Fouqué: Undine – Analyse des Märchens (Kap. 1-8)

Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung „Undine“, 1811 erschienen, ist im 19. Jahrhundert immer wieder gelesen, auch vertont worden (1816 von E.T.A. Hoffmann, 1845 von Lortzing) und wirkt bis zu Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ (1961) nach. Ich möchte zunächst kurz untersuchen, wie Undine und ihr Ritter sich miteinander verbinden; denn das Motiv der Wasserfrau, die sich einen Mann besorgt, ist hier anders als in den bekannten Gedichten Goethes („Der Fischer“, 1779, neue Fassung 1789) und Heines („Ich weiß nicht“, 1824) gestaltet, auch anders als in Andersens Märchen von der kleinen Seejungfrau. Ich werde hier die ersten acht Kapitel berücksichtigen, weil sie ein in sich geschlossenes Märchen sind, dem nur noch die Schlussformel fehlt: „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ Ich orientiere mich hier am Text in „Meistererzählungen der deutschen Romantik“, dtv 1985, S. 63 ff.

Zeitstruktur: Episodisch wird nach der Datierung (S. 63) das Geschehen weniger Tage erzählt: ein Abend, eine Nacht, ein Morgen (bis S. 79); die Vorgeschichte wird durch die Erzählungen des Fischers (S. 69 ff.), wie sie an Undine gekommen sind, und des Ritters, wie er zu ihnen gekommen ist (S. 75 ff.), nachgetragen. – Es folgt zu Beginn des 5. Kap. überraschend eine Ansprache an den Leser (S. 79), wo der Erzähler an die Vorstellungen oder Erfahrung von Idylle appelliert; sonst hält der Erzähler sich zurück und berichtet neutral; er kann aber in das Innere der Figuren, vor allem des Ritters Huldbrand hineinsehen (z.B. S. 92: „Der Ritter wollte sich einreden…“), kennt aber auch das Empfinden Undines (S. 93).
Auf den Leserappell folgt ein Sammelbericht über eine unbestimmte Zeit, wo Huldbrand in der Familie des Fischers lebt (S. 79 f.), bis eines Tages die Störung eintritt, dass der Wein ausgegangen ist (S. 80) und Undine mit Hilfe ihres Onkels das neue Fass besorgt (S. 81). An diesem Abend kommt auch der Priester, und der Erzähler berichtet, wie Huldbrand um die Trauung bittet und diese vollzogen wird (bis S. 89). Das 8. Kap. gilt dann dem Tag nach der Hochzeit, der mit dem Treueschwur des Ritters endet (S. 93). – Mir fällt auf, dass vornehmlich von dem erzählt wird, was am Abend, in der Nacht und am Morgen geschieht: Das passt so recht zu einem Märchen von den Elementargeistern und der Verbindung mit einer Undine.

