Marko Martin: Dissidentisches Denken (2019) – gelesen

Wer oder was ist ein Dissident? Hören wir zwei Definitionen, eine aus dem Wörterbuch und eine aus einem Politiklexikon:

1. [Politik] jmd., dessen Ansicht von einer offiziellen (Lehr-)‍Meinung, einer politischen oder staatlichen Ideologie abweicht und der seine Kritik öffentlich kundtut

2. [Religion] jmd., der keiner Religionsgemeinschaft angehört; jmd., der von der offiziellen theologischen Lehrmeinung abweicht(DWDS)

Als D. werden Personen bezeichnet, die eine vorgegebene politische oder religiöse Ordnung infrage stellen, von ihr abweichen oder ihr widersprechen; wird v. a. für politische Gegner in autoritären und diktatorischen Regimen verwendet.“ (Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 2020)

Marko Martin, Jahrgang 1970, kam im Mai 1989 wegen eines Hochschulverbots und als Kriegsdienstverweigerer aus der DDR in die Bundesrepublik; er war somit selber ein Dissident. Wenn er ein dickes Buch über dissidentisches Denken schreibt, kann man also kompetente Belehrung erwarten: Er könnte entweder das dissidentische Denken oder verschiedene Typen des dissidentischen Denkens erklären oder Fälle dissidentischen Denkens vorstellen. Das alles tut er nicht. Der Untertitel sagt, was er präsentiert: „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“. Er berichtet durchweg von Besuchen bei verschiedenen Personen in einem anekdotischen Stil, flicht darin Bemerkungen zu ihrer Biografie und zu ihren Büchern ein; gelegentlich zitiert er ein paar Sätze, wobei er auch vor zahlreichen Wiederholungen nicht zurückschreckt. An der Stelle, wo er über Czeslaw Milosz’ Buch „Verführtes Denken“ (1953) spricht, kommt er einer Erklärung dissidentischen Denkens fast nahe: Milosz habe gefragt, „ob es ohne jene bereits dem Christentum innewohnende eschatologische Hybris wohl einen Hegel und Marx gegeben hätte – ein neues Heilsversprechen minus Transzendenz“ (S. 285). Dissidenten würden dann diesem Heilsversprechen angesichts erfahrener Realität nicht trauen – wobei für viele Leser „eschatologische Hybris“ vermutlich unverständlich bleibt.

Viel klarer wird dieser Gedanke von Manes Sperber formuliert, am Ende seines Essays „Der vielfache Tod des Wladimir Iljitsch“: „[E]s ist wohl schon des öfteren geschehen, daß man die Heilsbotschaft auch nach ihrer Desavouierung empfangen hat, als wäre sie selbst die Erlösung. Man mag daraus schließen, dass die Menschen die Botschaft, welche die Hoffnung nährt, dringender brauchen als die von ihr angekündigte Erlösung.“ Dissidentisches Denken wäre dann eines, das nach anfänglichem Glauben auf die Illusion der Erlösung und damit auch auf die jeweilige Heilsbotschaft verzichtet (und sich ihrem Machtanspruch nicht beugt). Es wäre ein aufrichtiges Denken, wie es bereits von Sokrates propagiert worden ist. Ich habe das in dem kleinen Aufsatz „Vorsicht bei der Wahl des großen Lehrers!“ (https://also42.wordpress.com/2018/03/09/vorsicht-bei-der-wahl-des-grossen-lehrers/) aufgezeigt. Mit großem Pathos hat Nietzsche es in den Aphorismen 629 – 638 in „Menschliches, Allzumenschliches I“ entfaltet, Kant hat es in seiner Reflexion der Würde des Menschen untersucht und vorher in der Formel vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit auf den Punkt gebracht.

Gleichwohl ist meistens interessant, was Marko Martin über insgesamt 23 bekannte (Kopelew, Sperber, Kohut…) und mir zum Teil unbekannte Menschen (Listopad, Schopflocher, Ranasinghe…) zu erzählen weiß. Am Ende des Buches zählt er rund 90 Titel von Büchern auf, die diese Menschen und ihre geistigen Brüder und Schwestern verfasst haben. Manche seiner „Erklärungen“ klingen allerdings verwegen: „Danny Smiricky spielt in seiner Kleinstadt-Band [Jazz, N.T.] und lernt, da Improvisation hier so wichtig ist, der pathetischen Geschlossenheit großer Geschichtserzählungen zu misstrauen – bevor er überhaupt weiß, dass es sie gibt.“ (S. 184) Auch was „ein Geschichtspanorama aus dem Geist der reflektierten Episode“ S. 382) ist, erschließt sich mir nicht. Und dass Melvin Lasky, Schopflocher, Appelfeld oder Edgar Hilsenrath, den ich sehr schätze, in den Kreis der Dissidenten gehören, darf man bezweifeln; sie sind wie andere der Vorgestellten von den Nazis verfolgt worden oder auch nur aus Deutschland emigriert, aber das macht noch keinen Dissidenten. Sie stehen im Buch, weil der Autor sie irgendwann besucht hat und dann von diesem Besuch im Plauderton berichtet. – Wer dissidentisches Denken in Aktion sehen will, sollte die Essays von Manes Sperber lesen („Essays zur täglichen Weltgeschichte“) oder Vaclav Havels großartigen „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, der in Martins Literaturliste leider nicht genannt wird.

https://www.dissidenten.eu/ (biograf. Lexikon kommunist. Dissidenten)

https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Dissidenten

https://www.zeitklicks.de/ddr/politik/opposition/buergerrechtler-und-dissidenten/ (in der DDR)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/lob-der-dissidenz-vom-widerstaendigen-in-unserer-100.html (in unserer Gesellschaft)

https://www.zeitklicks.de/kaiserzeit/politik/innenpolitik/die-kritischen-stimmen-der-kaiserzeit (die kritischen Stimmen der Kaiserzeit; dort auch Weimarer Republik, Drittes Reich usw.)

https://multipolar-magazin.de/media/pdf/in-der-wahrheit-leben.pdf (Kurzfassung V. Havel)

https://books.google.de/books?id=fppWDwAAQBAJ&pg=PT3&hl=de&source=gbs_toc_r&cad=1#v=onepage&q&f=false (Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben – der Anfang)

Hans-Ulrich Rüegger: Versuchen, in der Wahrheit zu leben (als pdf greifbar)

Ein gutes Suchwort ist auch „Widerstand“ sowie „intellektuelle Redlichkeit“ (Nietzsche).

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