H. Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) – gelesen

Dies ist ein historischer Roman von den Religions- und Bürgerkriegen in Frankreich im späten 16. Jahrhundert, von den Zuständen – Intrigen, Verschwendung, Verschwörung und Unzucht – am französischen Königshof und vom Aufstieg des Henri von Navarra zum König Heinrich IV. Und damit ist es auch ein Entwicklungsroman, der mit dem Interesse des Vierjährigen an Mädchen beginnt und mit dem Sieg des Mannes in der Schlacht von Arques gegen ein weit überlegenes Heer endet: „Er wird nächstens sechsunddreißig Jahre alt, dies war nun erst die Jugend. Über sein Gesicht, das verklärt ist noch eher durch gehabten Kampf und bestandenes Leid als aus Freude, rinnen mit dem Schweiß die Tränen.“

Über die vielen Frauen, Gefährten und Kämpfe im Leben des Henri von Navarra verliert man leicht die Übersicht. Konstanten in seinem Leben sind seine ehrgeizige Mutter Johanna, eine fanatische Protestantin; eine Zeit lang seine Ehefrau Margot, die unter der Fuchtel ihrer Mutter steht und zwischen Liebe und Familienloyalität schwankt; die böse Königsmutter Katharina von Medici und sein treuer, kluger und frommer Freund Mornay. Sein Vater Antoine von Bourbon hat Henris Mutter verlassen; nach dessen Tod wird Henri nominell Gouverneur der Provonz Guyenne, muss auf Betreiben Katharinas beizeiten am Hof bleiben und wird gegen seinen Widerstand zum Katholiken gemacht, was er später rückgängig macht. Die Kämpfe zwischen Reformierten („die Religion“ im Roman) und Katholiken, zwischen den Fürsten und der Krone, zwischen Spanien und Frankreich – wobei die römische Kirche mitmischt – ergeben ein undurchschaubares Gemisch.

Dass es sich letztlich um einen Entwicklungsroman handelt, kann man den französischen Moralités entnehmen, die am Ende jedes der neun Kapitel stehen: Aber indem er sich in dem Moment, in dem ihm alle schrecklichen Gefahren des Lebens bewusst wurden, fröhlich Ventre-Saint-Gris nannte, ließ er das Schicksal wissen, dass er die Herausforderung annahm und dass er seinen ursprünglichen Mut und seine angeborene Fröhlichkeit für immer behalten würde. (Aus der Moral am Ende des 1. Kapitels, übersetzt vom sehr guten DeepL, der nur gelegentlich kleine Fehler macht, deutlich besser als Googles Übersetzer)

Schon früh ist Henri gegen den Bürgerkrieg, schon früh ist sein Getreuer Mornay bei ihm, schon früh wird seine Mutter von Katharina ermordet, wodurch er „König von Navarra“ wird. Sehen Sie diesen jungen Prinzen, der bereits mit den Gefahren des Lebens konfrontiert ist, die darin bestehen, getötet oder verraten zu werden, die aber auch unter unseren Wünschen und sogar unter unseren großartigen Träumen lauern. (…) Um ihn vor den Verschwörungen der Menschen und den Fallen, die ihm seine eigene Natur stellte, zu schützen, gab es eine Person, die ihn bis zum Tod liebte und die er die Königin, meine Mutter nannte. (Moral am Ende des 2. Kapitels)

Es folgt die großartige Hochzeit mit Margot, der Schwester des Königs, die sexuell genauso freizügig wie Henri lebt, und ein paar Tage später die Bartholomäusnacht, hinter der die Königsmutter und Henri von Lothringen nebst dem vom Klerus aufgehetzten Pöbel stecken, gegen die der schwache König nicht ankommt. Margot wird durch ihre Mutter zu Henris Feindin. Beim religiös begründeten Gemetzel erkennt Henri: „Aber sie töten nicht für sich, sondern für andere, im Auftrag, um der Sache willen: das macht ihnen das gute Gewissen.“ Die Moral am Ende des Kapitels „Margot“ wendet sich an Henri: Zu spät, Sie sind verzaubert. Warnungen von allen Seiten helfen nicht mehr. Der König, Ihr Schwager, hat Ihnen nichts gesagt, und auch die Sorgen Ihrer Geliebten können Sie nicht alarmieren. (…) Doch wozu sollte das [sich ein Alibi zurechtlegen] gut sein, da Sie nun aus der Höhe fallen und umso härter dafür büßen müssen, dass Sie ohne Rücksicht auf Verluste glücklich sein wollten.

