Heine: Laß die heil’gen Parabolen – Analyse

Lass die heilgen Parabolen…

Text

http://www.lyrikmond.de/interpretationen.php (mit Interpretation)

http://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/HeineNachlese/lazar01.htm

http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Gedichte/Gedichte+1853+und+1854/8.+Zum+Lazarus?hl=zum+lazarus (Text: Zum Lazarus – gehört zu „Gedichte 1853 und 1854“)

http://www.versalia.de/archiv/Heine/Zum_Lazarus.2797.html (Text: Zum Lazarus)

http://www.thokra.de/html/heine_17.html (Zum Lazarus, mit Nachwort zum „Romanzero“)

Zu Beginn müssen wir einem möglichen Missverständnis vorbeugen: Einmal gibt es in der Gedichtsammlung „Romanzero“ (1851) im 2. Buch („Lamentationen“) einen Zyklus „Lazarus“, sodann gibt es in „Gedichte 1853 und 1854“ einen Zyklus „Zum Lazarus“. Unser Gedicht „Laß die heil’gen Parabolen“ eröffnet den zweiten Zyklus „Zum Lazarus“. Wie die beiden Zyklen zusammenhängen, ist eine schwierige Frage.

Kerstin Hasdorf schreibt zur Lazarus-Figur: „Dabei lassen sich zwei Überlieferungsstränge aus der Bibel unterscheiden: In Joh 11, 1-44; 12, 1ff. wird Lazarus von Betanien von seinem Freund Jesus wieder zum Leben erweckt. Dagegen handelt es sich in Lk 16, 19-31 um das Gleichnis vom reichen Mann, der gottlos stirbt und damit verdammt ist, und vom armen Lazarus, der als Aussätziger mit Geschwüren bedeckt, aber im Glauben an Gott sein Leben beendet und durch seine Frömmigkeit Eingang in den Himmel findet. Beiden biblischen Gestalten ist das Leiden gemeinsam, das einem höheren Ziel dient: einen Beweis für die Allmacht Gottes zu liefern. Krankheit ist in der Verkörperung des Lazarus’ nicht Ausdruck einer Sünde; an ihr manifestiert sich vielmehr die göttliche Auserwähltheit. Heine präzisiert nicht, auf welche der beiden biblischen Gestalten er sich bezieht, vielmehr scheinen sie ineinander zu verschwimmen. Überhaupt lehnt er sich nur gleichnishaft in der Wahl der Themen an die Überlieferung an. Die Figur bietet die Folie für sein eigenes Leiden. […]Joseph A. Kruse verweist außer der Bibel als Quelle der Lazarus-Figur auf die unmittelbare Wohnumgebung Heines. Heines „Matratzengruft“ begann im Mai 1848. Seit September wohnte er in der rue d’Amsterdam Nr. 50 (heute 54), in der er bis zum August 1854 leben sollte. Diese Straße kreuzte nicht weit von seiner Wohnung die rue Saint-Lazare, die zu dem ehemaligen Aussätzigenheim Saint-Lazare führte. Dieses Leprosenheim war spätestens im frühen 12. Jahrhundert gegründet worden. Der Schutzpatron der Aussätzigen ist der arme Lazarus; sein Name führte ebenfalls zur Bezeichnung von Militärkrankenhäusern (Lazarette).

So beinhalten der Titel und die ihm zugeordneten Gedichte eine für Heine typische Mehrdeutigkeit: Vom individuellen Schicksal ausgehend erhebt er den Zyklus zu einer metaphysischen Sinnsuche. Analog zum Lazarus thematisiert Heine seine persönliche Hilfsbedürftigkeit, überträgt diese aber auch auf soziale und politische Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft.“ (Lyrik als politische Meinungsäußerung…, Wiss. Hausarbeit 2006, S. 53 f.)

Wenn man den ganzen Zyklus „Zum Lazarus“ liest (11 Gedichte), stößt man zwar häufig auf Heines eigenes Leiden in der „Matratzengruft“; aber es sind auch durchaus lockere Töne zu hören, z.B. im Gedicht Nr. 11:

Mich locken nicht die Himmelsauen

Im Paradies, im sel’gen Land;

Dort find ich keine schönre Frauen,

Als ich bereits auf Erden fand.

[…]

Gesundheit nur und Geldzulage

Verlang ich, Herr! O laß mich froh

Hinleben noch viel schöne Tage

Bei meiner Frau im statu quo!“

Ich möchte deshalb das Gedicht Nr. 1 eher allgemein, weniger auf Heine persönlich bezogen lesen.

