer einen Spaziergang unternimmt (1. Str.). Dann denkt er nach, wie es dazu gekommen ist, dass er dann regelmäßig eine Sie in ihrem Gartenhaus küsst, und was davon zu halten ist (2. Str.). In der dritten Strophe rechtfertigt er zunächst durch zwei Analogien sein sprachloses erotisches Verhältnis (Lüftchen – Rose, Röschen – Tau; ich – sie); er stellt dann ganz prosaisch fest: „Ich liebe sie, sie liebet mich“ (V. 17), um abschließend eine überraschende Tatsache festzuhalten: „Doch Keines sagt: ich liebe dich!“ (V. 18)

Die gleiche Sprachlosigkeit hat er schon vorher erwähnt: „Ich bitte nicht, sie sagt nicht: ja! / Doch sagt sie: nein! auch nie.“ (V. 9 f.) Und er rechtfertigt dieses stumme Einverständnis so: „Wenn Lippe gern auf Lippe ruht, / Wir hindern‘s nicht, uns dünkt es gut.“ (V. 11 f.) Dem Drang zu schmusen geben die beiden also einfach nach, „uns dünkt es gut“. Offensichtlich sind die beiden nicht anderweitig gebunden, da er allein spazieren geht und sie regelmäßig aus dem Gartenhaus herausschaut, zum Küssen bereit. Der Antrieb ist bei beiden – ganz gegen die romantische Vorstellung davon, füreinander bestimmt zu sein – einfach die Tatsache, dass „Lippe gern auf Lippe ruht“, dass also Knutschen Spaß macht. Und dabei bleibt es dann auch, das ist unsere Liebe, sagt der Sprecher (V. 17).

„Doch Keines sagt: ich liebe dich!“ (V. 18) Ob man hier der Neutrum-Form „Keines“ besondere Beachtung schenken muss? Ich erwartete eigentlich „Keiner“ – ob das Neutrum im Verbund mit dem stummen Knutschen und den rein ereignishaften Naturanalogien etwas zu bedeuten hat? Ich denke schon; es steht für Akteure, die als Naturwesen, also vorpersonal agieren, weil es so schön ist, die nach Freud vom Lustprinzip bestimmt sind. Nehmen wir es zur Kenntnis, dass auch solch ein Verhältnis schon 1808 den Weg ins Gedicht gefunden hat – realistisch ist es auf jeden Fall.

Die sechs Verse einer jeden Strophe bestehen aus vier Versen, die im Kreuzreim verbunden sind; dabei zählt der erste Vers vier, der zweite drei Jamben. Da je zwei Verse semantisch und syntaktisch zusammengehören, entsteht zweimal so etwas wie ein Langvers. Die Verse 5 und 6 jeder Strophe bestehen aus vier Trochäen und reimen sich im Paarreim; sie heben sich deutlich von den ersten vier Versen ab, so dass jede Strophe eigentlich aus zwei Teilen besteht. V. 5 f. und V. 11 f. stellen eine Art Kommentar zu den vorhergehenden vier Versen dar; in V. 17 f. wird die in V. 13-16 begonnene Analogie zu Ende geführt. Die Reime markieren durchweg sinnvolle semantische Zusammenhänge, z.B. ich geh‘ aus – sie schaut aus dem Haus (V. 1/3); nie bestellt – der Lauf der Welt (V. 5/6), usw.

Fazit: ein ungewöhnliches Gedicht, das man schön mit einem Gedicht romantischer Liebe vergleichen (lassen) könnte.

https://archive.org/details/bub_gb_50EQAAAAYAAJ/page/n3/mode/2up (Uhland: Gedichte, Bd. 1)

https://archive.org/details/bub_gb_TcYMAQAAIAAJ/page/n3/mode/2up (dito, Bd. 2)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Uhland,+Ludwig/Gedichte (Gedichte, Ausgabe letzter Hand, 1862)

https://archive.org/details/ludwiguhlanddie00haaggoog/page/n3/mode/2up (Die Entwicklung des Lyrikers)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Uhland (Uhland: Leben)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html (Uhle: Leben, 2016, knapp)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz6857.html#adbcontent (Leben, 1895 – wesentlich umfangreicher)

https://archive.org/details/bub_gb_e7s5AAAAMAAJ/page/n7/mode/2up (Uhlands Leben, von seiner Witwe, 1874)

A. von Chamisso: Lebewohl – Text und Analyse

Adelbert von Chamisso: Lebewohl

Wer sollte fragen: wie‘s geschah?
    Es geht auch Andern eben so.
Ich freute mich, als ich dich sah,
    Du warst, als du mich sahst, auch froh.

Der erste Gruß, den ich dir bot,
    Macht‘ uns auf einmal beide reich;
Du wurdest, als ich kam, so roth,
    Du wurdest, als ich ging, so bleich.

Nun kam ich auch Tag aus, Tag ein,
    Es ging uns beiden durch den Sinn;
Bei Regen und bei Sonnenschein
    Schwand bald der Sommer uns dahin.

Wir haben uns die Hand gedrückt,
    Um nichts gelacht, um nichts geweint,
Gequält einander und beglückt,
    Und haben‘s redlich auch gemeint.

Dann kam der Herbst, der Winter gar,
    Die Schwalbe zog, nach altem Brauch,
Und: lieben? – lieben immerdar?
    Es wurde kalt, es fror uns auch.

Ich werde geh‘n ins fremde Land,
    Du sagst mir höflich: Lebe wohl!
Ich küsse höflich dir die Hand,
    Und nun ist alles wie es soll.

(Text: https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n115/mode/2up)

Laß ungestraft um uns die Kinder springen,
Vielleicht daß sie der Geist der Lieder bannt
Kein Zwang es würden mich die armen dauern,
Sie dürfen nicht um uns‘re Freude trauern.

So steht es in Chamissos Gedicht „Berlin“, das er 1831 geschrieben hat – und diesem seinem Wunsch wollen wir jetzt nachkommen:

Das Gedicht ist von 1826 und damit zeitlich der Romantik zuzuordnen – aber welch ein Unterschied zu den Liebesgedichten der Günderrode! Dabei hat Chamisso auch das Küssen gepriesen („Küssen will ich, ich will küssen“, 1829), aber in größerer Leichtigkeit und nicht mit der Absolutheit romantischer Liebe. Das Gedicht „Lebewohl“ ist sogar fast prosaisch; in ihm wird von der Liebe eines Sommers erzählt (ab V. 3), ein Ich spricht scheinbar zu einem Du, aber man darf sich das nicht als wirkliches, sondern nur als mentales Gespräch vorstellen, in dem das Ich am Ende dieser Liebeszeit innehält. Da wir hier nur die Ich-Perspektive haben, kann man nicht wissen, ob das Du die Geschichte ebenso sieht oder ob das Ich meint, sich für den bevorstehenden Abschied rechtfertigen zu müssen. Dabei wird von folgenden Stationen der Begegnung erzählt:

  • Als ich dich sah (V. 3 f.) → froh
  • Der erste Gruß (V. V. 5 ff.) → erröten
  • Tag aus, Tag ein (V. 9 ff.) → gelacht und geweint, gequält und beglückt
  • Dann kam der Herbst, der Winter (V. 17 ff.) → lieben (immerdar)???
  • (jetzt, Präsens) Du sagst mir höflich: Lebe wohl! Ich küsse höflich dir die Hand (V. 22 f.)