Die Welt der Wasserwesen besteht hier aus Undine und ihrem Onkel Kühleborn. Der tritt gelegentlich wie ein riesiger weißer Mann auf (S. 64, 78, 86 f.), ist dann bei näherem Zusehen ein Bach (S. 64), der auch zum Strom werden kann (S. 71 f.). Er hat Huldbrand gerettet (S. 76), hat ihn zur Hütte getrieben (S. 78) und hat auch den Priester herbeigeschafft (S. 84); dass er dann auch ein Weinfass besorgt (S. 81), verwundert weiter nicht. Undine weiß, was das Wasser tun wird (S. 91), sie hält den Regen zurück (S. 81) und hat offenbar auch Einfluss auf das, was Kühleborn tut (S. 83, ihre Drohung). Kühleborn schaut bei ihrer Trauung zu (S. 86 f.).
Undines Geschick wird in zwei Erzählungen vorgeführt: Der Fischer hat sie als Ersatz für seine im Wasser verschwundene Tochter gefunden (S. 69 f.); ihre wahre Vorgeschichte erzählt Undine ihrem Mann nach der Trauung (S. 91 f.), nachdem sie kurz zuvor noch seinen Fragen nach den Erdgeistern und Kühleborn ausgewichen war (S. 89). Nun stellt sie ihm frei, ob er jetzt mit einer beseelten Undine leben oder lieber fortgehen will („Und willst Du mich verstoßen, so tu‘ es nun…“, S. 92 f.).
Im Gespräch mit Huldbrand am Morgen nach der Hochzeit erklärt sie ihm auch das Wesen der Elementargeister: In den Elementen gibt es Wesen, die fast wie Menschen aussehen; sie leben leicht dahin, aber sie zerstieben mit Geist und Leib, weil sie keine Seele haben (S. 91 f.). Ihr Vater, ein mächtiger Wasserfürst, wollte, dass eine Tochter eine Seele bekommt, und so ist ihr Geschick, das Zusammentreffen mit Huldbrand, weithin von mächtigen Geistern inszeniert; eine Seele kann eine Undine nur durch die innigste Liebe eines Menschen gewinnen.
Als Undine dem Priester bekennt, dass sie keine Seele hat (S. 87), ist dieser zutiefst verletzt; doch sie fordert Duldsamkeit für ihre Existenz und gesteht auch, dass sie Angst hat, bald eine Seele zu bekommen (S. 88). Sie hat sich zuvor schon als Gottes Geschöpf bekannt und auch die Taufe über sich ergehen lassen (S. 70 f.); sie verehrt durchaus Gott, freilich auf ihre Weise (S. 83) – dazu passt auch ihre un-christliche Moral, dass jeder sich selbst der Nächste ist und die anderen Leute einen nichts angehen (S. 82). Der Priester kommt jedenfalls zum Gesamturteil, dass nichts Übles an ihr ist, „wohl aber des Wundersamen viel“ (S. 88).
Ihrer Eigenart gemäß hat Undine (von lat. unda: Welle, Woge, Wasser, also etwa: die Wellenförmige, die Wasserfrau) viel dummes Zeug im Kopf, arbeitet nicht, scherzt immer, kann zürnen und wiederum ganz lieb sein. Gleich von Anfang an nähert sie sich Huldbrand zutraulich (S. 66 f.) und gewinnt ihn zauberhaft für sich (S. 66 ff.), wobei ihr alles recht ist, was Huldbrand meint (S. 74). Sie will ihn um jeden Preis erobern und beißt ihn deshalb, als er von Bertaldas Gunst erzählt (S. 75).
Er lebt mit ihr in einer Umgebung, die vom Erzähler bewusst als Idylle stilisiert ist (S. 79), und er meint auch bald, er sei Undines Bräutigam (S. 80). Als der Priester da ist, bricht aus ihm der Wunsch oder die Bitte hervor, noch am gleichen Abend getraut zu werden: „Da brach es aus des Ritters Munde…“ (S. 86), welcher zuvor „in tiefen und seltsamen Gebilden seines Innern verloren“ war (S. 85). Dieser Wunsch hat also etwas wenig Überlegtes, etwas gewaltsam Triebhaftes an sich; so ist Huldbrand in der Hochzeitsnacht auch von dunklen Träumen beunruhigt (S. 89). Auf der kleinen Insel im Wasser offfenbart Undine ihm jedoch die ganze Wahrheit und stellt ihn vor die Wahl, zu gehen oder zu bleiben (S. 92 f.); Huldbrand trägt sie ans Ufer zurück. „Hier erst schwur er unter Tränen und Küssen, sein holdes Weib niemals zu verlassen…“ (S. 93).
Durch die Heirat bzw. nach der Hochzeitsnacht hat Undine eine Seele erhalten; sie ist anders geworden, erscheint den Fischersleuten fremd und doch bekannt, hört mit ihren unsinnigen Scherzen auf und arbeitet erstmals (S. 90); sie empfindet Dankbarkeit und bittet den Priester, für ihre Seele zu beten (S. 90). Sie sagt selbst, dass sie ein „leichtes und lachendes Kind“ war und nun eine „beseelte, liebende, leidende Frau“ geworden ist.

Damit könnte das Märchen zu Ende sein; aber die Formel von der liebenden, leidenden Frau evoziert die Fortsetzung von der Liebe und vom Leiden Undines, was durch die Neubewertung der Figur Bertalda seitens des Erzählers im 9. Kapitel möglich wird. Auch die beiden Mahnungen des Priesters, Huldbrand möge seiner Frau gut und treu sein (S. 88, 90), bereiten schon auf Ereignisse vor, in denen diese Mahnungen sich als berechtigt erweisen werden. Aber insgesamt ist dieser erste Teil doch als Märchen-Idylle angelegt: Schon die Erdzunge, auf der die Hütte des Fischers steht, scheint sich aus Liebe in die Flut hingedrängt zu haben, und diese hat mit verliebten Armen nach der schönen Aue gegriffen (S. 63); so ist in den ersten Sätzen der Erzählung bereits in der Beschreibung der Natur vorgezeichnet, dass sich ein Paar finden und verbinden wird.

