und erste Interpretation
Der Aufbau der von Kleist so genannten Legende „Die heilige Cäcilie…“ ist gar nicht der einer Legende: Zuerst wird die wundersame Rettung des Aachener Klosters vor den fanatischen Bilderstürmern Ende des 16. Jahrhunderts erzählt, mit einem Ausblick auf dessen Säkularisierung nach dem 30jährigen Krieg (Meistererzählungen der deutschen Romantik, dtv 1985, S. 52-54). Es folgt dann ein Erzählbericht von zwei Gesprächen, welche die Mutter der vier Söhne sechs Jahre später zuerst mit Veit Gotthelf (bis S. 59), dann drei Tage später mit der Äbtissin des Klosters führt; beide Figuren erzählen der Mutter Details von jenem sonderbaren Tag der Rettung, welche das Eingreifen einer höheren Macht zur Bekehrung der Söhne bzw. zur Rettung des Klosters bezeugen. Der Erzähler markiert dann mit dem ersten Satz des letzten Absatzes (S. 62), dass die von ihm berichtete „Legende“ zu Ende ist, und gibt einen Ausblick auf die spätere Bekehrung der Mutter und das heitere Lebensende ihrer Söhne.
Diese Zweiteilung geht nach dem Kommentar Friedrich Vollhardts (S. 364 ff.) auf die Entstehung des Textes zurück: Der straff erzählte erste Teil gehörte zu den Geschenken für Kleists Patenkind Cäcilia Müller (1810); den zweiten Teil hat Kleist in der Buchausgabe seiner „Erzählungen“ (1811) angehängt. In diesem zweiten Teil wird das wunderbare Wirken der Musik und ihre Auswirkung auf das Leben der vier Brüder im Einzelnen berichtet und auch andeutungsweise erklärt.
Im ersten Teil werden nach der Vorgeschichte (1/2 Seite) kurz die Ereignis des Vorabends und der Nacht vor dem geplanten Bildersturm (ca. 1/3 Seite) und dann die Ereignisse dieses Tages bis zum Ende des Gottesdienstes (2 Seiten, von einem kurzen Kommentar S. 53 unterbrochen) erzählt; zum Schluss greift der Erzähler ganz kurz 50 Jahre vor. – Das Geschehen des zweiten Teils spielt sechs Jahre später; nach einer unbestimmten Zahl von Tagen (1/2 Seite) findet die Mutter „eines Tages“ ihre Söhne (knapp 1 Seite), am Morgen des folgenden Tages erzählt der Tuchhändler ihr die Geschichte ihrer Söhne (3 Seiten, wörtliche Rede). Drei Tage später geht die Mutter zum Kloster, erlebt das Gewitter (1/2 Seite) und spricht mit der Äbtissin (2 Seiten, z.T. wörtliche Rede). Es folgt am Ende der Ausblick auf Bekehrung der Mutter und den Tod der Söhne (8 Zeilen). Von der Zeitstruktur sind also die Aufführung des Oratoriums, der Bericht des Tuchhändlers und die Begegnung mit der Äbtissin die drei Höhepunkte der Erzählung.
Im ersten Teil wird wirklich nur „Die Gewalt der Musik“ dargestellt: Wie das Kloster der heiligen Cäcilie in große Bedrängnis gerät (S. 52 f.), wie die Äbtissin sich davon nicht beeindrucken lässt und wie die schwer kranke Schwester Antonia erscheint, um doch ihr italienisches Oratorium aufzuführen; von diesem wird berichtet, dass es bereits mehrmals „die größesten Wirkungen“ hervorgebracht habe, weil es mit „einer besondern Heiligkeit und Herrlichkeit“ komponiert war (S. 53). Dadurch ergreift zuerst die Nonnen Zuversicht „wie ein wunderbarer, himmlischer Trost“; auf die Zuhörer wirkt die herrliche musikalische Pracht so, dass sich „kein Odem“ während der Aufführung regt und dass beim Salve regina und erst recht beim Gloria in excelsis die Besucher der Kirche wie tot sind, sodass das Vorhaben der vier Brüder und ihres Anhangs vereitelt ist.
Der zweite Teil läuft dann darauf hinaus, das „Die heilige Cäcilie“ diejenige war, die das Wunder der Rettung bewirkt hat. Zunächst wird berichtet, wie die Mutter der vier Brüder mühsam herausfindet, dass ihre Söhne im „Irrenhaus“ leben, wenig essen und schlafen und zur Mitternacht schrecklich laut das Gloria in excelsis singen (bis S. 55 unten). Die abschließend berichtete Erklärung des Anstaltsleiters, dass die vier gesund und von einer gewissen feierlichen Heiterkeit sind, verwundert etwas; die von den Vieren berichtete Äußerung, dass sie wohl mehr wissen als „die gute Stadt Aachen“ (S. 56), bereitet die folgende Erzählung des Tuchhändlers Veit Gotthelf vor.
