Wolfgang Schorlau: Rebellen – Besprechung

Es gibt eine Reihe von Rezensionen des 2013 erschienenen Romans; ich möchte daher nur einige persönliche Überlegungen vortragen. Dabei ist zu beachten, dass ich neun Jahr älter als Wolfgang Schorlau bin und weder die musikalische noch die politische Revolution der 68er aktiv mitgemacht, damals nur innerkirchlich aufgemuckt habe.

Erzählt wird also die Geschichte zweier Männer aus Freiburg, Alexander und Paul, von ihrer Kindheit bzw. Jugend an bis etwa zum Alter von 25 Jahren, vermischt mit dem knappen „gegenwärtigen“ Geschehen einer bevorstehenden Begegnung zwischen Alexander und dem Sohn Pauls, der inzwischen tot ist. Zwischen den beiden steht die Studentin Toni, der die Ich-Perspektive zugebilligt wird (wie Maximilian, Alexanders Bruder, und einmal auch Alexander).

Zwei Ideen stehen hinter dem Roman:

  • „Erinnerung ist ein anderes Kaliber als das Gedächtnis. Erinnerung wählt aus. Erinnerung bewahrt jene Dinge auf, die ein unkontrollierbares Unterbewusstsein für wert hält, dass sie aufbewahrt werden, oder die so schrecklich sind, dass sie unvergesslich werden. Sie hält sie frisch wie am ersten Tag. (…) Erinnerung lässt sich nicht kontrollieren, bestellen, kommandieren, sie kommt und geht, wie es ihr passt, oft ohne Vorwarnung und ohne Ankündigung, und wenn sie erscheint, ist sie wahr, sosehr man zuvor auch versucht haben mag, sie zu verbiegen, zu verleugnen oder ganz zu löschen.“ Diese Weisheit des Erzählers steht gleich zweimal im Buch, S. 18 f. und S. 327, also am Anfang und am Ende. Hier rechtfertigt der Autor Wolfgang Schorlau das Buch, das aus seiner eigenen Freiburger Erinnerung geschrieben ist. Ich kann seiner Theorie der autonomen Erinnerung nicht vorbehaltlos zustimmen.
  • Im Nachwort („Dank“, S. 329 ff.) entfaltet Schorlau den thematischen Horizont des Buchs: „Erst im Rückblick wurde mir dann plötzlich bewusst, dass ich in den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren eine Zeit erlebt hatte, die dieser Inselsituation [eines Romans, N.T.] entsprach. In ihr spielte die Herkunft keine Rolle mehr, entscheidend war, was man konnte, wie man sich über Wasser hielt. Diese Phase dauerte nur drei oder vier Sommer an, dann zerfiel die kommunistische Idee, die die Ränder dieser Insel definiert hatte, und die meisten gingen ihren vorgestanzten Weg weiter – und waren doch nicht mehr dieselben.“ (S. 330)

Die Frage ist dann, ob die drei Protagonisten Alexander (als Firmenchef), Toni (dessen Frau, als Psychologin) und Paul (inzwischen tot, vorher Feinmechaniker und unermüdlicher politischer Aktivist) den Idealen ihrer Jugend treu geblieben sind oder sie verraten haben – eine große Reflexion Alexanders (S. 285 f.). Fairerweise muss man sagen, dass die Protagonisten selber nicht genau wussten, was ihre in der Marx-Lektüre untermauerten Ideale waren: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Das fanden alle übertrieben. Sie fühlten keine Ketten. Sie wollten aufbrechen. Eine Welt gewinnen – das schon. Mädchen kennenlernen. Etwas Besseres finden, auch wenn sie nicht genau hätten sagen können, was sie damit meinten. Sie fühlten sich frei. Sie fühlten sich nicht mehr klein und schwach.“ (S. 190) Diese Stelle umschreibt m.E. das damalige Lebensgefühl richtig (ob man es so platt die kommunistische Idee nennen darf?). Sie macht die Frage, ob man den Idealen der Jugend – oft genug in der Musik der Stones erlebt – treu geblieben ist, zu einer zweideutigen Frage; die Ideale selber waren diffus, wie bereits Kant bei der Idee des Glücks analysiert hat.

Zum Schluss komme ich zu zwei kritischen Punkten: 1. Wer nicht exakt der Generation Schorlau-Alexander-Paul angehört, tut sich mit der Unzahl der zitierten Musiktitel schwer; sie sagen ihm nichts. 2. Die Figuren und die Ereignisse sind holzschnittartig gezeichnet: überaus klare Konturen und harte Kontraste.

Was für mich von der Lektüre des gut lesbaren Buches bleibt, ist die Frage: Bin ich den Idealen meiner Jugend treu geblieben? Gegen den von Schorlau pathetisch zitierten Marquis Posa (S. 7) möchte ich mit Nietzsche fragen: „Sind wir verpflichtet, unsern Irrtümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, daß wir durch diese Treue an unserm höheren Selbst Schaden stiften?“ (Menschliches, Allzumenschliches I 629)

Nietzsches Frage ist nicht unproblematisch – aber des Marquis Posa und Wolfgang Schorlaus Frage ist eben auch problematisch; das ist meine erste Antwort auf beide Fragen.

Rezensionen u.a.

