Deutsche Gedichte 1945 – 1960: Was gehört in den Kanon?

Die erste Frage ist am schwersten zu beantworten: Nach welchen Kriterien wird entschieden, wer in einen Kanon deutscher Dichter gehört? „Kanon“-Zugehörigkeit hängt irgendwie mit Rezeption zusammen – aber wie? Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Kriterien zu bestimmen: In den Kanon gehörte,
1. wer zu seiner Zeit viel beachtet wurde,
2. wer von den „Fachleuten“ als wichtig für seine Zeit angesehen wird,
3. wer von den Fachleuten als immer noch „gut“ und bedeutend angesehen wird,
4. wer von den „Leuten“ später noch gern gelesen oder zitiert wird.
Man sieht: Es ist gar nicht leicht zu sagen, wer wirklich in den Kanon gehört. Daneben ist die zweite Frage fast eine Spezialistenfrage: Mit welchen Gedichten gehört ein Autor in den Kanon?

Ich habe kurz untersucht, wer von Fachleuten in dessen Anthologie aufgenommen wurde. Dafür habe ich drei Anthologien eingesehen:
* Widerspiel. Deutsche Lyrik seit 1945. Herausgegeben von Hans Bender, München 1962 (abgeschlossen im Mai 1962)
* Epochen der deutschen Lyrik. Hrsg. Von Walter Killy, Band 9: Gedichte 1900 – 1960. Hrsg. Von Gisela Lindemann, München 1974
* Der neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch. Neu herausggeben und aktualisiert von Karl Otto Conrady, Düsseldorf & Zürich 2000

Ich bin vom Bestand der Namen (Autoren) bei Bender ausgegangen und habe gefragt: Bender hat Gedichte von 62 Autoren aufgenommen – wer davon ist auch in den beiden anderen Anthologien vertreten? Dabei kommt folgende Liste heraus:
Arp, Hans
Bachmann, Ingeborg
Benn, Gottfried
Bienek, Horst
Bobrowski, Johannes
Brecht, Bertolt
Britting, Georg
Busta, Christine
Celan, Paul
Eich, Günter
Enzensberger, HM
Fuchs, Günter Bruno
Goll, Yvan
Grass, Günter
Heissenbüttel, Helmut
Huchel, Peter
Jokostra, Peter
Jünger, Friedrich Georg
Kaschnitz, Marie Luise
Klemm, Wilhelm
Kolmar, Gertrud
Krolow, Karl
Langgässer, Elisabeth  („Epochen“: nur mit Gedichten von 1933)
Lavant, Christine
Lehmann, Wilhelm
Meckel, Christoph
Rühmkorf, Peter
Sachs, Nelly
Bei diesem radikalen Verfahren fallen selbst Autoren wie Eugen Gomringer oder Walter Höllerer durch die Maschen.

Nun könnte man die Auffassung vertreten, Hans Bender habe zu nahe an seiner Zeit gestanden – die anderen mit etwas größerem Abstand hätten vielleicht einen klareren Blick auf die Vergangenheit. Wenn man dann prüft, wer sowohl in die „Epochen“ als auch in den  Conrady aufgenommen worden ist, obwohl er bei Hans Bender fehlt, kommen noch folgende Namen hinzu:
Aichinger, Ilse
Arendt, Erich
Artmann, Hans Carl
Becher, Johannes, R.
Bergengruen, Werner
Borchardt, Rudolf
Borchers, Elisabeth
Bremer, Claus
Carossa, Hans
Czechowski, Heinz
Domin, Hilde
Fried, Erich
Hermlin, Stephan
Hesse, Hermann
Kästner, Erich
Kunert, Günter
Marti, Kurt
Maurer, Georg
Nick, Dagmar
Rehwinkel, Edmund
Schaefer, Oda
Schneider, Reinhold
Darunter sind einige wichtige „neue“ Namen, aber mit Bergengruen, Schaefer oder Reinhold Schneider auch Namen, deren Zeit heute vorbei ist und die nur noch das Vergangene der Vergangenheit dokumentieren.

Eine ganz andere Frage, die man heute relativ leicht beantworten kann, lautete: Wer von diesen Namen ist im Internet präsent, wird von Leuten zitiert, zählt zu den Lieblingsdichtern der „Leute“? Und welche Gedichte von denen sind es, die geliebt und zitiert werden?
Ina Seidel fehlt zum Beispiel trotz ihrer Ehrungen vor dem, im und nach dem Dritten Reich in den Listen, aber ihr Gedicht „Trost“ von 1927 (Text: Uni Düsseldorf) wird geschätzt und zitiert:
1. Es wird in Foren häufig von älteren Menschen als Lieblings- oder bemerkenswertes Gedicht zitiert (http://www.seniorentreff.de/diskussion/archiv4/a325.html u.a., Okt. 2008). Sehr schön ist das Zeugnis (http://www.omi-schreibt.de/Linden.html Okt. 2008) einer älteren Dame, die erzählt, wie sie als junge Frau vom Lindenduft fasziniert war und im Alter von der Frage angesprochen wird: „Was liegt an dir?“
2. Es wird bei Begräbnissen als Trostgedicht vorgetragen oder in Kondolenzbücher geschrieben (http://www.krematorium-meissen.de/lyrik/ u.a., Okt. 2008).
3. Es wird bei der Betrachtung von Natur-Motiven in der Literatur berücksichtigt:
http://www.syringa-pflanzen.de/pflanzenwelten/duftpflanzen/duft-in-der-literatur.html (Duft in der Literatur)
http://www.jahrbuch-daun.de/VT/hjb1987/hjb1987.37.htm (volkskundliche Betrachtungen über einen beliebten Baum)
4. Bei Seidels Gedicht „gaukelt mir mein Gehirn nicht nur Lindenblütenduft vor, es aktiviert gleichzeitig die Erinnerung an eine bewegte Episode meines (Berufs-)Lebens, die sich in diesen Zeilen wieder findet.“ (strupatdl_landleben_duft.pdf, die Datei kann nicht korrekt zitiert werden)
5. Es wird als „Frauenliteratur“ wahrgenommen: Siehe oben (Uni Düsseldorf) und http://www.100dichterinnen.de/audio2/index.php?action=vthread&forum=1&topic=8 (mehrere Sprechversuche, eine als Gesang: mp3)
6. Im WS 1997/98 diente es neben anderen Gedichten in einer Veranstaltung der Uni Marburg als Zeugnis zur Demonstration von Alternativen gegen Umweltzerstörung und Globalisierung (http://web.uni-marburg.de/isem/WS97_98/prots/v3.htm#Verweise).
7. Mich hat die Frage fasziniert: „ Was liegt an dir?“, die ich als einen Topos aus Nietzsches Denken kenne: „‚Was liegt an mir!‘ ist der Ausdruck der wahren Leidenschaft, es ist der äußerste Grad, etwas außer sich zu sehen.“ (Nachlass 7 [45]: 1880, vgl. http://norberto42.blog.de/2006/12/16/uber_den_unterschied_zwischen_dir_und_mi~1446839)

Man kann natürlich noch in Reich-Ranickis Kanonvorschlag oder in weitere Anthologien hineinsehen… Es geht mir nicht um Vollständigkeit, sondern nur um Anhaltspunkte in  einer Diskussion darüber, was in den Kanon gehört (und ob es so etwas überhaupt geben kann).

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