W. Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz – Besprechung

Über Kraushaars Buch (2008) informiert die Rezension Gregor Keuschniks umfassend und gut. Ich beschränke mich deshalb auf die Frage: Was trägt Kraushaars Buch zum Verständnis der 68er Bewegung bei?

Vorab: Ich halte eine Einschränkung von „1968“ auf die errechneten 10.000 Aktivisten für falsch. Ohne das weite Umfeld der kritischen Jugend jenseits der 10.000, also sagen wir pauschal ohne die 990.000 oder 1.990.000 anderen kritischen Jugendlichen hätten die Aktionen der 10.000 Aktivisten nie und nimmer breite gesellschaftliche Auswirkungen gehabt.

Unter dieser Voraussetzung also frage ich: Was trägt Kraushaars Buch zum Verständnis der 68er Bewegung bei? Darauf antwortet Kraushaar vor allem in Kap. XI. „In seinem vulkanischen Kern war ‚1968’ eine Ursprungsrevolte. (…) Im Inneren wie im Äußeren wurde nach dem Ursprünglichen, dem gesellschaftlich noch nicht Verformten, dem Unmanipulierten, Nichtentfremdeten, dem vermeintlich Authentischen gesucht – im Individuum, im Kollektiv, in der Politik. Daher rührte die zentrale Bedeutung der Sexualität, der Erziehung, der direkten Demokratie und die alles überbordende Begeisterung für die Dritte Welt, die exotischen Länder, ihre Völker ebenso wie deren Befreiungsbewegungen. (…) Als das Ursprüngliche erschien das Natürliche.“ (S. 253)

Diese zentrale These wird dreifach entfaltet:

  • Die entscheidende Bezugsgröße sei nicht Karl Marx, sondern Rousseau gewesen.
  • Es habe sich um eine romantische Revolte gehandelt (nach Richard Löwenthal).
  • Sie habe sich aus religiösen Wurzeln gespeist: Ein verweltlichter Protestantismus habe ein eschatologisches Programm aufgelegt und den neuen Menschen gesucht.

Wenn man diese drei Unterthesen für sich betrachtet, so sind die beiden ersten beinahe deckungsgleich; die dritte widerspricht aber den beiden ersten, weil der neue Mensch ja nicht im Ursprung zu finden ist, sondern aus dem Ende (Eschaton) kommt.

Sachlich gesehen verdankt sich die Spitzenstellung Rousseaus dem Fokus auf Erziehung, Sexualität und Bedeutung der „Basis“; Karl Marx müsste in diesem Programm eine dienende Funktion einnehmen, als Kritiker des Bestehenden, nicht jedoch als derjenige, welcher das Ziel vorgibt.

Diese Sicht kann man teilen, wenn man die späteren Grünen als die wahren Erben der 68er Bewegung ansieht, nicht jedoch die vielen kommunistischen Splittergruppen, die es ja auch nach 68 gab.

Hat man derart nun verstanden, was die 68er angetrieben hat? Ja und Nein – Ja insofern, als „1968“ dann ein Fall von jugendbewegter „Romantik“ gewesen wäre, wie er halt hin und wieder vorkommt; Nein insofern, als nicht klar wird, wieso dieser Aufbruch nicht zehn Jahr früher oder später stattgefunden hat. Darin hat Daniel Balke in seiner polemischen Rezension recht, wenn er danach fragt, was überhaupt historisches Verstehen heißt.

Außerdem möchte ich daran erinnern, dass die kritische Unterscheidung von Natur/Konvention (physei – thesei) bereits eine griechische Errungenschaft ist; die Sophisten haben erkannt oder propagiert, dass alles bei uns Geltende seine Geltung einer menschlichen Setzung verdankt, also nur „thesei“ gilt, nicht aber „physei“ (von Natur aus). Ihre philosophischen Gegenspieler waren Platon und Aristoteles. Verglichen mit der griechischen Front ist die moderne Berufung auf „die Natur“ allerdings emanzipatorisch, während bei den Griechen gerade die Sophisten die Aufklärer waren.

