Kleist: Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik – Aufbau

und erste Interpretation
Der Aufbau der von Kleist so genannten Legende „Die heilige Cäcilie…“ ist gar nicht der einer Legende: Zuerst wird die wundersame Rettung des Aachener Klosters vor den fanatischen Bilderstürmern Ende des 16. Jahrhunderts erzählt, mit einem Ausblick auf dessen Säkularisierung nach dem 30jährigen Krieg (Meistererzählungen der deutschen Romantik, dtv 1985, S. 52-54). Es folgt dann ein Erzählbericht von zwei Gesprächen, welche die Mutter der vier Söhne sechs Jahre später zuerst mit Veit Gotthelf (bis S. 59), dann drei Tage später mit der Äbtissin des Klosters führt; beide Figuren erzählen der Mutter Details von jenem sonderbaren Tag der Rettung, welche das Eingreifen einer höheren Macht zur Bekehrung der Söhne bzw. zur Rettung des Klosters bezeugen. Der Erzähler markiert dann mit dem ersten Satz des letzten Absatzes (S. 62), dass die von ihm berichtete „Legende“ zu Ende ist, und gibt einen Ausblick auf die spätere Bekehrung der Mutter und das heitere Lebensende ihrer Söhne.

Diese Zweiteilung geht nach dem Kommentar Friedrich Vollhardts (S. 364 ff.) auf die Entstehung des Textes zurück: Der straff erzählte erste Teil gehörte zu den Geschenken für Kleists Patenkind Cäcilia Müller (1810); den zweiten Teil hat Kleist in der Buchausgabe seiner „Erzählungen“ (1811) angehängt. In diesem zweiten Teil wird das wunderbare Wirken der Musik und ihre Auswirkung auf das Leben der vier Brüder im Einzelnen berichtet und auch andeutungsweise erklärt.
Im ersten Teil werden nach der Vorgeschichte (1/2 Seite) kurz die Ereignis des Vorabends und der Nacht vor dem geplanten Bildersturm (ca. 1/3 Seite) und dann die Ereignisse dieses Tages bis zum Ende des Gottesdienstes (2 Seiten, von einem kurzen Kommentar S. 53 unterbrochen) erzählt; zum Schluss greift der Erzähler ganz kurz 50 Jahre vor. – Das Geschehen des zweiten Teils spielt sechs Jahre später; nach einer unbestimmten Zahl von Tagen (1/2 Seite) findet die Mutter „eines Tages“ ihre Söhne (knapp 1 Seite), am Morgen des folgenden Tages erzählt der Tuchhändler ihr die Geschichte ihrer Söhne (3 Seiten, wörtliche Rede). Drei Tage später geht die Mutter zum Kloster, erlebt das Gewitter (1/2 Seite) und spricht mit der Äbtissin (2 Seiten, z.T. wörtliche Rede). Es folgt am Ende der Ausblick auf Bekehrung der Mutter und den Tod der Söhne (8 Zeilen). Von der Zeitstruktur sind also die Aufführung des Oratoriums, der Bericht des Tuchhändlers und die Begegnung mit der Äbtissin die drei Höhepunkte der Erzählung.

Im ersten Teil wird wirklich nur „Die Gewalt der Musik“ dargestellt: Wie das Kloster der heiligen Cäcilie in große Bedrängnis gerät (S. 52 f.), wie die Äbtissin sich davon nicht beeindrucken lässt und wie die schwer kranke Schwester Antonia erscheint, um doch ihr italienisches Oratorium aufzuführen; von diesem wird berichtet, dass es bereits mehrmals „die größesten Wirkungen“ hervorgebracht habe, weil es mit „einer besondern Heiligkeit und Herrlichkeit“ komponiert war (S. 53). Dadurch ergreift zuerst die Nonnen Zuversicht „wie ein wunderbarer, himmlischer Trost“; auf die Zuhörer wirkt die herrliche musikalische Pracht so, dass sich „kein Odem“ während der Aufführung regt und dass beim Salve regina und erst recht beim Gloria in excelsis die Besucher der Kirche wie tot sind, sodass das Vorhaben der vier Brüder und ihres Anhangs vereitelt ist.
Der zweite Teil läuft dann darauf hinaus, das „Die heilige Cäcilie“ diejenige war, die das Wunder der Rettung bewirkt hat. Zunächst wird berichtet, wie die Mutter der vier Brüder mühsam herausfindet, dass ihre Söhne im „Irrenhaus“ leben, wenig essen und schlafen und zur Mitternacht schrecklich laut das Gloria in excelsis singen (bis S. 55 unten). Die abschließend berichtete Erklärung des Anstaltsleiters, dass die vier gesund und von einer gewissen feierlichen Heiterkeit sind, verwundert etwas; die von den Vieren berichtete Äußerung, dass sie wohl mehr wissen als „die gute Stadt Aachen“ (S. 56), bereitet die folgende Erzählung des Tuchhändlers Veit Gotthelf vor.
Zu ihm geht die Mutter am nächsten Tag, da sie „den schauderhaften Anblick dieser Unglücklichen“ nicht ertragen kann; mit dieser Bemerkung nimmt der Erzähler die Perspektive der Mutter oder die allgemeine Einschätzung ein, die mit der Einschätzung des Anstaltsleiters nicht übereinstimmt und im späteren Bericht widerlegt wird. Veit Gotthelf erzählt als alter Mitverschworener der Bilderstürmer deren Mutter, was er weiß; „der Himmel selbst“, so erklärt er das Scheitern ihrer Pläne, „scheint das Kloster der frommen Frauen in seinen Schutz genommen zu haben“ (S. 56). Er erzählt im Einzelnen, wie die Brüder unter dem Eindruck der Musik offenbar eine Bekehrung erlebt haben (Hüte abnehmen, niederknien, Gebete murmeln) und veranlassen, dass ihre Gefährten keinen Schaden anrichten (S. 56 f.). Nur mit Mühe konnte man sie aus der Kirche entfernen; sie änderten ihren Lebensstil, machten fromme Übungen und stimmten zur Mitternacht „mit einer entsetzlichen und gräßlichen Stimme“ das Gloria an (S. 58), was grausenhaft und schauderhaft auf die Zuhörer wirkte und diese verstörte. Jene setzten ihr „gespensterartige(s) Klosterleben“ fort und wurden deshalb ins Irrenhaus gesteckt (S. 59).
Der Erzähler hält sich wieder an die Perspektive der Frau, als er berichtet, wie diese drei Tage später „den entsetzlichen Schauplatz“ sehen will, „auf welchem Gott ihre Söhne wie durch unsichtbare Blitze zu Grunde gerichtet hatte“ (S. 59 f.) – sie ist noch Mutter statt Gläubige. Nach dem „Schauspiel“ des abgewendeten Gewitters (S. 60) sieht sie bei der Äbtissin die zauberischen Zeichen der Partitur und unterwirft sich der göttlichen Allmacht (S. 61); so erfährt sie von der Äbtissin außerdem, dass nicht besagte kranke Schwester Antonia das Oratorium aufgeführt hat, sondern offenbar – nach Einsicht des Erzbischofs und des Papstes – die heilige Cäcilie selbst (S. 62). Mit ihrem Abschied von der Äbtissin endet „diese Legende“.
Im letzten Absatz berichtet der Erzähler dann von der späteren Bekehrung der Frau zum Katholizismus und vom seligen Ende ihrer vier Söhne, „nachdem sie noch einmal, ihrer Gewohnheit gemäß, das gloria in excelsis abgesungen hatten“ (S. 62).

Im zweiten Teil der Novelle geht es nicht mehr um die Rettung des Klosters, sondern um das außer-ordentliche (und nur im Irrenhaus geduldete) Wissen der vier Brüder und um die geheim gehaltene Erklärung der geheimnisvollen Aufführung des Oratoriums; die an diesem Wissen teilhaben, ändern ihr Leben [sofern sie nicht schon heiligmäßig sind], während „die gute Stadt Aachen“ weiter ihren Geschäften nachgeht, als wäre nichts geschehen.

In Werner von Stegmanns Interpretation (KLL) ist die Gewalt der Musik, welche für die Gewalt des Glaubens steht, ursprünglich das Thema der Novelle; in der späteren Erweiterung verschiebe sich der Aspekt dahin, dass diese Gewalt auch den Wahnsinn bewirken kann. So stelle die Novelle in ihrer jetzigen Fassung die Verbildlichung „eines bis zum Wahnsinn führenden Grenzerlebnisses“ dar, welches in einem unbewegten Erzählton vorgetragen werde.
Ob der Erzähler diese Ambivalenz, wie Stegmann sie sieht, bestehen lässt oder sich doch auf die Seite der „Gläubigen“ stellt, wäre in einer genauen Analyse der Perspektive zu prüfen: Übernimmt der Erzähler unmerklich die Perspektive der Figuren („mit einer unendlichen Regung von Demut und Unterwerfung unter die göttliche Allmacht“, S. 61)? Ist sein eigener Hinweis auf den seligen Tod der Brüder (S. 62) untergründig ironisch zu lesen?

Zweite Interpretation
Vollhardts schon genannter Kommentar (in den „Meistererzählungen“) unterläuft diese Frage und setzt auf die Differenz zwischen der Perspektive des Lesers und der Figuren (und auch des Erzählers): Wenn die Brüder wirklich rein zufällig zu ihrem schlimmen Vorhaben in Aachen zusammengekommen seien, wirke der Zusammenhang zwischen religiöser Schuld und Strafe „von vornherein fragwürdig. Kleist gestaltet seine Erzählung bewußt doppeldeutig.“ (S. 366)
So sieht Vollhardt im Auftreten der Brüder nach ihrer Bekehrung eine religiöse Dünkelhaftigkeit statt echter Bekehrung (S. 367); dass sie für das Vorhaben, ein Kloster zu zerstören, ausgerechnet mit einer Art Klosterleben im Irrrenhaus bestraft werden, sei offenkundig ironisch zu lesen (S. 367). Kleist gewähre Einblick „in das suggestive Verfahren seines Erzählers“ und gestatte es so, sich von dessen Schlussfolgerungen zu distanzieren (S. 367). Auch zeige die Tatsache, dass trotz göttlicher Rettung das Kloster 50 Jahre später durch einen einfachen Verwaltungsakt säkularisiert wurde, dass es mit Gottes Macht doch nicht so weit her sei.
Insgesamt also distanziere Kleist sich mit seiner „Legende“ von der romantischen Mode, Legenden zu erzählen; er praktiziere die romantische „Technik des Zitierens, Wiederaufnehmens oder Parodierens literarischer Stoffe und Themen“, um aktuelle Zeittendenzen in den Blick zu rücken (S. 371).
http://www.heiligenlexikon.de/BiographienC/Caecilia.html (Cäcilia)

http://www.textkritik.de/bka/dokumente/dok_steig/steigk_530-536.htm

http://www.tabvlarasa.de/7/kleist.php

 

Prinz Friedrich von Homburg – der Kurfürst als Figur

Der Kurfürst als Figur

Eine der wichtigen Figuren des Stücks ist der Kurfürst. Aspekte seiner Person:

1. Sein Verhältnis zu Friedrich von Homburg ist in dessen Sicht durchgängig wohlwollend: „Ich bin ihm wert, das weiß ich, wie ein Sohn“ (vgl. V. 829-835). Das mag damit zusammenhängen, dass Homburg der Sohn der Jugendfreundin der Kurfürstin ist, die ihn wie einen Adoptivsohn aufgezogen hat: „Dir übergab zu Homburg, als sie starb, / Die Hedwig mich …“ (vgl. V. 1010-1015).

2. So ist Homburgs Wunsch verständlich, dass er zu den beiden „Vater“ und „Mutter“ sagen darf (V. 67 f.), beziehungsweise es ist beinahe unverständlich, dass er das nicht längst sagt – allerdings weiß man nicht, wie alt er war, als seine Mutter starb; wenn er da schon älter als acht oder zehn Jahre war, wäre es verständlich, dass er die beiden nicht als Eltern angesprochen hat.

3. Des Kurfürsten Verhältnis zu seiner Nichte Natalie ist ausgesprochen herzlich und liebevoll. Er spricht sie als „Töchterchen“ an (V. 1092, 1147, 1191, vgl. 1191/93), als „mein süßes Kind“ (V. 1112) oder „meine teuerste Natalie“ (V. 1156); nachdem er an Homburg geschrieben hat, legt er seinen Arm um ihren Leib (hinter V. 1193), wie der verliebte Prinz in II,6 (hinter V. 599 – der allerdings „schlägt“ den Arm um ihren Leib). Sie ihrerseits sagt „O Liebster!“ (V. 1179). Wenn man hier nicht eine verborgene erotische Bindung wittern will, was ich für falsch halte, wird man in dieser Beziehung das Bild der bürgerlichen Familie entdecken, wie es uns etwa aus „Kabale und Liebe“ bekannt ist: gedämpfte Beziehung des Vaters zu seiner Frau, innige Bindung an die Tochter.

4. Dieser Eindruck drängt sich mir noch mehr auf, wenn ich überlege, warum die Fürbitten seiner Frau für den Prinzen nichts bewirkt haben (V. 1020 f.), während Natalies Vorstoß beim Kurfürsten erfolgreich ist (IV,1). Das kann zwei Gründe haben, die entweder in der Person der Bittstellerin oder in deren Argumentation begründet sind. Der Kurfürst könnte also mehr an Natalie als an seiner Frau hängen (wie Miller in „Kabale und Liebe“); es könnte aber auch Natalies Hinweis entscheidend sein: „Ach, welch ein Heldenherz hast du geknickt!“ (V. 1155) Darauf reagiert der Kurfürst überrascht und beinahe fassungslos: „Nein … Unmöglich … Er fleht um Gnade?“ (V. 1156 f.) Er wiederholt diese Frage (V. 1159), was zeigt, wie überrascht und getroffen er von Natalies Nachricht ist.