Das lyrische Ich wendet sich an einen nicht erkennbaren Gesprächspartner, der die traditionelle Verteidigungsstrategie gegen die Theodizeefrage fährt: Er antwortet in bildhaften Reden („Parabolen“, V. 1, also Parabeln, hier nach der griechischen Form parabolh = parabolé), Vergleichen und Analogien, wie es nach der Theorie religiöser Sprache dem Sprechen über Gott angemessen ist; er antwortet ferner – abwertend in der Sicht des lyrischen Ichs – mit „frommen Hypothesen“, kann also keine plausiblen Schlussfolgerung oder Argumente vortragen. Diesen Gesprächspartner fordert der Ich-Sprecher direkt, beinahe heftig oder zornig auf: „Laß die heil’gen Parabolen…“ (V. 1), ähnlich V. 2 (parallel gebaut), um dann auf einer ehrlichen Antwort zu bestehen (V. 3 f.), erneut mit einem Imperativ eingeleitet.

„Ohne Umschweif[e]“ solle er antworten: Umschweife stellt das bildhafte Reden dar, welches das lyrische Ich offenbar als Ausweichen vor den schwierigen Fragen empfindet; „die verdammten Fragen“ (V. 3) sind die drängenden, die schwierigen Fragen – eine Anspielung auf die ewige Verdammnis kann ich beim besten Willen nicht erkennen, eher eine umgangssprachliche Stilebene, auf die man sich begibt, wenn man zornig ist. Zornig ist also das lyrische Ich, weil der Gesprächspartner, der Advokat Gottes, frommes Zeug redet, aber nicht „die verdammten Fragen“ beantwortet.

Das Ich spricht im Trochäus, sehr bestimmt also, vier Hebungen pro Vers; betont sind die vorangestellten Imperative und „Ohne Umschweif“. Es reimen sich die Verse 2 / 4, was V. 1 f. und V. 3 f. als jeweils eine semantische Einheit markiert (das gilt auch für die 2., 3. Strophe). Der Reim ist überaus sinnvoll: keine frommen Hypothesen / Fragen ohne Umschweife lösen.

Wie die verdammten Fragen lauten, wird in den beiden nächsten Strophen entfaltet: Der Ich-Sprecher stellt die Fragen sehr direkt. Es sind die Fragen der klassischen Theodizee: Warum leidet der Gerechte? Warum ergeht es dem Schlechten gut? (V. 5-8) Das Thema ist bereits im biblischen Buch Hiob (oder: Ijob) durchgespielt worden; dort antwortet der Herr selber dem fragenden Hiob, indem er ihm sein Fragen verweist; es komme Hiob nicht zu, Gott zur Rechenschaft zu ziehen (Ijob 38 ff.). „Da antwortete Ijob dem Herrn und sprach: Siehe, ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, ich tu es nicht wieder; ein zweites Mal, doch nun nicht mehr!“ (Ijob 40,3-5)

Heine formuliert die Fragen Hiobs noch etwas allgemeiner, wobei in V. 5 f. die Gestalt des leidenden Jesus im Hintergrund steht. Heine hat in den Gedichten „Walküren“ und „Schlachtfeld bei Hastings“ (in „Historien“ im „Romanzero“, 1851) die Fragen gestellt, warum sich in der Geschichte der Schlechtere durchsetzt, der Bessere aber unterliegt. Diese Fragen von 1851 klingen in V. 7 f. an: Warum reitet der Schlechte als Sieger von der Kampfstätte? Im Reim sind „der Gerechte / der Schlechte“ (V. 6 / 8) einander konfrontiert. Die Frage lautet allgemein: Warum geht es in der Welt nicht gerecht zu? Erlösung durch Leiden und Ausgleich im Weltgericht sind die klassischen biblisch-christlichen Antworten darauf; Leibniz hat dagegen als Philosoph die fromme Hypothese von der besten aller möglichen Welten gestellt, über die Voltaire im „Candide“ so herrlich gespottet hat – Voltaires letzte Antwort läuft übrigens darauf hinaus, diese dummen Fragen ruhen zu lassen und stattdessen zu arbeiten, nämlich den Garten zu bebauen.

Heines Ich-Sprecher formuliert dann in der 3. Strophe die klassische Alternative der Theodizeefrage: „Woran liegt die Schuld“ (V. 9) Entweder ist Gott nicht allmächtig oder er ist kein guter Gott, wenn er so viel Leid in der Welt zulässt, so viele Unschuldige entsetzlich leiden lässt (V. 9-11). Falls Gott selbst mit der Welt bloß sein böses Spiel triebe, wäre das „niederträchtig“ – auf einen solchen Gott könnten wir verzichten. Im Reim sind mit „nicht allmächtig“ und „niederträchtig“ (= böser Gott) sinnvoll als die beiden Alternativen miteinander verbunden. Betont sind in dieser Strophe „Schuld“, „ganz“, „selbst“ und „nieder-“; gegen den Takt ist „das“ (V. 12) zu betonen. Takt heißt ja nicht, dass alle „betonten“ Silben taktgemäß zu betonen wären; der Rhythmus ergibt sich, wenn man die tatsächlich zu betonenden Silben betont und die anderen nicht.