Es ist die Geschichte einer „normalen“ Sommerliebe, die mit dem Verliebtsein begonnen hat, als Verhältnis weitergeführt wurde (Präteritum) und so zur Frage führte „lieben? – lieben immerdar?“ (V. 19) Das ist hier beinahe eine rhetorische Frage, jedenfalls ist klar: Nein! Dass diese Antwort die einzig mögliche ist, dafür werden keine Gründe angegeben außer dem metaphorischen, dass nach dem Sommer inzwischen der Winter mit seiner Kälte gekommen war (und die Liebe nicht mehr wärmte, ist zu ergänzen) – man muss sich damit begnügen, wie das Verhältnis „Tag aus, Tag ein“ geführt wurde; allerdings wurde nur „um nichts“ gelacht und geweint (V. 14) – vom Ernst des Lebens war das harmlose Verhältnis nicht berührt. Sicher, wir „haben‘s redlich auch gemeint“ (V. 16) – aber „lieben immerdar?“ (V. 19)

Hier hilft der Blick auf die beiden einleitenden Verse weiter: „Wer sollte fragen: wie‘s geschah?“ (V. 1) Wie es geschah, dass die Sommerliebe so sang- und klanglos endete. Und der Ich-Erzähler, der die Frage nicht beantwortet, sagt zur Erklärung: „Es geht auch Andern eben so.“ (V. 2) Dieser Blick auf das eigene Verhältnis ist bemerkenswert nüchtern: So geht es in der Welt zu, so ergeht es anderen auch. Einen solchen Blick hat man erst, wenn man ans Ende der Liebe gekommen ist. Vorher fragt man: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke…?“ Dass das alte Verhältnis endgültig beendet ist, macht der höfliche Handkuss (V. 23) besonders deutlich – er tritt an die Stelle der ehedem zärtlichen oder leidenschaftlichen Küsse auf den Mund; die Freude am Umgang miteinander (Strophe 1 und 2) ist fort, man geht nur noch „höflich“ miteinander um (V. 22, 23).

Dass man sich am Ende höflich trennt (V. 22 f.), ist nicht selbstverständlich, auch wenn der Erzähler sagt, dass nun alles ist, „wie es soll“ (V. 24). Wer sich von dem oder der Geliebten, vormals auch Liebenden nicht trennen kann, der stimmt jetzt „Die eine Klage“ (Günderrode) an und verzehrt sich in Sehnsucht; denn er oder sie sieht sich vom Einzigen verlassen, dem man in der großen einzigen Liebe verbunden war. Aber der Erzähler hat sich in der Welt umgeblickt und gesehen: „Es geht auch Andern eben so.“ (V. 2) Und deshalb ist er für neue Pläne und Begegnungen (Futur) offen: „Ich werde geh‘n ins fremde Land“ (V. 21), was so viel wie „fortgehen“ heißt; vom romantischen Pathos der Fremde ist hier nichts zu spüren.

Formal ist zu beobachten: Vier Verse zu vier Jamben pro Strophen; Kreuzreim, oft ohne semantischen Bezug der Verse (Ausnahmen etwa V. 5/7; V. 13/15; V. 18/20; letzte Strophe).; Chiasmus in V. 3 f.; Kontrast roth/bleich, V. 7 f.; Aufzählungen V. 9-20; Sommer und Herbst/Winter (V. 17) sind auch metaphorisch gefärbt; Wiederholung „höflich“ V. 22 f.; Kontrast zwischen dem zärtlichen Händedruck und dem höflichen Handkuss (V. 13/23); rahmende Kommentare V. 1 f. und V. 24.

Eine Sommerliebe wird auch in Liliencrons Gedicht „Einen Sommer lang“ beschrieben, eine Sommerliebe zwischen Jugendlichen, die sich vor den Eltern nicht zeigen darf; aber da lebt der Sprecher noch mitten im Sommer, Herbst und Winter sind noch nicht gekommen – und so kann er ganz anders von der Liebe „Einen Sommer lang“ sprechen, ohne auf ihr Ende zu schauen.

https://books.google.de/books?id=cpMqAAAAMAAJ&redir_esc=y (Gedichte, 3. Aufl. 1835)

https://archive.org/details/werkecha01cham/page/456/mode/2up (Chamisso: Gedichte, hrsg. von Tardel. 1907)

https://archive.org/details/bub_gb_qFg4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (dito, Werke, 1874)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Chamisso,+Adelbert+von/Gedichte (Gedichte)

https://de.wikipedia.org/wiki/Adelbert_von_Chamisso (der Autor)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#adbcontent (Leben: ADB, 1876)

https://www.deutsche-biographie.de/register_pnd118520040.html#ndbcontent (Leben: NDB, 1957)

https://archive.org/details/bub_gb_MOhy3l0yw48C/page/n9/mode/2up (Hitzig: Chamisso, Leben und Briefe)

https://archive.org/details/chamissoundsein00fuldgoog/page/n11/mode/2up (Fulda: Chamisso und seine Zeit)

https://www.chamisso-gesellschaft.de/ (Chamisso-Gesellschaft)

Ein anderes Gedicht Chamissos von 1820 zeigt den gleichen prosaischen Blick auf die Liebe:

Adelbert von Chamisso: Zur Unzeit

Ich wollte, wie gerne, dich herzen,
Dich wiegen in meinem Arm,
Dich drücken an meinem Herzen,
Dich hegen so traut und so warm.

Man verscheuchet mit Rauch die Fliegen,
Mit Verdrießlichkeit wohl den Mann;
Und wollt‘ ich an dich mich schmiegen,
Ich thäte nicht weise daran.

Wohl zieht vom strengen Norden
Ein trübes Gewölk herauf,
Ich bin ganz stille geworden,
Ich schlage die Augen nicht auf.

Beachtung verdient auch das witzige Gedicht „Eid der Treue“ (1827), wo sie ein Pfand der Treue von ihm fordert, worauf er bereit ist, einen völlig sinnlosen und inhaltsleeren Eid zu schwören. Ebenfalls erheitert mich die Ballade „Ein Lied von der Weibertreue“ (1830), wo die trauernde Witwe sich mit einem Landsknecht zusammentut, weil der zu essen hat, und dann … – aber das muss man selber lesen!

K. von Günderrode: Die eine Klage – Text und Analyse

Karoline von Günderrode: Die eine Klage

Wer die tiefste aller Wunden
Hat in Geist und Sinn empfunden
Bittrer Trennung Schmerz;
Wer geliebt was er verlohren,
Lassen muß was er erkohren,
Das geliebte Herz,

Der versteht in Lust die Thränen
Und der Liebe ewig Sehnen
Eins in Zwei zu sein,
Eins im Andern sich zu finden,
Daß der Zweiheit Gränzen schwinden
Und des Daseins Pein.

Wer so ganz in Herz und Sinnen
Konnt‘ ein Wesen liebgewinnen
O! den tröstet‘s nicht
Daß für Freuden, die verlohren,
Neue werden neu gebohren:
Jene sind‘s doch nicht.

Das geliebte, süße Leben,
Dieses Nehmen und dies Geben,
Wort und Sinn und Blick,
Dieses Suchen und dies Finden,
Dieses Denken und Empfinden
Giebt kein Gott zurück.

(Text: https://archive.org/details/meletegun00gnuoft/page/14/mode/2up)

„Im literarischen Werk Karoline von Günderrodes dominieren mit Abstand die Wortfelder Leben (4,22 %), wollen (3,57 %), lieben (3,31 %), Gott (3,22 %). Sie machen insgesamt 14,32 % der Wörter aus. Gott und das Leben lieben wollen. Der Akzent liegt auf der Selbstermächtigung: lieben wollen. Das Leben und Gott, das Leben unter der Annahme eines höchsten Prinzips leben wollen, das heißt lieben. Harmonische Vereinigung im Leben. Von Glück ist nicht ausdrücklich die Rede. In den Worten Gott und lieben allerdings schwingt es als Erwartung mit. (…) Wichtige Themen sind Liebe und Tod, Freundschaft und Macht, Weisheitslehren und Initiationsriten. Auffällig viele Texte weisen eine dialogische Form auf. »Liebe hat dem Chaos sich entwunden«, heißt es am Schluß der Sammlung Gedichte und Phantasien. Zu fragen ist also zum einen nach der romantischen Liebe als einer möglichen Antwort auf die Unordnung der Welt und zum anderen nach den Alternativen, um sich einer möglicherweise verhängnisvollen Liebe zu entziehen.“ Mit diesem langen Zitat aus einem Buch der Prof. Carola Hilmes (http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/romantik/hilmes_liebe.pdf, dort S. 63 f.) möchte ich den Kreis umschreiben, in dem man die Gedichte der Günderrode verstehen kann.

