Goethe: Heidenröslein – Analyse

Das erzählte Geschehen ist höchst einfach: Ein Knabe sah und lief; der Knabe sprach, das Röslein sprach; der Knabe brach, das Röslein stach. Es gibt einen einzigen Erzählerkommentar…

Die Analyse finden Sie jetzt in meinem Buch „Johann Wolfgang Goethe. Seine bedeutenden Gedichte“, das 2018 in 2. Auflage, 2020 in 3. Auflage bei Krapp & Gutknecht erschienen ist.

Dass die feministische Lesart „der wilde Knabe brach‘s Röslein auf der Heide“ im Sinn von „er vergewaltigte das Mädchen“ Unsinn ist, ergibt sich zwingend aus dem Gedicht „Sie soll der Jugend brauchen“ (http://www.deutsche-liebeslyrik.de/schirmer_david.htm#g3) von David Schirmer (1623-1687) – eine Blume brechen war ein literarischer Topos:

Komm, Liebste, laß uns Rosen brechen,

Weil sie noch voll und farbigt sein! (…)

Drüm laß uns lieben wie es gehet,

Eh noch der Abendstern anbricht [d.h. ehe wir alt werden, N.T.].“

So spricht der Liebhaber zu seiner Liebsten, und das kann ja wohl nicht heißen: ‚Komm, wir wollen dich vergewaltigen!‘

Ähnlich ist es in Albrecht Christian Rotths (1651-1701) Gedicht aus dem Jahr 1688:

„Es war ein Rösgen aufgegangen,

Von Farbe war es Blut und Schnee;

Nach diesem trug ich ein Verlangen

Und tat mir seinethalben weh.

 

Ich wollte dieses Blümchen brechen

Und griff mit Freuden schon darnach;

Begunnte gleichwohl mich zu stechen,

Dieweil ich allzu kühne brach.

 

Die Rose blieb auf ihrem Dorne,

Ich aber ging betrübt von ihr

Und sahe sie nun an mit Zorne,

Nach der ich trug vormals Begier.

(…)

Wenn Blumen ihre Brecher schmähen,

Nur weil sie hoch und schöne sind,

So wird man sie entblättert sehen,

So wird sie rühren Sturm und Wind; (…)“

In Viehoffs Kommentar zu Goethes Gedichten wird ein von Goethes Gedicht abweichendes Lied vom Heidenröslein zitiert; da wird ein junger Knabe genannt, der das Röslein in Zukunft „züchtig, fein bescheiden“ brechen wird – das genaue Gegenteil einer Vergewaltigung!

Bereits in Gottfried von Straßburgs „Tristan“ (13. Jahrhundert) gibt es das Bild vom Brechen der Rose. In einem Erzählerkommentar heißt es vom Mann, dem sich eine Frau in Liebe hingibt, er trage „ein lebend Paradies / In seiner Brust verborgen“ und brauche sich nicht zu sorgen, „daß der Dorn ihn steche / Wenn er die Rosen breche“ (Übertragung von W. Hertz, 1907, S. 397).

Zum Bild „Rose brechen, Dornen stechen“ gibt es bereits zwei Gedichte Walthers von der Vogelweide. Das interessantere ist in der Übertragung Bodo Menzels (1894) „Allzeit das Rechte“ überschrieben; es spricht eine Frau, die das sorglose Lieben wegen einer möglichen Schwangerschaft und der damit verbundenen Schande ablehnt:

Nicht trag‘ ich Gelüste

Nach Ehre, bringt sie Schande über‘s Jahr,

Daß ich klagen müßte:

Ach, daß ich so unbesonnen war!

Also ließ ich manchen Kranz im Stich,

Und nicht verlockte mich

Der Rose Duft, die Dornen scheute ich.

In der Übertragung Karl Simrocks („Dornrosen“) liest man Folgendes:

Ehre meid ich gerne,

wenn ihr Schande folget übers Jahr,

daß ich klagen lerne:

Weh mir Armen heuer: dieses war“.

So begehrt‘ ich manches Kranzes nicht

und ließ viel Blumen licht:

Wohl bräch ich Rosen gern, der Dorn nur sticht.

In Zoozmanns Übersetzung („Wahre Ehre“, bei Lachmann Nr. 102) hört sich der Text so an:

Ehre meid ich gerne,

Die mir Schande einträgt übers Jahr,

Daß ich klagen lerne:

Weh mir! sonst wars anders – doch:  e s  w a r !“

   So hab ich mir denn manchen Kranz versagt,

   Nach Blumen nicht gefragt;

   Wer Rosen bricht, hat oft den Dorn verklagt.

