Rilke: Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen – Interpretation

Zum Verständnis des Begriffs „Weltinnenraum“

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen…

Text

http://www.rilke.de/gedichte/es_winkt_zu_fuehlung.htm

Das entscheidende Stichwort des 1914 entstandenen Gedichtes – der 1. Weltkrieg war gerade ausgebrochen – aus Rilkes Nachlass ist „Weltinnenraum“, ein Neologismus. „Weltinnenraum“ hat bei Google heute 42.200 Ergebnisse, es gibt ein Weltinnenraum-Forum für „Spiritualität und Bewusstseinsentwicklung“; doch in den Wörterbüchern sucht man „Weltinnenraum“, das von Rilke erfundene Wort, noch vergebens (ich habe vier Wörtrbücher angeschrieben, um das zu ändern). – Ich referiere dazu die Ausführungen Bollnows:

„Die mystische Erkenntnis der Dinge verdichtet sich bei Rilke in dem Begriff des Weltinnenraums. […] Das Gedicht geht von dem Gedanken aus, daß die verschiedensten uns begegnenden Dinge einen Anspruch an uns bedeuten und daß wir nur meist zu stumpf sind und nur in den wenigsten Fällen diese Stimmen in uns aufzunehmen vermöchten. Es ist also das Problem der echten Begegnung, in der der Mensch sich die ihm begegnenden Dinge innerlich lebendig macht und dabei zugleich in den größeren Zusammenhang der Dinge einbezogen wird.“ (S. 157)

Es handelt sich hier um eine metaphysische Lehre, dass es eine Kommunikation zwischen dem Inneren des Menschen und dem Inneren der Außenwelt gibt; Rilke greift damit auf Novalis zurück: Mensch und Welt haben je ein Inneres, welche auf geheimnisvolle Weise identisch sind (S. 157 f.).

Es gibt zwei Erlebnisse Rilkes, in denen er „auf die andere Seite“ der Natur gelangt sei (S. 158 ff.): in Steigerung der Wahrnehmung, Distanz und doch Gefühl des Verstehens (Offenbarung), Aufgehen in der Zeitlosigkeit, Blickwendung nach innen [Rechtschreibfehler S. 161: Raum > Kaum]; es werde eine den Menschen verwandelnde Kraft erlebt, Neues („Überzähliges“) breche hervor (S. 162). – Der Weltinnenraum ist der Raum der in den Dingen vorhandenen Wesenheiten; dieser Innenraum ist zugleich der des menschlichen Inneren; was in der äußeren Welt geschieht, geschieht auch im Menschen (S. 162). Der Mensch nimmt nicht nur wahr, sondern schafft innerlich an der Welt mit (S. 163). Zehn Jahre später heißt es in einem anderen Gedicht:

Raum greift aus uns und übersetzt die Dinge:

daß dir das Dasein eines Baums gelinge,

wirf Innenraum um ihn, aus jenem Raum,

der in dir west. Umgibt ihn mit Verhaltung. Er grenzt sich nicht.

Erst in der Eingestaltung in dein Verzichten wird er wirklich Baum. (S. 164)

Den inneren Raum könne man hier mit „Seele“ übersetzen (S. 164). Der menschliche Weg nach innen ist schon ein Verzichten, das reine Hören ermöglicht „die ungetrübte Aufnahme fremder Wesenheiten“; nur so wird der Baum wirklich Baum (S. 165).

Eine kurze Analyse des Gedichts gibt es bei Ziolkowski. Ich schreibe nur ein paar meiner Eindrücke zur Analyse auf:

Das Gedicht besteht aus zwei Teilen; in Str. 1-3 werden zwei oder auch nur eine Erfahrung beschrieben:

  • dass es aus allen Dingen zu Fühlung winkt,
  • dass sich eins im anderen erkennt,
  • dass Gleichgültiges an uns erwarmt.

Der Sprecher ist in seinen Erfahrungen präsent, die er „uns“ zuschreibt (V. 6, 3 usw.), ohne diese Gruppe näher zu bestimmen; im Pronomen „du“ (V. 11) ist jedoch neben „man“ auch „ich“ gemeint. Er spricht von einem eshaften Geschehen (winken, wehen, V. 1 f.), an dem „du“ auch aktiv beteiligt bist („umarmend und umarmt“, V. 12). Auf diese Weise wird auch Abgelebtes lebendig, erschließt sich erst (V.3 f.). Metrum ist der fünfhebige Jambus mit wechselnden Kadenzen und Reimformen; meistens macht ein Vers einen Satz aus, was das Sprechen ein wenig beruhigt.