Die poetische Form des Gedichts sticht ins Auge bzw. eher ins Ohr: Die vier Strophen sind von einem Rhythmus bestimmt, der die sechs Verse jeder Strophe in zwei Hälften teilt: Auf zwei Verse aus vier Trochäen folgt ein Vers aus drei Trochäen, was eine deutliche Pause im Sprechen bewirkt, zumal da eine Silbe des letzten Trochäus fehlt (männliche Kadenz); die zwei längeren Verse reimen sich jeweils, dann aber auch die beiden kürzeren Verse der Strophe.

„Die eine Klage“ aus Melete, 1806, wird nicht als Klage vorgetragen, sondern gibt die Gedanken eines Menschen wieder, der ein geliebtes Herz verloren hat. Der Sprecher tritt nicht als Ich hervor, sondern wendet sich reflektierend an alle, die diese Erfahrung kennen (Wer … empfunden hat, der versteht …, V. 1 ff.). Das Gedicht ist streng aufgebaut, es besteht aus zwei Teilen von jeweils zwei Strophen. In den beiden ersten Strophen wird das Subjekt (1. Str.) mit seiner großen Liebessehnsucht (2. Str.) vorgestellt. In den beiden letzten Strophen wird dargelegt, dass es für die verlorenen Freuden des Liebens keinen Ersatz gibt (3. Str. und V. 24), wobei in der letzten Strophe die Freuden des Liebens beschrieben werden (V. 19-23).

Das Subjekt des größten Leidens (Superlativ „tiefste“, V. 1; Metapher „Wunde“, V. 1, „Schmerz“, V. 3) ist ein Mensch, der durch Trennung „[d]as geliebte Herz“ (V. 6) verloren hat; sowohl der Schmerz (V. 1-3) wie der Verlust (V. 4 f.) werden jeweils doppelt, also intensiv umschrieben. Man kann das „normale“ Ende einer Liebe unterstellen, das den Verlassenen schmerzhaft trifft. In V. 4 f. liegt gedanklich ein Chiasmus, sprachlich ein Parallelismus vor; der Zwang des Metrums erzeugt die Unstimmigkeit, dass „Lassen muß“ präsentisch, „verlohren [hat]“ dagegen eindeutig Perfekt ist: der erreichte Zustand des Verlustes. „Das geliebte Herz“ (V. 6), um das sich die Gedanken drehten, wird pointiert am Ende der Strophe genannt und durch die Versverkürzung hervorgehoben.

Wer solche Liebespein also kennt (Perfekt „empfunden [hat]“, V. 2), der versteht die Liebessehnsucht, wird in Str. 2 gesagt (V. 7 f.). Problematisch ist, wozu „in Lust“ (V. 7) gehört: Ist das Verstehen lustvoll oder sind es die Tränen und die Sehnsucht? Wenn man so fragt, scheint es mir klar zu sein, dass die Tränen und das Sehnen von Lust begleitet sind. Da das Sehnen mit den Tränen verbunden ist, halte ich es für die Sehnsucht nach dem Ende einer großen Liebe (und nicht für den normalen Wunsch der Liebenden); denn was da als „Gegenstand“ der Sehnsucht umschrieben wird (V.9-12), ist die vergangene Erfahrung des Geliebtwerdens: die Einheit der Liebenden, die beinahe als Verschmelzung erlebt worden ist („Eins“ wiederholt, V. 9 f., abgegrenzt gegen „der Zweiheit Gränzen“, V. 11, die als „des Daseins Pein“ erlebt werden, V. 12).

Außerhalb des Textes erlaube ich mir, auf Dieter Wyss: Lieben als Lernprozeß, Vandenhoeck 1975, hinzuweisen. Wyss hat überzeugend dargelegt, dass es in der Liebesbeziehung (und nicht nur an deren Ende) drei fundamentale Enttäuschungen gibt: „Die Enttäuschung beruht schlicht auf der Tatsache, daß es eine Identität der je-einmaligen Person mit einer anderen nicht gibt.“ (S. 75) Die Hoffnung auf Identität, totale Kommunikation und totales Vertrauen müsse notwendig scheitern, und erst wenn dieses Scheitern verarbeitet werde, werde aus dem unkalkulierbaren Naturprozess des Verliebtseins ein „Kulturprozeß, der bewußte Arbeit der Beteiligten verlangt“ (S. 78). Solche Einsichten fehlen im Konzept der romantischen Liebe, das dem Gedicht zugrunde liegt.

In Strophe 3 wendet der Sprecher sich den gängigen Tröstungen im Liebesleid zu, die er zurückweist: Die verlorenen Freuden können durch neue nicht ersetzt werden – das stellt er als Erfahrung dessen dar, der geliebt hat (V. 13 f.). Hier wird die Liebe eine solche „in Herz und Sinnen“ (V. 13) genannt, während zu Beginn nur von „Geist und Sinn“ (V. 2) die Rede war; vielleicht hat der Rhythmus den Plural „Sinnen“ eingefordert, was aber auch zu einer Verschiebung gegenüber dem Singular „Sinn“ führt, und zwar vom geistigen Schmerz zur auch körperlichen Liebe. Mit dem emphatischen „O!“ (V. 15) bekennt der Sprecher sich zur Einsicht der enttäuschten Liebenden: „Jene sind‘s doch nicht.“ (V. 18) Neue Freuden sind den alten nicht gleichwertig.

In der letzten Strophe werden die alten (Liebes)Freuden andeutungsweise umschrieben als Nehmen und Geben, als Suchen und Finden (V. 20, V. 22), also als Austausch und Erfüllung. „Wort und Sinn und Blick“ werden als die Dimensionen des Austauschs genannt und in Denken und Empfinden (V. 23) wiederholt; die Beschreibung ist auffallend keusch, ein Hinweis auf die körperlich erlebte Innigkeit und Einheit fehlt, wenn man sie nicht im „Empfinden“ (V. 23) angedeutet finden will. Der als Schluss nachgetragene Satzkern („Giebt kein Gott zurück“, V. 24) zeigt, dass die vierte Strophe nur die Aussage der dritten wiederholt und erhärtet, indem hier umschrieben ist, was „Jene [Freuden]“ (V. 18) waren, denen die neuen nicht gleichen.

Die thematische Geschlossenheit der vier Strophen macht es möglich, dass die Verse mit den Paarreimen durchweg auch semantisch einander entsprechen, während die verkürzten Verse aufgrund des komplexen Satzbaus semantisch nur schwer zueinander finden.

