Nur eines möcht ich nicht: daß du mich fliehst…
Text
http://www.gedichtehaus.de/t5477f200-Sonett-Nr-Bertolt-Brecht.html
http://azzurro.designblog.de/thema/bertold-brecht….29/
http://www.oocities.org/wellesley/garden/6745/Brecht14_26.html
http://turmsegler.net/20090903/sonett-nr-19/
http://quadratmeter.wordpress.com/2011/09/20/bertolt-brecht-sonett-nr-19/
Dieses Sonett ist 1939 entstanden und erst nach Brechts Tod veröffentlicht worden. Es ist an Margarete Steffin gerichtet, die Brecht ins schwedische Exil gefolgt ist; sie litt inzwischen an ihrer Tuberkulose so schwer, dass sie nur noch beschränkt arbeitsfähig war. Vor diesem Hintergrund erhält das Liebesgedicht auch den Unterton des Trostes an eine Kranke, der versichert wird, dass sie gebraucht wird.
Der Ich-Sprecher wendet sich beschwörend und eindringlich an ein „Du“ und trägt seine Bitten oder Wünsche vor, dass dieses Du bei ihm bleibe. Emphatisch wird „Nur eines“ (V. 1) vorangestellt: Das Ich möchte das Du bei sich haben, trotz aller möglichen Einschränkungen auf dessen Seite („selbst wenn du nur klagst“, V. 2, usw. bis V. 5). Es folgt dann eine Begründung dafür, dass dieser Wunsch berechtigt ist: „Du bist mir beigesellt als meine Wacht.“ (V. 6) Diese Wache ist und bleibt nötig, wird in V. 7 f. zur Begründung ausgeführt, weil der Weg zum Ziel noch weit, weil das Dunkel immer noch groß ist – das sind zwei traditionelle offene Bilder, deren Konturen erst in einer bestimmten Situation hervortreten: etwa in der Situation des Kampfes gegen die Nazidiktatur oder in der Situation des Klassenkampfes.
Es muss noch untersucht werden, was „meine Wacht“ (V. 6) bedeutet. Dazu schauen wir in das Grimm’sche Wörterbuch:
Wacht, f. verbalsubstantiv zu wachen, das jetzt im wesentlichen als poetische nebenform zu wache gilt, früher aber weiter verbreitet war.
II 2) wacht (gern in verbindung mit bedeutungsverwandten substantiven, namentlich hut) bezeichnet dann ein wachen, das mit aufmerksamkeit, achtsamkeit auf äuszeres, namentlich auf abzuwendende gefahren, verbunden ist, und zwar zunächst zur nachtzeit, dann aber auch am tage. besonders geht es auf die einnahme eines postens, bei der man die verpflichtung hat wachsam zu sein.
II 3) schon bei mehreren der unter 2) gegebenen belege kann bei wacht an den regelmäszigen sicherheitsdienst, den bestimmte personen zu leisten verpflichtet sind, gedacht werden, worüber wache II, 3 zu vergleichen ist. diese bedeutung steht bei wacht durchaus im vordergrunde, wie schon aus den bestimmungen der wörterbücher hervorgeht. wie oben ausgeführt worden ist, hat sich namentlich für den militärischen wachtdienst die form wacht ausgebreitet. in der 2. hälfte des 18. jahrh. wird zwar auch hiefür wache das übliche, wacht erhält sich aber (auszer in den zusammensetzungen) in der dichtersprache.
(http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GW00629)
Wache
II. gebrauch.
1) ursprünglich bezeichnet wache in rein abstracter bedeutung den zustand des wachens
2) durch eine erweiterung des bedeutungsinhalts kann wache dann die achtsamkeit auf äuszeres, namentlich auf drohende gefahren, aufmerksamkeit, wachsamkeit bezeichnen.
3) besonders versteht man aber unter wache den als eine regelmäszige einrichtung bestehenden sicherheitsdienst.
(http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GW00072)
Dienst
5) arbeiten und leistungen, zu denen man verpflichtet ist.
(http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GD02228)
Es liegt also das Bild eines militärischen Dienstes zugrunde, den der Soldat „Du“ zu leisten. Er/Sie ist dem lyrischen Ich als Wache „beigesellt“, zugeteilt worden – „Du bist mir beigesellt“ ist ein Zustandspassiv, womit offen gelassen wird, wer diesen Dienst angeordnet hat. „beigesellen“ ist ein beinahe altertümliches Wort; das Grimm’sche Wörterbuch gibt als Bedeutung „adjungere, consociare, zugesellen, gesellen“ an – in vielen Wörterbüchern ist es nicht zu finden.
