Träume brauchen nicht viel Platz (1984) – gelesen

Gestern und heute habe ich noch einmal „Träume brauchen nicht viel Platz. Wunschträume 1918-1948“, herausgegeben von Angelika Kutsch (1984), gelesen. 16 Autorinnen kommen zu Wort, oft mit Träumen aus ihrer eigenen Vergangenheit, einige sicher auch mit literarischen Fiktionen. Einerseits spiegelt sich darin die Vergangenheit, die teilweise bis an die Gegenwart meiner Kindheit reicht, da ich 1948 in die Schule gekommen bin; anderseits sind es Träume, wie wir alle sie haben, zumeist von Kindern, auch von Jugendlichen und von einer älteren Frau, die eigentlich immer Träume vom Glück sind – vom Glück in den verschiedensten Gestalten.

Ernestine Koch, die man leider nicht im Internet findet, berichtet von ihrem Wunsch, „lesen zu lernen und alle Herrlichkeiten, die ich in den Büchern verborgen wußte, selber herauszuholen“. Und sie berichtet von einem Wunschtraum, der sich erfüllte: dass ihr Vater an Fronleichnam den „Himmel“ tragen durfte, weil die Honoratioren es nach 1933 vorzogen, auf dieses alte Vorrecht zu verzichten, bis sie nach 1945 mit anderen Parteibüchern wieder auftauchten. „Seither habe ich keine Wunschträume mehr. Aber immer, wenn ich, wie ehedem, den Kopf in die Hand stütze, um zu lesen, entsteht eine bunte Welt aus tausend Gedanken, die sich freilich an der Wirklichkeit messen lassen muß.“ Aus ihrem Text stammt auch der Titel: In einer ärmlichen Welt „scheint wenig Platz zu sein für Kinderträume. Aber Träume brauchen nicht viel Platz. Sie sind luftige Gebilde, die auf den Wolken von Zeit und Ruhe schweben.“

Christine Brückner berichtet, wie sie Missionarsfrau werden wollte; später fingen alle Träume mit dem Satz an: „Wenn der Krieg vorbei ist.“ „Und was ich heute träume? Ach, man wird mich auslachen, wenn man es liest. Ich träume davon, dass ich einmal einen Satz schreiben werde, der alle Menschen klüger macht!“

Kerstin Thorvall, eine von drei schwedischen Autorinnen, erzählt, wie sie sich zuerst eine kleine Schwester wünschte; wie sie später Modezeichnerin werden wollte; wie sie auf den Prinzen hoffte, der sie erwählte, obwohl sie nicht hübsch war. Auf der Schule für Werbe- und Modezeichnen lernte sie dann einen Jungen kennen, der ihr Prinz wurde und mit dem sie viele Kinder bekam. „Aber einiges kam ja auch, wie ich es mir nicht vorgestellt hatte. Der Prinz und ich lebten nicht glücklich bis ans Ende unserer Tage, und nachdem ich zehn Jahre lang Modezeichnerin gewesen war, fing ich an, Bücher zu schreiben. Aber immerhin…“

Einige der Erzählungen sind ein wenig konstruiert oder bemüht pädagogisch (etwa vom Kontakt mit einem Kommunisten und einem jüdischen Jungen im Dritten Reich); Mirjam Pressler erzählt, wie Sophies Schwester einen Hahn klaute, damit sie endlich einmal sich satt essen konnten. Hervorgehoben seien noch die Erzählungen von Renate Welsh, die Pfarrer werden wollte, weil man dann vermeintlich fliegen kann; von Ilse Kleberger, die mit ihrer 17jährigen Freundin im Krieg von einer Fahrt auf eine Insel im Süden träumte, die sie später allein erreichte, während ihre Freundin sich 1945 im Taumel der Freiheit von einem Trupp russischer Soldaten mitnehmen ließ; von Otti Pfeiffer, die nach dem Krieg irgendwie an eine Stelle als Volontärin bei einer Zeitung gekommen war und dann rausgeschmissen wurde, weil ihre Anstellung nicht ordnungsgemäß verlaufen war. An diesen beiden Beispielen sieht man, dass auch erfüllte Träume Wunden und Narben zurücklassen können.

Cornelia Krutz-Arnold ist als einzige Autorin nach dem Krieg geboren, 1950; so kann sie eigentlich nicht von Wunschträumen 1918-1948 berichten, und ihre Erzählung von der Gerti geschenkten und von ihr versteckten Schreibmaschine passt zwar mit der Härte der Eltern, aber nicht mit einer unbemerkt versteckten Schreibmaschine in die Zeit vor 1948. Und Jutta Radels Nina, die verschiedene Seiten an ihrer Mutter Verhalten unterscheiden kann, halte ich für ein unrealistisch altkluges Konstrukt.

Insgesamt: ein Buch, das sich auch heute noch zu lesen lohnt; dagegen sind ältere empirische Studien wie etwa Horst Speicherts „In tausend Spiegeln. Jugendliche und Erwachsene 1985“, herausgegeben vom Jugendwerk der Deutschen Shell, heute einfach überholt.