Wenn als Überschrift „Die eine Klage“ gesetzt ist, heißt das, dass die Liebesklage die große Klage, die Klage aller Klagen ist. Aber wir kennen aus dem 20. und 21. Jahrhundert wahrlich viele Klagen über Leid, das größer als Liebesleid war.

https://textaussage.de/karoline-von-guenderrode-die-eine-klage (Text mit Klausur und Skizze der Lösungserwartung)

https://www.deutschelyrik.de/die-eine-klage.html (Vortrag von Fritz Stavenhagen)

https://www.deutsche-biographie.de/sfz24490.html (Leben der Günderrode)

https://de.wikipedia.org/wiki/Karoline_von_G%C3%BCnderrode (K. von Günderrode)

https://archive.org/details/diegnderode01arniuoft/page/n5/mode/2up (Bettina von Arnim: Die Günderode, 1. Teil 1840)

https://archive.org/details/diegnderode02arni (dito, 2. Teil 1840)

https://archive.org/details/bub_gb_DEk4AQAAIAAJ/page/n5/mode/2up (L. Geiger: Karoline von Günderode und ihre Freunde, 1895)

https://archive.org/details/bub_gb_iVFCAAAAIAAJ/page/n9/mode/2up (über C. von Günderrode, S. 83 ff.)

https://archive.org/details/meletegun00gnuoft/page/n7/mode/2up (K. von Günderode: Melete, 1806/1906)

http://www.zeno.org/Literatur/M/G%C3%BCnderrode,+Karoline+von/Gedichte?hl=gunderrode (Gedichte)

https://www.gedichte.com/gedichte/Karoline_von_G%C3%BCnderode (Gedichte)

https://gedichte.xbib.de/gedicht_G%fcnderrode.htm (Gedichte)

https://archive.org/details/wandelundtreuege00gn/page/n5/mode/2up (Wandel und Treue. Gedichte, u.a. von C. von Günderode, 1900)

J. Barnes: Die einzige Geschichte – gelesen

Ich habe den Roman in zwei Tagen gelesen, er liest sich leicht: Erzählt wird die Geschichte einer großen Liebe (eigentlich) in der Ich-Perspektive aus der Erinnerung des Mannes, Jahrzehnte nach ihrem Scheitern: Ein 19jähriger tut sich mit einer verheirateten Frau zusammen, die gut 25 Jahre älter als er ist. Als sie zusammen wohnen und er in Ausbildung und Beruf beschäftigt ist, wird sie zur Alkoholikerin – die Liebe zerbricht, die bisher nur nach außen praktizierten Lügen vergiften auch ihre Beziehung, sie trennen sich.

Die Rezensionen (s.u.) sind voll des Lobes, und da ich das Buch nur einmal gelesen habe, ohne mir Notizen zu machen, und es auch kein zweites Mal lesen werde, äußere ich meine Kritik nicht ohne Vorbehalte:

  • Die Figuren bleiben blass, es dominieren die Überlegungen zur Frage, was es mit der Liebe nun auf sich hat.
  • Dass die absolute Liebe nicht gelingt, ist am Ende offenkundig; schwach am erzählten Geschehen ist die Tatsache, dass sie am Alkohol scheitert, nicht an sich selbst, an der unerfüllbaren Erwartung: dass man in einer Welt unendlich vieler Zusammenhänge und Bedingungen bedingungslos lieben = leben könnte.
  • Vielleicht ist die romantische Liebe der beiden von Anfang an seine Illusion; denn dass Susan ihren jungen Geliebten in der Sprache der vergangenen Liebe zu ihrem Ehemann anspricht („Wassiski“, „mein kleiner gefiederter Freund“), ist für mich unverständlich: als ob da nur ein Aufguss des vergangenen Lebens vorgenommen würde.
  • Auch dass Paul Roberts als Anwalt die Tätigkeit des Büromädchens übernimmt und über diese Übung schließlich zum internationalen Manager wird, kommt mir wie ein gesuchter Gag, wie Literatur vor.
  • Die Widersprüche in Susans Ehemann zwischen Gleichgültigkeit gegenüber dem neuen Gigolo, seinem Spott darüber und seiner Gewalttätigkeit (gegen seine Frau wie gegen ihren Geliebten) ergeben für mich kein Gesamtbild.

Im Literaturkurs würde ich für den Roman die Note 2- geben.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/roman-die-einzige-geschichte-von-julian-barnes-16043391.html

https://www.deutschlandfunk.de/julian-barnes-die-einzige-geschichte-eine-literarische.700.de.html?dram:article_id=442752

https://www.tagesspiegel.de/kultur/eine-einzige-geschichte-von-julian-barnes-die-liebe-ist-eine-mulde/24003710.html

Peter Schneider: Die Lieben meiner Mutter – kurze Besprechung

Anhand der erst spät entdeckten Briefe seiner Mutter an ihren Mann und ihre Geliebten unternimmt es Peter Schneider im Alter von 73 Jahren, ein Bild seiner Mutter, die mit 41 Jahren gestorben ist, und seiner eigenen Kindheit zu entwerfen. Das Buch hat breite Anerkennung gefunden – man sollte allerdings zwischen der Anerkennung des Buches und dem Respekt vor der Mutter unterscheiden. – Ich war nicht ganz so begeistert wie die meisten Rezensenten; man setzt sich stärker mit der Frau als mit dem Buch auseinander.

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18332 (eine ausgezeichnete Rezension!)

http://www.zeit.de/2013/29/peter-schneider-die-lieben-meiner-mutter (ausgezeichnet!)

http://www.berliner-zeitung.de/kultur/-die-lieben-meiner-mutter–von-peter-schneider-bericht-von-einer-ungluecklichen-frau,10809150,25815410.html (endlich auch ein paar kritische Töne!)

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2013%2F06%2F01%2Fa0051&cHash=84ee17bdee55c064bcfef62b72730e98 (gut)

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/peter-schneider-die-lieben-meiner-mutter-die-tragoedie-einer-glueckssucherin-12203123.html (treffende Besprechung – die Schilderung der Kriegszeit und ihrer Beschränkungen nimmt mir im Buch aber zu viel Raum ein, das kenne ich inzwischen)

http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/s/peter-schneider-mutter.htm (knapp, treffend)

http://buzzaldrins.de/2013/10/02/die-lieben-meiner-mutter-peter-schneider/ (Der Liebhaber Andreas wie auch die Mutter werden m.E. etwas zu positiv geschildert – ich denke, dass die Mutter auch krank war.)

http://www.leselupe.de/blog/2013/05/17/peter-schneider-die-lieben-meiner-mutter/ (Hier wie auch sonst öfter wird nicht genügend gewürdigt, dass die Mutter sich auch einem zweiten und dritten Liebhaber zuwendet.)

http://www.rezensions-seite.de/rezensionen/biographien-berichte/peter-schneider-die-lieben-meiner-mutter/ (Das ist zu viel Bewunderung für die große Liebe, die ja auch Imagination ist, in der man sich verliert – da ist die FAZ-Rezension klüger!)

http://www.theologie-und-literatur.de/fileadmin/user_upload/Theologie_und_Literatur/Schneider_Rezension.pdf (eine persönliche und kluge Rezension, die zum Schluss ins Theologische [ab]gleitet)

http://www.dichterlesen.net/veranstaltungen/studio-lcb-mit-peter-schneider-1840/?L=0 (Gespräch mit Peter Schneider)

Mörike: An die Geliebte – Analyse

Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt …

Text

http://www.moerike-gesellschaft.de/2010.pdf (Text mit Kommentar Reiner Wilds, dort im Januar) Heute (10/23) kann man unter http://www.moerike-gesellschaft.de/gedichtdesmonats.html, dort „Gedichte des Monats (PDF)“, alle Interpretationen der Gedichte Mörikes durch Reiner Wild herunterladen.

http://www.zeno.org/Literatur/M/M%C3%B6rike,+Eduard/Gedichte/Gedichte+(Ausgabe+1867)/An+die+Geliebte

Das Gedicht entstand am 7. Mai 1830; Mörike schickte es am 19. Mai an seine Verlobte Luise Rau und nahm es mit der Überschrift „An L.“ in den Roman „Maler Nolten“ auf. Ich setze hier die Kenntnis des soliden Kommentars von Reiner Wild (s.o.) voraus und wiederhole nicht, was er geschrieben hat.

Das Gedicht beginnt mit einem Bekenntnis des Ich-Sprechers: Ich bin „von deinem Anschaun tief gestillt“ (V. 1). Diese Wendung ist für uns ungewöhnlich und war auch schon zu Mörikes Zeit veraltet. Ich gebe einen kurzen Überblick darüber, wie im Deutschen Wörterbuch (Grimm) die Bedeutung von „stillen“ erklärt wird, wobei ich das fett setze, was als Bedeutung hier vorliegt:

stillen: still machen (neben dem intransitiven Verb „stillen“: ruhig werden)

1) eine äuszere bewegung zum stehen bringen,beruhigen‚.