5. Einen ähnlich unklaren Eindruck macht die erste Verkündigung des Todesurteils: „Wer immer auch die Reuterei geführt, … Der ist des Todes schuldig, das erklär ich … – Der Prinz von Homburg hat sie nicht geführt?“ (V. 715-722) Mit der Festigkeit im Prinzip („Wer immer auch…“) verbindet sich m.E. eine Sorge um den Prinzen von Homburg: Der kann (und müsste eigentlich ) zu den mit „Wer immer auch“ Benannten gehören; die Frage am Schluss zeigt zumindest die Befürchtung, Homburg könnte der vom Todesurteil Betroffene sein (vgl. die Nachfrage V. 723).

6. Das passt zu des Kurfürsten Interpretation von Natalies Wort, er habe ein Heldenherz geknickt: „Er fehlt um Gnade?“ (V. 1157) Zuvor ist er allen Argumenten Natalies (und damit auch dem Zauber ihrer Person) mit der bekannten Prinzipienfestigkeit des Richters entgegen getreten: dass es nicht gleich sei, ob im Vaterland Willkür oder Recht und Gesetz herrschen (V. 1143 f.). Nun jedoch lenkt er „verwirrt“ (hinter V. 1174) ein. Dass der Prinz nicht wie ein Mann sterben will, dass er sich nicht dem Gesetz unterordnen kann, verwirrt ihn also. Er begründet die Begnadigung damit, dass er sich nicht „gegen solchen Kriegers Meinung setzen“ (V. 1182) wolle: „Die höchste Achtung, wie dir wohl bekannt, / Trag ich im Innersten für sein Gefühl: / Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier ich die Artikel: er ist frei!“ (V. 1183 ff.) Das ist eine ganz ungewöhnliche Begründung, dass eine Begnadigung davon abhängig gemacht wird, dass der Verurteilte sein Vergehen nicht einsieht. Der Kurfürst ist also entweder von Natalies Fürbitte beeindruckt (aber warum dann nicht schon vor V. 1155 – die Tränen Natalies machen den Kurfürsten allerdings betroffen, hinter V. 1146); oder er ist ungerecht gegenüber einem Straftäter; oder die Verfassung des Prinzen bewegt ihn zu seinem Umdenken.

7. Als der Prinz sich zu seiner freien Entscheidung, sich unters Gesetz zu stellen (V. 1342 ff. – siehe meine Untersuchung zu „Herz und Gesetz“!), durchgerungen hat, schreibt er einen entsprechenden Brief an den Kurfürsten (hinter V. 1373 ff.), den er von Franz an jenen überbringen lässt (vgl. V. 1378, V. 1465 ff.). Als der den Brief gelesen hat, gibt er die Anweisung, das Todesurteil und den Brief an Graf Horn zu holen (V. 1479 f. – vgl. V. 1814 ff.); er hat sich in diesem Moment also entschieden, das Todesurteil zu zerreißen, wenn er das auch Natalie bereits vorher zugesagt hatte – die Diskussion mit seinen Offizieren ist nur eine Fassade oder dient dazu, sich ihrer zu vergewissern, o.ä.; jedenfalls ist deren Bereitschaft, sich erneut unter den Befehl des Prinzen zu stellen (V. 1818 ff.), ohne Bedeutung für des Kurfürsten Entscheidung. Diese Szene (V,4) weist m.E. darauf hin, dass der Kurfürst dem Prinzen Gelegenheit geben will, nicht wie ein Waschlappen zu wimmern, sondern sich zur freien ethischen Entscheidung durchzuringen: sich unter das Gesetz zu stellen. Der Kurfürst erzieht also den Prinzen durch die Verurteilung und spätere Begnadigung nicht zum gehorsamen Staatsbürger, wie manche Interpreten meinen, sondern zu einem freien Menschen.

8. Dem entspricht, dass er ihn nach dessen Schuldbekenntnis (V,7) küsst und als „mein Sohn“ anspricht (V. 1784), ihn also beinahe so herzlich wie die Nichte Natalie behandelt.

9. Was mir ferner auffällt, ist die Tatsache, wie schnell der Kurfürst Natalie als „Prinz Homburgs Braut“ (V. 1790) bezeichnet; noch hat ja kein förmliches Verlöbnis stattgefunden, noch hat niemand offiziell um die Hand Natalies angehalten – die ganze Verlobung war eine private Annäherung oder blumenreiche Willenserklärung der beiden (II,6), mit einem kurzen Kuss besiegelt: also etwas, was selbst nach bürgerlichen Maßstäben, erst recht nach den Regeln des Adels (Prinzessin von Oranien, Prinz von Homburg) nichts zählt. Wenn es für die beiden und den Kurfürsten doch zählt, agieren sie nicht wie richtige Adelige, sondern wie Figuren der Empfindsamkeit oder der Romantik, und der Kurfürst ist dem Brautpaar eine Art guter Hausvater.

10. Fasst man die Beobachtungen und Überlegungen zusammen, muss man den Kurfürsten nicht nur als Fürsten eines Staates sehen (so V. 731 ff.), sondern auch als eine Art Hausvater, der an den „Kindern“ hängt und sich sorgt, dass aus dem „Sohn“ ein freier Mann und nicht nur der Träger einer Amtskette wird (Szene V,11). Oder anders gesagt, hat der Prinz von Homburg Recht, wenn meint: „Der Kurfürst hat getan, was Pflicht erheischte, / Und nun wird er dem Herzen auch gehorchen.“ (V. 820 f.) Die Frage war nur, wann „nun“ ist.

Traum und Wirklichkeit im 2. – 5. Akt (Kleist: Prinz Friedrich von Homburg)

Traum und Wirklichkeit im 2. bis 5. Akt

Was wird aus Friedrichs Traum, der im Handschuhfund vom Glück garantiert zu sein schien (1. Akt)? Das wird in den folgenden Akten entfaltet. Vor der Schlacht ruft Friedrich den Segen Gottes auf seinen Traum herab (V. 408 ff.). Er bemerkt nebenher, er sei gestern „zerstreut – geteilt“ (V. 420) gewesen, redet sich dann aber mit dem Diktieren heraus (V. 421). Er scheint sich noch einmal an den Handschuhfund zu erinnern (V. 428, wobei er „vor sich niedergeträumt“ hat). Dann scheint er der Verwirklichung seines Traums ganz nahe gekommen zu sein: Er hat den Sieg (II,5) und Natalies Herz (II,6) gewonnen – ihm fehlt nur noch der Segen des Vaters Kurfürst (V. 610 f.). Er spricht die Kurfürstin bereits als „Mutter“ an (V. 710) und will ihr einen Herzenswunsch anvertrauen (V. 701 f.), wozu es wegen der Eile nicht kommt. „O Cäsar Divus! …“ (V. 712 f.). Doch in einem harten Schnitt verkündet der Kurfürst gleich darauf das Todesurteil über den Anführer der Reiterei (II,9). Was wird nun aus Friedrichs Traum? Friedrich kann das Urteil des Kurfürsten nicht verstehen: „Träum ich? … Bin ich bei Sinnen?“ (V. 765) Hier spricht er metaphorisch vom Träumen, wie die drei folgenden Fragen bezeugen. Er schätzt seine Situation falsch ein (III,1), er verleugnet sie einfach: „Ich denk’s mir so!“ (V. 829) Er vertraut auf sein Herz (auf mein Gefühl von ihm, V. 868) und ist ganz ruhig. Wenn Hohenzollern ihn „Du Rasender“ (V. 866; vgl. V. 69) nennt, hat das nichts mit Penthesileas Raserei zu tun; es bedeutet eher so viel wie „Du Verrückter!“ – dass Friedrich also den Verstand ausgeschaltet hat und unbeirrt an seinem Traum festhält.

Als dann die Wirklichkeit nicht mehr zu leugnen ist, kippt seine Stimmung um und er verliert klagend „Meine Hoffnung!“ (V. 910) Er muss sich verraten vorkommen, sein Traum ist geplatzt. Da geht er zur Kurfürstin und spricht sie wiederholt als „meine Mutter“ an (V. 965 ff.), jedoch nicht wie ein anerkannter Sohn, sondern wie ein verzweifeltes kleines Kind. Auf dieser Ebene erreicht er ihr Herz; sie erwidert schließlich: Mein teurer Sohn“ (V. 1020), leitet so zu Natalies Ermutigung über (s. Untersuchung zu Herz und Gesetz“). Natalie erweckt auch den Traum zu neuem Leben: Er ist in ihrem Anschaun verloren (hinter V. 1061).

Ehe sie Friedrich im Gefängnis besucht, um ihm die Botschaft des Kurfürsten zu überbringen, zieht sie ihre Handschuhe an (V. 1279) – das ist auf der symbolischen Ebene das Signal, dass sich nun das Geschehen zum Guten wendet (vgl. die Bedeutung des Handschuhs im 1. Akt!). Friedrich kann die Begnadigung zuerst nicht fassen: „Es ist ein Traum.“ (V. 1305) Auch hier wird vom „Traum“ metaphorisch gesprochen, im Sinn von unglaublich“. Als er dann zur Besinnung kommt (V. 1322 ff.), sich seiner selbst besinnt (V. 1334: Er will Prinz, nicht Schuft sein – vgl. „Schurke“ V. 492 – es geht jeweils darum, ein großes Herz zu haben!), ist er von des Kurfürsten Wort betroffen (hinter V. 1339) und unterstellt sich der Vernunft (s. Untersuchung „Herz und Gesetz“). Damit ist in seiner Person der Traum wirklich geworden: „Du Unbegreiflicher!“ (V. 1352); es steht nur noch die Verwirklichung in der Welt, im rechtlichen Bereich aus.

Nach Kottwitz’ Vortrag (V,5) schaltet Hohenzollern sich in die Diskussion um die Begnadigung ein. Es werden von ihm die Szenen I,1; I,4; und I,5 rekapituliert, wobei auch Natalies Handschuh gewürdigt wird (V. 1633 ff.). Der Kurfürst zieht das Fazit der Überlegungen (V. 1706 ff.), will aber nicht der einzige Schuldige sein (V. 1714 ff.). Jedenfalls trägt auch Hohenzollerns Traum-Deutung dazu bei, zu erweisen, dass Friedrich im Traumzustand unzurechnungsfähig war (V. 1693 ff.) Der Traum erfüllt sich dann darin, das nicht nur Kottwitz (V. 1763), sondern auch der Kurfürst ihn „mein Sohn“ nennt (V. 1784), sogar küsst (hinter V. 1783) und das Todesurteil zerreißt (hinter V. 1828).

In den beiden Schluss-Szenen wird die Ausgangssituation erneut heraufgerufen (Szene V,10: „Es ist wieder Nacht.“); dem wundersam vorhandenen Lorbeer der Szene I,1 (. 50 f.) entsprechen die wundersam blühenden Levkojen und Nelken in V,10 (V. 1840). Der Prinz von Homburg wird mit Ehre und Herrlichkeit bekränzt, wie er es sich erträumt hat… (V,11), und fällt erneut (wie in I,4) in Ohnmacht (hinter V. 1850). „Nein sagt! Ist es ein Traum?“ (V. 1855) Hier ist wieder metaphorisch vom Unglaublichen die Rede. Kottwitz antwortet: „Ein Traum, was sonst?“ Kottwitz spricht m.E. vom Traum als einer Utopie – wenn man seine Äußerung nicht so verstehen will, dass er scheinbar ironisch Friedrichs Frage abtäte, weil er dem Ungeheuren des verwirklichten Traums anders nicht standhalten kann.

Die beiden letzten Verse sind rätselhaft. Warum rufen die Offiziere angesichts des verwirklichten Traums zum Aufbruch „Ins Feld!“ (V.1856)? Liegt der neue Aufbruch in der Logik des militärischen Sieges eines Prinzen (II,5)? Liegt er in der Logik eines Kleist’schen Patriotismus?

Jedenfalls ruft nicht die Vernunft „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ (V. 1857); die Vernunft erkennt auch der Feinde Brandenburgs Daseinsberechtigung. Vielleicht lebt man besser ohne als mit Prinzen? Sicher ist die Existenz von Prinzen nicht erforderlich, um einen Ausgleich zwischen der Stimme des Herzens und dem, was die Vernunft sagt, zu suchen.

Homburgs Traum und Natalies Handschuh im 1. Akt (Prinz Friedrich von Homburg)

Übersicht über das Geschehen:

Im 1. Akt wird als Thema die Frage vorgegeben, ob des Prinzen Träume von Ruhm und Glück verwirklicht werden. Dem steht entgegen, dass die Stimme des Herzens nicht das Gleiche sagt wie der Befehl, das Gesetz des Krieges. Die beiden ersten Schritte zum Glück sind der Sieg in der Schlacht bei Fehrbellin und die Verlobung mit Natalie. Erst als der trotz seines Sieges zum Tod verurteilte Friedrich von Homburg durch Natalies Hilfe (III,5) und das Entgegenkommen des Kurfürsten (Brief IV,4), also durch die Kraft der Herzen zur Vernunft kommt und sich aus eigener Entscheidung, also frei dem Gesetz unterordnet und das Todesurteil bejaht, wird er begnadigt, ist der Weg zur vollkommenen Verwirklichung seines Traums frei.

