Theodor Storm: Elisabeth – Analyse

Meine Mutter hat’s gewollt…

Text

http://www.textlog.de/gedichte-elisabeth.html

http://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/Storm/elisab.htm

Den ersten Kontext des 1849 entstandenen Gedicht bildet die Novelle „Immensee“ (1850), über die man sich in den Links unter „Sonstiges“ informieren kann. Darin heißt das ganze 8. Kapitel „Meine Mutter hat’s gewollt“: Man sitzt zusammen, spricht über Volkslieder, Reinhard holt einige davon aus seinen Papieren und erklärt ihre Bedeutung: „Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten.“ Gemeinsam mit Elisabeth singt er „Ich stand auf hohen Bergen“; dann liest er, neben Elisabeth sitzend, still mit ihr das Lied „Meine Mutter hat’s gewollt“, hier noch ohne Überschrift. Elisabeth ist betroffen und geht hinaus; ihre Mutter verhindert, dass er ihr folgt. Später geht er an den See und versucht in der Nacht vergeblich, die Wasserlilie zu pflücken – dabei ist die Wasserlilie offensichtlich ein Symbol Elisabeths. Wir haben also insgesamt, dezent angedeutet, die Situation zwischen Elisabeth und Reinhard vor uns, die im Gedicht als Situation der Ich-Sprecherin vorausgesetzt wird; die Interpretation der Novelle impliziert eine Interpretation des Gedichts, was Storm später durch die Überschrift „Elisabeth“ legitimiert hat.

Das Gedicht ist im Volksliedton verfasst: drei Hebungen pro Vers mit freier Füllung; einzige Ausnahme ist V. 10: „Was fang ich an!“ Die ersten vier Verse jeder Strophe sind im Paarreim aneinander gebunden, der fünfte Vers nimmt den Reim der beiden ersten Verse wieder auf und schließt so die Strophe ab. Die kurzen Verse sind semantische Einheiten, durchweg kurze Sätze; nur V. 11 und V. 15 sind Adverbiale. Die Sprache ist also ganz einfach.

Die Sprecherin des Gedichts, das lyrische Ich, eine verheiratete Frau, reflektiert ihre Situation: Sie hat auf Drängen der Mutter „den andern“ genommen und auf den verzichtet, den sie von Herzen liebte. Sie beklagt ihre unglückliche Situation: Ihr Herz „hat es nicht gewollt“ (V. 5), hat also nicht den Geliebten vergessen wollen: Sie ist unglücklich. In der 2. Strophe klagt sie ihre Mutter deswegen an (V. 6 f.); sie bekennt: „Was sonst in Ehren stünde, / Nun ist es worden Sünde.“ (V. 8 f.) Was sonst in Ehren stünde, ist ihre Ehe; wieso sie zur „Sünde“ geworden ist, wird nicht erläutert. Es könnte sein, dass sie mit ihrem Geliebten Ehebruch begangen hat; als wahrscheinlicher erscheint mir, dass sie ihre Ehe als Liebesverrat gegenüber dem Geliebten empfindet und sie deshalb als Untreue, als „Sünde“ bewertet. Und dann folgt der verzweifelte Ruf „Was fang ich an!“ (V. 10), der außerhalb des normalen Taktes steht (s.o.). In der letzten Strophe zieht sie eine Bilanz ihres Lebens: Sie hat Leid anstatt (so lese ich „Für…“, V. 11) Stolz und Freude „gewonnen“ – eine bittere Ironie. Sie klagt zweimal „Ach“ (V. 13 f.), „eine Interjection, welche der natürliche Ausdruck nicht nur aller Leidenschaften, mit allen ihren Schattirungen, sondern auch aller Gemüthsbewegungen und lebhaften Vorstellungen überhaupt ist. Es ist also, und zwar 1) eigentlich und zunächst, der Ausdruck des Schmerzens, und zwar nach allen seinen Stufen und Abänderungen“ (Adelung). Mit „Ach“ leitet sie ihre unmöglichen Wünsche (Konjunktiv II, V. 8 f.) nach einem anderen Leben ein; selbst zu betteln und einsam zu leben („über die braune Heid“, V. 15) wäre ihr lieber, als in der ungewollten Ehe zu bleiben. Doch ihre Wünsche zerschellen an der Wirklichkeit; sie muss sich in ihr Schicksal fügen und leiden.

Die Reime sind einfach, aber sinnvoll: „besessen / vergessen“ (V. 3 f.) umschreibt den Riss, der durch ihr Leben geht; „klag ich an / nicht wohlgetan“ (V. 6 f.) gilt dem falschen Handeln der Mutter; „in Ehren stünde / worden Sünde“ (V. 8 f.) umschreibt den Widerspruch zwischen der schönen Möglichkeit und der bitteren Wirklichkeit, usw.

Im Gedicht lebt die soziale Wirklichkeit fort, dass früher oft nicht die Söhne oder Töchter selber ihre Gatten aussuchten, sondern dass die Eltern diese Wahl nach Aspekten des sozialen Nutzens für die Familie trafen; diese Praxis wird dann problematisch, wenn sich gegen die Ehe als Konvention die Idee der Liebesheirat, gegen die Familie als lebenslang dominierenden sozialen Verband die Idee des Individuums stellt oder Geltung beansprucht. Dann sind tragische Konflikte vorprogrammiert: Der Mensch, hier die junge Frau leidet am Konflikt zwischen dem, was sie tun muss, und dem, was sie hätte tun mögen und tun möchte. Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ ist eine Novelle, in der ein solcher Liebeskonflikt (mit der typischen Situation des Rangunterschieds) durchgespielt wird. Dass auch Liebesehen scheitern können (Gottfried Keller: Ehescheidung) oder eventuell scheitern müssen (Nietzsche: Von der Überzeugung und der Gerechtigkeit), wusste man aber auch schon zu Storms Lebzeiten.

http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=3489 (Einbettung in die Novelle „Immensee“, 1850)

Sonstiges

https://de.wikipedia.org/wiki/Immensee_(Storm) (über die Novelle)

http://literaturen.net/theodor-storm-immensee-interpretation-1093 (dito)

http://www.zeno.org/Literatur/M/Storm,+Theodor/Erz%C3%A4hlungen/Immensee (Text der Novelle)

1 thoughts on “Theodor Storm: Elisabeth – Analyse

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