Im zweiten Teil taucht dann als Gegenfigur zu Undine Bertalda erneut auf; das Verhältnis der beiden Frauen, deren eine die leibliche und deren andere die Adoptivtochter der Fischersleute ist, die also beinahe Schwestern sind, ohne es doch zu sein, ist ambivalent: Undine sieht ihr Geschick mit dem Bertaldas verzweigt, „und wir wollen es fürder so innig verzweigen, dass es keine menschliche Gewalt zu trennen imstand sein soll“ (S. 105); Bertalda dagegen kann sich „eines Schauders“ nicht erwehren, als sie Undines Identität erfährt, und hat kein Verständnis mehr für Huldbrands Liebe („wie der Ritter gegen ein Wesen so verliebt und freundlich tat“), weil ihr Undine „mehr gespenstisch als menschlich“ vorkommt (S. 106).
Es fehlt also nicht an Warnungen und Mahnungen, der Ritter möge seiner Undine treu sein (S. 107, 107, 110) – psychologisch-menschlich kaum motiviert verstößt er unter dem Eindruck Bertaldas seine Frau („Bleib bei ihnen in aller Hexen Namen mit all‘ deinen Geschenken und lass‘ uns Menschen zufrieden, Gauklerin Du!“, S. 119 f.), wenn auch Undine diese Verstoßung verzögert hat (S. 118). So kommt Huldbrand nach seiner neuen Eheschließung durch Undines Kuss zu Tod (S. 128), während Undine „ein silberhelles Brünnlein“ wird, dessen Wasser das Grab ihres Ehemannes umschließt und sich in einen stillen Weiher neben dem Friedhof ergießt (S. 129).

Zur Deutung (Interpretation) der „Undine“ Fouqués
Walter Schmitz hat in seinem Kommentar die Figuren, ihre Namen und ihre Beziehung gedeutet (S. 373 ff.). In der Verwandlung der flüchtigen Welle Undine in die silberhelle Quelle erkennt er, dass mittels der Erzählung „Undine“ die arme verstoßene Undine ins Reich der Poesie heimgekehrt ist (S. 380). Manfred Kluge hat im KLL die Erzählung wenig schmeichelhaft bewertet; seine Bewertung wird durch Peter von Matt (Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, 1989 = 1991 dtv 4566. Kap. XVII: Die verratene Wasserfrau, S. 229 ff.) weithin geteilt, obwohl von Matt in der Erzählung trotzdem ein Stück Weltliteratur sieht, welches die deutsche Gegenreligion der Romantik verkörpere (S. 229): Die literarische Kultur der Geister vor 1830 sei „Verbildlichung jenes Glaubens an ein weltimmanentes Eins und Alles“ (S. 236), stelle damit aber eine Gegenposition gegen die christlich-kirchliche Orthodoxie und zugleich eine Auflehnung gegen alle Obrigkeit dar. Im Verrat an Undine ereigne sich zugleich „der Verrat am neuen Gott, geschieht die Kapitulation vor dem alten Vater und gleichzeitig, untrennbar, die Kapitulation vor den alten Mächten im politischen Sinn“ (S. 237 f.).
Vielleicht ist von Matts Theorie etwas wild geraten; hätte er ganz Recht, dann hätte Pater Heilmann Undine nicht so milde beurteilen (S. 88) und sie „ein frommes, vielgetreues Weib“ (S. 122) nennen dürfen, welches ihm im Traum erschienen ist – und Heilmann ist wahrlich ein Vertreter des wahren Christentums! Es gibt jedoch so viele und tiefschürfende Untersuchungen zum Thema der Wasserfrauen, dass ich mich mangels Kompetenz lieber aus solchen Streitigkeiten heraushalte.
Eine Interpretation unter romantischen wie unter feministischen Aspekten bietet Gisela Dischner in dem Sammelband „Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen.“ Hrsg. von Paul Michel Lützeler, 1981, S. 264 ff.