Einen Hinweis darauf, woher der Ausdruck „die Rose brechen“ stammen könnte, habe ich in Johannes von Freibergs (13. Jh.) Geschichte „Das Rädchen“ (bzw. „Das Rädlein“) gefunden (hier nach Altdeutsches Decamerone, 2. Aufl. Berlin 1984, S. 216 ff.): „Eine schmale Taille hatte das liebliche Mädchen, und auch tiefer hinab – bis zum Rosengärtchen hin – sah sie ganz berückend aus. Wer nach Lust und Verlangen eine kleine Reise da hinein hätte tun dürfen, wäre bestimmt trunken gewesen vor Glück.“ Wenn auch nicht von „brechen“, sondern von „reisen“ die Rede ist, so legt der Ausdruck „Rosengärtchen“ doch die Assoziation des Brechens nahe.

P.S. Das Motiv des Heiderösleins in der dt. Literatur: https://archive.org/details/deutschedichter00gtgoog/page/n532/mode/2up (Götzinger)

https://archive.org/details/goethesgedichte03viehgoog/page/n55/mode/2up (Viehoff, ähnlich)

5 thoughts on “Goethe: Heidenröslein – Analyse

  1. Pingback: Heine: Leise zieht durch mein Gemüt – Analyse « norberto42

  2. Ich sehe in dem Gedicht nichts von dem gebrochenen Herz der Rose! Ganz im Gegenteil. Zuerst warnt das Röslein den Knaben mit den Worten:
    Röslein sprach: „Ich steche dich, dass du ewig denkst an mich, und ich will’s nicht leiden.“
    Und dann heißt es in der letzten Strophe:
    „Und der wilde Knabe brach ’s Röslein auf der Heiden; Röslein wehrte sich und stach, Half IHM doch kein Weh und Ach, (ER) Musst es eben leiden“.

    Und hier wird heute zu schnell davon ausgegangen, dass mit IHM das Röslein gemeint sein muss. Jedoch das beruht auf einem Druckfehler mancher Verlage, die anstatt IHM, IHR geschrieben haben. Und so wurde es auch fälschlicherweise ins Englische übersetzt. Jedoch wenn man auch der Musik Schuberts lauscht, dann ist das kein Erlkönig oder düstere Winterreise, sondern etwas fröhliches, besonders im Nachspiel. Und so steht für mich außer Frage, dass mit IHM nur der Knabe gemeint sein kann.

    • Zu Th. Michael:
      1. Das Pronomen „ihm“ (= dem Rösein) statt „ihr“ (dem Mädchen: natürliches Geschlecht) besagt nichts.
      2. Vor allem jedoch ist die Logik des ganzen Gedichts nicht beachtet: Das Röslein will es nicht leiden (2. Str.), das Röslein muss es jedoch erleiden (3. Str.).
      3. Auch die Logik des zitierten Satzes ist nicht beachtet: Im ersten Teil steht der Knabe im Fokus des Sprechers, im zweiten Teil das Röslein.
      (Und nicht das Herz ist gebrochen, sondern das Röslein – und die Berufung auf Schubert beweist nichts für Goethes Text.)

      • „Vor allem jedoch ist die Logik des ganzen Gedichts nicht beachtet: Das Röslein will es nicht leiden (2. Str.), das Röslein muss es jedoch erleiden (3. Str.)“.

        Ja, dieses Argument macht Sinn. Aber dass die Musik Franz Schuberts keine Rolle spiele, weniger. Zumindest geht aus ihr hervor, wie Franz Schubert es gesehen haben kann, bzw. es auf keinen Fall sah (Vergewaltigung).
        Denke nach wie vor, das Lied ist viel unschuldiger gedacht, als viele der heutigen tief psychologischen Interpretationen uns das glauben machen wollen.

      • Okay,
        dass Schubert als Leser zählt, ist natürlich nicht zu bestreiten – er ist einer von vielen Lesern.
        Dass mein Argument von der Logik des Gedichts akzeptiert wird, freut mich (für die Gesprächskultur): Es ist nicht häufig der Fall, dass man sich im Internet vernünftig streiten kann.
        Ich stimme gern dem Eindruck zu, dass die Lektüre des Gedichts heute öfter feministisch getrübt ist.
        Freundliche Grüße, N.T.

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