Deutung (Interpretation)

Bei der Deutung (Interpretation) des Stücks „Prinz Friedrich von Homburg“ sollte man vier Fragen auseinander halten, ohne sie voneinander zu trennen:

1. Wie kann man bzw. Friedrich von Homburg Wunsch (Traum) und Wirklichkeit miteinander verbinden? „Traum“ ist ja das thematische Stichwort, welches das Stück von I,1 bis V,11 beherrscht.

2. Wie kann sich der Anspruch des „Sohnes“ (Friedrich) auf Selbständigkeit mit dem Anspruch des „Vaters“ (Kurfürst) auf Gehorsam vor dem vom Vater vertretenen „Gesetz“ vertragen? Und darf der Sohn noch zu Lebzeiten des Vaters nach dessen Halskette (Symbol der Macht) greifen? [Ist das nicht die psychoanalytisch verengte Formulierung der dritten Frage?]

3. Wie steht es um das Recht des Herzens gegenüber dem Gebot des Gesetzes?

4. Verändern sich die Figuren (oder Friedrich allein) in den durch die drei Fragen benannten Bereichen im Verlauf des dramatischen Geschehens?

Was hiermit noch nicht bedacht ist, ist die fünfte Frage, wie das Stück in die damaligepolitische Situation Preußens passt (bzw. hineinwirken sollte).

Homburgs Traum und Natalies Handschuh im 1. Akt

Zweifellos beherrschen der Traum und der Handschuh als Themen oder eher Motive den 1. Akt des Schauspiels „Prinz Friedrich von Homburg“. Der Prinz wird als „halb wachend halb schlafend“, sich einen Kranz windend, eingefuührt (vor V. 1). Hohenzollern beschreibt, dass er Friedrich als „Nachtwandler“ (V. 24) beschäftigt sieht, „Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich, / Den prächtgen Kranz des Ruhmes einzuwinden“ (V.27 f.), und zwar bereits in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht (vgl. den Schlachtplan, V. 12 und I,5). Er erklärt dieses Agieren „als eine bloße Unart seines Geistes“ (V. 39).

Der Kurfürst, der zuerst das Geschehen nicht glaubt und nicht versteht (V. 30, 40, 45), meint mit Hohenzollern zu wissen, „was dieses jungen Toren Brust bewegt“ (V. 55) – die Bezeichnung „Tor“ erkläre ich mir aus dem (für den Kurfürsten) unglaublichen Vorgang vorzeitiger Ruhmeskranzflechterei. Der Kurfuürst selbst stachelt nun Friedrich an, über den Kranz hinaus noch weiter zu träumen, indem er seine Halskette und Natalie als Botin ins Spiel bringt: „Ich muss doch sehn, wie weit er’s treibt!“ (V. 64). Das bezeugt auch seine persönliche Neugier – dramaturgisch wird so jedenfalls die Fülle von Friedrichs Wünschen entfaltet.

Als Friedrich dann Natalie „Meine Braut!“ (V. 65) nennt, den Kurfürsten als Vater und dessen Frau als Mutter bezeichnet, weicht der Hofstaat erschrocken zurück; Friedrich jedoch erhascht einen Handschuh Natalies. Der Kurfürst weist Homburgs Träume zurück: „Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg!“ (V. 74) Dem Traum stellt es das „Gefild der Schlacht“ (V. 75) als einzigen Ort entgegen, wo man solche Dinge erringen kann. Das „Nichts“ ist kein absolutes Nichts, sondern eine bestimmte Negation: nicht im Traum, mein Lieber!

Auf Anweisung des Kurfürsten lässt man Friedrich mit seinem Traum allein (V. 83 f.) – der Text legt nahe, dass der Kurfürst sich geniert, zu weit gegangen zu sein (hat sich einen Scherz erlaubt). Friedrich weiß, als er geweckt wird, sich in der Situation nicht zurechtzufinden (V. 94 ff.); sich selbst gesteht er, dass er wieder (!) unbewusst im Mondschein gewandelt ist (V. 115 f.), während er Hohenzollern eine andere Geschichte erzählt (V. 117 ff.).

Er hat dabei Natalies Handschuh bemerkt (V. 105), sich den Besitz nicht erklären können, ihn weggeworfen (hinter V. 108), ihn stutzend wieder aufgenommen (hinter V. 139); dabei scheint ihm sein Traum einzufallen (V. 140), den er Hohenzollern erzählt – den Traum von „Menschen, die mein Busen liebt“ (V. 145). Doch fällt ihm partout nicht der Name Natalie ein – wir würden sagen, er habe ihn verdrängt (V. 155 f., ab V. 146). Als Zweck der Traum- Veranstaltung sieht er die Absicht des Kurfürsten, „mir ganz die Seele zu entzünden“ (V. 161), und zwar für den bevorstehenden Kampf. Er erinnert sich jedenfalls, dass er der süßen Traumgestalt einen Handschuh abgenommen hat (V. 189 f.), und „Da ich erwache, halt ich ihn in der Hand!“ (V. 191) Damit sind im Handschuh Traum und Wirklichkeit miteinander verflochten – es gilt also, diesen Knoten so weit zu entflechten, dass Friedrich versteht, wie die Verbindung zwischen Traum und Wirklichkeit bestehen kann und was sie bedeutet. – Als er wieder ins Träumen versinkt (hinter V. 204), fällt ihm „natürlich“ gleich die Identität Natalies ein (V. 208).

Im Saal des Schlosses (I,5) verfließt dann ineinander, dass der Schlachtplan diktiert wird und dass die Kurfürstin und Natalie abreisen [also die Realität der kommenden Schlacht und die Figuren des „gegenwärtigen“ Traums]. Dem Schlachtplan wendet Friedrich sich mit Stift und Tafel zu, gleichzeitig aber fixiert er die Damen (vor V. 248); Natalies Anblick entfernt ihn aus der Realität der Schlachtplanung, in die ihn Hohenzollern und andere immer wieder zurückrufen (z.B. V. 271); doch er sieht gleich wieder nach den Damen… (hinter V. 280). Friedrich wechselt also zwischen „Traum“ und Wirklichkeit hin und her, von sich aus tendiert er mit dem Herzen zum Traum.

Dann passiert es: Natalie sucht ihren Handschuh (V. 286) – und Friedrich beschließt zu prüfen, „ob er’s ist“ (V. 298), nämlich ob es der Handschuh ist, den er aufbewahrt hat, und damit: ob Natalie die Frau ist, deren Namen (als den des Genius des Ruhms, V. 172) er gesucht hat. Er lässt ihn auf den Boden fallen, wo der Kurfürst ihn entdeckt (V. 315); Friedrich hebt ihn auf und gibt ihn der Prinzessin; die bestätigt ausdrücklich die Identität des Handschuhs (V. 319) und damit ihre eigene als der Besitzerin. Der Prinz ist zuerst verwirrt (V. 318), dann wie vom Blitz getroffen (hinter V. 321), „dann wendet er sich mit triumphierenden Schritten“ wieder zu den Offizieren und übernimmt zu seiner Stimmung passend den letzten Satz des Feldmarschalls: „Dann wird er die Fanfare blasen lassen!“ (V. 322, vgl. V. 313, 323, 339). – Das letzte Träumen des Prinzen (hinter V. 332) dient dazu, ihn den Befehl noch einmal überhören und von der Fanfare träumen zu lassen (V. 336).

Wieso triumphiert Friedrich, als er Natalie als Besitzerin des Handschuhs ausgemacht hat? Was der Handschuh als Handschuh Natalies dem Prinzen bedeutet, wird in seinem kleinen Monolog in I,6 offenbar. Er wendet sich dort dem Glück zu, das er nun zu erkennen glaubt (Schleier heute gelüftet, V. 355 f.) und das ihm die Locken schon gestreift habe (V. 358): Es möge kommen: „Ein Pfand schon warfst du, im Vorüberschweben, / Aus deinem Füllhorn lächelnd mir herab: [nämlich den Handschuh!] / Ich hasche dich im Feld der Schlacht und stürze / Ganz deinen Segen mir zu Füßen um“ (V. 359 ff.). Das Glück wird ihm also den Sieg in der Schlacht bringen und noch mehr, seinen ganzen Segen wird es ihm geben müssen, das heißt mit dem Handschuh auch Natalies Hand (und das kurfürstliche Paar als „Vater“ und „Mutter“). – Wie er den Sieg erringt und die Verwirklichung seiner Träume einleitet, wird dann in II,5 berichtet; Natalies Herz gewinnt er in II,6, dringt in II,8 bis zur Anrede „Mutter“ (V. 710) vor. In II,9 wird jedoch das Todesurteil verkündet – damit ist der Traum vom Glück gefährdet.

Fazit: Im 1. Akt nehmen wir Friedrich von Homburg als einen „Träumer“ wahr und lernen seine Glückstr.ume kennen; sie werden mit der Realität durch den Handschuh Natalies verbunden, welchen Friedrich erhascht hat. Friedrichs Träumen entfernt ihn jedoch aus der gegenwärtigen Realität, nämlich der Erklärung des Plans der kommenden Schlacht. Im Besitz des Glückspfandes ist er sich im Herzen vorab des Sieges sicher, ohne dass sein Verstand den Plan der Schlacht begriffen hätte. Aus der Differenz zwischen gegenwärtigen Befehlen und künftigen Siegen [und der Frage, was sie wirklich miteinander verbindet: der Plan oder das Glückspfand] ergibt sich die Gefahr des Scheiterns.

Material: Was man zu Kleists Zeiten vermutlich von „Traum“ und „Handschuh“ wusste

Der Traum, […] der Zustand verworrener Vorstellungen im Schlafe, ein mittlerer Zustand zwischen Schlafen und Wachen. (Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801)

Die Nachtwandler, Mondsüchtigen. Mit diesem Namen belegt man gewisse Personen, welche in der Nacht, ohne es sich bewußt zu sein, alles das und noch weit mehr verrichten, was ein gesunder Mensch am hellen Tage unternehmen kann. […] Es fehlt bis jetzt noch an einer gründlichen Erklärung dieses Phänomens. (Brockhaus Conversations- Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809)

Mondsucht, jener krankhafte Zustand, in welchem Menschen durch lebhafte Träume und Einflüsse besonderer Art so aufgeregt erscheinen, daß sie im Schlafe herumwandeln, wobei Auge und Ohr schlafen, und nur die innern Sinne, der Geist und besonders die Unterleibsnerven thätig sind (s. Gehirn, Magnetismus, Nerven). […] Sind solche Kranke in ihrem Zimmer, wo sie nicht Schaden nehmen können, so wecke man sie auf sanfte Weise, gebe ihnen Wasser zu trinken und lasse Augen und Stirn kalt waschen; dagegen ist bekannt, daß man Nachtwandler nicht erschrecken darf, wenn sie sich an gefährlichen Stellen befinden. (Damen Conversations Lexikon, Bd. 7, 1836)

Traum, Traumdeuterei […] Wenn bei der durch den Schlaf verursachten Unthätigkeit des Gehirns und Rückenmarkes und der von ihnen abhängigen Nerven die Functionen der Sinne, das Bewußtsein, Bewegung etc, gebunden sind, so bleiben die Nerven der Ganglien (Nervenknoten), welche vitale Handlungen des Körpers, Athmen, Umlauf des Blutes etc, bedingen, immer noch thätig, sowie die an diese Nerven gebundenen Seelenvermögen, das unwillkührliche Gedächtniß, die Einbildungskraft und das Begehrungsvermögen. Aus dem Walten dieser von der Außenwelt und den Sinneseindrücken abgewendeten Seelenthätigkeiten entsteht der T., welcher sich gewöhnlich in Bildern und Allegorien ausspricht, zu denen die Erinnerungen aus der Sinnenwelt meistens nur die Form geben. […] Die meisten T’e sind am Morgen vergessen; zum Bewußtsein gelangen dagegen diejenigen, welche an der Grenze des Schlafens und Wachens oder während eines nicht allzu tiefen Schlafes sich bilden; denn dann ist die Thätigkeit des Gehirns nicht ganz eingestellt, und das Gangliensystem steht mit dem Cerebralnervensysteme noch in Verbindung. Die wunderbare Bildersprache und unergründliche Phantastik der Traumwelt deutete am tiefsinnigsten der große Naturforscher Schubert in seiner »Symbolik des Traums.«. (Damen Conversations Lexikon, Bd. 10, 1838)

Der Kruenitz (http://www.kruenitz1.uni-trier.de) hat große Artikel zu „Traum“ und „Nachtwanderer“.

Handschuhe […] Der Handschuh wurde häufig auch in symbolischer Bedeutung genommen. Als Zeichen der Herausfoderung zum Zweikampf warf der Ritter dem Gegner seinen Handschuh hin, Dasselbe that bei ehrenrührigen Beschuldigungen der Angeklagte, indem er Jeden zum Kampf auffoderte, der jene Beschuldigung für wahr halte; wer den Handschuh aufhob, nahm den Zweikampf an. Auch wurde die Fehde durch Übersendung eines Handschuhs (daher Fehdehandschuh) angekündigt. Schenkungen, Privilegien, Bewilligungen von Seiten der Fürsten (namentlich zur Anlegung einer Stadt, des Münzrechts, der Marktfreiheit) wurden sinnbildlich durch Übergebung von einem oder von ein Paar Handschuhen bestätigt. (Brockhaus Bilder- Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838, S. 328.)

