W. von Bredow – Th. Noetzel: Politische Urteilskraft (2009) – Besprechung

Es gibt bisher eine einzige Besprechung im Netz, die man einsehen kann: http://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2010-4-933/politische-urteilskraft-forschungsluecke-nicht-stringent-gefuellt-jahrgang-41-2010-heft-4#select-abstract-row (bitte „zum Volltext“ oder „PDF Download“ anklicken!)

Dieser Besprechung Henrik Gasts kann ich im Wesentlichen zustimmen: „Im Kern verfolgen Bredow und Noetzel einen normativen Ansatz, da sie eruieren, wodurch die Urteilskraft eines Menschen beziehungsweise eines Kollektivs gestärkt werden kann [bzw. wodurch sie beeinträchtigt wird, N.T.]. Hinsichtlich der Frage, was richtige Urteile sind, verweisen sie zu Recht darauf, dass immer in lebensweltlichen Zusammenhängen und damit in von spezifischen Interessen und Zielen geprägten Kontexten geurteilt wird, wodurch eine einfache Zuordnung als „richtig“ oder „falsch“ nur selten möglich ist.“ Das Urteilen findet seinen Platz in der Abfolge ‚Urteilen – Entscheiden – Handeln’.

„Dennoch überzeugt die Monografie nicht in jeder Hinsicht. Dies liegt vor allem an der nicht stringenten Komposition. Sie gliedert sich im Hauptteil in drei Kapitel, die mit ‚Kognition’, ‚Ideengeschichtlicher Rundblick’ und ‚Dummheitskulturen’ überschrieben sind. Diese Teile bauen nicht aufeinander auf, sondern stehen weitestgehend nebeneinander“, schreibt Henrik Gast. Unter „Kognition“ werden Faktoren diskutiert, welche die für das Urteilen grundlegende Erkenntnis beeinflussen. Im ideengeschichtlichen Rundblick sind die Ausführungen zu Aristoteles, Hannah Arendt und Carl Schmitt interessant – vor allem das, was die Autoren über das Recht der Theorie des Dezisionismus schreiben. Daneben werden über den Pragmatismus Plattitüden verbreitet.

Unter „Dummheitskulturen“ werden Phänomene von der Ideologie bis zum Fundamentalismus behandelt, von denen ohnehin jeder weiß, dass sie das Urteilsvermögen trüben (genau wie Stress oder Alkoholkonsum, aber davon ist nicht die Rede). Zum Schluss gibt es eine „Politische Verhaltenslehre“; dort wird dargestellt, wodurch die Urteilskraft bestärkt wird: Partizipation der Bürger (ungleich direkte Demokratie!), Zivilcourage und Bürgersinn (hier vermisse ich eine fundierte Darstellung, was denn den Bürger im Unterschied zum Bourgeois ausmacht), Toleranz und Empathie – das alles leuchtet unmittelbar ein und wird auch nicht besonders tiefschürfend erklärt. Zu nennen sind noch die Ausführungen über die Ambivalenz der Intellektuellen (S. 242 ff.) sowie vor allem „Ironie als politische Haltung“ (S. 252 ff.); dieses Kapitel hat mich am meisten überrascht, hier wird u.a. auf Richard Rortys Gedanken zurückgegriffen. Hier finde ich auch das Fazit des ganzen Buches: „Im Zentrum der Trias Urteilen – Entscheiden – Handeln steht die Erkenntnis der Kontingenz politischer Forderungen. (…) Diese Fähigkeit, Ambivalenz aushalten zu können, ist Ausdruck von Zivilisiertheit, und diese wiederum ist die gesellschaftliche Form politischer Urteilskraft. Das Ironische bleibt an die Tugend gebunden, wird als Form zivilisierten Verhaltens begriffen und damit auch zu einer politischen Kategorie im Sinne der Beschreibung institutioneller Arrangements zur Herbeiführung gesellschaftlich bindender Entscheidungen, deren Träger von ihrer Relativität wissen.“ (S. 262)

Folgerichtig wird zum Schluss in Kap. 24 diskutiert, ob damit nicht einem Kulturrelativismus das Wort geredet wird (S. 276 ff.); die Autoren vertreten die Auffassung, dass sich unser westliches demokratisches System (bzw. das atlantische Projekt, wie sie schreiben) nur praktisch bewährt habe, aber nicht stringent universal zu begründen sei (S. 281 ff.). Ob das allerdings bedeutet, dass sie keinen Kulturrelativismus verträten, mag jeder selbst beurteilen. Sie retten sich in die Position des Perspektivenpluralismus: Auch was in der Ich-Perspektive überzeugend sei, sehe in der neutralen Er-Perspektive anders aus. Das trägt jedoch nur so weit, wie wir die Normen unserer Perspektive in unserem Land verbindlich machen können; auf Menschenrechtsmission und -belehrung müssen wir verzichten.

