Eichendorff: Der Jäger Abschied – Analyse

Wer hat dich, du schöner Wald …

Text

https://www.zgedichte.de/gedichte/joseph-von-eichendorff/der-jaeger-abschied.html

http://www.textlog.de/22590.html

„Dem Wald als Symbol ursprünglicher und unendlicher Natur wurde durch Rodung immer mehr kultivierte Fläche abgewonnen. Hieraus erklärt sich der Bedeutungswandel vom Mittelalter, in dem der Wald als unwirtlich-mystischer Lebensraum wilder Kreaturen gilt, bis zur Neuzeit, in der er eher für Abgeschiedenheit vom Treiben der Welt steht. Beide Bedeutungsebenen deuten auf seinen Charakter als Schwellensymbol hin, den Wald als Grenze zwischen der Kulturwesenhaftigkeit des Menschen und seines natürlich-animalischen Urgrunds.“ (http://www.symbolonline.de/index.php?title=Wald) „Der Deutsche Wald‘ wurde als Metapher und Sehnsuchtslandschaft seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Gedichten, Märchen und Sagen der Romantik beschrieben und überhöht.  Historische und volkskundliche Abhandlungen erklärten ihn zum Sinnbild germanisch-deutscher Art und Kultur oder wie bei Heinrich Heine oder Madame de Staël als Gegenbild zur französischen Urbanität.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Wald) Das sollte man wissen, wenn man sich Eichendorffs Wald-Gedicht zuwendet.

In der Überschrift wird „Der Jäger Abschied“ als Thema des Gedichtes benannt. Wer sind diese Jäger? Es sind Soldaten, nicht Naturfreunde. 1631 wurde in Hessen die erste Jägertruppe aufgestellt; die „Soldaten der Jägertruppe wurden als Aufklärer, Scharfschützen und Plänkler außerhalb der regulären Schlachtordnung eingesetzt. […] Im Gegensatz zu vielen Fremden oder Gepressten der Infanterie der damaligen Zeit handelte es sich um freiwillige Landeskinder, mit besonderer Loyalität zu ihrem Landesherrn. […] Während der napoleonischen Befreiungskriege kam es an vielen Orten Deutschlands zur Gründung von freiwilligen Jägerverbänden. So konstituierte die Gießener Studentenschaft am 28. Dezember 1813 ein freiwilliges hessisches Jägercorps, das am 29. März 1814 gegen Napoleon ins Feld zog.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%A4ger_(Milit%C3%A4r) Dass Eichendorffs Jäger Soldaten sind, merkt man in der 4. Strophe: „Was wir still gelobt im Wald …“ Hobbyschützen brauchen nichts zu geloben. Eichendorffs Gedicht gehört in den Umkreis der Lyrik der Befreiungskriege; er nahm selber 1813-1815 an den Befreiungskriegen teil, zunächst als Lützower Jäger, später als regulärer Soldat. Karl Preusker berichtet aus seiner Erinnerung an 1813: „Als der König von Preußen von Breslau aus im März 1813 den bekannten Aufruf an sein Volk zur Erhebung gegen die Franzosen erließ, (…) wurden außer den neuerrichteten Landwehr-Regimentern auch zahlreiche freiwillige Jägerbataillone gebildet“, zu denen Studenten, ältere Schüler und andere junge Leute stießen, „[…] und es war ein erhebender Anblick, als die muthigen freiwilligen Jäger unter Hörnerklang und fröhlichem Gesange bei Löbau vorbei zogen, zur Seite hübsche Marketenderinnen, deren Brüder oder Geliebten sich im Bataillon befanden.“ (Lebensbild eines Volksbildungsfreundes. Selbstbiographie von Karl Preusker. Hrsg. 1871 von H. Ernst Stötzer, S. 54 und S. 56)

Auch wenn der Sprecher in der 1. Strophe „ich“ sagt, ist dieses Ich nur jeder Einzelne aus der Gruppe der Jäger, die, deutlich ab der 2. Strophe erkennbar, gemeinsam sprechen. Sie sprechen mit einer rhetorischen Frage den schönen Wald an, um seinen (Bau)Meister zu loben – „Meister“ (V. 3) eine Metapher für Gott, den Schöpfer. Die beiden letzten Verse bilden den Refrain, der noch zweimal wiederholt und in der 4. Strophe abgewandelt wird: „Lebe wohl“ wird wiederholt; die Jäger verabschieden sich vom Wald, vom schönen Wald, in dem sie bisher ihr militärisches Training absolviert haben.