In der 4. Strophe zieht der Ich-Sprecher ein Fazit, indem er distanziert auf das ewige Fragen blickt: „Also fragen wir beständig…“ (V. 13). Er stellt sich damit in die Gemeinschaft der Fragenden und bietet mit dem Personalpronomen „wir“ dem Leser an, sich an diesen Fragen zu beteiligen (so bereits in „uns“, V. 4). Er weiß, dass es keine befriedigenden Antworten auf die verdammten Fragen gibt; das formuliert er sarkastisch in V. 14 f.: Man stopft uns das Maul, wenn wir sterben, „mit einer Handvoll Erde“. Im Subjekt „man“ (V. 14) ist kein bestimmter Akteur bezeichnet; der Totengräber stopft uns ja nicht das Maul. Das Indefinitivpronomen „man“ umschreibt wie eine Passivkonstruktion einfach den Vorgang: Uns wird das Maul gestopft; „endlich“ (V. 15) ist hier doppeldeutig – einmal geschieht dies „am Ende“ unseres Lebens, einmal geschieht es „schließlich“, womit das Fragen beendet wird. Dagegen lehnt der Ich-Sprecher sich schon jetzt auf: „Aber ist das eine Antwort?“ Mit der rhetorischen Frage sagt er, dass es keine Antwort gibt – wer sollte sie auch geben, da der Ich-Sprecher die professionellen Theologen und Philosophen nicht als Gesprächspartner akzeptiert und auch Gott selber sich bei Hiob nicht als Gesprächspartner, der die verdammten Fragen beantwortete, erwiesen hat. „Gott“ kommt hier bei Heine ohnehin nicht vor; er steht ja im Verdacht, weder allmächtig noch gut zu sein (V. 9 ff.).

Formal weicht die letzte Strophe von der vorhergehenden ab: Es gibt keinen Reim, es gibt keine Zweiteilung. Betont sind „endlich“ (V. 15) und „das“ (V. 16); das Gedicht endet mit einer Frage, einer rhetorischen Frage, die alles offen lässt. – Anders als Sabine Schneider vermag ich in dem Gedicht keine Ironie zu erkennen.

http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2008/1915/pdf/hasdorf_kerstin.pdf (Kerstin Hasdorf, dort S. 52 ff. über den „Lazarus“)

[Sabine Schneider: Die Ironie der späten Lyrik Heines, 1995, S. 167 ff., ist bei google-books leider nur unvollständig greifbar.]

http://www.e-hausaufgaben.de/Hausaufgaben/D5530-Hausaufgabe-Deutsch-Analyse-Zum-Lazarus-von-Heinrich-Heine.php (schülerhaft, Paraphrase)

http://www.uni-protokolle.de/foren/viewt/258239,0.html (ziemlicher Mist)

Vortrag

http://www.youtube.com/watch?v=NvyQIhH3TzE (nicht schlecht: Jay)

Sonstiges

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9114 (Heine und die Religion: Ursula Homann)

http://www.ursulahomann.de/HeinrichHeinesReligionsgespraecheSindAktuellerDennJe/kap006.html (U. Homann: Heines Dichtung nach der religiösen Wendung)

http://www.payer.de/religionskritik/heine02.htm (Religionskritische Gedichte Heines, mit Kommentaren)

http://www.zeit.de/1947/50/heine-und-die-gottheit (H. Fritsche: Heine und die Gottheit, 1947)

http://www.textuniversum.de/index.php5?topic=zitate&zid=27 (Günter Bachmann, über Heines Weltanschauung, 2006)

http://www.uni-regensburg.de/theologie/fundamentaltheologie/medien/materialien/priemertheod.pdf (Die Theodizeefrage in der Literatur, theologisch, kurz über Heine)

Zu Hiob / Theodizee

http://www.kath.de/lexikon/philosophie_theologie/theodizee.php (katholisch)

http://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/themenkapitel-at/theodizee/ (Bibelwissenschaft)

http://www.uni-regensburg.de/theologie/fundamentaltheologie/medien/materialien/knoedlhiob.pdf (speziell zu Hiob – kathol.)

http://www.dober.de/religionskritik/theodizee2.html (allgemein)

http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=888&tx_gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&cHash=291c4f65668aea7d8fc9f551c3ceafd1 (philosoph.)

http://irenenickelreligionskritik.beepworld.de/theodizee.htm (Irene Nickel: große Diskussion)

http://de.wikipedia.org/wiki/Theodizee und natürlich Wikipedia…

Ein persönliches Wort zum Thema als Schluss: Ich empfehle das wunderbar böse Buch Kains Memoiren (deutsch 1968, schwedisch 1963), das in wenigen Exemplaren bei amazon, bei booklooker öfter, aber auch sonst noch greifbar ist, zu lesen; nicht einmal die Auflage von 4.000 konnte Suhrkamp regulär verkaufen. Als die Restexemplare für 3,00 bzw. für 1,00 Mark verscherbelt wurden, habe ich zehn Exemplare gekauft und verschenkt – das heißt, außer meinem alten Exemplar habe ich noch eines behalten, und ich weiß keinen, dem ich ich sinnvollerweise schenken könnte.