Er hat einen Handschuh bekommen. Bei den alten Sachsen bezeichnete die Sendung eines Handschuhs eine Schenkung, Uebergabe, Zueignung. Wenn sich eine Stadt das Marktrecht vom Kaiser erbat, so sandte er ihr einen Handschuh zum Zeichen, dass ihre Bitte gewährt sei. (Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter- Lexikon, Band 2. Leipzig 1870.)

Handschuh als Rechtssymbol. Mit dargereichtem oder hingeworfenem Handschuh wurden bei Franken, Alamannen, Langobarden und Sachsen Güter übergeben, gleichsam ausgezogen und abgelegt. Zum Zeichen ausgebrochenen Bannes warf der König oder Richter den Handschuh hin und erklärte damit den Verbrecher alles seines Gutes für verlustig. Verbreiteter als die beiden genannten Anwendungen des Handschuhes ist der im ganzen Mittelalter gebräuchliche Wurf des Handschuhes als Aufforderung zum Kampf. Endlich bezeichnet der Handschuh Verleihung einer Gewalt von seiten der Höheren auf einen Geringeren; Boten wurden durch Überreichung des Handschuhes und Stabes von Königen entsendet. Städten, welchen der Kaiser Marktrecht giebt, sendet er seinen Handschuh. (Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885, S. 362)

Der Brauthandschuh hatte gerade im Mittelalter eine sehr große Bedeutung. Wenn ein Mann den Handschuh einer Frau erhielt, galt das als besondere Auszeichnung und Zeichen der Zuneigung. Bei Hochzeiten wurden teilweise auch die Handschuhe beider Ehepartner, Braut und Bräutigam getauscht, ein Symbol gegenseitiger Liebe. (http://www.brautideal.de/Handschuhe)

Das Deutsche Rechtswörterbuch (http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/) nennt unter „Handschuh“ Belege, dass beim Ehegelöbnis Handschuhe überreicht wurden.

Kleist: Prinz Friedrich von Homburg – Thema Herz / Gesetz

Über den Widerspruch zwischen der Stimme des Herzens und dem Gebot des Gesetzes, der Pflicht

Eines der großen Themen des Stücks ist der Gegensatz zwischen dem, was das Herz sagt, und dem, was die Regel oder das Gesetz befiehlt. Über das „Herz“ ist dieses Thema mit einem anderen verbunden: dem problematischen Verhältnis von Traum und Wirklichkeit; das Herz des Prinzen von Homburg hat nämlich in seinem schlafwandlerischen Traum gesprochen (V. 65 ff.) und die Menschen benannt, die er liebt (V. 145). Dass die Traum-Sprache des Herzens noch keine Ansprüche begründet, macht der Kurfürst deutlich: „Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, ins Nichts, ins Nichts! (…) Im Traum erringt man solche Dinge nicht!“ (V. 74 ff.) Homburg „weiß“ jedoch, dass die nächtliche Begebenheit vom Kurfürsten inszeniert wurde, „mir ganz die Seele zu entzünden“ (V. 161). Als er den zurückbehaltenen Handschuh als den der Prinzessin Natalie identifiziert (V. 318 f.), kehrt er mit triumphierenden Schritten (!) in den Kreis der Offiziere zurück und nimmt des Feldmarschalls letzten (V. 313) bzw. nächsten Satz (V. 323) doppeldeutig auf bzw. vorweg: „Dann wird er die Fanfare blasen lassen!“ (V. 322, vgl. V. 339) Homburg ist sich seines Sieges, auch bei Natalie, sicher. Das zeigt er im Glücksmonolog (I,6): Der Handschuh ist ihm das vom Glück verliehene „Pfand“ (Unterpfand, Zeichen) des militärischen Sieges (V. 359 f.), wie er als Dingsymbol auch die ihm überlassene Hand der Prinzessin vorweg bedeutet.

Gesetzt wird das Thema durch Friedrich von Homburg. Gegen den fünffachen ausdrücklichen Befehl des Feldmarschalls bzw. des Kurfürsten und seines Schlachtplans (V. 293-473) beruft Friedrich sich auf die Order des Herzens, setzt sich über den Schlachtplan hinweg und greift die Schweden an (V. 474 f.); so reißt er Kottwitz mit (V. 478 ff.). Als neue „Parole“ gibt er aus: Ein Schuft, wer seinem General zur Schlacht nicht folgt (V. 492 f.). Der siegreiche todesmutige Angriff des Prinzen auf die schwedischen Schanzen kommt ebenfalls aus der Wut seines Herzens; er will den vermeintlich gefallenen Kurfürsten rächen (V. 545 ff.). Er wäre sogar bereit, sein Herzblut für das Leben des Kurfürsten hinzugeben (V. 568 f.; vgl. V. 873 sein Herz, das ihn treu liebt).

Danach folgt eine entscheidende Szene (II,6), die man nicht leicht würdigt, weil man die Regieanweisungen gern überliest: Friedrich begegnet Natalie allein (die Kurfürstin ist in Ohnmacht gefallen), legt ihre Hand gerührt an sein Herz (hinter V. 567); er nimmt erneut ihre Hand (hinter V. 580 – und sie lässt sie ihm, bis hinter V. 587) und verspricht ihr, ihre Sache zu übernehmen (V. 581) und des Kurfürsten Aufgabe zu verwirklichen (V. 585 f.). Dann schlägt er seinen Arm um sie (hinter V. 599), während sie sich an seine Brust lehnt (hinter V. 606): Er küsst sie zum ersten Mal (hinter V. 608). Diese Nähe kann man nur würdigen, wenn man bedenkt, wie die Hohenzollern in I,1 vor Friedrichs Wünschen zurückgewichen sind (hinter V. 64). Friedrich vergleicht sein Glück bereits mit dem Cäsars (V. 713 f.).

Über den ungehorsamen Angreifer verhängt der Kurfürst nach dem Sieg das Todesurteil (V. 715 ff.); denn er will nicht zufällig errungene Siege, sondern „dass dem Gesetz Gehorsam sei“ (V. 734). Er ist allerdings „betroffen“, als er hört, dass Friedrich die Reiterei angeführt hat (hinter V. 741). Als dieser völliges Unverständnis über das Todesurteil gegen einen Sieger äußert („Träum ich?“,V. 765; „verrückt“, V. 772), wiederholt Hohenzollern trotzig des Kurfürsten Begründung (V. 774). Dessen vermeintlich starrem römischem Pflichtideal setzt Friedrich „ein deutsches Herz“ entgegen (V. 777 ff. bzw. 784 ff.), um den Kurfürsten als herzlos zu bedauern.

Im Gefängnis glaubt Homburg noch an den Sieg des Herzens im Kurfürsten über das Bewusstsein der Pflicht (V. 820 f., V. 868), wobei er sich auf sein „Gefühl“ für den Kurfürsten verlässt (V. 868), sodass er und Hohenzollern eine sachfremde „Erklärung“ für des Kurfürsten Starrsinn suchen müssen und entsprechend finden: Friedrich werde als Liebster Natalies abgestraft, der ihrer Verheiratung nach Schweden im Weg stehe (V. 911 ff.). In einem Gespräch mit dem um sein Leben wimmernden, sogar auf Natalie verzichtenden Friedrich (III,5) ermutigt Natalie ihn: Sie nähert sich ihm trotzdem (legt ihre Hand in die seine), ermutigt ihn („Geh, junger Held…“, V. 1053), verspricht ihm Treue (V. 1058) und Fürsprache (V. 1060) und deutet erstmals den Tod als „Lebensmöglichkeit“ an: Der Tapfere wisse auch im Tod zu siegen (V. 1072 ff.). Diese Ermutigung durch Natalie, also durch die Sprache des Herzens und die Anrede an den jungen „Helden“ (V. 1053 ff.), leitet die Umkehr Friedrichs zu Mut und Vernunft ein, die er im zweiten Gespräch mit Natalie vollzieht (s.u.). Die Kurfürstin ist Natalie in dieser Weise, Friedrich anzusprechen, vorangegangen; sie hat ihn als „Mein teurer Sohn!“ (V. 1020) angesprochen und dann eine Forderung an ihn gestellt (V. 1038 f.): Die Stimme des Herzens ruft zur Erfüllung der Pflicht. – Es folgen drei große Gespräche, in denen der Widerspruch von Herz und Gesetz das Thema ist.

Natalie bittet beim Kurfürsten um Gnade (IV,1) für Friedrich, der die Schranke des Gesetzes durchbrochen hat (V. 1104). Der Kurfürst fragt dagegen, ob er den Spruch des Gerichts unterdrücken dürfe, ohne Tyrann zu sein (V. 1112 ff.). Während Natalie mit der Dialektik von Unordnung und Ordnung operiert (V. 1125 ff.), wo neben dem Kriegsgesetz auch die lieblichen Gefühle herrschen sollen, beruft der Kurfürst sich auf den Gegensatz von Willkür und Satzung (V. 1144). Als Natalie ihm berichtet, dass Friedrich geknickt ist („Ach, welch ein Heldenherz hast du geknickt!“, V. 1155), lenkt er ein: Falls dieser das Urteil für ungerecht hält, ist Friedrich frei (V. 1175 ff.), was er zum Schluss noch einmal bekräftigt (V. 1206 f.); denn er trage „die höchste Achtung“ für Friedrichs Gefühl (V. 1183 f.). Natalie selbst ist es, die die Kräfte seines Herzens erweckt hat: „Mein Töchterchen“ (V. 1092) hat er sie genannt, „Mein sü.es Kind!“ (V. 1122). Ich halte es für abwegig, hier ödipale oder ähnliche Dreiecke zu konstruieren, in denen der Kurfürst der besitzende Vater und Konkurrent Friedrichs wäre – in der Logik des Schauspiels ist hier Friedrichs Herz erwacht.

Im zweiten Gespräch, das Natalie mit Friedrich führt, erfolgt dessen entscheidende Veränderung (IV,4). Natalie bringt ihm die frohe Botschaft von seiner Begnadigung, was ihm wie ein Traum vorkommt (V. 1305). Doch dann kommt er zur Besinnung und zerreißt sein bereits aufgesetztes Bittgesuch, weil er begriffen hat: „Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!“ (V. 1342) Im Zögern und erneuten Lesen zeigt sich, dass er bereits zur Vernunft gekommen ist (V. 1322 ff.). So wird es ihm möglich, in Freiheit das selber zu wollen, was das Gesetz befiehlt – er unterwirft sich also dem Kategorischen Imperativ, wenn man es philosophisch sagen will: „Mir ziemt’s hier zu verfahren, wie ich soll!“ (V. 1375). Er erkennt seine Schuld an und will nicht um Begnadigung streiten (V. 1382 ff.). Da nennt Natalie ihn, der Herz und Vernunft in sich vereint: „Du Unbegreiflicher!“ (V. 1322), und küsst ihn zum ersten Mal: „du gefällst mir!“ (V. 1388). [Eine seltsame Verwechslung nicht seinem Herzen, sondern der Vernunft, zu der sie selber ihn geführt hat, vgl. V. 1053 ff.] – Der Kurfürst, Vertreter des Gesetzes, ist überhaupt nicht herzlos: Sein Herz ist bei den Dragonern, die scheinbar ohne Befehl ihre Stellungen verlassen haben, um bei ihm die Begnadigung Friedrichs zu erwirken (V. 1442). Bereits vorher hat Prinz Friedrich ihm bescheinigt, dass er ein großes Herz hat und entsprechend handelt, weil er Homburg selber zur ethischen, also vernünftigen Entscheidung ruft (V. 1342/44); hier verweisen also das Herz des Kurfürsten und die Vernunft des Prinzen, auf die der Kurfürst vertraut (vgl. V. 1156 ff.), aufeinander. Natalie dagegen folgt der Stimme ihres (kleinen) Herzens und kann den Schritt zur Vernunft zunächst nicht mitmachen (ab V. 1314), bis schließlich auch bei ihr Vernunft und Herz zueinander finden (Kuss und V. 1386 ff.).

Das dritte Gespräch führt der Kurfürst mit Kottwitz (V,5). Zunächst argumentiert Kottwitz, der die Bittschrift überreicht hat, militärisch, dass Homburgs Angriff sinnvoll gewesen sei, was der Kurfürst sowohl militärtaktisch (V. 1537 ff.) wie prinzipiell (V. 1561 ff.) zurückweist. Kottwitz setzt neu an und bringt vor, dass das höchste Gesetz nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern das Vaterland und der Kurfürst selbst sei (dem zu dienen dann nicht verwerflich sein könne, V. 1570 ff.); sodann verteidigt er die Empfindung (der folgend Homburg ungehorsam war) als das letzte Prinzip des Soldatischen, weil nur aus der Empfindung der Soldat sein Leben einsetzt (V. 1579 ff.). Gegen die zweite Argumentation ist der Kurfürst machtlos: „Es besticht dein Wort mich (…)“ (V. 1610 f.), auch wenn er dem theoretisierenden Kottwitz einen spitzfindigen Freiheitsbegriff vorwirft (V. 1619 f.). Im gleichen Gespräch wirft ihm Hohenzollern sogar vor, der Kurfürst selber sei daran schuld, dass Homburg die ganze Nacht in seinem Traumzustand befangen gewesen sei, weshalb er den Schlachtplan nicht habe aufnehmen können (V. 1623 ff.); der kontert, Hohenzollern seinerseits sei schuld, weil der ihn in den Garten gerufen habe (V. 1714 ff.). Dieses kleine Scharmützel am Rande zeigt nur, durch wie viele Ursachen unsere Entscheidungen mitbedingt sind – woraus sich die Frage ergibt, ob solche Teilursachen nicht unsere Freiheit beeinträchtigen, also unsere Schuld vermindern. Diese Frage wird aber nicht mehr diskutiert.