Zu ihm geht die Mutter am nächsten Tag, da sie „den schauderhaften Anblick dieser Unglücklichen“ nicht ertragen kann; mit dieser Bemerkung nimmt der Erzähler die Perspektive der Mutter oder die allgemeine Einschätzung ein, die mit der Einschätzung des Anstaltsleiters nicht übereinstimmt und im späteren Bericht widerlegt wird. Veit Gotthelf erzählt als alter Mitverschworener der Bilderstürmer deren Mutter, was er weiß; „der Himmel selbst“, so erklärt er das Scheitern ihrer Pläne, „scheint das Kloster der frommen Frauen in seinen Schutz genommen zu haben“ (S. 56). Er erzählt im Einzelnen, wie die Brüder unter dem Eindruck der Musik offenbar eine Bekehrung erlebt haben (Hüte abnehmen, niederknien, Gebete murmeln) und veranlassen, dass ihre Gefährten keinen Schaden anrichten (S. 56 f.). Nur mit Mühe konnte man sie aus der Kirche entfernen; sie änderten ihren Lebensstil, machten fromme Übungen und stimmten zur Mitternacht „mit einer entsetzlichen und gräßlichen Stimme“ das Gloria an (S. 58), was grausenhaft und schauderhaft auf die Zuhörer wirkte und diese verstörte. Jene setzten ihr „gespensterartige(s) Klosterleben“ fort und wurden deshalb ins Irrenhaus gesteckt (S. 59).
Der Erzähler hält sich wieder an die Perspektive der Frau, als er berichtet, wie diese drei Tage später „den entsetzlichen Schauplatz“ sehen will, „auf welchem Gott ihre Söhne wie durch unsichtbare Blitze zu Grunde gerichtet hatte“ (S. 59 f.) – sie ist noch Mutter statt Gläubige. Nach dem „Schauspiel“ des abgewendeten Gewitters (S. 60) sieht sie bei der Äbtissin die zauberischen Zeichen der Partitur und unterwirft sich der göttlichen Allmacht (S. 61); so erfährt sie von der Äbtissin außerdem, dass nicht besagte kranke Schwester Antonia das Oratorium aufgeführt hat, sondern offenbar – nach Einsicht des Erzbischofs und des Papstes – die heilige Cäcilie selbst (S. 62). Mit ihrem Abschied von der Äbtissin endet „diese Legende“.
Im letzten Absatz berichtet der Erzähler dann von der späteren Bekehrung der Frau zum Katholizismus und vom seligen Ende ihrer vier Söhne, „nachdem sie noch einmal, ihrer Gewohnheit gemäß, das gloria in excelsis abgesungen hatten“ (S. 62).
Im zweiten Teil der Novelle geht es nicht mehr um die Rettung des Klosters, sondern um das außer-ordentliche (und nur im Irrenhaus geduldete) Wissen der vier Brüder und um die geheim gehaltene Erklärung der geheimnisvollen Aufführung des Oratoriums; die an diesem Wissen teilhaben, ändern ihr Leben [sofern sie nicht schon heiligmäßig sind], während „die gute Stadt Aachen“ weiter ihren Geschäften nachgeht, als wäre nichts geschehen.
In Werner von Stegmanns Interpretation (KLL) ist die Gewalt der Musik, welche für die Gewalt des Glaubens steht, ursprünglich das Thema der Novelle; in der späteren Erweiterung verschiebe sich der Aspekt dahin, dass diese Gewalt auch den Wahnsinn bewirken kann. So stelle die Novelle in ihrer jetzigen Fassung die Verbildlichung „eines bis zum Wahnsinn führenden Grenzerlebnisses“ dar, welches in einem unbewegten Erzählton vorgetragen werde.
Ob der Erzähler diese Ambivalenz, wie Stegmann sie sieht, bestehen lässt oder sich doch auf die Seite der „Gläubigen“ stellt, wäre in einer genauen Analyse der Perspektive zu prüfen: Übernimmt der Erzähler unmerklich die Perspektive der Figuren („mit einer unendlichen Regung von Demut und Unterwerfung unter die göttliche Allmacht“, S. 61)? Ist sein eigener Hinweis auf den seligen Tod der Brüder (S. 62) untergründig ironisch zu lesen?
Zweite Interpretation
Vollhardts schon genannter Kommentar (in den „Meistererzählungen“) unterläuft diese Frage und setzt auf die Differenz zwischen der Perspektive des Lesers und der Figuren (und auch des Erzählers): Wenn die Brüder wirklich rein zufällig zu ihrem schlimmen Vorhaben in Aachen zusammengekommen seien, wirke der Zusammenhang zwischen religiöser Schuld und Strafe „von vornherein fragwürdig. Kleist gestaltet seine Erzählung bewußt doppeldeutig.“ (S. 366)
So sieht Vollhardt im Auftreten der Brüder nach ihrer Bekehrung eine religiöse Dünkelhaftigkeit statt echter Bekehrung (S. 367); dass sie für das Vorhaben, ein Kloster zu zerstören, ausgerechnet mit einer Art Klosterleben im Irrrenhaus bestraft werden, sei offenkundig ironisch zu lesen (S. 367). Kleist gewähre Einblick „in das suggestive Verfahren seines Erzählers“ und gestatte es so, sich von dessen Schlussfolgerungen zu distanzieren (S. 367). Auch zeige die Tatsache, dass trotz göttlicher Rettung das Kloster 50 Jahre später durch einen einfachen Verwaltungsakt säkularisiert wurde, dass es mit Gottes Macht doch nicht so weit her sei.
Insgesamt also distanziere Kleist sich mit seiner „Legende“ von der romantischen Mode, Legenden zu erzählen; er praktiziere die romantische „Technik des Zitierens, Wiederaufnehmens oder Parodierens literarischer Stoffe und Themen“, um aktuelle Zeittendenzen in den Blick zu rücken (S. 371).
http://www.heiligenlexikon.de/BiographienC/Caecilia.html (Cäcilia)
http://www.textkritik.de/bka/dokumente/dok_steig/steigk_530-536.htm
http://www.tabvlarasa.de/7/kleist.php