Das Bild vom militärischen Dienst ist in einigen Gedichten Brechts ausgeführt, die um 1937 entstanden und „der guten Genossin“ Margarete Steffin gewidmet sind: „Lieder des Soldaten der Revolution“. Im „Lied des Soldaten der Revolution“ lautet die dritte Strophe:
„Ich brauche keine Freundschaften, weil:
Ich melde mich immer gleich bei meinem Truppenteil.
Das sind meine Freunde, die dort stehen
Wenn ich sie auch noch nie gesehn.
Ich erkenn sie als Freunde mit Leichtigkeit:
Sie sind mit mir zusammen zu kämpfen bereit.“
Das ist das eine; das andere ist die erste Strophe des Gedichts „Morgens und abends zu lesen“, das Brecht 1937 an Ruth Berlau geschickt hatte:
„Der, Den ich liebe
Hat mir gesagt
Dass er mich braucht.“ (https://norberto42.wordpress.com/2012/11/25/brecht-morgens-und-abends-zu-lesen-analyse/ )
Da ist „brauchen“ stärker in den Zusammenhang „lieben“ einbezogen; die ganzen verwickelten Frauen-Lieben-Brauchen-Verhältnisse Brechts in Dänemark werden in einem Radioessay erläutert. Zurück zum Kontext (V. 6-8): Eigentlich machte die militärische Order („beigesellt als meine Wacht“) weitere Begründungen überflüssig – die Begründungen in V. 7 f. lassen vermuten, dass die militärische Order vielleicht „nur“ eine Metapher ist – die Metapher eines Liebesverhältnisses, wie sich später in V. 13 f., aber auch bereits aus V. 1 ff. ergibt: Wer solche Defizite aufweist, ist ja für eine militärische Wache nicht geeignet.
Die Sprache der Quartette ist gehoben (Konjunktiv II „bräucht“), durch eine Häufung der Wünsche (V. 1 ff.) und die Parallele des Rekurses auf die finstere Zeit (V. 7 f.) geprägt. Jeder Vers besteht aus fünf Jamben, die in einem umarmenden Reim mit partiell semantisch sinnvollen Reimen (klagst/sagst; meine Wacht/halb verbracht) aneinander gebunden sind. Das letzte Wort jedes Verses wird stark betont, dem entsprechend auch ein Wort vorher im Vers, z.B. nicht/fliehst (V. 1), hören/klagst (V. 2) usw.
In den beiden Terzetten werden Folgerungen aus dem vorher Gesagten gezogen: „So gilt…“ (V. 9). Worauf sich das „So“ bezieht, bleibt vorerst offen, wird durch das Nomen „Dienst“ (V. 11) jedoch eindeutig bestimmt: „So“ bezieht sich auf die Tatsache, dass das Du als Wacht oder Wache abgestellt worden ist (V. 6). Was gilt nun und was nicht? Es gelten keine Ausflüchte, erlaubt ist keine Abwendung des Du im militärischen Dienst (d.h. in der Liebe): „Laß mich, denn ich bin verwundet.“ (V. 9, vgl. V. 1: „daß du mich fliehst“) In V. 10 wird parallel dazu „Irgendwo vs. Hier“ durchgespielt, was nur zur militärischen Wache passt. In V. 11 folgt eine allgemein gehaltene Erläuterung: „Der Dienst wird … nur gestundet.“ Dieser Satz rückt die Aussage von V. 9 in ein milderes Licht; denn in der Liebe das „Laß mich…“ zu verbieten käme mir barbarisch vor; doch wenn der Dienst „gestundet“ wird, hört sich V. 9 erträglicher an.
Das zweite Terzett beginnt damit, dass rhetorisch das Einverständnis des angeredeten Du eingeholt wird: „Du weißt es“ (V. 12). Dann folgt die Prämisse, der Grund-Satz, auf den das sprechende Ich beide festlegt: „Wer gebraucht wird, ist nicht frei.“ (V. 12) Daran schließt sich das persönliche Bekenntnis an: „Ich aber brauche dich…“ (V. 13 – mit dem Akzent auf „Ich“, gegen das Metrum betont), woraus ganz simpel folgt: Du bist nicht frei. Das ist die Rhetorik eines Menschen, der andere ohne Bedenken in Beschlag nimmt. Ruth Berlau hat das auf die Dauer nicht ertragen, diese Mischung aus persönlich-erotischem und sozialistisch-praktischem Brauchen; Margarete Steffin ist an ihrer Tuberkulose zum Glück rechtzeitig gestorben, nur Brechts Frau ist anscheinend damit zurechtgekommen.
