Von einem armen Studenten, der aus dem Paradies kam

Von einem armen Studenten, der aus dem Paradies kam, und einer reichen Bäuerin

Ein armer Student, der nur wenig Geld im Beutel hatte und lieber die Füße unter den Essenstisch stellte, als fleißig zu studieren, kam eines Tages durch ein Dorf am Hause eines reichen Bauern vorbei. Der Bauer war nicht daheim, sondern zum Arbeiten in den Wald gefahren. Die Frau aber, die früher schon einen Mann gehabt hatte, der Hans geheißen und vor einigen Jahren gestorben war, stand vor dem Hause. Als sie den Studenten erblickte, sprach sie ihn an und fragte, wer er sei und woher er komme. Der Student antwortete: „Ich bin ein armer Student und komme aus Paris.“ Die gute, aber einfältige Frau verstand dies nicht recht und meinte, er habe gesagt, er komme aus dem Paradies. Deshalb fragte sie ihn nochmals: „Wie? Ihr kommt aus dem Paradies?“ – „Ja, liebe Frau“, antwortete der Student, denn er merkte gleich, wen er vor sich hatte. Da sprach die Frau: „Lieber, guter Freund, kommt doch mit in die Stube; ich möchte Euch noch Weiteres fragen.“
Als er nun in die Stube kam, hieß sie ihn sich setzen und begann: „Mein guter Freund, ich habe früher schon einen Mann gehabt, der hieß Hans, der ist vor drei Jahren gestorben. Ach, du mein lieber Hans, Gott tröste deine liebe Seele! Ich weiß, dass er im Paradies ist; er ist immer so ein frommer Mensch gewesen. Lieber Freund, habt Ihr ihn nicht im Paradies gesehen? Ober kennt Ihr ihn nicht?“ Der Student fragte: „Wie heißt er denn mit Zunamen?“ Sie sprach: „Man hat ihn nur Hans Gutschaf genannt; er schielt ein wenig.“ Der Student besann sich kurz, dann sagte er: „Natürlich, an den erinnere ich mich jetzt.“ Da freute sich die Bäuerin und fragte: „Lieber Freund, wie geht‘s ihm denn, meinem guten Hans?“ Der Student antwortete: „Schlecht genug. Der arme Kerl hat weder Geld noch Kleider. Wenn gute Kameraden nicht etwas für ihn getan hätten, wäre er längst verhungert. Bei unseren Festen muss er als Kellner die anderen bedienen.“
Als die Frau dies vernahm, fing sie an zu weinen und jammerte: „Ach, du mein Hans, bei mir hast du nie Mangel gehabt, und nun musst du in jener Welt Hunger leiden! Hätte ich das gewusst, ich hätte dich mit Kleidern und Geld versorgt, dass du wie die andern leben könntest; du hast ja noch gute Kleider genug im Schrank hängen. Wenn ich nur einen Boten hätte, ich würde sie dir schicken, und eine Stange Geld dazu.“ Als der Student dies hörte, sprach er zu der Frau: „O liebe Frau, seid unbesorgt! Wenn es Euch nur an einem Boten mangelt, so will ich Euch wohl einen Gefallen tun und alles zu Eurem Hans bringen; denn ich gehe demnächst wieder ins Paradies zurück, ich habe auch noch anderen Geld zu bringen.“ Da freute sich die Bäuerin, ging und holte dem Studenten zu essen und zu trinken und ermunterte ihn, tüchtig zuzulangen. „Inzwischen will ich“, sagte sie, „die Sachen zusammensuchen.“ Sie ging also hinauf in die Kammer zu dem Kasten, wo Hansens Kleider lagen, nahm etliche Hemden, zwei Paar Hosen, den gefütterten Rock sowie etwas Unterwäsche und packte alles ordentlich zusammen, damit man es gut tragen könne. Danach holte sie noch etliche Gulden und anderes Geld, steckte alles sorgfältig in einen Beutel, gab’s dem Studenten und schenkte ihm obendrein etwas, damit er sich seiner Aufgabe mit Eifer widmete. Als er nun gegessen und getrunken hatte, nahm er das Kleiderbündel auf die Schultern, bedankte sich bei der Frau und zog davon.
Gegen Mittag kehrte der Bauer aus dem Wald heim. Die Frau lief ihm entgegen und sprach: „Lieber Mann, ich muss dir ein Wunder berichten. Es war ein Student bei mir, der kam aus dem Paradies und kannte meinen seligen Mann sehr gut. Er hat mir gesagt, wie arm der da oben ist und welch großen Mangel er leidet. Da bin ich hingegangen und hab ihm seine Kleider geschickt samt etlichen Gulden und anderem Gelde, was ich für mich heimlich gespart hatte.“ Der Bauer erschrak und rief zornig aus: „O du Trottel, du hast dich hereinlegen lassen, dem Teufel hast du‘s wohl gegeben!“ Schnell bestieg er seinen besten Hengst und eilte dem Studenten nach.
Der Student aber, der so etwas geahnt hatte, sah sich eifrig um. Als er nun den Bauern von weitem erblickte, warf er schnell sein Bündel in einen Strauch und schnappte sich Arbeitshandschuhe und eine Schaufel, die da lagen. Als nun der Bauer herankam, fragte der ihn, ob er nicht einen Studenten mit einem Kleiderbündel gesehen habe. „Allerdings“, sagte der Student, „aber als er Euch kommen sah, ist er über die Hecke gesprungen und ins Holz gelaufen.“ Der Bauer sagte: „Lieber Freund, halte gerade mal mein Pferd, ich will ihn mir schnappen!“ Und damit sprang der Bauer über die Hecke und eilte auf den Wald zu. Der Student jedoch nahm sein Bündel, setzte sich auf den Hengst und ritt davon.
Als nun der Bauer niemand finden konnte, kehrte er wieder um. Aber er fand weder das Ross noch den, der es ihm halten sollte. Da merkte er, was passiert war. Als er heimkam, fragte ihn seine Frau, ob er den Studenten gefunden habe. Der Bauer antwortete: „Allerdings, und ich habe ihm auch noch das Pferd gegeben, damit er schneller ins Paradies kommt.“

 

Jörg Wickram (geboren um 1505 in Colmar, gestorben um 1555/1560 in Burkheim im Kaiserstuhl), sprachlich von mir modernisiert

Original: http://www.zeno.org/Literatur/M/Wickram,+Georg/Schwanksammlung/Rollwagenb%C3%BCchlein/Zus%C3%A4tze+sp%C3%A4terer+ausgaben/107.+Von+einem+armen+studenten,+so+au%C3%9F+dem+parady%C3%9F+kam

https://lueersen.homedns.org/!gutenb/schwaenk/neumann/n400c1e.htm (Original)

https://frohefestefeiern.de/pages/geschichten/der-student-aus-dem-paradies.php (moderne Sprache)

http://www.marashome.at/volltext-die%20reise%20ins%20paradiers.htm (rheinisch modernisiert)

Die gleiche Geschichte (mit anderem Personal: lustiger Wandersmann – Wirtin – ihr ältester Sohn, ohne das Wortspiel „Paris-Paradies“) findet sich in „Deutsche Volksmärchen aus Schwaben“ von Ernst Meier, Stuttgart 1852, S. 69 ff., unter der Überschrift „Der Himmelsreisende“ (https://archive.org/details/bub_gb_h-BHAAAAIAAJ/page/n83/mode/2up).