Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik (2024) – gelesen

Die gut 610 Seiten stellen für den Leser eine Herausforderung dar: Der Erkenntnisgewinn ist nicht größer, als wenn man ein Buch von 100 Seiten gelesen hätte. Man hört viele Namen, die einem Altersgenossen Schäubles teilweise noch etwas sagen, aber die für meine Kinder bereits uninteressant sind. Und man liest viele Binsenwahrheiten: „Sich darum zu bemühen, Grenzen durchlässiger zu machen, den regionalen Zusammenhalt zu stärken und gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen, darin liegt der Schlüssel zu einer erfolgreichen [europäischen, N.T.] Einigungspolitik“, das besagt letztlich nichts; er selbst habe versucht, „zu verstehen und zu begründen, etwa wozu und mit welchem Ziel der Staat Einnahmen generiert, mit welcher Legitimation Bürgerinnen und Bürger fair belastet bzw. entlastet werden können, wie man Geld effizient und verantwortlich einsetzt“ – wer könnte dem widersprechen? Aber was heißt es anderseits konkret? Nichts. Oder wenn er wiederholt für „Maß und Mitte“ plädiert, was besagt das schon? Das Buch bietet einen Streifzug durch 50 Jahre Politik, so dass für jedes Jahr rund 12 Seiten Platz ist; da kann man als Autor auch nicht allzu viel darlegen.

Bewunderung für Helmut Kohl, Respekt für Angela Merkel, aber auch Kritik an beiden, bei Merkel deutlicher als bei Kohl; die Differenzen mit Merkel in der Flüchtlingsfrage und der Steuerpolitik waren schließlich so stark, dass er 2017 aus der Regierung ausgeschieden ist. Distanz zur CSU und Sympathie für die Grünen werden deutlich; dass man Herbert Gruhl nicht in der CDU habe halten können, sei ein schwerer Fehler mit nachhaltigen Folgen gewesen. Aufschlussreich sind Schäubles Hinweise, wie hinter den Kulissen Politik gemacht wird resp. wurde, etwa mit der DDR oder in der Europapolitik, oder wie es im Regierungsapparat knirschen kann, wenn Menschen „nicht miteinander können“; aber das gilt nur grundsätzlich, während die Namen der Beteiligten nach Jahren und Jahrzehnten wohl nur noch den Historiker interessieren. Wie er mit dem Attentat 1990 und seiner Querschnittslähmung zurechtgekommen ist, hat mich persönlich beeindruckt. Bedenklich fand ich seine kurze Bemerkung, er habe sich seinen Kinderglauben bewahrt – ist er religiös unmündig geblieben? Ersetzen ihm die Gefühle der geliebten Musik alles Denken und Wissen? Man weiß es nicht.

Nach anfänglicher Begeisterung wurde ich beim Lesen des Buches immer kritischer, und zum Schluss war es so langatmig, dass ich große Passagen nur noch kursorisch gelesen habe. Die Besprechung in der NZZ ist lesenswert und informativ. Welchen Anteil Hilmar Sack und Jens Hacke als Koautoren haben, wird nicht deutlich – Schäuble hat aber gegen sie darauf bestanden, dass es schließlich seine Erinnerungen seien.

https://www.nwzonline.de/meinung/der-eiserne-rezension-der-erinnerungen-wolfgang-schaeubles_a_4,1,654701951.html (positiv, nicht detailliert)

https://www.nzz.ch/feuilleton/wolfgang-schaeuble-in-seinen-memoiren-er-will-kein-konservativer-gewesen-sein-ld.1825329 (kritisch, detailliert)

Die Besprechungen in den großen deutschen Zeitungen kann man nur gegen Bezahlung lesen.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..