Gegen Kottwitz ruft der Kurfürst nun Homburg als seinen Rechtsbeistand auf: Der Prinz vom Homburg will den verhängten Tod erdulden (V. 1745), er will „das heilige Gesetz des Kriegs (…) durch einen freien Tod verherrlichen“ (V. 1750 ff.). Er bittet ausdrücklich den Kurfürsten um Vergebung (V. 1765 ff.) und erbittet als einzige Gnade, dass Natalie nicht um des Friedens willen nach Schweden weggegeben wird (V. 1779 ff.); das sichert der Kurfürst ihm zu, was Homburg metaphorisch als Geschenk des Lebens bewertet (V. 1794). Danach wird Homburg wieder ins Gefängnis geschickt; er reißt sich von Natalie los, und selbst der Appell an sein Herz kann ihn nicht daran hindern, der Stimme der Vernunft bis zum Ende zu folgen (V. 1804 ff.). Doch der Kurfürst kündigt das Ende des Waffenstillstands an und zerreißt das Todesurteil, nachdem er noch symbolisch die Zustimmung seiner Offiziere eingeholt hat (V. 1818 ff.). Diese Entscheidung hatte der Kurfürst aber bereits vor dem Gespräch mit Kottwitz getroffen, nachdem er Homburgs Brief gelesen hat – warum er so entschieden hat, bleibt letztlich unklar, wenn es vermutlich auch durch Homburgs Brief und die darin anerkannte Geltung des Gesetzes (mit) bestimmt ist (V. 1479 ff.). Vermutlich hat auch sein Herz, das ja auf Seiten der um Begnadigung bittenden Soldaten steht (V. 1442, s.o.), ein Wort mitgesprochen, sodass in seiner Entscheidung Gesetz (Brief Homburgs) und Herz (Brief der Soldaten) miteinander versöhnt wären.

Diese Entscheidung und die große, zu Beginn erträumte Ehrung Friedrichs kann der Prinz von Homburg nicht verstehen – ihm kommt sie wie ein Traum vor (V. 1855). Muss sie deshalb auch dem Leser wie ein Traum, also als nicht zureichend begründetes happy end vorkommen? Da in dieser Entscheidung das Herz sich mit der Vernunft einigen muss, bleibt das Wort des Herzens unwägbar. Dass Kants rigoroser Kategorischer Imperativ auch im Konflikt sich mit der Stimme des Herzens versöhnen kann, ist philosophisch in der Tat ein Wunder – oder, mit Homburg und Kleist zu sprechen – in der Wirklichkeit ein Traum: eine Utopie des gelingenden Lebens wie auch des menschlichen Herrschens, die am Schluss des Stücks wie ein Märchenende sich zeigt.

Über den Unterschied zwischen Herz und Vernunft

Ein Problem des 18. Jahrhunderts ergab sich aus der allmählichen Auflösung der Ständegesellschaft: Da waren Gelehrte und dann „Schöngeister“ bemüht, einen tragenden Grund für die Außenseiter zu finden, die nicht mehr in den Gewissheiten eines Standes leben konnten. Als solche Grund-Begriffe kam man auf Vernunft und Natur (was auch immer das sein mochte), dann auch auf das Herz (in der Zeit der so genannten Empfindsamkeit“). Mit „Herz“ ging man auf persönliche Beziehungen und das Leben im kleinen Kreis zurück, auf „Gemeinschaft“, nach deren Vorbild man das Leben im Großen, in der Gesellschaft gestalten wollte.

Zunächst ist zu unterstreichen, dass Herz und Vernunft nicht zwei Dinge sind, die irgendwo im Menschen sitzen – Herz ist der Mensch selber, soweit er persönliche Neigungen hat, Abneigung und Zuneigung; Vernunft ist der Mensch selber, soweit er für das Allgemeine, das Ganze offen ist und vernimmt, was gültig ist. In dem Sinn ist das Herz „jung“, warm und spontan, die Vernunft „alt“, kühl und bedächtig abwägend. Man kann sich vom Herzen oder von der Vernunft leiten lassen; dann tut man das, was man möchte (der Neigung folgen), oder das, was man tun soll (dem Gesetz als dem allgemein Geltenden folgen); man tut, wozu man Lust hat, oder man erfüllt seine Pflicht. Den Unterschied erkennt man daran, dass man sich zwar auf „mein Herz“, aber nicht auf meine Vernunft“, sondern immer auf „die Vernunft“ beruft. Die Hochschätzung des Herzens war das Markenzeichen der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang; Verteidigung des Verstandes bzw. der Vernunft (dazu unten mehr) war Merkmal der Aufklärung. Zudem war das Herz der privaten Menschlichkeit, das Gesetz der Sphäre des Hofes zugeordnet (Karl Eibl zu Lessings „Emilia Galotti“: „Im Herrschaftszentrum bleibt das Herz ein Verwirrung stiftender Fremdling.“) – In der Deutschen Klassik suchten Goethe und Schiller einen Ausgleich von Vernunft und Herz zu gestalten; bekannt ist Schillers vordergründige Polemik gegen Kant und dessen Pflichtbegriff, die er ironisch „Gewissensskrupel“ überschreibt:

Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

In der Romantik bemerkte man die (Un)Tiefen von Herz und Vernunft, ihre Dissonanzen.

Die Stichwortsuche (+ Empfindsamkeit +Herz) ergab:

http://www.momo-lyrik.de/history.htm#D1 (dort: Empfindsamkeit, dort: Entdeckung des Herzens)

http://www.goethezeitportal.de/digitale-bibliothek/forschungsbeitraege/autorenkuenstler-

denker/oeser-adam-friedrich/john-oeser/john-oeser-empfindsa.html (Oeser als Autor der Empfindsamkeit – interessante Details und Hintergründe)

http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/h-k/2003/lauer_ueber_klopstock.pdf (Klopstock und die Literatur der Empfindsamkeit)

Um 1800 unterschied man auch (bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter) zwischen Verstand und Vernunft: Der Verstand ist das Vermögen, seinen eigenen Zielen (Neigungen) die passenden Mittel und Wege der Verwirklichung zu suchen und zu schaffen (wie Kottwitz in V. 1578) – egal, was die Vernunft über ihre Berechtigung sagt. Die Vernunft ist dann das Vermögen, auch die Verstandesurteile und -leistungen noch einmal zu bedenken sowie zu prüfen, ob das allgemein Geltende auch das wirklich Gültige ist. Im Stück „Prinz Friedrich von Homburg“ übernimmt teilweise das Herz diese kritische Aufgabe der Vernunft: Das Herz des Prinzen setzt sich über die Satzung (Vorschrift) des Kurfürsten hinweg, weil sie ihm in der Schlacht nicht mehr als gültig erscheint. Die Kritik des Geltenden muss jedoch nicht immer zu vernünftigen, gültigen Ergebnissen kommen, sie kann auch zu Willkür und Eigensinn führen (vgl. V. 1112 ff. und V. 1125 ff.). Die Verteidiger des Herzens meinen dagegen, „die lieblichen Gefühle“ (V. 1130) hätten ihre eigene Logik und ihre eigene Wahrheit aus Intuition (heute sagt man Bauchgefühl). Die Wünsche des Menschen Friedrich von Homburg bestimmen auch sein Handeln als General oder Soldat – dagegen wehrt sich der Kurfürst zunächst mit guten Gründen – das Problem des Stücks besteht auch darin, aus welchem Grund der Kurfürst seine Kritik an Homburg aufgibt.

Die Überlegenheit der tierhaft-leibhaften Intuition über den bloßen Kopf-Verstand (nicht über die Vernunft!) zeigt Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater“. Dort geht es um die Frage, ob in der Geschichte der Menschheit Verstand und Intuition zusammenkommen können. – Kleist unterscheidet, soweit ich sehe, nicht zwischen Verstand/Vernunft, was dann leider die Diskussion nicht klarer macht. Auch im Stück Prinz Friedrich von Homburg“ nennt er nicht (wie ich) die Vernunft, sondern das, was sich ihr darbietet: das Gesetz, und die entsprechende Verpflichtung (was ich tun darf, V. 1105 f., was ich tun soll, V. 1375 f.).

P.S. Die einfache Gegenüberstellung von Herz-Gesetz reicht philosophisch nicht aus, man muss das Verhältnis dialektisch denken. Die Berufung auf Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ ist nicht genug durchdacht: Dem zweiten Stadium folgt das künftige dritte Endstadium, in dem die reflektierte Naivität gewonnen wird. Zu diesem Problem lese man Michael Landmann: Primum und Iterum. In: Das Ende des Individuums. Klett: Stuttgart 1971, S. 87 ff.Thema

Vgl. http://www.weissenseeverlag.de/autoren/Askarian/Askarian_153/askarian_153_kurz.pdf

 

Kleist: Prinz Friedrich von Homburg – kommentierte Links

Im 1. Akt wird als Thema die Frage vorgegeben, ob des Prinzen Träume von Ruhm und Glück verwirklicht werden. Dem steht entgegen, dass die Stimme des Herzens nicht das Gleiche sagt wie der Befehl, das Gesetz des Krieges. Die beiden ersten Schritte zum Glück sind der Sieg in der Schlacht bei Fehrbellin und die Verlobung mit Natalie. Erst als der trotz seines Sieges zum Tod verurteilte Friedrich von Homburg durch Natalies Hilfe (III,5) und das Entgegenkommen des Kurfürsten (Brief IV,4), also durch die Kraft der Herzen zur Vernunft kommt und sich aus eigener Entscheidung, also frei dem Gesetz unterordnet und das Todesurteil bejaht, wird er begnadigt, ist der Weg zur vollkommenen Verwirklichung seines Traums frei.

Hier stehen die derzeit greifbaren brauchbaren Links zu Inhalt und Interpretation von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“:

Inhalt

http://www.klassiker-der-weltliteratur.de/prinz_friedrich_von_homburg.htm (zu knapp, einige Ungenauigkeiten)

http://cornelia.siteware.ch/literatur/litzusammenfassungen/prinzhomburg.html (ausführlicher, deutlich besser, aber auch nicht ganz exakt; Ansätze zur Deutung vorhanden)

http://de.wikipedia.org/wiki/Prinz_Friedrich_von_Homburg (recht solide)

http://www.haranni-gymnasium.de/www/filebase/Faecherportal/deutsch/Kleist%20Prinz%20Friedrich%20von%20Homburg.pdf (Inhalt ausführlich; Interpretationsaspekte sind zu knapp gehalten, nur zur Erinnerung an erlebten Unterricht gedacht)

http://www.fabritianum.hsnr.de/Material/indexneu.php?dir=Deimel%2FLK+DEUTSCH+ABI+2011%2FMATERIALIEN%2F&download=MAT_28_Portfolio_Wissensabfrage_PvHomburg.doc (interessantes Portfolio einer Schule: Fragen und Antworten)

Deutung (Analyse, Interpretation)

Bei der Deutung (Interpretation) des Stücks „Prinz Friedrich von Homburg“ sollte man vier Fragen auseinander halten, ohne sie voneinander zu trennen:

1. Wie kann man bzw. Friedrich von Homburg Wunsch (Traum) und Wirklichkeit miteinander verbinden? „Traum“ ist ja das thematische Stichwort, welches das Stück von I,1 bis V,11 beherrscht.

2. Wie kann sich der Anspruch des „Sohnes“ (Friedrich) auf Selbständigkeit mit dem Anspruch des „Vaters“ (Kurfürst) auf Gehorsam vor dem vom Vater vertretenen „Gesetz“ vertragen? Und darf der Sohn noch zu Lebzeiten des Vaters nach dessen Halskette (Symbol der Macht) greifen? [Ist das nicht die psychoanalytisch verengte Formulierung der dritten Frage?]

3. Wie steht es um das Recht des Herzens gegenüber dem Gebot des Gesetzes?

4. Verändern sich die Figuren (oder Friedrich allein) in den durch die drei Fragen benannten Bereichen im Verlauf des dramatischen Geschehens?

* Was hiermit noch nicht bedacht ist, ist die fünfte Frage, wie das Stück in die damalige politische Situation Preußens passt (bzw. hineinwirken sollte).