Es folgen harte Jahre am Königshof, Fluchtversuche scheitern. „Schule des Unglücks“ heißt das 5. Kapitel; Henri lernt zu hassen. Er unterwirft sich und geht widerwillig zur Messe. Bei der Belagerung von La Rochelle, an der mit dem König teilnimmt, verweifelt er am Sinn des Handelns und wendet sich dem Philosophieren zu. Er trifft Michel de Montaigne – ein Wendepunkt in seinem Leben. Im Gespräch mit Montaigne gehen ihm die Wirren des Handelns auf, die Unsinnigkeit der Religionskriege; vor allem aber eine Lehre Montaignes bestimmt fortan sein Leben: „Die Gewalt ist stark. Stärker ist die Güte. Nihil est tam populare quam bonitas.“ Der Herr im Himmel würdige uns selten, fromm zu handeln. Und eine Vorausdeutung auf ein späteres Ereignis ist Montaignes Bemerkung, Henri solle sich einmal vorstellen, dass ein Heer, statt anzugreifen, niederkniet zum Gebet – weil es von seiner Bestimmung zu siegen überzeugt ist. Unglück kann eine unverhoffte Chance sein, etwas über das Leben zu lernen. (…). Er lernt, sich zu fürchten und zu verbergen. Das kann immer nützlich sein, denn man verliert nie etwas, wenn man gedemütigt wird, wenn man Hass empfindet und wenn man sieht, wie die Liebe an der Misshandlung stirbt. Mit Talent kann man all dies vertiefen, bis es zu einem wohlerworbenen moralischen Wissen wird. Ein junger Herr, der einst an nichts zweifelte, wird sich durch die Übung im Zustand der Unterdrückung in einen wissenden, skeptischen, sowohl aus Güte als auch aus Verachtung nachsichtigen Mann verwandeln, der sich selbst beurteilen kann, während er handelt. Hier sieht man klar, dass dieser Roman ein Entwicklungsroman, fast ein Bildungsroman ist, wobei Bildung die des künftigen Königs meint.

Nach weiteren Kämpfen und Liebesabenteuern kommt es zur zweiten Begegnung mit Montaigne, der ihm sagt: „Ich liebe die ausgeglichenen, mittleren Naturen. Maßlosigkeit selbst im Guten wäre mir fast zuwider, jedenfalls aber verschlägt sie mir die Sprache.“ Er habe bei Henri sehen wollen, „ob ein maßvoller, zum Zweifel geneigter Sinn sich mit Erfolg erwehren könnte der Ausschweifungen der Unvernunft, die ihn überall bedrohen“. In der Moral am Ende des 6. Kapitels wird Montaignes Wort aufgegriffen, aber auch Henris Selbstbewertung als „Prinz von Geblüt“ genannt – ein Wort, mit dem er sowohl seine Eigenschaften als auch seine Rechte kennzeichnet; so betont er in Wirklichkeit die Vorrechte seiner moralischen Persönlichkeit.

Sein neuer Grundsatz lautet: „Wer seiner Pflicht nachkommt ist auch von meinem Glauben, ich aber bin vom Glauben derer, die tapfer und gut sind.“ Er übt Nachsicht gegen eroberte Städte und selbst gegen Männer, die ihn töten wollten; das spricht sich herum, das bringt ihm viel Sympathie und Zulauf. Als er hört, dass seine Mutter nach ihm und seiner Schwester noch einen Sohn außerehelich geboren hat, ist er erschüttert. Dessen Vater ist der Herzog von Goyon, dem man die Heirat einer Protestantin verweigert hat. Damit steht Henris Urteil über die Geistlichen, die die Heirat verhindert hatten, fest: „Die Worte dieser Geistlichen waren: Gute Sitten, Ärgernis und öffentliche Regelung – Worte, die nichts vom Geist verkündeten. Sondern sie alle behaupteten nur das Vorrecht der Zusammenlebenden, einander zu beobachten und auszuspähen, einander zu verurteilen, freizusprechen, auf alle Fälle aber einer herrschsüchtigen Gesamtheit die Macht zu geben über unsere Person.“ Henris Devise aber ist: Menschlichkeit; das erkennen die kleinen Leute an. Man beginnt sein Leben nicht mit großen, entscheidenden Schlachten. Man ist schon glücklich, wenn man sich im Schweiße seines Angesichts durch einen dunklen Kampf hindurchkämpft, der jeden Tag von Neuem beginnt. Der zukünftige König, der widerspenstige Kleinstädte und eine sich verweigernde Provinz Stein für Stein einnimmt, ist ein echter Arbeiter, auch wenn seine Arbeit eine besondere ist. (Aus der Moral am Ende des 7. Kapitels)

