Lessing: Ich – Text und Analyse

G. E. Lessing: Ich

Die Ehre hat mich nie gesucht;
Sie hätte mich auch nie gefunden.
Wählt man, in zugezählten Stunden,
Ein prächtig Feierkleid zur Flucht?

Auch Schätze hab ich nie begehrt.
Was hilft es sie auf kurzen Wegen
Für Diebe mehr als sich zu hegen,
Wo man das wenigste verzehrt?

Wie lange währts, so bin ich hin,
Und einer Nachwelt untern Füßen?
Was braucht sie wen sie tritt zu wissen?
Weiß ich nur, wer ich bin.

Lessing hat dieses Sinngedicht am 11. Oktober 1752 in das Stammbuch eines seiner Wittenberger Universitätsbekannten geschrieben. Es wurde 1804 in den Obersächsischen Provinzialblättern veröffentlicht; heute steht es im Anhang der Lieder. Man kann es kaum wie andere frühe Gedichte unter „Anakreontik“ einordnen – es spielt zwischen altkluger Lebensweisheit und ruhiger Selbstbesinnung: ein eindrucksvolles Gedicht. Es greift in Kurzform die drei Aspekte auf, die Schopenhauer 1851 in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ reflektiert hat und für deren Formulierung er (offensichtlich zu Unrecht) den Primat beanspruchte: Was einer ist – Was einer hat – Was einer darstellt; bei Lessing werden sie in umgekehrter Reihenfolge bedacht.

Die drei Strophen stehen jede für sich und werden doch durch einen Grundgedanken zusammengehalten, eine Variation des barocken Vanitas-Motivs. Da steht also, dass wir nur zugezählte Stunden haben (V. 3), die uns zur Flucht bleiben, also eine kurze Zeit, um zu leben; da steht, dass uns nur kurze Wege zur Verfügung stehen (V. 6), um etwas zu genießen; da steht drittens, dass es nicht lange währt (dauert), bis wir begraben sind (V. 9 f.). Das ist also die Grundtatsache unseres Lebens: dass unsere Zeit sehr knapp bemessen ist. Von dieser Tatsache aus bedenkt das reflektierende Ich die drei Fragen, die verschiedene Wege zum Glück bezeichnen. Lessing war damals 23 Jahre alt – wie weit er sich mit dem sprechenden Ich identifiziert, muss offen bleiben.

Zunächst lehnt das Ich es ab, nach Ehre und Ansehen zu streben – hier in der originellen Formulierung, dass die (personifizierte) Ehre „mich nie gesucht“ hat (V. 1 – statt: Ich habe sie nicht gesucht), mit der noch originelleren Fortsetzung des Bildes: Sie hätte mich nicht gefunden (V. 2). Es folgt in einem Vergleich mittels einer rhetorischen Frage (V. 3 f.) die Begründung dafür, dass der Ich-Sprecher keine Ehre gesucht hat: Die Ehre gleicht einem prächtigen Feierkleid, das man angesichts der kurzen Zeit bis zur Flucht (übertragen: bis zum Tod) nicht anzieht, weil es bei der Flucht hinderlich ist und weil es einfach nicht lohnt, sich für die kurze Zeit besonders schön zu machen.

Der Sprecher spricht in gebundener Form: Vier Verse im Jambus mit vier Hebungen, die Verse im umfassenden Reim miteinander verbunden; die beiden Mittelverse haben eine Silbe zusätzlich (weibliche Kadenz) – man erwartet eine Fortsetzung, während die männliche Kadenz den Vers ziemlich hart abschließt. Durch den Aufbau der Strophe (zwei Verse Bericht, zwei Verse Begründung) kommen keine sinnvollen Reime zustanden; trotzdem klingt die Strophe auch aufgrund der Reime melodisch. In der Spitzenstellung ist „Wählt“ (V. 3) gegen den Takt betont; in allen anderen Versen ist solches nicht der Fall, nur die Fragewörter „Wie“ (V. 9) und „Was“ (V. 11) bekommen einen (unterschiedlich) kleinen Akzent, „Was“ stärker als „Wie“, welches eigentlich „Wie lange“ ist, mit dem Akzent auf a.