2) bewegungen des menschlichen lebens stillen; zur ruhe bringen‚.

a) aufgeregtes streitendes handeln und tun beruhigen, zum stillstand bringen, beilegen; krieg, aufruhr, zwiespalt, einen handel, eine sache u. ähnl. stillen;

b) jemanden stillen ‚zur ruhe bringen‚,

α) jemandenberuhigen, besänftigen, beschwichtigen‚, ‚versöhnen‚ (gott); jemandemwohltun, helfen‚ (mhd.). eine innere unruhe (angst, leid, sehnen, zorn, gier u. s. w.) ‚dämpfen‚. im ganzen heute ungewöhnlich;

β) seelische zustände, regungen und strebungen werden gestillt, d. i.gedämpft, beruhigt‚. bis heute sehr geläufig.

γ) schmerzen, krankheiten stillen, ‚zur ruhe, zum stillstand bringen;

δ) hunger und durst stillen, ‚das verlangen nach speise und trank beschwichtigen‘, seit dem 16. jh.

ε) nur frühnhd. ist der gebrauch jemanden stillen, ‚durch gewalt unterdrücken, zur ruhe zwingen‚ (im anschlusz an 2 a);

c) stillen, oder ein kind stillen; ein fester begriff:das kind an der mutterbrust tränken‚ (im gegensatz zurkünstlichenernährung durch flaschenmilch u. s. w.)

3)zum schweigen bringen‚, zu still, adj., II. verhältnismäszig selten und meist früheren sprachstufen angehörend.

4) reflexiv sich stillen. (DWB)

Mörike verwendet „stillen“ so auch in anderen Gedichten, z.B. in „Nimmersatte Liebe“ oder „Im Frühling“.

„von deinem Anschaun gestillt“ kann heißen: Ich schaue dich an und bin gestillt, oder: Du schaust mich an und ich bin gestillt; die Fortsetzung im 2. Vers legt uns auf das erste Verständnis fest – es liegt eine wortlose Kommunikation des Sehens und Spürens vor (leise Atemzüge hören, V. 3), Begehren scheint der romantischen Liebe fremd zu sein. Hier wird der Geliebten, noch ehe sie als Engel bezeichnet wird (V. 4) und die Offenbarung sich ereignet (3. Strophe), göttliche Qualität zugeschrieben. Mörike kannte als Theologe selbstverständlich Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen.“ (Ps 23,1-3 in der Einheitsübersetzung) Es gibt unter der Bezeichnung „Psalm 151“ eine moderne Umformung dieses Psalms: „Du Herr, bist mein Hirte
/ nichts wird mir fehlen
/ Du lässt mich lagern auf grünen, saftigen Wiesen /
und führst mich zum Ruheplatz an deine Quelle.
/ Du stillst mein Verlangen nach Liebe und Geborgenheit
/ Du führst mich auf den Weg zu dir
/ So wie du es mir versprochen hast…“ Diese Umformung macht die Annäherung Mörikes an das Gotteslob des Psalms, die Verwandlung der Geliebten in eine Göttin (genannt „Engel“) noch deutlicher. Das Gedicht, „An die Geliebte“ gerichtet, wird so fast zu einem Gebet.

Dieser Engel ist „in dir verhüllt“, bekennt der Ich-Sprecher seiner Geliebten (V. 4). Später umschreibt er, wie er die Offenbarung erfährt: Er hört „Die Quellen des Geschicks melodisch rauschen“ (V. 11); ihm wird also, wie ich die ungebräuchliche und unbestimmte Formulierung umschreiben möchte, die Tiefe der Welt (V. 9) offenbar, indem er seine Schicksalsmelodie hört (V. 11). Zunächst jedoch begegnet er der Verhüllung der Göttergleichen mit einer stummen Frage: ob ihn in der Erfahrung letzter Erfüllung kein Traum betrüge (V. 6-8). Diese Frage wird aber nicht besorgt oder zweifelnd gestellt (gegen Reiner Wild), sondern erstaunt, lächelnd (V. 5). Das Lächeln „quillt / Auf meinem Mund“ (V. 5 f.), ereignet sich, ist schon Antwort des Ich auf das Erscheinen des Engels. „Fragend“ (V. 5) ist es nur, um die Antwort vorzubereiten (3. und 4. Strophe). Die Form des Sonetts wird hier vordergründig als Zusammenhang von Frage und Antwort (Quartette / Terzette) vorgeführt; richtiger, dem Text gemäßer umschreibt man den Aufbau als Dualität von sinnlicher Wahrnehmung / Sinnerfahrung, oder von Oberflächen- / Tiefenerfahrung.

Die beiden Terzette sind durch die gegenläufige „Bewegung“: in die Tiefe stürzen / nach oben blicken, bestimmt. Die Räumlichkeit darf man nicht zu wörtlich nehmen; die Gottheit wird sowohl in „nächt’ger Ferne“ (V. 10: in dunkler Ferne) geahnt wie im Lichtgesang der Sterne (Synästhesie) gesehen/gehört. Die letzte Handlung des Ich ist die stumme, gehorsame Anbetung: „Ich knie…“ (V. 14). Die Geliebte spielt als realer Mensch mit seinen Sorgen, Aufgaben und Bedürfnissen keine Rolle mehr.

In den Quartetten stehen die reimenden Verse 1/4 jeweils im semantischen Bezug zueinander: vom Anschauen gestillt / Engel in dir verhüllt (V. 1/4); fragendes Lächeln quillt / Wunsch erfüllt (V. 5/8). In den Terzetten entsprechen sich alle reimenden Verse: in die Tiefe stürzt der Sinn / Blick nach oben hin (V. 9/12) usw.

Reiner Wild spricht vom Petrarkismus im Zusammenhang mit der Form und der Sprache des Gedichts: „auf Francesco Petrarca (1304-1374) zurückgeführtes Konzept der Liebeslyrik vom 14. bis zum 17. Jh., gekennzeichnet durch eine verbindliche, schematisierte Formsprache, die der Irrationalität des Liebesempfindens Rechnung trägt (Metaphern, Antithesen, Hyperbeln) und einen festen Motivkanon wie Liebesschmerz, Frauenpreis und eine Aufzählung der körperlichen Vorzüge der Frau – Sprecher im Petrarkismus ist immer der Mann (Ausnahmen im sog. ›Anti-Petrarkismus‹)“ (Literaturwissenschaft-online). August Wilhelm Schlegel hat um 1800 sich für die Rehabilitierung der Form des Sonetts eingesetzt und bei den jüngeren Romantikern damit großen Erfolg gehabt. Bei Mörike sehen wir ein Sonett, das man in die Tradition des Petrarkismus stellen kann, aber auch in der Tradition der romantischen Liebeskonzeption sehen sollte, wie sie in „Die Leiden des jungen Werthers“ exemplarisch ausgeführt worden ist – Mörike hat Goethe sehr geschätzt. So kommt es hier im Gedicht zu einer totalen Verehrung der göttlichen Geliebten, zur Konzeption einer heiligen Liebe, die in den Peregrina-Gedichten ja vollends gescheitert war (als fast heilige Liebe oder einst heilige Liebe: Peregrina III).

Vielleicht sollte man dieses Gedicht zum Anlass nehmen, sich einmal intensiver mit dem Konzept der romantischen Liebe zu befassen, welche als Ideal oder Wunschtraum in ihrer Verstiegenheit schon viele Leute unglücklich gemacht hat.

Ursprünglicher Kontext des Gedichts: fünf Gedichte „An L.“ im Roman „Maler Nolten“ im 2. Teil, S. 359 ff. in der Ausgabe bei zeno.org.

http://www.magistrix.de/texte/Schule/Schularbeiten/Deutsch/Gedichtsinterpretationen/Gedichtsvergleich-von-Fragile-und-An-die-Geliebte.12354.html (Gedichtvergleich mit Karin Kiwus: Fragile)

http://www.deutschboard.de/topic,2085,-eduard-moerike—an-die-geliebte.html („Lindenblatt“ macht ein paar kritische Anmerkungen!)