Die Situation der Sprechenden ist so, dass sie über sich einen Wald, also einen bewaldeten Berg („so  hoch da droben“, V. 2) und unter sich „die Welt“ (V. 7) haben, in die sie zum Kampf ziehen; die Szene erinnert von der Lokalität her an „Wilhelm Tell“ (III, 3), wo Walter mit Tell über den Wald „auf dem Berge dort“ (V. 1771) spricht. Der Wald wird als „Banner“ bezeichnet (V. 13), also als Bannwald. Bannwälder waren Schutzwaldungen, die u.a. das Abrutschen steiler Hänge verhinderten; der Wald als Banner mag hier auch vor dem Lärm der Welt schützen. Auf diese Situation und auf den Aufbruch der Jäger wird in der 2. Strophe reflektiert: Unten schallt die Welt „verworren“ (V. 7), oben grasen die Rehe einsam, also in Ruhe (V. 8), „Und wir ziehen fort und blasen“ (V. 9) auf den Hörnern das Abschiedslied, welches ungestört im Echo „tausendfach“ wiederholt wird (V. 10): „Lebe wohl …“

In der 3. Strophe blicken die Jäger auf ihren Aufenthalt im Wald zurück; seine Haupteigenschaft ist, dass er „so kühle wallt“ (V. 13). „wallen“ heißt: sich wellenförmig bewegen, ursprünglich von flüssigen Körpern. „In weiterer Bedeutung, auch von andern leichten oder biegsamen Körpern, sich wellenförmig bewegen, besonders als ein anschauliches Wort in der dichterischen Schreibart.“ (Adelung, 1801) Der Wald wird wie eine Mutter dargestellt; die Jäger sprechen ihn erneut persönlich an und bekennen dankbar, dass er sie „treu … auferzogen“ hat – sie sind also Kinder des Waldes, nicht der Welt; nur deshalb können sie Freiheitskämpfer werden, auch wenn das hier nicht ausdrücklich gesagt, jedoch in der 4. Strophe angedeutet wird: Sie haben ein stilles Gelöbnis abgelegt (V. 19). Das dritte Attribut des Waldes ist, „frommer Sagen Aufenthalt“ zu sein (V. 16). Man wird „Sagen“ nicht wörtlich lesen müssen; dann versteht man eher, was mit diesem Attribut gemeint sein kann: Während in der Welt verworrenes Geschrei die Leute benebelt, halten sich im Wald fromme Sagen auf, die Menschen erbauende Erzählungen, die zu der wahrhaft menschlichen Erziehung beigetragen haben (V. 15 f.). Nun, da die Jäger erzogen sind, gilt es Abschied zu nehmen und sich in der Welt zu bewähren: „Lebe wohl, du schöner Wald!“ (V. 18)

Auf diese Bewährung blicken die Jäger zum Schluss voraus: Sie wollen „draußen ehrlich halten“, was sie im Wald gelobt haben (V. 19 f.). Ein Gelöbnis ist eine besonders verpflichtende Art des Versprechens, verwandt dem Gelübde, einem religiösen Versprechen; noch heute gibt es bei der Vereidigung von Soldaten ein „Gelöbnis“, sodass wir bei dem stillen Gelöbnis der Jäger an einen quasireligiösen Soldateneid zu denken haben. Die Jäger versprechen noch einmal, dieses Gelöbnis halten zu wollen (V. 20); sie wollen „die Alten bleiben“, wollen ihrem Gelöbnis ewig treu bleiben (V. 21, mit Inversion). Sie sprechen noch einmal den Wald an und nennen ihn metaphorisch ein „deutsch(es) Panier“ (V. 22); Panier ist ein Banner, eine Fahne. Der Wald ist also ihre Kriegsfahne, die deutsche Fahne, die „rauschend wallt“ (V. 22); jetzt versteht man auch, wieso das kühle Wallen (V. 13) das erste Attribut des Waldes ist. Von diesem Wald verabschieden sich die Jäger zum letzten Mal (V. 23 f.) und stellen ihn unter Gottes Schutz (V. 24), da sie selber sich nicht mehr um ihn kümmern können – sie haben jetzt eine andere Aufgabe.

Das Gedicht ist kunstvoll gegliedert. Die vier Strophen sind gleichartig aufgebaut: Zunächst vier Verse im Trochäus, also bestimmt oder kraftvoll gesprochen; dann der verkürzte 5. Vers (anderthalb Takte im Trochäus – das bedeutet eine große Pause im Sprechen), im 6. Vers wieder vier Takte im Trochäus. Dabei sind die ersten vier Verse jeder Strophe im umarmenden Reim miteinander verbunden, wobei die 1. und 4. Verse eine männliche Kadenz aufweisen (kleine Pause, oft Ende eines Satzes) und allesamt sich auf „Wald“ reimen, ebenso wie der 6. Vers, der sich über den verkürzten Abschiedsgruß des 5. Verses hinweg an den 4. anschließt. Die 2. und 3. Verse weisen eine weibliche Kadenz auf und sind deswegen flüssiger zu sprechen, haben also vom Takt her am Ende keine Pause (wohl aber öfter vom Satzbau her).