Mit Recht kritisiert Henrik Gast sprachliche Schludrigkeiten; mehrfach ist mir aufgefallen, dass mit der Nebensatzkonjunktion „wobei“ ein Hauptsatz eingeleitet wird – das ist Stil der Umgangssprache. Dass am Ende von Relativsätzen gelegentlich das Komma fehlt und auch der Konjunktiv II nicht immer angemessen verwendet wird, sei nur am Rande vermerkt. Eine Reihe von Titeln, die im Text selbst oder in Anmerkungen genannt und sogar verwertet werden, fehlt im Literaturverzeichnis. Könnte es sein, dass eine Reihe der Kapitel aus einer Vorlesungsreihe stammt (sie sind durchweg 10 Seiten lang!), die später durch weitere Kapitel ergänzt worden ist?

Einen kleinen Schatz stellen allerdings die 11 Seiten Literaturverzeichnis dar; ich habe mir vorgenommen, den hier entdeckten Robert Burton („Anatomie der Melancholie“) demnächst einmal zu lesen.

Was die beiden Autoren nicht thematisieren, ist die Frage, ob die politische Urteilskraft sich vom normalen Urteilsvermögen unterscheidet. Ich nehme in meine Linkliste auch Links auf, die etwas zum Urteilsvermögen („Urteilskraft“ ist allerding das ergiebigere Suchwort, während „Urteilsfähigkeit“ ein spezieller juristischer Begriff des Schweizer Rechts ist) allgemein oder etwa zum moralischen Urteilsvermögen enthalten.

http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Abschlussvortrag_Wilfried%20von%20Bredow.pdf (Vortrag von Bredows: Angela Merkel hat keine Ahnung! – Oder doch? Politische Urteilskraft für Journalisten)

http://www.textlog.de/32751.html („Urteilskraft“ bei Kant)

http://www.wcge.org/download/DP_2014-01_Suchanek_Moralisches_Urteilsvermoegen.pdf (A. Suchanek: Moralisches Urteilsvermögen – eher simpel)

http://ods3.schule.de/aseminar/erziehung/werte-erziehung/moralurteil.htm (Moralische Urteilsfähigkeit – eher: Stufen der moralischen Entwicklung, v.a. nach Kohlberg)

http://www.kokes.ch/assets/pdf/de/aktuell/2012_Arbeitskreis_4_Graf.pdf („Urteilsfähigkeit“, jurist. Schweizer Begriff: Kriterien für Kranke/Unmündige)

https://www.alexandria.unisg.ch/247367/1/urteils-zurechnungs-schuldfaehigkeit.pdf (dito)

http://www.schleicher.ch/wp-content/uploads/2013/03/Urteilsf%C3%A4higkeit-2013_01_0.pdf /dito)

http://www.erziehungskunst.de/fileadmin/archiv_alt/2008/p003ez070808-797-802-deVries.pdf (F. de Vries: Entwicklung von Urteilsfähigkeit im Jugendalter – anthroposophisch)

https://www.lpb-bw.de/publikationen/did_reihe/band22/sutor.htm (B. Sutor: Zwischen moralischer Gesinnung und politischer Urteilskraft – Ethik als Dimension politischer Bildung; die Eigenart des Politischen wird gut herausgearbeitet!)

http://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/politische-bildung/images/1_Herr_Juchler/Rezensionen/1_Die_erweiterte_Denkungsart_2005.pdf (Ingo Juchler: Die erweiterte Denkungsart. Voraussetzungen für eine mündige Bürgerschaft in Europa – zur Politikdidaktik)

https://lehrerfortbildung-bw.de/faecher/ethik/gym/fb2/3_argument/1_stationen/l5/5lernstationen_urteilskraft_wzk_4.pdf (Ethisch-moralisches Argumentieren: Urteilskraft – einfach und elementar)

http://www.simplify.de/die-themen/sie-selbst/persoenlichkeitsentwicklung/einzelansicht/article/gelassenheit-mehr-leben-weniger-beurteilen/ (Simplify: Gelassenheit. Mehr leben – weniger beurteilen, „Lebensweisheit“)

https://www.researchgate.net/publication/245942259_Eine_Bourdieu’sche_Kritik_der_politischen_Urteilskraft (B. Krämer: Eine Bourdieu’sche Kritik der politischen Urteilskraft – äußerst speziell)

https://zfzsalzburg.files.wordpress.com/2012/02/13_politische_partizipation_pausch_feb2012.pdf (M. Pausch: Politische Partizipation braucht mündige BürgerInnen – es geht mehr um Partizipation als um Urteilsvermögen)