Vortrag

http://www.youtube.com/watch?v=bze0dSfQFjA (Julian Eilenberger?)

http://www.deutschelyrik.de/index.php/an-die-geliebte.html (Fritz Stavenhagen)

https://www.youtube.com/watch?v=deChETbTQSY (unbekannt, zu schnell)

http://www.youtube.com/watch?v=K8G-fzxTbig (Hugo Wolf: Fischer-Dieskau)

http://www.youtube.com/watch?v=fVn0wusgws8 (dito)

http://www.youtube.com/watch?v=WXDhpqeerOM (Holzinger: für gemischten Chor)

Romantische Liebe

http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/dramatik/emilia.htm (Emilia Galotti: der neue Liebesdiskurs der Bürger)

http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/epoche/friedrich_liebe.pdf („Die Leiden des jungen Werthers führen am Beispiel der Hauptfigur eine autonome Liebe vor. Aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher Organisation ist diese Liebe im radikalen Sinn exkludiert. Eine Verbindung zwischen Lebenspraxis und Liebe ist unmöglich. Die Verbindung von religiöser Semantik und Liebe hatte Klopstock bereitgestellt. Mit Hilfe des religiösen Inventars kann Liebe autonom begründet und der heteronome Anspruch der Gattung zurückgewiesen werden. Für Werther ist Liebe ein Funktionsäquivalent zur Religion. Wie der Roman zeigt, steigen damit ihre Risiken exorbitant.“ Hans-Edwin Friedrich, 2000)

http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/friedrich_liebeskonzept.pdf (Vorgeschichte: die empfindsame Liebe; Werther; Rückgriff auf Klopstock im „Siegwart“; Reflexion des empfindsamen Liebesmodells in den Romanen Jacobis, 2001)

http://peterhorn.kilu.de/books/Werther.htm (Horn: Werthers Liebe zu Lotte und die Quelle der Empfindsamkeit)

http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Kap1.htm (Niels Werber über Luhmanns Theorie und die Literatur des 18. Jh.)

http://www.projektwerkstatt.de/gender/download/liebe+subjekt.pdf (Romantische Liebe als wirkungsmächtiger Diskurs, Hausarbeit von Anke Jurschat und Michel Raab, 2005)

http://www.single-generation.de/themen/thema_der_code_des_herzens.htm (Rezensionsessay, mit Links)

http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2008/2297/pdf/HAFOS_29.pdf (Erich H. Witte: Bindung und romantische Liebe)

Petrarkismus

http://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_litgesch/barock/litge_barock_4_3_2.htm

http://lyrik.no-ip.org/mediawiki/index.php/Petrarkismus

http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/liebesdichtung_antike_barock/Liebeslyrik_Barock_Zusammenfassung.pdf

http://universal_lexikon.deacademic.com/284491/Petrarca_und_der_Petrarkismus

Sonstiges

http://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/313935_0010.pdf (Klausur mit simplen Aufgaben bzw. Lösungserwartungen)

http://www.moerike-gesellschaft.de/So_ist_die_Lieb_.pdf (Mörikes Liebeslyrik)

http://lehrerfortbildung-bw.de/faecher/deutsch/bs/lyrik/lit/literaturgeschichte.pdf (Lehrerfortbildung: Liebeslyrik im Unterricht)

http://lehrerfortbildung-bw.de/faecher/deutsch/bs/lyrik/index.htm (Liebeslyrik)

http://cingolani.com/4em.html (engl. Übersetzung)

Goethe: Die Wahlverwandtschaften – zur Interpretation

Um „Die Wahlverwandtschaften“ richtig zu verstehen, sollen einige Vorarbeiten geleistet werden. Die erste gilt der Erkundung von Park und Garten – dem Bereich, an dessen Gestaltung im erzählten Geschehen intensiv gearbeitet wird:

Landschaft
bedeutet zunächst die Gegend, dann auch die künstlerische Darstellung einer solchen Gegend (erstmals 1518) – H. Paul: Deutsches Wörterbuch, mit Bezug auf Grimm.

Kurzreferat von Rainer Gruenter: Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte (1953, in: Landschaft und Raum in der Erzählkunst, 1975, S. 192 ff.): Das Wort bedeutet Verschiedenes. Joachim von Sandrart auf Stockau schildert als erster einen Naturraum dichterisch als Landschaft in der „Academie“ (um 1670); es klingt der aufklärerische Gedanke an, man solle die Natur zur Erleuchtung des Geistes aufsuchen. Eine Untersuchung der Wörter in anderen europäischen Sprachen ergibt, dass „Landschaft“ im 16./17. Jh. sich als Fachbegriff der Malerei im allgemeinen Sprachgebrauch festsetzt.
Dies steht im Zusammenhang mit dem „Raumdurst“ (M. J. Friedländer) des 15. Jh., der zur Entdeckung der perspektivischen Gesetze führte: Man erfasst das flächenhafte Gegenstandsbeieinander von einem Standpunkt aus als Zusammenhang; so konnte ein Konglomerat von Naturgegenständen als Landschaft gesehen werden. Stadien dieses Vorgangs nach J. Böheim:
– die bloße Aufsicht,
– der „erzählende“ Aufbau einer Szenerie,
– die Eroberung des Naturraums durch das ruhende Auge.
Wenn Dichter im 17. Jh. von Landschaft sprechen, dann zitieren sie ein Stichwort, das auf die neue Bildgattung anspielt und Bildeindrücke zitiert; die Landschaftsvokabel lebt vom Landschaftsgemälde. „Über das Wort ist auch die Sache aus der Malerei in die Dichtung eingedrungen.“ (S. 204)
Man muss diese Landschaft vom mittelalterlichen locus amoenus und dem geschlossenen Garten unterscheiden. Ebenso ist das Wandern (vagari, ambulare) durch die Wildnis oder den wilden Wald (Romantik!) etwas anderes als der Spaziergang oder das Lustwandeln im Garten und Hain (Lustort); beim Spaziergang genießt man den geschlossenen Raum in seiner Beschränktheit, während das Wandern diesen Raum sprengt. – Die erste deutsche Landschaft, in eine ideale Umgebung eingeblendet, hat Paul Schnevogel beschrieben (Iudicium Iovis, ca. 1495: als Vision eines Eremiten im Böhmerwald).

Heinke Wunderlich: Artikel „Landschaft“, in: Lexikon der Aufklärung, hrsg. von Werner Schneiders, 1995:
Die Entdeckung der Landschaft als ästhetisches Objekt steht im Zusammenhang vom der wissenschaftlichen Objektivierung der Natur im 18. Jh., auch wenn Petrarcas Brief vom 24. April 1336 als erstes Zeugnis ästhetischer Landschaftserfahrung gilt. B. H. Brockes: Das irdische Vergnügen in Gott (ab 1721), schildert einmal die Natur genau, aber der Betrachter gewinnt aus der reflektierten Erfahrung auch die Erkenntnis der Gegenwart Gottes. A. von Haller: Die Alpen (1729), beschreibt eine bekannte Landschaft, gibt ihr aber zugleich die Bedeutung einer sozialen Utopie (Aufenthaltsort unverdorbener, anspruchsloser glücklicher Bewohner).
Die Distanz zwischen Mensch und Natur verringert sich; Erfahrung, Einbildung und Vernunft vereinen sich im Erleben schöner Natur (vgl. J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 1773/75). Christian C. L. Hirschfelds fünf Bände über die „Theorie der Gartenkunst“ (1779/85) markiert den entscheidenden Schritt: die Hinwendung zu einem wirkungsästhetisch begründeten Landschaftsbegriff. – Die Erhebung der äußeren Landschaft zum Symbol einer Seelenlandschaft findet erst nach der Aufklärung statt.