Diese vier Fragen sollte eine gute Interpretation des Stücks behandeln; der fünften Frage kann man sich vielleicht im Leistungskurs stellen.

http://www.kleist.org/umat/grindl.pdf (Examensarbeit über eine Unterrichtsreihe – für Schüler interessant: Inhalts- und Strukturanalyse, eher traditionell und einfach, an Jochen Schmidt angelehnt, S. 8-18)

https://norberto42.wordpress.com/2011/12/08/kleist-prinz-friedrich-von-homburg-thema-herz-gesetz/ (meine Untersuchung: Widerspruch zwischen der Stimme des Herzens und dem Gebot des Gesetzes, der Pflicht)

https://norberto42.wordpress.com/2011/12/13/homburgs-traum-und-natalies-handschuh-im-1-akt-prinz-friedrich-von-homburg/ (meine Untersuchung: Traum und Handschuh im 1. Akt)

https://norberto42.wordpress.com/2011/12/14/traum-und-wirklichkeit-im-2-5-akt-kleist-prinz-friedrich-von-homburg/ (Fortsetzung: 2. – 5. Akt)

https://norberto42.wordpress.com/2011/12/16/prinz-friedrich-von-homburg-der-kurfurst-als-figur/ (meine Untersuchung: Figur des Kurfürsten, Personenkonstellation)

http://www.weissensee-verlag.de/autoren/Askarian/Askarian_153/askarian_153_kurz.pdf (über Gesetz und Gnade in „Prinz Friedrich von Homburg“ und „Wilhelm Tell“)

http://dokumente-online.com/kleist-ausarbeitung-zum-referat-prinz.html (großes Referat: Prinz Friedrich von Homburg)

http://hrachovec.philo.at/kleist/kleist.html (tiefenpsychologische Deutung des Stücks, basierend auf dem Gegensatz von Traumwelt und „Realität“; sehr anspruchsvoll – man müsste sich lange mit dieser Deutung auseinandersetzen, um sie sowohl psychologietheoretisch wie auch auf Textverständnis zu prüfen. Übersicht über Veröffentlichungen des Prof. Hrachovec: http://hrachovec.philo.at/node/5)

http://hinrich-luehmann.de/app/download/3746135402/Lühmann+1991+Prinz+von+Homburg.pdf (H. Lühmann: ebenfalls eine tiefenpsychologische Interpretation, um die man wegen des Traumrahmens wohl nicht herumkommt, aber theoretisch und gedanklich einfacher als die vorhergehende – für Schüler verständlich)

http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/-/id=8711294/property=download/nid=660374/wac0q3/swr2-wissen-20111117.pdf (Sendung des SWR über „Prinz Friedrich von Homburg“)

http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/eibl_drama.pdf (Karl Eibl: Grund zum Leben –  Grund zum Sterben, thematisch: im 18. Jh. und bei H. von Kleist)

http://www.uibk.ac.at/germanistik/mitarbeiter/neuhaus_stefan/lehre/dissertation_kleist.pdf Dramaturgie des Subjekts bei Heinrich von Kleist (Dissertation, sehr gelehrt)

http://ir.nul.nagoya-u.ac.jp/jspui/bitstream/2237/9078/1/11清水.pdf (eigenwillige Deutung des Prinzen Friedrich und des Kurfürsten; Beziehung Kleists zur preußischen Armee)

http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/kleist/homburg_hamacher.pdf (Forschungsgeschichte bis 1998 – nur für belesene Lehrer interessant)

http://www.zeit.de/2001/36/zeit5036.xml (ZEIT-Artikel von 1951: Deutung Kleists aus seiner Zeit)

Materialmappen

http://bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/bildung-rp.de/medienbildung/Ohrenspitzer/Texte/Texte_Handreichungen/PrinzFriedrichVonHomburg.pdf (Handreichung für den Unterricht im Kontext eines ARD-Hörspiels: Biografie Kleists; vorsichtige Deutung des Stücks, S. 4-9, bei konzentriertem Lesen für Schüler verständlich; Hintergründe zur Interpretation ab S. 10, für Lehrer gedacht, dazu Arbeitsblätter)

http://www.muenchner-volkstheater.de/Presse/Schulmaterial/Schulmaterial_Prinz_von_Homburg.pdf (Kleists Leben, das Geschehen die Figuren, die Inszenierung: gegenüber dem bisher Besprochenen kein Fortschritt)

http://www.landestheater-detmold.de/fileadmin/theaterpaedagogik/Mappen/Materialmappe_Prinz_von_Homburg.pdf (eher knapp)

Heinrich von Kleist

http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_von_Kleist

http://www.schul-wissen.de/deutsch/heinrich-von-kleist-biographie-lebenslauf

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15802 (Kleist und seine Dichtung)

http://www.deutsche-biographie.de/sfz45881.html (sehr ausführlich: „Deutsche Biographie“, mit Aspekten einzelner Werke)

Außerdem

http://www.kleist.org/ (Da gibt es vieles zu entdecken!)

http://www.guenther-emig.de/hvk/index.php/de/startseite (neue Seite des Kleist-Archivs, noch im Aufbau)

http://www.heinrich-von-kleist.org/kleist-jahr-2011/ (Kleistjahr und -museum)

Kleist: Penthesilea (Geschehen, Frage nach dem Wahnsinn)

Bericht von der ersten Lektüre des Dramas (Inhalt, Eindrücke) – angeregt durch Korffs Lobeshymnen (Geist der Goethezeit, Bd. IV, 2. Aufl. 1955, S. 39 ff.): Ein Drama sei Sinnbild des Schicksalhaften im Leben, womit die immanente, für das Gefühl spürbare Zwangsläufigkeit des Geschehens gemeint sei; die Gewalt müsse bis zum Ende gesteigert werden. „Penthesilea“ sei in dem Sinn eines der ganz großen Dramen mit einer dreifachen Wende von der amazonenhaften Kampfbegier zur überraschenden Liebesbegier, zur Rachewut nach dem vermeintlichen Liebesverrat Achills und zum Selbstvernichtungswillen nach der Erkenntnis ihrer Untat. – Derart vorbereitet lese ich das Drama und stelle die einzelnen Auftritte vor.

1. Auftritt: Drei griechische Könige besprechen die Situation des Kampfes. Odysseus berichtet von der Ankunft der Amazonen und deren unerwarteten Kampf gegen die Trojaner; vom eigenen Versuch, mit den Amazonen sich zu verbünden, wobei Penthesilea vom Anblick Achills auffällig (wie eine Verliebte) betroffen war; vom erneuten erfolgreichen Kampf der Amazonen, in dem Penthesilea einmal Achill das Leben rettete. – Antilochos berichtet vom Rat Agamemnons, sich vorläufig zurückzuziehen, worauf Odysseus die Kampfwut Achills gegen Penthesilea ins Spiel bringt; Diomedes schlägt vor, Achills Widerstand gegen den Rückzug auf die eine oder andere Weise zu brechen.

Den Gang des Geschehens wird voraussichtlich Penthesileas Neigung zu Achill bestimmen.

2. Auftritt: Der eintreffende Hauptmann Adrast berichtet den Königen, dass Achill sich erneut in den Kampf warf, dass dessen Wagen dabei umstürzte, dass Penthesilea unbedingt über einen Abhang zu ihm vordringen wollte, dass Achill noch fliehen konnte, aber seitdem verschwunden und wohl gefangen ist. – Odysseus gibt die Parole aus, auf jeden Fall Achill zu befreien.

Die Lage Achills verlangt nach Klärung.

3. Auftritt: Hauptmann und Griechen stehen auf einem Hügel. Ein Myrmidone berichtet, wie er Achill auf seinem Wagen in rasender Fahrt kommen sieht, verfolgt von den Amazonen; wie Penthesilea ihn fast einholt, aber stürzt; wie Achill entkommt. – Die griechischen Könige und Truppen tauchen auf und nehmen Achill begeistert in Empfang.

Es ist Ruhe eingekehrt – etwas Neues muss das weitere Geschehen anstoßen.

4. Auftritt: Achill, die Könige und das Griechenheer: Während der verwundete Achill behandelt wird, preisen die Könige ihn als Sieger; Odysseus erklärt den Schlachtplan – Achill wirkt abwesend und muss sich erneut erklären lassen, wie die Griechen die Amazonen in die Zange nehmen wollen. Der aber tut kund, er suche den direkten Kampf mit Penthesilea, und bricht auf.

Achill spricht vom Kampf in Worten der Brautwerbung, er wolle die Dame „Auf Küssen heiß von Erz“ in den Arm nehmen und sie zu seiner Braut machen, indem er sie zu Tode hinter sich schleift. Damit ist undeutlich angedeutet, was zu erwarten ist.

5. Auftritt: Penthesilea mit Fürstinnen und dem Amazonenheer: Sie will unbedingt Achill bezwingen, da sie im Kampf verwirrt von ihm gelassen habe; Prothoe rät von weiterem Kämpfen ab – Penthesilea wirkt abwesend und fremd. Asteria rät zur Fortsetzung des Kampfes; Penthesilea verstößt Prothoe und nimmt sie dann wieder herzlich auf. Als Achill naht, machen sich die Amazonen zum Kampf bereit: „Rosen für die Scheitel unsrer Helden / Oder Zypressen für die unsrigen.“ Die Rosen sollen am Rosenfest über die Besiegten gestreut werden (anstelle von Ketten), Einzelheiten des Rosenfestes bleiben unklar.

Es läuft alles auf den Zweikampf Penthesileas mit Achill hinaus.

6. Auftritt: Die Oberpriesterin der Diana, Mädchen mit Rosen in Körben, gefangene Griechen: Die Oberpriesterin tadelt die Mädchen, dass sie nicht mehr Rosen gepflückt haben. Die Mädchen schicken sich an, Kränze aus Rosen für bestimmte Griechen zu flechten. Die Gefangenen werden als „Gäste“ bezeichnet und nach ihren Wünschen gefragt. Ihnen wird angekündigt, dass sie zum Tempel der Diana geführt werden sollen, „In ihren dunkeln Eichenhain, wo eurer / Entzücken ohne Maß und Ordnung wartet!“

Dieses Geschehen kommt einem Griechen wie ein Traum vor, dem Leser ebenfalls.

7. Auftritt: Hinzu kommt eine Hauptmännin, die berichtet, dass die Schlacht noch tobt; die Oberpriesterin berichtet dagegen, Penthesilea habe im Kampf bereits angeordnet, das Rosenfest vorzubereiten (ein Missverständnis seitens der Priesterin?). Die Mädchen berichten dann vom Hügel aus, was sie sehen: den leuchtenden Achill. Die Priesterin ordnet an, man solle im Namen der Göttin Penthesilea melden, sie solle zu kämpfen aufhören. Nebenher berichtet die Hauptmännin zum Entsetzen der Priesterin vom Gerücht, Penthesilea sei von Amors Pfeil getroffen. Die Botin kommt zurück – Prothoe hat den Gehorsam verweigert und fordert die Priesterin auf, für den Sieg über Achill zu beten. Dieser schwant nichts Gutes.

Die Lage ist verworren und offen, sie verlangt nach Klärung.

8. Auftritt: Eine Oberste kommt hinzu und berichtet vom Kampf zwischen A(chill) und P(enthesilea); dass P unterlegen ist; dass A sie verschont hat, weil sie ihn so eigentümlich angeblickt hat; dass A nicht angegriffen worden ist, weil P das verboten hatte; dass er Frieden angeboten hat. Die Königin kommt selbst.

Auch A ist offenbar von Liebe bezwungen (vgl. 1. Auftritt) – es bahnt sich Neues an.

9. Auftritt: P befiehlt den Kampf gegen A; sie verteidigt sich: „Ist’s meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht / Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben?“ Sie will jedoch den Rückzug antreten. Sie verflucht ihren Befehl, das Rosenfest vorzubereiten. Als A naht, will sie bleiben – lieber sterben als „ein Weib sein, das nicht reizt“. Sie verflucht ihre Kampfgefährtinnen; Prothoe bleibt bei ihr. Sie soll den Rückzug antreten, kann aber nicht: „Mein Alles hab ich an den Wurf gesetzt…“ – alles, was P anordnet und will, ist verworren; sie phantasiert offensichtlich von gigantischen Vorhaben,  da erscheint A.

Die Situation spitzt sich zu und heischt eine Entscheidung.

10. Auftritt: Die Amazonen fragen, ob sie auf A schießen sollen. Prothoe befiehlt zu schießen, ihn aber nicht tödlich zu treffen. Man sorgt sich um die verwundete Königin.

Die Entscheidung wird kurz hinausgezögert.

11. Auftritt: A kommt ohne Waffen, im Gefolge einiger Griechen. Er bekennt sich als „getroffen“. Große Verwirrung unter den Amazonen, Bereitschaft zum Kampf, eine Fürstin schießt auf A und wird selbst getroffen. A kann nicht glauben, dass er als Waffenloser angegriffen werden soll.

Die Entscheidung wird kurz verzögert.

12. Auftritt: Diomedes und Odysseus kommen mit Griechen; die Griechen wollen angreifen, doch A stößt sie zurück. „Der Peleid ist’s, dem sie angehört“, sagt Prothoe. Die Griechen machen sich an die Verfolgung der Amazonen.

Jetzt kann die Klärung beginnen.

13. Auftritt: Man kümmert sich um die verwundete P. Prothoe bittet A zu gehen, damit P nicht höre: „Du bist die Kriegsgefangene Achills.“ A gesteht, dass er P liebt und sie zu seiner Königin machen will. Die Männer müssen sich verstecken, bis Prothoe sie ruft, wenn sie mit P gesprochen hat.

Es wird spannend.

14. Auftritt: P erwacht, wird von Prothoe begrüßt. P hält ihr Erleben im Kampf für einen Traum. Sie will keinen Mann, „Den mir das Schwert nicht würdig zugeführt“. Sie ist beunruhigt, weil sie die Situation nicht durchschaut. Sie erblickt A und will ihn töten. Prothoe führt sie zur Wahrheit; A bekennt sich als Gefangener „in jedem schönren Sinn“. P begrüßt ihn als jungen Gott und befiehlt, das Rosenfest zu eröffnen. Prothoe will sie wieder auf den Boden zurückholen; doch P eröffnet eine neue Zeit: „Der Mensch kann groß, ein Held, im Leiden sein, / Doch göttlich ist er, wenn er selig ist!“ Prothoe soll nach P.s Willen den von ihr bezwungenen Lykaon wider alle Gewohnheit sofort bekommen. Prothoe belügt P bezüglich der herumliegenden Rosen; sie flechten sich gegenseitig den Rosenkranz. A versteht nichts; Lykaon ist gerufen und soll gleich kommen.

Es scheint ein großes Friedensfest zu geben – oder der Umschwung steht bevor.