Nachträglich finde ich einen Kommentar H.A. Korffs (Geist der Goethezeit, Bd. IV, 2. Aufl. 1955, S. 341 ff.) zur Motivgeschichte, zur Deutung und zur Einordnung in die romantischen Erzählungen.

Zu Fouqués „Undine“ findet man im Netz einiges, auch wenn man nichts bezahlen will; auch das Suchwort „Wasserfrau (Märchen OR Sage)“ bzw. „Wasserfrauen“ ist ergiebig:

http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/wissen/leserbeitraege/arlt_undine.pdf (Vortrag: Inhalt, Deutung)

http://www.sphinx-suche.de/elementa/undine.htm (Geschichte des Stoffs)

http://digitool.library.mcgill.ca/thesisfile46382.pdf (große Untersuchung)

http://mythos-magazin.de/mythosforschung/mk_wasserfrau.pdf (Untersuchung)

http://de.wikipedia.org/wiki/Wasserfrau

http://de.wikipedia.org/wiki/Meerjungfrau

https://de.wikisource.org/wiki/Prolog_%28Lyrisches_Intermezzo_1827%29 (das Motiv bei Heine: Prolog des Lyrischen Intermezzos)

http://de.wikipedia.org/wiki/Undine_(Friedrich_de_la_Motte_Fouqué) (i.W. Inhalt)

http://www.weissensee-verlag.de/autoren/Malzew/Malzew-kurz.pdf (Anfang einer großen Untersuchung)

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/langenacht/1081618/ (Sendung Deutschlandfunk)

http://www.ndr.de/ndrkultur/programm/sendungen/am_abend_vorgelesen/aavfouque101_page-2.html (Sendung NDR)

www.g.eversberg.eu/DUpdf/FouqueUndine.pdf (Materialien)

http://www.lerntippsammlung.de/Motiv-der-Wasserfrau-in-der-Literatur.html (Gliederung eines Referats)

http://www.referate10.com/referate/Literatur/8/Undine—Friedrich-Baron-de-la-Motte-Fouque-reon.php (Inhalt, schülerhafte Interpretation)

http://www.e-scoala.ro/referate/germana_undine.html (dito)

http://www.maerchenatlas.de/kunstmarchen/undine/ (Nacherzählung)

http://gerthans.privat.t-online.de/49851/58078.html (Psycho-Interpretation)

http://stephanreuthner.de/_friedrich_de_la_motte_fouque.html (Literatur 1900-2000)

http://www.iff.ac.at/oe/ifftexte/band5kl.htm (Frau und Wasser)

http://www.nexusboard.net/sitemap/6563/was-sind-eigentlich-nixen-oder-wasserfrauen-t294606/

http://www.uni-due.de/literaturwissenschaft-aktiv/nullpunkt/pdf/bachmann_undine.pdf (Interpretation Bachmann: Undine geht)

http://genderini.files.wordpress.com/2009/01/der_wasserfrauen_mythos_aus_weiblicher_sicht_liwi_windisch1.pdf (ähnlich)

http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/melusine_schoessler.pdf (zu Goethe: Die neue Melusine)

http://www.erfurt-lese.de/index.php?article_id=191 (Sage aus Erfurt)

http://maerchenbasar.de/die-wasserfrau-4701.html (amerikan. Mächen)

http://www.roterdorn.de/inhalt.php?xz=rezi&id=15819 (Rezension)

http://www.kultura-extra.de/literatur/literatur/rezensionen/rezension_antje_syfuss_nixenliebe.php (Rezension)

http://www.germanistik-im-netz.de/museumstrauhof/nixen_bibliographie.pdf (Literaturliste, 2005)

http://www.taubertal.de/856.html („abweichende Lebensläufe“: Typen)
http://www.hansgruener.de/docs_d/kanal/wendelstein_wasserfrauen.htm (Märchen von den drei Wasserfrauen)
http://www.maerchenlexikon.de/at-lexikon/at316.htm (zu: Die Nixe im Teich)
http://www.berlinonline.de/liebe-und-dating/liebeswissen/liebe-in-maerchen/index.php?page=5 („psychologische“ Deutung von Nixenmärchen)
http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2005/12/13/a0177 (moderne Theaterstücke, thematisch verwandt)
http://www.liebesgedichte-liebes-gedichte.de/maerchen/maerchen-erzaehlen.htm („modernes“ Märchen)

daneben weitere lokal gebundene Sagen…