Str. 4-5 spricht er in einem erklärenden Gestus (V. 13-18); dabei führt er den Begriff „Weltinnenraum“ ein (V. 14), zum Schluss beschreibt noch einmal die bereits genannte Erfahrung (V. 11 f.) in anderen Worten (V. 19 f.). Dabei wird auch das Pronomen „ich“ verwendet (V.15 ff.), wobei dieses Ich die gleiche Bedeutung wie „du“ (V. 11) hat.

Unklar ist mir, warum der schönen Schöpfung Bild sich ausweinen muss, wo es doch mit mir im Weltinnenraum steht und umarmt wird – da ist der Verdacht nicht auszuschließen, dass „das Haus“ (V. 17) ein Reimwort brauchte.

Ich sehe in Rilkes nebulöser Metaphysik ein spätes Kind der Romantik: In den Weltinnenraum gehörten eigentlich auch die Frittenbude und der Kugelschreiber – aber wie hörte es sich an, wenn man in V. 10 die ‚naturalen’ Größen durch „Kugelschreiber, Frittenbude, Steuerbescheid“ ersetzt? Das klappt nicht; so wenig es den edlen Wilden gab, so wenig werden wir den Weltinnenraum betreten. Vielleicht ist der Weltinnenraum nur als der musikalische Raum zu retten, von dem Jan Reichow spricht. Man kann das Etikett „Weltinnenraum“ auf vieles kleben, weil es begrifflich ganz unbestimmt, aber schön anzusehen ist; ich habe unten einige Fälle notiert, in denen es gebraucht wird.

„Schopenhauers “Ideen” leben in Rilkes Poetik weiter. Wie bei Schopenhauer (und Nietzsche) fällt der Poesie eine rettende Funktion zu. Laut der 9. Elegie entledige das poetische Sprechen oder “Sagen” (“Preisen”; “Rühmen”) die flüchtigen Dinge ihrer Vergänglichkeit und verleihe ihnen eine unsichtbare, aber ewige Sprachform. Es wandle das Zerbrechliche – den schwachen Menschen, “uns, die Schwindendsten”, einbegriffen – in unsterbliche Sprache um und gebe ihm das Geleit in den besagten “Weltraum” (so in der 1. Elegie) oder “Weltinnenraum”: den großen Raum, in dem der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt/Willensobjekt aufgehoben erscheint und die Dinge ihrer Verzweckung durch die Menschen entzogen sind.“ (Roland Duhamel)

http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/gequ.10196/pdf (Theodore Ziolkowski, dort S. 41 ff.)

http://www.otto-friedrich-bollnow.de/doc/Rilke4.pdf (Otto F. Bollnow, dort S. 157 ff.: Weltinnenraum – mit einem Druckfehler auf S. 162: statt „Eides“ muss es „Eidos“ = (griech.) ‚das Wesen’ heißen.

http://www.swr.de/-/id=7117178/property=download/nid=659852/1805w09/swr2-essay-20110103.pdf (Rundfunksendung von Jan Reichow über „Weltinnenraum Musik“ – wo das Gedicht zitiert wird; der Hörraum wird über den „Weltinnenraum“ verdeutlicht, S. 16 ff.)

http://johannesklinkmueller.wordpress.com/2009/05/28/rainer-maria-rilke-weltinnenraum/ (meditative Paraphrase, Joh. Klinkmüller)

http://www.lyrikrilke.de/index.php?option=com_content&view=article&id=71:gedanken-zu-den-gedichten-qausgesetztq&catid=35:gedichtbetrachtung&Itemid=55 (andere Meditation über den Weltinnenraum)

http://www.acbm.de/rilke_und_die_dinge.pdf (B. Marx: Rilke und die Erfahrung der Dinge)

http://books.google.de/books?id=0U5d6RT-E54C&pg=PA226&lpg=PA226&dq=rilke+es+winkt+zu+f%C3%BChlung+fast+aus+allen+dingen&source=bl&ots=o9ADKMR3zN&sig=VN4c-hFkXcYNOS1ZtmMLk4Ny6Y4&hl=de&sa=X&ei=e4ToU52yMu6S7AbBioHoDw&ved=0CC4Q6AEwAzgK#v=onepage&q=rilke%20es%20winkt%20zu%20f%C3%BChlung%20fast%20aus%20allen%20dingen&f=false (Artikel „Rilke“ in H. von Dobeneck: Das Sloterdijk-Alphabet)

http://othes.univie.ac.at/20342/1/2012-05-13_0700466.pdf (die Konstruktion von Raum bei Rilke und Nabokov, dort S. 67 ff.)