Zur vorbereitenden Lektüre [eines Seminars an der Uni Hamburg, 2011/12) wurde empfohlen:
– Arendt, H. (1988). Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie.
– Bredow von, W./Noetzel,Th. (2009). Politische Urteilskraft. Wiesbaden
– Brodocz/Schaal. (2006). Politische Theorien der Gegenwart Bd. I/II. Opladen
– Geuss, R. (2007). Was ist ein politisches Urteil ? in: Dt.Zeitschrift f.Phil. .55. Berlin
– Kersting, W. (2005). Klugheit. Weilerswirst
– Vogl, J. (2003). Gesetz und Urteil. Weimar
– Vollrath, E. (1977). Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft. Stuttgart

 

NACHTRAG:

Nach meinem Sprachgefühl stellt Urteilen die Verbindung zwischen Erkennen und Handeln her, gemäß der alten Pfadfinderdevise „sehen, urteilen, handeln“, wobei ich allerdings das Abwägen vermisse.

Eisler hat die Lemmata „Urteil, Urteile (1), Urteile (2), Urteilsfunction, Urteilsgefüge, Urteilsgefühle, Urteilskraft, Urteilstheorien, Urteilsurteile, Urteilsverbindungen“. Die beiden wichtigsten sind
http://www.textlog.de/5310.html Urteil,
http://www.textlog.de/5307.html Urteilskraft:
Urteilskraft (»vis aestimativa«) oder Beurteilungsvermögen bedeutet bei den Scholastikern die schon dem Tiere zukommende Fähigkeit der Deutung und Wertung der Dinge Nach ihrem Nutzen oder Schaden für den Urteilenden selbst. So nach AVICENNA.“ [Dabei muss man beachten, dass Avicenna nicht Deutsch gesprochen hat!]

Im Wörterbuch Adelungs (http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009134_4_1_1543) finden wir zu „Urtheil“:
„ein altes, in verschiedenen nahe verwandten Bedeutungen übliches Wort. 1. Der Ausspruch eines Richters über eine streitige Sache, wodurch sie entschieden wird, so wohl in bürgerlichen als peinlichen Sachen. Ein Urtheil fällen, ehedem finden. Das Urtheil sprechen. Das Urtheil über jemanden fällen. (…) 2. In weiterer Bedeutung, ein jedes Gutachten, eine jede Meinung von der Beschaffenheit eines Dinges, die Erkenntniß von der Beschaffenheit eines Dinges und deren Äußerung. (…) 3. Im weitesten Verstande ist dieses Wort in der Philosophie üblich, wo schon jede Verknüpfung oder Trennung zweyer Begriffe, die Vorstellung des Verhältnisses zweyer Begriffe, ein Urtheil genannt wird; z. B. das Eisen ist schwer, das Feuer ist nicht groß. Ein durch Worte ausgedrucktes Urtheil heißt alsdann ein Satz. (…) 4. Ehedem wurde dieses Wort auch häufig von dem Vermögen der Seele zu urtheilen, d. i. das Verhältniß zweyer Begriffe zu erkennen, gebraucht, wofür doch jetzt Urtheilskraft und Beurtheilungskraft üblicher sind.“

In Hoffmanns Wörterbuch (6. Band, 1861) findet man:
Urtheil
„bedeutet eigentlich das (Wort oder der Ausspruch), wodurch eine Streitsache endgültig getheilt, d.h. entschieden wird, indem jedem Betheiligten dadurch sein Theil wird; daher: 1) der entscheidende richterliche Ausspruch (…) 2) die ausgesprochene Ansicht jemandes über etwas oder über eine Person, deren Arbeit, Lebensweise etc. (…) 3) das Vermögen des Geistes, urtheilen zu können (…)“
urtheilen
„eig. eine Streitsache durch einen Ausspruch endgültig theilen, d.h. entscheiden, daher: 1) ein richterliches Urtheil fällen (…) 2) veralt. m. dem Acc. der Person: ein ungünstiges Urtheil über einen fällen (…) 3) ein Urtheil, d.h. eine Meinung oder Ansicht, über etwas haben oder aussprechen (…) 4) das Geistesvermögen zum Urtheil (s. ebd. 3.) anwenden, indem man aus verschiedenen Verhältnissen einen Schluß zieht.“

Urteilskraft, nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch das Vermögen, Urteile zu bilden; dann auch die Fähigkeit, angemessen, treffend und richtig zu urteilen, und in diesem Sinne naheverwandt mit Verstand (s. d.). KantKritik der U.«) unterschied die subsumierende U., d. h. die, welche das Besondere und Einzelne einem schon bekannten Allgemeinen unterordnet, und die reflektierende, die zu der gegebenen Mannigfaltigkeit einzelner Data die Einheit einer allgemeinen Regel sucht.“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon, 1905: http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Urteilskraft?hl=urteilskraft; vgl. Artikel „Verstand“: http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Verstand)