Gunter E. Grimm: Art. „Garten“, in: Lexikon der Aufklärung, 1995
Die Gartenrevolution fand in Deutschland ein halbes Jahrhundert später als in England statt: die Ablösung des französischen geometrischen Gartens durch den Englischen Landschaftsgarten, der seine Bilder und Formen aus der Landschaftsmalerei bezog. Nach 1770 wurde die Gartenkunst zur Lieblingskunst der Deutschen. Mit dem Landschaftsgarten verbanden sich Vorstellungen von Freiheit und Aufgeklärtheit, wogegen der symmetrische französische Garten als Symbol des Absolutismus und er Einengung galt (vgl. L. Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, 1775).
In Deutschland entstand der erste und bedeutendste neue Garten in Dessau-Wörlitz: eine gestaltete und auch genutzte Landschaft, in der sich das Schöne mit dem Nützlichen und Bildenden verband.

Vgl. insgesamt Hannelore Schlaffer: Deutsche Literatur in Bildern. Klassik und Romantik, Stuttgart 1986, S. 59 ff: Der Park als literarische Landschaft. – „Das kultivierte 18. Jahrhundert verehrte die Natur als säkularisiertes Heiligtum, und wollte sich in ihm doch heimelig einrichten. Dieser Widerspruch führte zur Gestaltung von Gärten und Parks, Orten also, an denen der Schrecken vor der noch fremden freien Natur durch literarische Zeichen, historische Erinnerungen und räumliche Ab- und Ausgrenzungen gebannt war.“ (S. 59)

http://de.wikipedia.org/wiki/Englischer_Landschaftsgarten
http://www.graf-gartenbau.ch/Gartenreise/englischer_garten.htm
http://www.graf-gartenbau.ch/Gartenreise/englischer_garten.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Ludwig_Sckell (Begründer des klass. Engl. Gartens in D)
http://de.wikisource.org/wiki/Der_Garten_zu_Wörlitz (Gedicht 1798)
http://www.gartenreich.net/contenido44x/gartenreich/front_content.php?idcat=37
http://de.wikipedia.org/wiki/Dessau-Wörlitzer_Gartenreich
http://de.wikipedia.org/wiki/Hinüberscher_Garten
http://www.buergerliche-privatgaerten.de/Rezensionen.html (über bürgerliche Privatgärten um 1800)
http://de.wikipedia.org/wiki/Schlossgarten_Hanau (einer der ersten auf dem Festland)

Unter „Englischer Landschaftsgarten“ und „Dessau-Wörlitz“ findet man viele Bilder.

———-

Die zweite Vorarbeit gilt den Implikationen des Begriffs „Wahlverwandtschaft“:

„Chemische Verwandtschaft (Affinität), die Ursache der Bildung und des Bestehens chemischer Verbindungen.“ (Meyers Konversationslexikon, 1888)

„Der (wissenschaftliche) Begriff Wahlverwandtschaften entstammt der Chemie jener Zeit. Gibt man zu einer chemischen Verbindung AB einen dritten Stoff C hinzu und besitzt dieser eine stärkere Verwandtschaft (Affinität) zu A als A zu B, so verbinden sich A und C wahlverwandtschaftlich. Zwei konkrete Beispiele:
Gibt man die starke Base Natronlauge zum Salz Ammoniumchlorid, so bildet sich Natriumchlorid unter Freisetzung der schwächeren Base Ammoniak und von Wasser: NaOH + NH4Cl ––> NaCl + NH3 + H2O.
Gibt man die starke Säure Salzsäure zum Salz Natriumacetat, so bildet sich Natriumchlorid unter Freisetzung der schwächeren Säure Essigsäure: HCl + CH3-COONa ––> NaCl + CH3-COOH.
Die chemischen Wahlverwandtschaften kannte Goethe entweder aus seinen eigenen naturwissenschaftlichen Versuchen oder aus seiner Tätigkeit als Bergbauminister in Weimar.
Eduard ist von der Idee der Wahlverwandtschaften überzeugt und glaubt, sie auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen zu können.“ (wiki: „Die Wahlverwandtschaften“, 10. August 2009)

„Wahlverwandtschaft“ ist damit Abwandlung dessen, was als Konzeption der Liebe etwa in Schillers „Kabale und Liebe“ vorgestellt wird:
„Romantische Liebe“ ist eine Vorstellung, ein Ideal. Sie ist nicht auf die Epoche der Romantik (etwa ab 1790) beschränkt, dort aber intensiv gepflegt worden. Sie zu beschreiben ist nicht ganz einfach – je nachdem, ob man sie psychologisch, biologisch  oder (mit Luhmann) soziologisch erklärt, ob man sie gegen andere Vorstellungen bzw. Praxis von Liebe (Mätresse des Herzogs) oder die Institution Ehe/Familie in einer bestimmten Epoche abgrenzt. Mit diesen Einschränkungen gilt etwa Folgendes:
* Liebe entspringt aus dem entfremdeten Leben.
* Sie ist eine primär seelische Beziehung.
* Die Seele erschließt sich in Träne, Blick und Gespräch.
* Liebe schließt Freundschaft und Sexualität ein.
* Sie richtet sich rein auf das Individuum.
* Sie gewinnt den einzig wahren Partner.
* Sie findet in ihm „alles“.
* Beide haben den gleichen „Wert“.
* Sie entspringt spontan-naturhaft.
* Sie überspringt alle Grenzen und Verbote.
* Liebe dauert „ewig“.

Wahlverwandtschaft und Liebe stehen gegen eine Verbindung der Menschen, die auf Vereinbarung und Vertrag beruht: gegen die Ehe. Sie proklamieren ein höheres oder älteres als das von Menschen gesetzte Recht einer Verbindung. Sie stehen damit unter der griechischen Unterscheidung: was von Natur aus gilt – was aufgrund von Absprache gilt.
Anderseits bringen sie mit „Natur“ und Naturgesetz (Wahlverwandtschaft) einen Aspekt des Schicksalhaften zur Geltung, der einmal menschliche Freiheit und Wahl negiert, der jedoch die neue Frage nach den Zeichen aufwirft, an denen man die schicksalhafte Bindung erkennen (und von Willkür unterscheiden) kann.
In der abendländischen Tradition wurde die Ehe als Sakrament verstanden, das heißt die menschliche Wahl wurde in Gottes Namen bis zum Tod gültig: „Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen.“ Aber Liebe und Treue binden nur, „bis der Tod euch scheidet“.
Mit dieser Thematik wird die Frage diskutiert, wie weit der Mensch in seinen Beziehungen ein Naturwesen ist oder als Naturwesen gilt.

http://www.neonlitho.ch/wphchall/chemie_alles/3_teil_12-17/kapitel_16/chem_affinitaet.htm
http://www.peter-hug.ch/lexikon/chemischeverwandtschaft?q=Affinit%C3%A4t
http://www.wissenschaft-online.de/abo/lexikon/bio/1324

———-

Referat einiger Deutungskonzepte als Rahmen des Verstehens – die dritte Vorarbeit

1. KLL, 2. Auflage (Heide Eilert, überarbeitet von der Redaktion):
* Ausgang vom Begriff der „Wahlverwandtschaft“ für Kräfte der Anziehung und Abstoßung der Elemente, übertragen auf die Geschlechterbeziehung;
* Gegenüberstellung zweier Liebeskonzepte: leidenschaftlich, auf Naturtrieben beruhend / eheliche Bindung, durch kulturelle Normen gesichert;
* allgemeiner: Bemühen um kulturelle Ordnung der Natur (Gartenkunst, Architektur, Medizin, Erziehung) scheitert zuletzt, durch Triebkräfte zerstört.
* Die Handlung beginnt durch Aufnahme zweier neuer Personen (Hauptmann, Ottilie), was zu neuen Neigungen führt;
* durch die geplante Beförderung des Hauptmanns und Entfernung Ottilies bricht die Leidenschaft ganz aus, geistiger „Ehebruch“ in der Liebesnacht der Gatten;
* Liebesgeständnisse der Paare, Charlotte entsagt, Eduard flieht in der Krieg;
* der zweite Teil des Romans steht im Zeichen des Todes: beginnend mit der Restaurierung des Friedhofs;
* Konfrontation des sinnlosen Treibens Lucianes (und der Adelsgesellschaft) mit Ottilies Innerlichkeit;
* Geburt des Kindes, Eduards Geständnis des „Ehebruchs“, Heiratspläne Eduards, Ottilie verschuldet den Tod des Kindes, sie entsagt;
* durch Eduard bedrängt, wird ihr der Rückweg ins Leben versperrt, sie tötet sich durch Askese ab;
* Eduard stirbt ebenfalls und wird neben ihr begraben, mit leicht ironischem „versöhnlichem“ Schluss des Romans.