Es taucht eine neue Geliebte auf, eine reiche Gräfin, die ihm Soldaten finanziert und die Corisande genannt sein will. Unmerklich schreitet er voran. Alles dient ihm, seine Bemühungen und die Bemühungen der anderen, ihn zu verdrängen oder zu töten. Eines Tages stellt sich heraus, dass er berühmt ist und das Glück ihn bestimmt. Doch sein wahres Glück ist seine natürliche Standhaftigkeit. Er weiß, was er will, und unterscheidet sich dadurch von den Unentschlossenen. Er weiß vor allem, was gut ist und vom Gewissen der Menschen, die ihm gleich sind, akzeptiert wird. Dadurch hebt er sich deutlich von anderen ab. Niemand unter denen, die sich in dieser unruhigen Atmosphäre bewegen, ist sich der moralischen Gesetze so sicher wie er. Man braucht nicht weiter nach den Ursprüngen seines Ruhms zu suchen, der nie wieder verdunkelt werden wird. (Moral am Ende des 8. Kapitels)

Im letzten Kapitel (im Abschnitt: Der Ruf) wird wie bereits bei der Erzählung von der Bartholomäusnacht deutlich, dass die Zustände in Deutschland in Hitlers REICH, auch schon in der Weimarer Republik (oder heute der Trumpismus) mit gemeint sind, wenn der Erzähler die Massenbewegungen analysiert: Wer einer Massenbewegung beitritt, verlernt das Denken und versinkt darin „bis über den Kopf“. Die vom jetzt ermordeten Henri Guise geführte katholische Liga hat das Volk aufgehetzt und vom Hass getrieben dem König alle Steuern gestrichen. „Zuletzt kommt alles ans Ziel, es muß nur fest genug in die Köpfe gerammt sein: dann fügt sich die Wirklichkeit, sie verwandelt sich in den leibhaftigen Unsinn, und die lange genug gepredigte Lüge vergießt wirkliches Blut. Dabei sind dies Spießbürger, starrren von Unwissenheit über die Religion, über den Staat, über alles Menschliche.“ Dahin gehört auch die Einsicht darin, was im Namen des totalen Volkes geschieht (im Unterkapitel: Zueinander streben) oder im Namen der wahren Religion.

Entscheidend ist die Schlacht von Arques, wo sich der vom letzten König ernannte Nachfolger Heinrich von Navarra gegen das katholische Heer behauptet. Der endgültige Triumph wird nicht nur durch seine eigenen Opfer erkauft: Heinrich wird Zeuge der Opferung von Menschen, die er gerne behalten hätte. (…) Auf dem Schlachtfeld von Arques weint König Heinrich, der von den vielen Kämpfen schweißgebadet ist, während das Siegeslied erklingt. Er weint aus Freude. Andere Tränen vergießt er über seine Toten und über alles, was mit ihnen endet. Es war seine Jugend, die an diesem Tag endete. (Moral nach dem letzten Kapitel)

https://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/HenriQuatre (viel besser als Wikipedia)

https://www.tour-literatur.de/Autoren_texte/mann_heinrich.html (H. Mann: Leben und Werk)

https://literaturkritik.de/reich-ranicki-heinrich-mann-ein-abschied-nicht-ohne-wehmut-1987,27662.html (Reich-Ranicki über die Werke und Würdigungen H. Manns)

https://dewiki.de/Lexikon/Heinrich_Mann (ähnlich, aber viel kürzer)

https://humanismus-aktuell.de/media/2020/03/Text_51_VRiedel_Heinrich-Mann.pdf (H. Mann als Humanist)

—————

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(Frankreich) Heinrich IV.

https://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_III._(Navarra) (seine Mutter)

https://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_III._(Navarra) (seine Ehefrau Margot)

https://de.wikipedia.org/wiki/Caterina_de%E2%80%99_Medici (seine Schwiegermutter, die große Gegenspielerin)

https://de.wikipedia.org/wiki/Bartholom%C3%A4usnacht (Bartholomäusnacht)

https://museeprotestant.org/de/notice/die-bartholomausnacht-24-august-1572/ (dito)

Über die historischen Ereignisse, die im Roman erzählt werden, informiert man sich am einfachsten in den unterm Strich genannten Links.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..