Ganz anders geht es in der zweiten Strophe zu: Der Bericht, dass das Ich keine Schätze begehrt hat, macht nur einen Vers aus (V. 5). Die Begründung umfasst dann drei Verse, wieder in einer rhetorischen Frage: dass man von den aufgehäuften Schätzen „das wenigste“ selbst verzehren könnte (V. 8), da die Wege kurz sind (V. 6), dass man also im Prinzip nur für potenzielle Diebe Schätze gesammelt hätte (V. 7). Hier sind die Reime sinnvoll: nicht begehrt / das wenigste selbst verzehrt (V. 5/8); auf kurzen Wegen / Schätze hegen (V. 6/7).

In der dritten Strophe geht es um die entscheidende Frage, wer ich bin. Das Ich beginnt mit zwei rhetorischen Fragen (V. 9-11), um kraftvoll mit der These zu schließen: [Es genügt,] wenn ich selber weiß, wer ich bin (V. 12). Die erste Frage greift noch einmal das Vanitas-Motiv auf und kann so primär zur Begründung des Verzichts auf Ehre und Schätze dienen (V. 9 f.). Mit dem Stichwort „Nachwelt“ wird dann aber doch zur These in V. 12 übergeleitet, indem das Desinteresse der Nachwelt, die auf dem später Toten bloß herumtrampelt (V. 10 f.), in einen Kontrast zu meinem Interesse an mir selber gestellt wird („ich“ betont, V. 12). Der Gedankenzusammenhang ist weithin nicht ausgesprochen, er stellt sich mir etwa so dar: Die Mitwelt hätte nur auf das geschaut, was ich habe (Schätze) und was ich darstelle (Ehre); die Nachwelt interessiert sich dafür nicht mehr, wenn ich begraben bin (V. 10) – aber ich selber, ich muss im Gegensatz zur Mitwelt jetzt wissen, wer ich bin, weil nur dieses für mich zählt – die kurze Zeit, die ich da bin; und wegen der Kürze der Zeit zählt nichts anderes, auch die Nachwelt nicht.

Der unsaubere Reim „untern Füßen / … zu wissen“ (V. 10/11) verbindet die Verse durch das Todesmotiv; die Verse 9/12 stehen im Verhältnis These (V. 12) – Begründung (V. 9) zueinander. Die zentrale These steht, wie gesagt, kraftvoll im letzten Vers und klingt so nach, wenn man das Gedicht gelesen hat.

Entfernt verwandt mit dem Gedicht „Ich“ ist „Der Sonderling“ aus den Liedern. Da bekennt der Ich-Sprecher, dass ihm im Gegensatz zu den anderen egal ist, ob ihm von den Mitmenschen attestiert wird, er sei kein Narr oder sei weise. In der letzten Strophe bekennt er:

Ein jeder, der mich kennt,
Spricht: Welcher Sonderling!
Nur diesem ists ein Ding,
Wie ihn die Welt auch nennt.

Dahinter steht unausgesprochen: Mir genügt es, wenn ich selber weiß, wer oder was ich bin – egal was die Leute sagen.

https://gedichte.xbib.de/Lessing_gedicht_Der+Sonderling.htm (Lessing: Der Sonderling)

In Tucholskys Gedicht „Das Ideal“ findet man am Schluss die bekannte Dreiheit wieder: „Etwas ist immer. / Tröste dich / Jedes Glück hat einen kleinen Stich. / Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. / Daß einer alles hat: / das ist selten.“

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,%20Gotthold%20Ephraim/Gedichte/Lieder%20(Ausgabe%201771) (Lessing: Lieder)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anakreontik (Anakreontik)

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/anakreon (Anakreon – Anakreontik)

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