Albert Ehrenstein: Leid – Analyse

Wie bin ich vorgespannt…

Text

https://archive.org/stream/menschheitsdmm00pintuoft#page/28/mode/2up

http://people.zeelandnet.nl/henklensen/ehrenstein2.htm

http://psychospaltung.twoday.net/stories/3392442/

http://bene-a-rebours.blogspot.com/2013/07/albertehrensteinleid.html 

Albert Ehrenstein (1886-1950) war seinerzeit ein bekannter Autor des Expressionismus; in der Anthologie „Menschheitsdämmerung“ finden sich fast 20 Gedichte von ihm, heute ist er beinahe vergessen. Dazu mag beigetragen haben, dass er 1932 Deutschland verließ und zu den verfemten Autoren gehörte, deren Bücher 1933 verbrannt wurden.

Wenn ich die Angaben in „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“ richtig lese, stammt das Gedicht „Leid“ aus dem Band „Die rote Zeit“ (1917). Es ist ein Klagelied. Was beklagt das lyrische Ich? In den beiden ersten Versen beklagt es, wie es an seiner Trauer leidet, ohne dass der Grund der Trauer benannt würde. Im Bild sieht es sich wie eine Art Grubenpferd, welches die „Kohlenwagen meiner Trauer“ ziehen muss (V. 2). Dass es diesen Wagen „vorgespannt“ ist (Zustandspassiv), besagt, dass es diese Last nicht freiwillig zieht; dass es Kohlenwagen sind, heißt, dass sie eine schwarze Last tragen: schwarz wie Trauer. Die einleitende Partikel „Wie“ bedeutet: „‘wie auch (immer)‘; oft steigernd, etwa im sinne vonwie sehr (auch immer)’“ (Deutsches Wörterbuch: WIE II. 2) a). Durch den Zeilenschnitt ist das Dativobjekt von „vorgespannt“ getrennt, der neue Vers gibt ihm ein eigenes Gewicht. Die beiden Verse sind jambisch, wobei das einleitende „Wie“ gegen das Metrum einen starken Akzent trägt.

In den folgenden Versen wird in poetisch gehobener Sprache der Grund der Trauer ausgesprochen: die Tatsache, dass die Zeit das lyrische Ich „bekriecht“ (V. 4), also es langsam in Besitz nimmt; die (personifizierte) handelnde Zeit kriecht „Widrig wie eine Spinne“ (V. 3); die i-Laute der beiden Verse unterstreichen das Spinnenhafte des Kriechens. Diesmal ist das Adverb vom Hauptsatz durch Zeilenschnitt getrennt und so hervorgehoben. In den drei folgenden Sätzen wird beispielhaft beschrieben, wie die Zeit vorankriecht: langsam, doch unerbittlich. 1) Mein Haar ergraut (V. 6), 2) Schlaf umdunkelt mein Gebein (V. 9), 3) im Traum schon starb ich (V. 10).

Das Ergrauen der Haare ist erst im Ansatz gegeben, wie der Konditionalsatz ausdrückt („Fällt mein Haar“, V. 5, etwa im Sinn von: fällt es nach vorn); das Bild vom abgeernteten Feld spielt mit der alten Metapher vom Tod als Schnitter (Volkslied und Emblem; „Sensenmann“ http://de.wikipedia.org/wiki/Sensenmann). Schlaf und Tod (thanatos und hypnos) gehören bereits nach Hesiod zusammen, sie sind Kinder der Nacht (nyx); nach Homer haben sie sogar als Zwillinge zu gelten (Ilias, 16. Gesang, Zeile 671 ff.). Im Gedicht wird der Schlaf wieder personifiziert, er „umdunkelt mein Gebein“ (V. 9). „Gebein“ bezeichnet die Knochen des lebenden Leibes, aber auch das Totengebein, dichterisch auch den Leichnam (Deutsches Wörterbuch). Folgerichtig hat das Ich im Traum bereits den Tod vorweggenommen (V. 10 ff.); dabei war das aus dem Schädel sprießende Gras eine Form niederen Lebens, in das sich der Tote zurückverwandelt hat. Dass die Erde „schwarz“ (V. 12) war, verbindet das Ende mit den Kohlenwagen des Anfangs. Die letzten vier Verse sind allesamt ganze Sätze; in V. 7 f. erscheint mir der Zeilenschnitt als gekünstelt.

Wenn man die Schrecken des 1. Weltkriegs bedenkt, ist das zeitgleiche Gedicht „Leid“ die recht harmlose Klage eines Menschen, der sich angesichts des ersten Graus im Haar seiner Vergänglichkeit bewusst wird.

Das Gedicht „Verzweiflung“ steht in der „Menschheitsdämmerung“ unmittelbar vor „Leid“. Dieses beginnt so:

„Wochen, Wochen sprach ich kein Wort;

Ich lebe einsam, verdorrt.

Am Himmel zwitschert kein Stern.

Ich stürbe so gern.“

Solche wohlfeile Verzweiflung hat nicht das Format der großen expressionistischen Bilder Heyms; vielleicht ist Ehrenstein nicht ganz zu Unrecht in den Hintergrund unseres literaturgeschichtlichen Bewusstseins getreten.

http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Ehrenstein (A. Ehrenstein)

http://www.lexikus.de/bibliothek/Juden-in-der-deutschen-Literatur/Albert-Ehrenstein-von-Ernst-Weiss (dito)

http://nddg.de/dichter/1618-Albert+Ehrenstein.html (einige Gedichte)

http://othes.univie.ac.at/5716/1/2009-06-18_0202560.pdf (Ehrensteins frühe Lyrik, Mag.-Arbeit 2009)

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