* Ottilie kann ihre sittliche Verpflichtung mit ihrer unaufhaltsamen Liebe zu Eduard nicht in Einklang bringen;
* Charlottes Entsagung wirkt sich genauso verhängnisvoll wie die Leidenschaft Eduards aus – Leidenschaft kann mit der Sittlichkeit nicht ausgeglichen werden;
* die Aporien ergeben sich aus dem Wirken das Dämonischen, das sich nach Goethe auch in der Französischen Revolution und im Wüten Napoleons zeigte.
* Die Gesellschaftskritik des Romans zeigt sich im sinnlosen Treiben der Adeligen (Luciane) und im ziel-losen Arbeiten Eduards (im Vergleich mit dem Arbeiten des Hauptmanns und Ottilies); der Ex-Pfarrer Mittler leistet auch nichts Vernünftiges und bringt nur Tod.
* Der Roman schildert eine im Übergang begriffene Zeit, hält ein untergehendes Zeitalter im Bild fest.

2. Irmgard Wagner: Goethe. Zugänge zu seinem Werk (1999), S. 135 ff.:
Seit W. Benjamins Aufsatz von 1922 sind viele Aspekte in den Blick gekommen:
– der Sozialroman vom Untergang des Feudalismus,
– der psychologische Roman von der Komplexität des Individuums und den Masken des Begehrens,
– Kulturkritik: von der Problematik der Ehe,
– der Ideenroman von der Spannung zwischen Natur und Willensfreiheit sowie von Schicksal und Selbstbestimmung.
Wesentlich gegenüber den frühen Werken Goethes ist es, dass das Einssein von Mensch und Natur verschwunden ist. Durch die Arbeit an der „Farbenlehre“ (1790 – 1810) ist Goethe näher an die Naturwissenschaft herangekommen; in Wv („Die Wahlverwandtschaften“) zeigt sich, dass die Natur nicht im Wissen zu fassen ist. Die Figuren interpretieren Phänomene, Ereignisse, die Landschaft als Zeichen und Korrelationen – und was sie aufgrund dessen tun, führt zum Tod. Der Begriff natürlicher „Wahlverwandtschaft“ wird im menschlichen Leben durchgespielt, aber dort findet er keine glückliche Resonanz. – Repräsentantin dieser fremden Natur ist Ottilie.
Wunderbare und rätselhafte Ereignisse stehen neben den Versuchen, die Natur kultivierend zu verbessern, zu formen; sie stehen vor dem Hintergrund des Kultes der Toten und dem Nachleben religiöser Kunst und Bildlichkeit: „Der Roman ist ein pessimistisches Märchen“, ein Roman des magischen Realismus.
Charlotte verkörpert das Aufklärungsideal vernünftiger Partnerschaft, die von den anderen die gleiche Vernünftigkeit erwartet – aber sie erreicht keines ihrer Ziele. Der Hauptmann ist der homo faber, der aber in seiner Karriere gehemmt wird und auch die Braut verliert – er wird am Ende vergessen. Eduard verkörpert die willkürliche Freiheit, ist aber getrieben; durch Ottilies Tod wird er aus seiner Bahn geworfen und bleibt doch unwiderstehlich von ihr angezogen. Ottilie, die Vertreterin des Andersartigen, bringt durch ihre Gegenwart vielfältige Wirkungen hervor und erweckt Bedürfnisse nach Deutung ihrer verblüffenden Nähe zu Eduard; im Ehebruch Eduards erlangt sie die größte Macht über ihn. Durch die Trennung von ihm verwandelt sie sich in ihr Gegenteil (ins Freie gehen, träumen).
Otto, das Wunderkind mit den vier Eltern, übt mächtig-magischen Einfluss aus; es bindet alle, die aus der Situation zu fliehen suchen, und erweist „Tod“ als seine Bedeutung; von ihm geht die Todeskraft auf Ottilie über – „ihre Selbstmorddrohung macht dem Tod zum einzigen Ausweg aus dem magischen Quadrat“. Nach ihrem todesähnlichen Schlaf auf Charlottes Schoß enthüllt sie ihr Wesen als Trägerin lebensbestimmender dämonischer Macht. Das Wunder von Nannys Heilung bleibt zweideutig, im Schluss des Romans wird ein Gleichgewicht zwischen den zwei Seiten der Natur hergestellt – der Glaube, der zum Leben führt, gehört zu den natürlichen menschlichen Fähigkeiten.

3. Julian Kücklich: Konzepte der Dreiwertigkeit in Goethes Wahlverwandtschaften (Materialien, Institut von Nina Ort, LMU München)
Kücklich stellt folgende Leitfragen:
Personenkonstellation: Im Mittelpunkt des Romans stehen die Beziehungen der Personen Eduard, Charlotte, Otto (Hauptmann) und Ottilie. Inwiefern ist die Identität dieser Personen relational konzipiert? Stellt dies einen Bruch mit traditionellen Konzepten der Identität dar? Die Beziehungen der Personen untereinander sind grundsätzlich un-eindeutig. Fungiert die Ehe in diesem Zusammenhang als Paradigma eines überkommenen Welt- und Selbstbildes?
Handlung: Die Analogie zwischen dem naturwissenschaftlichen Konzept der „Wahlverwandtschaften“ und der Personenkonstellation legt nahe, dass mit den Personen im Roman verschiedene Experimente durchgeführt werden. Dabei zeigt sich jedoch, dass die Wiederholung einer Operation nicht notwendig zum selben Ergebnis führt. Auch die Negation einer Operation führt nicht unbedingt zurück zur Ausgangssituation. Lässt sich mit den Romanfiguren „rechnen“? Welche Konsequenz hat dies für den „Satz der Identität“?
Wahrnehmung: Medial vermittelte Wahrnehmung spielt eine wichtige Rolle innerhalb des Romans. Dabei fungieren jedoch nicht nur Briefe, Ferngläser, Landkarten etc. als Medien, sondern auch Personen (Mittler!), insbesondere was die Selbstbeobachtung der Personen angeht. Inwiefern wird der Beobachterstandpunkt explizit problematisiert? Welchen Stellenwert hat das Problem der Beobachtung von Beziehungen, an denen der Beobachter selbst Anteil hat? Welche Konsequenzen hat dies für die Selbst- und Fremdbeobachtung?
Zeichen: Die Interpretation von Zeichen wird im Roman immer wieder thematisiert, insbesondere die Möglichkeit der Fehlinterpretation. Ließe sich der gesamte Roman als Prozess der Semiose lesen, vorausgesetzt, man legt ein dreiwertiges Zeichenmodell zu Grunde? Inwiefern spielt der Roman mit den nicht realisierten Anschlussmöglichkeiten? (http://www.lrz-muenchen.de/~nina.ort/goetheguenther.html)
Im Anschluss an die Leitfragen stellt Kücklich Schlüsselstellen des ersten Teils des Romans zusammen, man kann sie nachlesen.

Maximilian Rankls Ausführungen zu „Die Wahlverwandtschaften“ gehen nicht über das bisher Referierte hinaus. (http://wave.prohosting.com/kostinek/autoren_xlibris/Goewahl1.htm)