Vortrag

https://www.youtube.com/watch?v=L2_mV_dqw00 (Joh. Schön, gesungen)

http://www.heiligenfeld.de/Publikationen/vortrag-weltinnenraum-und-bewusstseinswissenschaften-von-dr-joachim-galuska.html (Dr. J. Galuska im Rahmen seines Vortrags „Weltinnenraum und Bewusstseinswissenschaften“)

Sonstiges

http://mitrilkedurchdasjahr.blogspot.de/2011/05/sonntagsthema-rilke-uber-cezanne-teil_22.html (Rilke über Cezanne – Klärung des Kunstverständnisses)

http://www.osp-hh.de/vortrag_HMEmrich.pdf („Was Engel und Avatare uns sagen können“: wo das Gedicht zitiert wird)

http://www.frank-k-richter.de/page/malerei/linien-der-nacht.php (Selbstvorstellung des Malers Frank K. Richter – wo das Gedicht zitiert wird)

http://www.psychosomatik-basel.ch/deutsch/bildung/dienstagmittagfortbildung/pdf/2014/gruninger200514v.pdf = http://www.pkzs.ch/media/files/Tempel-im-Geh-r_-ber-die-Heilkraft-des-H-rens_Nicolai-Gruninger.pdf (N. Gruninger: Über die Heilkraft des Hörens – wo das Gedicht zitiert wird)

http://www.evangelisch-dorp.de/downloads/Gbrief-2-2014-web.pdf (Gemeindebrief der Evang. Kirchengemeinde Solingen-Dorp, dort S. 11 – wo das Gedicht zitiert wird)

http://markustermin.com/2009/01/13/von-den-gesicherten-grundlagen-der-astrologie/ („Von den gesicherten Grundlagen der Astrologie“ – wo das Gedicht zitiert wird)

http://www.randomhouse.de/leseprobe/Die-Geschenke-meiner-Mutter-Roman/leseprobe_9783421046529.pdf (Roman „Die Geschenke meiner Mutter“ – wo das Gedicht als Motto zitiert wird)

http://www.bgdv.be/Dokumente/GM-Texte/gm58_duhamel.pdf (Duhamel: zu den philosophischen Grundlagen u.a. Rilkes – wo das Gedicht zitiert wird)

https://www.mh-hannover.de/fileadmin/mhh/download/ueberblick_service/Info_08.03/6-17-Titelthema_Layout_1.pdf (Die Psychologen H. Emrich und D. Dietrich sprechen über Gefühle – wo das Gedicht als Beleg für die Existenz des Bauchgefühls von H. Emrich zitiert wird, S. 7)

http://www.mika-do.de/pdf/Weltinnenraum_Leseprobe.pdf (Mike Kaiser über die Aktivierung des eigenen Weltinnenraums – wo das Gedicht zitiert wird, S. 7)

http://waldviertelleben.blogspot.com/2014/05/rilke-und-seepferdchen.html (Erinnerung an die Kindheit in Italien, bei Schloss Duino – wo das Gedicht zitiert wird)

http://home.arcor.de/GDN2/Seiten/Publikationen/PaqueZenMi.pdf („Weltinnenraum“ ist eine Einführung in das Werk des Malers Zeng Mi überschrieben.)

http://www.internet-werbeagentur-mainz-wiesbaden.de/?downloadfile=BookletRike.pdf (Lieder von Rike Martin: Ein Leben in Verbundenheit – wo das Gedicht zitiert wird)

http://www.logeion.net/veroeffentlichung/items/lexikon-der-raumphilosophie.html (Christian J. Grothaus hat im „Lexikon der Raumphilosophie“ einen Artikel über „Weltinnenraum“ geschrieben)

Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, 2006; Rezensionen:

http://www.textem.de/index.php?id=604

http://www.deutschlandfunk.de/psychedelischer-kapitalismus.700.de.html?dram:article_id=82281

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/peterchens-mondfahrt-1215038.html

http://www.deutschlandradiokultur.de/peter-sloterdijk-im-weltinnenraum-des-kapitals.988.de.html?dram:article_id=153773