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.rebellen-von-wolfgang-schorlau-spiel-mit-den-schmuddelkindern.66304900-5c67-4fff-beab-eea16c0238cb.html (vorsichtig kritisch, die leicht gekürzte Fassung von http://www.badische-zeitung.de/ausstellungen-rezensionen/als-alles-moeglich-schien–71062385.html)

http://www.hr-online.de/website/rubriken/kultur/index.jsp?rubrik=43000&key=standard_rezension_48394811 (sehr kritisch)

http://www.taz.de/!115010/ (distanziert)

http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/buecher_aktuell/574698_Schorlau-Wolfgang-Rebellen.html (kritisch)

http://www.kontextwochenzeitung.de/denkbuehne/100/einer-wie-paul-393.html (die biografische Lesart des Romans: positiv)

http://www.literatur-fast-pur.de/HP/3-rebellen.html (insgesamt: positiv)

= http://www.lovelybooks.de/autor/Wolfgang-Schorlau/Rebellen-1019811442-w/rezension/1028609336/

http://www.lokalmatador.de/article/4f442050719f47008540d19c2cc06f83/nachrichten/kultur/schorlaus-einfuehlsamer-feinsinn (überaus positiv)

http://pop-polit.com/2013/08/02/wolfgang-schorlau-rebellen/ (ebenfalls positiv)

http://www.freitag.de/buch-der-woche/rebellen (das Buch im Kontext)

„Auf allen Bildern, die wir dieser Tage von Rebellion sehen, sei es auf dem Taxim-Platz, dem Tahir-Platz, in Brasilien oder sogar vor dem Stuttgarter Bahnhof: Wer sich gegen Unrecht auflehnt, ist schön. Die Gesichter sind offen, lachend, trotz dramatischer Gefahr. Das Gegenteil ist die ins Auge springende Hässlichkeit des NSA-Generals, der die Bespitzlung seiner Behörde rechtfertigt. Humor und diese ästhetische Dimension sind auch immer eine Seite der Wahrheit.“ (W. Schorlau im Interview: http://www.swp.de/goeppingen/lokales/goeppingen/Krimiautor-Wolfgang-Schorlau-ueber-sein-neues-Buch-Rebellen;art5583,2230682)

http://archiv.fluxfm.de/rubriken/lesen-lesen-lassen-rebellen-von-wolfgang-schorlau/ (Hörproben)

http://www.gluehwuermchen-herzbeben.eu/stichwort/dichtkunst (Bericht von einer Lesung)

Auf Wolfgang Schorlaus Seite http://www.schorlau.de/ kann man „Rebellen“ anklicken, dort u.a. die youtube-Seiten der zahlreichen englischen Songs des Romans verlinkt finden (die Hälfte ist leider gesperrt).

Mit Nietzsches Frage (Menschliches, Allzumenschliches I 629) habe ich mich oft beschäftigt:

http://norberto42-4.blog.de/2005/07/22/uber_identitat/

http://also.kulando.de/post/2006/12/30/von_der_berzeugung_zur_methode_nietzsche

http://norberto42-4.blog.de/2007/08/30/treu_sein~2893310/

http://norberto42.blog.de/2007/12/07/intellektuelle_redlichkeit~3409797/

 

 

4 thoughts on “Wolfgang Schorlau: Rebellen – Besprechung

  1. Haben Sie Götz Alys „Unser Kampf“ gelesen? Im Jahr 2008 gab es ja zuhauf Besinnungsliteratur zu 68, u.a. Peter Schneiders „Rebellion und Wahn“, das ich neben Aly zur Kenntnis genommen habe damals. Wie weit, würden Sie sagen, geht die Selbstkritik und Selbstreflexion hier?

    • Nein, „Unser Kampf“ kenne ich nicht, auch nicht Peter Schneiders „Rebellion und Wahn“; ich habe das Buch Schorlaus eher zufällig gelesen, weil ich es geschenkt bekommen habe.
      Ich meine jedoch, dass Schorlau mit „die kommunistische Idee“ den Kern des Aufbruchs der 60er Jahre zu eng, also nicht richtig fasst – für einen Teil der Jugend war es vielleicht die kommunistische Idee (was ist das genau?), aber im Buch selber wird deutlich (s. S. 190), dass das Freiheitsstreben viel allgemeiner war.
      Was mich vor 68 bereits bewegt hat, war in der katholischen Kirche der Aufbruch des II. Vatikanischen Konzils bzw. das, was davon nach Deutschland strahlte – und auch das war vielleicht nur die ideologische Seite eines allgemeineren Freiheitsstrebens. Leider leistet (bei mir) die von Schorlau beschworene Erinnerung nicht das, was Schorlau sich davon verspricht.

      • Ah, vielen Dank. Das ist interessant. Mentalitätsgeschichtlich sind solche Erinnerungen ja nicht unerheblich und die individuelle Aufschlüsselung der Vergangenheit sehr unterschiedlich.
        Das Büchlein von Aly gibt vor, ein Blick des Historikers zu sein, ist aber eher eine fast schon zynische Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit. Nichtsdestotrotz sehr interessant. Es ist nicht allzu umfangreich und gut zu lesen. Falls das Thema Sie interessiert, ist dies ein guter Ausgangspunkt für eine (sehr) kritische Auseinandersetzung mit 68.

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