Bei ruhiger Lektüre fällt auf, wie unbestimmt viele Aussagen der Jäger über die Waldwelt sind: Wieso gehört der Wald nicht zur Welt? Wohin ziehen die Jäger? Wie hat der Wald die Jäger erzogen? Was für Sagen leben im Wald? Was haben die Jäger still gelobt? Wer sind sie, dass sie „die Alten“ bleiben wollen? Und wieso ist der Wald ein deutsches Panier – in Frankreich und Polen gibt es doch auch Wald!? Dieser so unbestimmt gepriesene Wald wird in die religiöse Sphäre einbezogen, ja, er bildet eigentlich die religiöse Sphäre: Er ist „hoch da droben“ (V. 2), während die Welt „tief [unten]“ lärmt; der Wald ist auch Gegenort zur „Welt“, wie in der Bibel und im Mönchtum „die[se] Welt“ der Gegenort zur wahren Heimat der Menschen ist; auch die Stille, der Gesang (V. 3 f.) und der harmonische Hörnerklang (V. 9 f.) stehen im Kontrast zum verwirrenden Lärmen (V. 7) der Welt. Von solcher Waldseligkeit ist es nur ein kleiner Schritt zu Leberecht Blücher Drewes‘ (1816-1870) „Waldandacht“, wo der liebe Gott selber durch den Wald geht; dass es so weit kommen kann, ist kein Wunder (wo doch der liebe Gott im Spiel ist!) – bei hoher Unbestimmtheit wird das Gedicht bzw. der Wald naturgemäß zur Projektionsfläche mannigfacher Vorstellungen und Sehnsüchte, obwohl bereits 1770 im Harz die erste Forstakademie gegründet worden war und 1810 eher die Forstbehörden als der liebe Gott den Wald aufforsteten (und nutzten).

Das Gedicht ist 1810 entstanden, aber erst 1837 veröffentlicht worden. In der Zeit der Restauration konnte es sein halbrevolutionäres Kampfpathos nicht mehr entfalten, sondern nur noch „Waldromantik“ evozieren (so und damit verengt, wenn nicht falsch wird es im Hamburger Abitur gelesen: http://www.hamburg.de/contentblob/326072/data/abitur-deutsch.pdf, dort S. 26 f.). Einen ähnlich verborgenen Kampfaufruf wie bei Eichendorff finden wir auch in Friedrich Schlegels „Ode“ (1807), in Eichendorffs „Schwermuth und Entschluß“ (1808); ganz offen wird bald darauf von Arndt zum Kampf gegen die Franzosen aufgerufen: „Lied der Rache“ (1812), und natürlich dann auch von Kleist. (Die Parallelgedichte kenne ich aus „Epochen der deutschen Lyrik“, Bd. 7; „Epochen der deutschen Lyrik“ bietet Gedichte chronologisch geordnet nach ihrer ersten Veröffentlichung und ist damit oft ein gutes Hilfsmittel, um den dichtungsgeschichtlichen Kontext eines Werks zu sehen.)

Heinz Hillmann: Nationale Lyrik im 19. Jahrhundert (http://hup.sub.uni-hamburg.de/opus/volltexte/2008/66/chapter/HamburgUP_Lyrik_Hillmann_03.pdf )

http://www.jungefreiheit.de/Archiv.611.0.html?archiv02/022yy38.htm (Orte der Freiheit)

http://de.wikipedia.org/wiki/Befreiungskriege (Befreiungskriege)

(Auszug der Jenenser Studenten 1813… – https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/68/Ferdinand_Hodler_001′.jpg)

Vortrag

http://www.youtube.com/watch?v=ZTwp2iSzmcY (MGV Germania Fürstenberg)

http://www.youtube.com/watch?v=b6dEItC8UPo (MGV Einigkeit Bochum-Marmelshagen)

http://www.villa-wiebke.de/helfer/LMC/Abschied.html (Laager Männerchor)

http://www.youtube.com/watch?v=RF6uO3ybtIk (Ensemble „Men Only“) und weitere!

http://www.saengerkreis-bamberg.de/noten/weltlich/abschied/MendelssohnBartholdy_DerJaegerAbschied.pdf (Noten)

Sonstiges

http://www.xn--waldpdagogik-kcb.de/pdf/produkte/themen/hausarbeit_wald.pdf (Der deutsche Wald)

http://s128739886.online.de/deutscher-wald/ (dito)

http://wald.lauftext.de/ (Der deutsche Wald kann mehr als rauschen)

http://www.buergerimstaat.de/1_01/wald_01.pdf (Der deutsche Wald)

http://www.ennulat-gertrud.de/Wald.htm (Wald im Märchen)

http://www.wald2011.de/ (Waldkulturerbe)

http://www.wald2011.de/ (DIE ZEIT: Mehr Waldgelassenheit, bitte)

http://wiki.zum.de/Wald (Wald-Wiki)

Für Lehrer: Zur ganzen Waldmystik Eichendorffs bietet Robert Musil mit der Betrachtung „Wer hat dich, du schöner Wald…?“ ein wunderbares Kontrastprogramm (https://www.projekt-gutenberg.org/musil/nachlass/chap003.html), ebenso ErichFried: Was ist uns Deutschen der Wald? (https://norberto42.wordpress.com/2020/03/05/erich-fried-was-ist-uns-deutschen-der-wald-analyse/)

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