15. Auftritt: A und P im Liebesgeturtel, P umwindet ihn mit dem Rosenkranz. Sie schenkt ihm einen Ring und will in die Heimat aufbrechen, A soll bei den Gefangenen bleiben. Die Fürstinnen bestimmen sie, auf das bald kommende Heer zu warten. Da fragt A sie, warum sie nach Troja gekommen und sich in den Kampf eingemischt hat. Sie offenbart ihr Lebensgesetz („der ersten Mütter Wort“), das auf dem mythischen Geschick ihrer Vorfahren beruht: Es wurde ein Frauenstaat der Amazonen gegründet, ihnen fehlt die recht Brust; gelegentlich fangen sie Männer, feiern das Rosenfest  und schicken sie nach erfolgter Befruchtung wieder heim. A fragt: und mich? Sie erzählt vom Auftrag ihrer Mutter Otrere, den Achill zu fangen; A war „mein e’wger Traum“. Beim ersten Anblick sei er ihr wie Mars persönlich erschienen. P will aufbrechen, als man Kriegslärm hört. P will ihn mit nach Themiscyra nehmen, er will sie nach Pthia führen: „Zwar durch die Macht der Liebe bin ich dein, / (…) Doch durch der Waffen Glück gehörst du mir;“ P wehrt sich dagegen, sein Gefangene zu sein, und ruft die Himmelsmächte an.

Im Augenblick der Erfüllung wendet sich das Geschick.

16. Auftritt: Ein griechischer Hauptmann ruft A zu Hilfe; der reißt sich die Rosenkränze ab und greift nach den Waffen. Er will P ins Griechenlager bringen lassen; P ist außer sich.

Der Konflikt spitzt sich zu.

17. Auftritt: P und A streiten unter Zeitdruck, wohin es gehen soll, nach Themiscyra oder nach Pthia.

18. Auftritt: Die Amazonen kommen und trennen die beiden, Odysseus reißt Achill mit sich fort.

Es geht alles rasend schnell, ohne Vernunft und Besinnung.

19. Auftritt: Sieg der Amazonen, P fühlt sich als Gefangene A.s; die Oberpriesterin macht der Königin Vorwürfe, weil jene die erbeuteten Gefangenen leichtfertig verspielt hat. P ist erschüttert.

20. Auftritt: A.s Herold kommt und fordert P zum Zweikampf heraus, damit das Schwert entscheide, wer wessen Gefangener ist. P ist fassungslos; Prothoe rät, den Kampf abzulehnen. P will sich unbedingt dem Gegner stellen; doch die Amazonen sind erschöpft und wollen nicht mehr kämpfen. P rast, alle wollen sie halten. Ein Gewitter tobt. Die Oberpriesterin wendet sich hilflos an die Götter.

Das Unheil naht.

21. Auftritt: A gesteht Diomedes, dass er P liebt und dass er sie zum Zweikampf aufgefordert hat, um ihr zu unterliegen und dann folgen zu können; nach zwei Monaten sei er wieder frei, vielleicht folge sie ihm dann nach Griechenland. Odysseus widersetzt sich diesem Vorhaben heftig. Da kommen die Amazonen mit dem ganzen Kriegsvolk; A vertraut noch auf einen bloßen Zweikampf.

Die rasende P hat A.s Angebot der Aussöhnung nicht verstanden, Unheil droht.

22. Auftritt: Die Oberpriesterin will die rasende P mit Stricken fesseln lassen. Es wird berichtet, wie A im Kampf zu Boden stürzt und P mit ihren Hunden die Glieder A.s in Stücke reißt.

Entsetzliches Unheil ist geschehen.

23. Auftritt: Meroe berichtet, wie A arglos als Einzelner kam, um sich besiegen zu lassen; wie P ihm einen Pfeil durch den Hals schoss; wie sie die Hunde auf ihn hetzte und ihn in Stücke riss; obwohl er sie als Braut ansprach, biss sie ihm tierisch in die Brust. Priesterinnen kennen die alte P nicht wieder, sie sehen jene als Tochter der Gorgo [Schreckgestalt mit Schlangenhaaren, deren Anblick versteinern macht] an. P ist schweigend zurückgeblieben.

Unbegreifliches ist über P und die Menschen hereingebrochen. Was wird P tun, wenn sie wieder zur Vernunft kommt?

24. Auftritt: Oberpriesterin und Prothoe sagen sich von P los; diese will die Leiche der Oberpriesterin zu Füßen legen lassen. P reinigt den Pfeil vom Blut A.s und bricht zusammen. Man kümmert sich um P; P reinigt sich mit Wasser – sie glaubt sich bereits verstorben. Sie ist verwirrt und weiß nur, dass sie geschossen hat: „Und gilt’s den Meisterschuß ins Herz des Glückes, / So führen tück’sche Götter uns die Hand.“ Sie will nicht wissen, wer A getötet, sondern nur, wer ihn verunstaltet hat; den Entstellten will sie rächen. Sie kann nicht glauben, dass sie selbst es war, und erfährt stückweise die Wahrheit. „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen.“ Sie habe sich offenbar „bloß versprochen“ und küsst nun die Leiche A.s. Darauf sagt sie sich „vom Gesetz der Fraun“ los, will A in den Tod folgen und tötet sich. – In kurzen Wortwechseln zumeist hat sich dieses Gespräch entwickelt. Die Oberpriesterin klagt zum Schluß: „Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!“ Prothoe hat das letzte Wort: „Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! / Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,  / Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, / Weil er in ihre Krone greifen kann.“

So ist es, ein Sturm brach über die Menschen herein; zwei Liebende sind tot.

Was jetzt als erstes zu untersuchen wäre, ist die Frage: Wie brach der Wahnsinn aus, wie kam er über P?

http://de.wikipedia.org/wiki/Penthesilea_(Kleist) (gute Übersicht)

http://www.obib.de/Philosophie/GuW.html (Gewalt und Weiblichkeit – Magisterarbeit)

http://www.textem.de/1818.0.html (Besprechung eines Kleist-Handbuchs – es geht mir mehr um den Hinweis auf das Handbuch)

http://de.wikisource.org/wiki/ADB:Kleist,_Heinrich_von (Biografie)

http://www.adk-ulm.de/downloads/penthesilea.pdf (Nachbereitungsheft eines Theaters)

http://www.fachdidaktik-einecke.de/4_Literaturdidaktik/konfliktanalyse_drama_penthesilea.pdf (Beispiel einer Konfliktanalyse, wie sich im 7. Auftritt der Wahnsinn zeigt)

http://www.staff.amu.edu.pl/~macbor/convivium/archiv/2010/2010_pdf/02_Schuette_Convivium_2010.pdf (Aggressivität in der Literatur)

http://www.naturars.de/public/DB_Data/files/Downloads/naturArs-Briefe.pdf (zu Kleist: S. 3 ff.)

Korff bespricht und deutet das Drama unter dem Aspekt „Das Urmotiv der Kleistischen Dichtung“ (a.a.O., S. 47 ff.). Im Kanterlebnis sei Kleists Glaube an die Kraft der Vernunft zerbrochen; ihm sei nur geblieben, uns selbst als Wirklichkeit zu glauben und in den Tiefen des Gefühls die Wirklichkeit zu erfassen. Das nennt Korff „metaphysischer Realismus“. Daraus ergibt sich als Grundproblem die Gefühlsverwirrung der Menschen wie des Dichters (S. 59). Sicherheit des Gefühls trotz aller scheinbaren Verwirrung sei das Grundthema von Kleists ersten Dramen und ihrer weiblichen Protagonisten Alkmene, Käthchen und Penthesilea (S. 60).

Auch Penthesilea zeige in ihrer Verrücktheit eine tiefere Vernunft (S. 65): Sie will Achill mit Männerwaffen überwinden, aber auch als Weib seine Liebe erringen; es liege also ein Liebeskampf vor. Penthesilea beginne in einer Gefühlsverwirrung, die aus der Unnatur des Amazonentums resultiert, und gelange im dramatischen Geschehen zu einer Gefühlsentwirrung (S. 66): Im Triumph der Leidenschaft befreit sie sich von der Widernatürlichkeit des Amazonentums (S. 67). Als das Geschehen zu einem sinnvollen Ende zu kommen scheint, wird es durch Zufälle und Missverständnisse um seine Vernunft gebracht (S. 68). Aus der Amazone war mühsam das liebende Weib geworden, das sich dann in eine von den Kräften der Amazone getriebene Furie verwandelt. Im Augenblick höchster Unvernunft, als sie den Geliebten wie eine Hündin zerfleischt, komme die absolute Liebe Penthesileas ans Ziel: Nicht der Liebesbund, sondern der Liebestod sei die Erfüllung ihrer Liebe, dem sie aus Wahn entgegengetrieben wird. Als sie ihren eigenen Irrtum erkennt, sieht sie, dass sie sich in Achills Liebe nicht getäuscht hat (S. 69). Sie hat ihn nur aus „Versehen“ mit den Zähnen zerrissen; sie war nicht so verrückt, als es wohl scheinen mag (S. 70). „In diesem Tode des Achill, der zugleich ihr eigener ist, hat sich das Leben der Penthesilea ganz und gar erfüllt. Mit diesem Tode mündet ihre absolute Liebe, die in der Bedingtheit des Endlichen keine Stätte haben kann, ins Absolute, ihre Heimat.“ (S. 69)

Allgemein: http://www.heinrich-von-kleist.org/

H. von Kleist: Die Marquise von O… – Aufbau, Erzähler, Thema

(Ausgabe: Sämtliche Erzählungen und Anekdoten, dtv 2033, 1978 = Carl Hanser Verlag 1977)
Der Erzähler berichtet zuerst von der „sonderbaren“ (104/8) Annonce und stellt danach kurz die Marquise vor (104/7-11). Auch die einige Jahre umfassende Vorgeschichte (104/11-20) nutzt der Erzähler, die Protagonistin als eine ehrbare, tüchtige Witwe darzustellen.
– Krieg und Eroberung der Festung  (ca. 1 Woche?), 104/20 – 105/7
– Bedrohung und Rettung der Marquise durch den Grafen (ca. 1 Stunde?), 105/8  – 106/5
– Übergabe und Rettung der Festung, Bestrafung der Soldaten, Abzug der Truppen (ca. 1 Tag?),  106/6  – 108/15
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Die Familie tritt in den Vordergrund:
– Sie will dem Grafen danken, hört von seinem Tod, die Marquise vergisst ihn (mehrere Monate),  108/16 – 109/2.
– Die Familie zieht in die Stadt („nun“ 109/3.9), Übelkeit der Marquise (= M.), „eines Morgens“ Gespräch mit der Mutter (beinahe zeitgleich: 109/17-32), 109/3  – 109/32
– „Bald darauf“ erscheint der Graf, wirbt um die M., wird hingehalten, verschiebt seinen militärischen Auftrag, reist nach vorsichtiger Zusage ab (1/2 Tag), 109/33 – 119/26.
– Nach mehreren Wochen: Unpässlichkeiten der M.,  nach mehreren Tagen vom Arzt untersucht (1/2 Stunde), 119/27 – 120/32
– Gespräch der M. mit ihrer Mutter (1 Stunde), 120/33 – 123/28
– Untersuchung durch Hebamme, Mutter verflucht M. , Gespräch mit der Hebamme (ca. 1 Stunde), 123/29 – 124/35
– dramatische Verstoßung der M., Aufbruch (2 St.?), 124/36 – 126/3
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– Die M. richtet sich in ihrem Haus und in ihrer Situation ein und gibt die Annonce auf (mehrere Wochen), 126/4  – 127/18.
– Graf F. hat an die M. geschrieben, erscheint selbst, wird vom Bruder informiert (kurzes Gespräch), 127/19 – 128/11
– er reitet zur M., nähert sich heimlich, wirbt zu heftig und wird abgewiesen (ca. 1 Stunde), – 129/26
– er denkt über einen Brief nach und erhält vom Bruder die Annonce (am Abend); da weiß er, was er zu tun hat. – 130/27
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„Inzwischen“ ist der zweite Brief des Grafen bei der Familie angekommen; die Annonce wird gelesen und besprochen, 130/28 – 131/30
– Am nächsten Zeitungstag lesen die Eltern die Antwort, Vater fühlt sich hintergangen, Mutter ist vorsichtiger. – 132/27
– Wenige Tage später: Brief der M. an die Eltern, am 3. d.M. den Besucher zu schicken; Mutter reist zur M., Versöhnung, Prüfung der M., Gespräch der Frauen (1/2 Tag), Rückreise, – 138/9
– Versöhnung mit dem Vater // Liebesszene (1 Stunde?)  – 139/9
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Am 2. d.M. berät die Familie, was zu tun ist, am 3. d.M. wird der Graf von den Frauen empfangen, Mutter begrüßt ihn, M. lehnt ihn als „Teufel“ ab, 139/10 – 141/23.
– Vater nimmt den Grafen auf und verabredet Hochzeit.  – 142/4
– Der vom Vater und dem Grafen aufgestellte Heiratskontrakt wird am 4. d.M. der M. vorgelegt, worauf sie einwilligt. – 142/30
– Summarisch wird dann von der Hochzeit, Taufe des Sohnes, Versöhnung, zweiter Hochzeit, weiteren Kindern erzählt. – 143/34
Dem Schlusssatz als der Erklärung, warum die Marquise den Grafen abgelehnt hat, kommt Bedeutung zu.
Aus dieser Übersicht müsste hervorgehen,
1. dass die Annonce der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung ist,
2. dass mehrere Erzählstränge miteinander verflochten sind, wobei gelegentlich zeitlich zurückgegriffen werden muss,
3. dass aber – von der Vorwegnahme der Annonce abgesehen – im Wesentlichen chronologisch erzählt wird,
4. dass die Ereignisse weniger Tage den größten Anteil der Erzählzeit erhalten (105/8 ff.; 109/33 ff.; 119/27 ff.; 127/18 ff.; 132/28 ff.; 139/10 ff.).