Fazit: Kraushaar trägt nur bedingt zum Verständnis der 68er Bewegung bei. Was er zum Schluss über die wechselseitige Durchdringung mit den Massenmedien sagt (S. 294 f.), bedürfte sorgfältiger Untersuchungen. Klar ist seine abschließende Wertung: Extrem doppeldeutig sei die Bilanz; einerseits seien „die Türen zu einer subjektbestimmten Modernität weit geöffnet“ worden, anderseits hätten sich auch die Abgründe des Terrorismus aufgetan (S. 298). – „Sowohl – als auch“ in einem Fazit macht sich immer gut; damit zeigt man, dass man nicht Partei ergreift.

http://www.glanzundelend.de/Artikel/kraushaar.htm (informiert sehr gut, wertet ausgewogen: Gregor Keuschnik)

http://www.buechertitel.de/achtundsechzig-eine-bilanz.html (sehr kritisch, polemisch, nicht ganz klar: Daniel Bigalke)

http://www.zeit.de/2008/12/P-1968 (Sammelbesprechung mehrerer Bücher)

http://www.buechertitel.de/achtundsechzig-eine-bilanz.html (dito)

http://www.globkult.de/peter-brandt/547-1968-eine-radikale-demokratisierungsbewegung (Peter Brandt: 1968 – eine radikale Demokratisierungsbewegung: ein Essay zum Thema)

http://www.blz.bayern.de/blz/eup/01_06/9.asp (Monika Franz: Das Tribunal der Kinder. Literarische Blicke der „68er“)

P.S. Ein wichtiger Aspekt zum Verständnis der harten 68er scheint mir die Tatsache zu sein, dass sie sich als die Wissenden und Entschiedenen für auserwählt hielten, die „Arbeiterklasse“ zur Revolution zu führen und so die Rettung der Welt zu betreiben. Jede Form des Wahns, auserwählt zu sein, bringt Intoleranz und Skrupellosigkeit hervor, gleichgültig, ob es sich um religiöse oder politische „Erwählung“ handelt. Vgl. dazu

http://www.sgipt.org/medppp/auserw/auserw0.htm

http://wwwalt.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ4/tepe/tepeSite/mim/journalMIM/band01/SB_messianismus.htm

http://also42.wordpress.com/2012/08/03/berufen-und-erwahlt-ein-wahn/

1 thoughts on “W. Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz – Besprechung

  1. Vielen Dank für diese Besprechung. Das Problem bei Kraushaar und auch bei Aly oder Koenen ist schlicht, dass sie Teil des Geschehens gewesen sind und versuchen, aus der Rolle des Chronisten mit spitzen Thesen herauszukommen, was ihnen allerdings nur bedingt gelingt, da eben niemand aus seiner Haut heraus kann. Kraushaar ist darüber hinaus der Chronist der 68er schlechthin, er macht im Hamburger Institut für Sozialforschung nichts anderes als die Geschichte der 68er zu dokumentieren, aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Seine Beiträge kann man sozusagen fast schon als Zeitzeugenberichte der Oral History zuordnen. So verstanden, lesen sich seine Bücher wiederum mit einem anderen Zungenschlag. Vielleicht etwas grundlegender und eher als ein Einstieg in die Thematik eignet sich von ihm das Buch: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung ist übrigens ein Handbuch zur Mediengeschichte der 68er erschienen, allerdings nicht mehr lieferbar, aber noch vom Verlag lieferbar: Klimke, Martin / Scharloth, Joachim (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Bonn 2008. Einen Zugang dezidiert aus der Geschichtswissenschaft heraus bietet der folgende Sammelband: Gilcher-Holtey, Ingrid (Hg.): 1968: Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; allerdings ist er gefüllt mit Fachaufsätzen und daher eher bedingt geeignet für Nichthistoriker.

    Nun, ich bin gespannt was Sie von Götz Alys Buch halten!

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