Der Erzähler hält sich zurück, wendet sich nur zweimal an seine Hörer (Leser?, 127/18.37), schließt sich häufig an die Perspektive seiner gerade dominierenden Figur an, etwa an
– die Marquise: „unglücklicher Weise“ (105/19 f.);
– Marquise/Graf: „Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren“ (105/31);
– Oberst: der Russe schien einer der Anführer zu sein nach der Rolle, die er spielte (106/14-16);
hier wird klar, dass nicht auktorial erzählt wird, was auch der berühmte Gedankenstrich (106/2) bezeugt.

Im Titel wird mit Recht die Marquise als Protagonistin benannt. Es geht für sie darum, als ehrbare Witwe und Tochter mit ihrer Schwangerschaft klarzukommen: Wer sie für schwanger erklärt, beleidigt und kränkt sie (120/25; 121/27; 122/1); es geht darum, ob sie Schuld auf sich geladen hat oder „unschuldig“ ist (126/2.10). Ihre Mutter erkennt schließlich ihre Unschuld an und nimmt ihre „Schande“ als Ehre (136/9 f.).
Damit verbunden sind die Fragen,
was sie von Schwangerschaft und Schwängerung weiß (Bewusstsein vs. Gefühl, 122 ff., mit der Gefahr, im Wahnsinn zerrissen zu werden),
wie sie den verantwortlichen Mann einschätzt (eigenes Begehren vs. Ablehnung in der Familie, v.a. durch den Vater 117/22f. – 117/29 f.; 118/20 f. mit 138 f. und 141/30; Engel – Teufel 143/32 ff.) und
wie sie mit dem subjektiv Unerklärbaren umgeht (126/12-14 und 126/34 ff. – dagegen die Mutter: 140/33).
Die Frage der Weltordnung berührt auch der Graf, aber eben in seiner Perspektive (143/21-23) – der Erzähler hält sich zurück!

P.S. ein Epigramm Kleists aus dem Jahr 1808 (im „Phöbus“):

Die Marquise von O…

Dieser Roman ist nicht für dich, meine Tochter. In Ohnmacht!
Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu.

P.S. zum Motiv der Erzählung:

In seinen „Essais“ (II 2) erzählt Montaigne eine Anekdote zur Warnung vor der Trunksucht: Eine betrunkene Bäuerin wurde schwanger und ließ von der Kanzel ausrufen, sie suche den Vater des Kindes und gedenke ihn zu heiraten. Darauf meldete sich einer ihrer Knechte, der sich über die Betrunkene hergemacht hatte, und heiratete sie auch. – Diese Anekdote, 200 Jahre vor der „Marquise von O.“ erzählt, lebt im Kern vom gleichen Motiv wie Kleists Novelle (bzw. umgekehrt!).

H. von Kleist: Das Erdbeben von Chili – von der Analyse zum Aufsatz

In einem Aufsatz soll ein Gedankengang entfaltet werden. Wenn in ihm eine Analyse dargestellt wird, sollen nicht die Aspekte des Arbeitsblattes nacheinander „abgearbeitet“ werden; dann hätte man zwar die Teile in der Hand, es fehlte aber das geistige Band. Das heißt also, dass im Verstehen der Zusammenhang der zuvor isolierten Bedeutungselemente wieder hergestellt worden sein muss; es muss somit der Beitrag der Elemente zum  S i n n  des Ganzen gezeigt werden.
Wenn man diese Forderung am Beispiel von Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ (verkürzt, nur im Ausschnitt) verdeutlichen will, heißt das etwa Folgendes: In dieser Erzählung wird der Untergang einer Stadt im Erdbeben zur Bedingung dafür, dass die verurteilten Liebenden gerettet werden; dieses wahrhaft denkwürdige Ereignis führt dazu, dass alle Geretteten „brüderlich“ zusammenleben und alles miteinander teilen; auf der Suche nach dem Sinn der Schrecken verflucht der Dominikaner das gerettete Paar, der Schuster ruft zum Morden auf, die Menge erschlägt die „mühsam“ geretteten Liebenden und den kleinen Juan, während „das Kind der Sünde“, ihr Sohn Philipp, von Don Fernando adoptiert wird. – Ich beziehe mich auf die Ausgabe „Sämtliche Erzählungen und Anekdoten“, dtv 2033 (1978, = Carl Hanser Verlag 1977).
Was ist also der Sinn so merkwürdig zusammentreffender Ereignisse? Diese Frage wird in der Erzählung dreifach beantwortet oder eben nicht beantwortet: durch die Technik des Erzählens, durch die Betonung des Zufalls und die der Bewusstlosigkeit der Protagonisten.
Der Erzähler scheint allwissend zu sein; er weiß, dass Jeronimo sich erhängen will (S. 144, Z. 6) oder dass dieser sich an etwas erinnert (147/8 f.). Aber er sagt nicht alles, was er vielleicht weiß (die Worte Donna Elisabeths, 154/38 ff.); vor allem jedoch bindet er sich an die Perspektive der Personen, von denen er gerade erzählt (die Leute 144/25; Jeronimo 145/14 f.; Josephe 148/34 f. u.a.). Er verzichtet also auf eine auktoriale Bewertung der Taten und Menschen. Ebenso verzichtet er auf eine Erklärung der Ereignisse und weist auf den „Zufall“ als treibendes Moment des Geschehens (144/16; 145/28; 146/ 3f. und öfter). Was durch Zufall geschieht, dient keinem Zweck oder Plan, stiftet keinen Sinn; ob dahinter Gottes Wille steht, bleibt offen (147/2-13, s. unten).
Dem Zufall auf der Seite des Geschehens entspricht auf der Seite der handelnden Menschen eine auffällig häufig vorhandene Besinnungs- und Bewusstlosigkeit (145/14; 145/35 f.; 146/11; 149/10); die Betroffenen wissen nicht, was sie von den Ereignissen halten sollen (147/3 f. vs. 147/12 f.; 152/12-14); die Ereignisse selbst sind voller Widerspruch (151/30 ff. vs. 152/15 ff.). So wundert es nicht, dass die Figuren etwas wahrnehmen, „als ob“ es etwas anderes wäre (145/35; 148/26 und öfter).
Der Erzähler lässt seine Hörer also im Unklaren über den Sinn der Ereignisse, und der Leser muss sich dieser Ungewissheit stellen.

Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno – Analyse

In der Novelle „Das Bettelweib von Locarno“ von Heinrich von Kleist wird erzählt, wie ein Marchese, weil er eine arme Frau durch seine Arroganz in den Tod getrieben hat, durch das Erscheinen ihrer Spukgestalt Jahre später selbst umkommt.
Die Hauptfigur der Erzählung ist zweifelsohne der Marchese. Er ist derjenige, der durch sein Fehlverhalten den Tod der Frau verursacht hat, und er ist auch derjenige, dessen Schloss durch den Spuk an Wert verliert, der selbst drei Spuknächte miterlebt und dadurch zum Schluss in den Selbstmord getrieben wird. Mit dem Titel „Das Bettelweib von Locarno“ wird allerdings seine Gegenspielerin in den Vordergrund gestellt; ist sie auch nicht als Hauptfigur, so doch als die letztlich handlungsmächtige Gestalt anzusehen. Unklar ist die Funktion der Marquise: Ist sie Gattin und Helferin des Marchese (bei seiner Spuk-Untersuchung) oder heimliche Gegenspielerin, welche absichtlich eine Bettlerin in dessen Waffenzimmer (im 1. Stock!) unterbringt? Die Diener sind eher Staffage; der Wunsch des Ritters leitet die eigentliche Kette der Ereignisse ein.
Das Geschehen ist in zwei Abschnitte gegliedert. Zunächst schildert der Erzähler das Vergehen des Adeligen an der Bettlerin, die er durch seinen Unwillen in den Tod treibt (Z. 3-13). Im nächsten Teil (Z. 14-31) wird erzählt, wie Jahre später zum ersten Mal der Spuk auftritt, als ein Ritter, der das Schloss kaufen möchte, in dem Zimmer, in dem die Frau starb, übernachtet. Das Hauptgeschehen (Z. 32-81) bilden die drei aufeinander folgenden Nächte, die der Marquis jeweils in anderer Begleitung in dem Spukzimmer verbringt. – Diese beiden Ereignisreihen stehen unter den Motiven „Schuld“ und „Sühne“ in Verbindung. Der Adlige büßt sein unüberlegtes Verhalten mit dem Tod; als Grab dient nämlich der „Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib hatte aufstehen heißen“ (Z. 83 f., vgl. Z.8).
Dass die Ereignisse gegenläufig sind, erkennt man auch an der Frage, wer das Geschehen dominiert. Zuerst kann der Marchese der Frau befehlen, für seine Büchse ihren Platz zu räumen; sie muss gehorchen und sich entfernen. Später ist das Gespenst die Figur, welche diese Bewegung der Frau wiederholt (Z. 22-25 und Z. 66 ff., vgl. Z. 9 ff.) Die Waffen des Adligen, die in der Vorgeschichte seine Macht symbolisieren (Z. 7), versagen später im Kampf gegen den Spuk (Z. 61 und 73 ff.).
Durch die ganze zweite Ereignisreihe ziehen sich das Erschrecken und die Ratlosigkeit des Marquis; dabei werden diese immer weiter gesteigert. So ist der Marchese zunächst nur „erschrocken“ (Z. 26) und „erschüttert“ (Z. 39), hält die Geräusche für „unbegreiflich“ (Z. 40) und reagiert „scheu und ungewiss“ (Z. 44). Seine Erschrockenheit steigert der Erzähler über Ausdrücke wie „mit sträubenden Haaren“ (Z .72) bis hin zum Begriff der Todesangst („vom Entsetzen übereilt“ (Z. 78), „müde seines Lebens“ (Z. 80). Mit diesem Begriff endet auch die Reihe der Ratlosigkeitsmotive; zu erwähnen ist noch, dass sich die Eheleute dadurch unterscheiden, dass die Marquise besonders „entschlossen“ und „augenblicklich“ (Z. 75) handelt, wogegen ihr Mann willkürlich und ohne Erfolg „nach allen Richtungen die Luft durchhaut“ (Z. 74 f.). Dementsprechend kopflos oder, wie der Erzähler sagt, „vom Entsetzen überreizt“ (Z. 78) handelt er: Er zündet das Schloss an und ist unrettbar verloren (Z. 80 f.).
Obwohl das Geschehen sehr spannend und spukhaft abläuft, wird die Geschichte distanziert von einem neutralen Erzähler erzählt. Es kommt keine direkte und wenig indirekte Rede vor; falls die Figuren sprechen, werden ihre Sprechakte genannt (z.B. „Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten“, Z. 80 f.). Der Erzähler beginnt die Geschichte ohne Zeitangabe. Als Ort des Geschehens nennt er ein Schloß bei Locarno in Oberitalien; durch den Hinweis, dass man es heute noch sehen kann (Z. 2 f.), vermittelt er den Eindruck, als sei der Ort und somit die ganze Geschichte nicht fiktiv, sondern real. Zunächst nennt der Erzähler als Handlungsort ein „Schloß“, dann „weitläufige Zimmer“, schließlich „das Zimmer“ und „den Winkel“ (Z. 2-8). Der Raum wird also immer weiter zugespitzt, und zwar außerordentlich schnell, ähnlich wie das Geschehen im Verlauf der drei Nächte, die aufgrund ihrer zunehmenden Dramatik [diese könnte noch untersucht werden!] immer genauer beschrieben werden. Den Höhepunkt bildet das Geschehen der letzten Nacht, wo einzig der Hund das Gespenst zu sehen scheint, während die Menschen dem Unsichtbaren hilflos gegenüberstehen (Z. 66-70).
Die eigentliche Geschichte wird umrahmt vom Bezug des Erzählers auf die Gegenwart (Merkmal der Novelle); sowohl am Anfang wie auch am Ende verweist der Erzähler auf das Schloss, wie es „jetzt“ (Z. 2, Z. 81) ist. Bei der Schilderung der dritten Nacht, beim Höhepunkt, wird szenisches Präsens (Z. 62-77) verwendet, die Spannung gesteigert. Hier wird auch beinahe zeitdeckend erzählt, ansonsten immer nur zeitraffend, mit Annäherung an das zeitdeckende Erzählen.
Der Satzbau ist sehr verschachtelt; es werden viele Adverbiale und Teilsätze aneinandergereiht und durch Kommata abgetrennt. So macht das Erzählen einen drängenden Eindruck; es scheint, als wolle der Erzähler so schnell wie möglich die Spannung steigern, bis er am Höhepunkt angelangt ist (Z. 65 ff.). Aus diesem Grunde werden die Sätze bis zum Höhepunkt immer länger (Z. 65-71).
Mit dem Schlusssatz verknüpft der Erzähler die beiden Ereignisse, den Tod des Bettelweibs und die Vernichtung des Marquis, über die Identität des Ortes. Seinen Hinweis darauf, dass die Gebeine „noch jetzt“ da liegen (Z. 80), könnte man als eine Mahnung oder als Trost lesen, dass jedes Unrecht letztlich gesühnt wird.

P.S. Der Kollege Lennart hat darauf hingewiesen, dass sich in der Novelle auch adelskritische Aspekte finden lassen (der arrogante, brutale Marchese als Adeliger).