Es folgt zum Abschluss die scheinbar versöhnliche Zeile: „Ich sage ich und könnt auch sagen wir.“ Hier wird „ich“ und „wir“ gleichgesetzt: Geht das zu Lasten des „ich“ oder zu Lasten des „du“: Wer trägt die Spesen? Und das Pronomen „wir“: Das Subjekt welchen Satzes ist es, wenn es denn mehr sein soll als bloß gefühliges Symbol-Pronomen? Der Grundsatz von V. 12 wäre erst gerecht, wenn das Ich auch die Auslegung zuließe: „Du brauchst mich, wie’s immer sei.“ Diese Auslegung hat Brecht nicht oder nur in Grenzen zugelassen. Unter allen Gedichten und über allen Werken steht nur ein Name: Bertolt Brecht. Was sich versöhnlich anhört (V. 14), verbirgt nur einen Anspruch des Sprechers hinter dem schönen Aufkleber „wir“. Was das Ich zu seiner Selbstbehauptung sagen könnte („Laß mich…“, V. 9, oder „Irgendwo“, V. 10), das gilt nicht.
In den beiden Terzetten gibt es zweimal eine weibliche Kadenz (V. 9/11); dem entspricht, dass in diesen Versen der Ton nicht auf dem letzten Wort liegt – wo er genau liegt, ist schwer zu sagen, am ehesten auf dem ganzen Satz. Das Reimschema ist abaccb. Das angesprochene „Du“ kommt nur mit zwei potenziellen Äußerungen zu Wort (V. 9 f.); und von denen sagt das Ich in der Logik seines Grundsatzes: „gilt nicht“. Carl Pietzcker hat in seiner Habilitation „Die Lyrik des jungen Brecht“ (1974) diesen Rekurs der Liebe aufs Brauchen als Reifung gepriesen: Man kann solche Stellen auch anders lesen: Die Überlagerung des Satzes „Ich brauche dich“ durch Bild und Logik militärischer (Unter)Ordnung rückt das Liebesflehen ins Zwielicht.
Gerhard Härle schreibt zu unserem Gedicht: „Die Abwendung von den großen Metaphern und Symbolen der romantischen Liebe – sie klingen allenfalls noch zitathaft an – stellt zugleich auch eine Absage an das große romantische Liebesideal dar. Nicht die oder der »ferne Geliebte« bedeutet die wahre Bewährungsprobe der Liebe, sondern gerade das nahe geliebte Du, dessen Liebe und die Liebe zudem es stets neu zu gewinnen und zu bewahren gilt. Bei Bertolt Brecht gibt es großartige Beispiele für dieses Liebeserleben. Sie werden nicht dadurch weniger bedeutend, dass sie zum Teil auf Texte seiner Geliebten zurückgehen, die er – mit deren opferbereiter Billigung – seinem lyrischen Werk einverleibt hat. Brecht hat dabei auch die Perspektive dieser Gedichte übernommen, die wir als »weibliche« Perspektive oder als »Rollengedicht« auffassen können, was vielen seiner Liebesgedichte einen sehr einfühlsamen, menschenfreundlichen Ton verleiht, da in ihnen unterschiedliche Sichtweisen miteinander verschmelzen. Brechts liebende Ichs gestatten sich (und uns), die Liebe als ein existentielles Brauchen und Gebrauchtwerden aufzufassen, und aus diesem Gebrauchswert der Liebe leitet sich ihre Verstetigung her.“ Härle schlägt also vor, das „Ich“ aus der weiblichen Perspektive zu lesen, während ich einfach davon ausgegangen war, es aus der männlichen Perspektive, gar aus der Bertolt Brechts zu lesen. Härles Vorschlag lässt mich einen Augenblick innehalten – aber ich bleibe aufgrund der Einbettung in die militärische Dienst-Logik (mit dem Bezug auf die „Lieder des Soldaten der Revolution“, Margarete Steffin) bei meiner Lesart.
Rezeption
http://www.but-alive.de/musik_texte_nichtzynischwerden.htm (2. Text: Song)
http://jedermenschistzuviel.stabo.org/texte.php?show=2&what=1077
http://turmsegler.net/20090903/sonett-nr-19/
http://www.ph-heidelberg.de/wp/haerle/download/Haerle_LiebLyr_310306.pdf (G. Härle, dort S. 62 f.)
Margarete Steffin
http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/margarete-steffin/
http://www.imdb.com/name/nm1273118/bio
http://www.berlin.de/ba-mitte/bezirk/gedenken/margarethe_steffin.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Margarete_Steffin
http://www.joachim-dietze.de/pdf/brecht_ab.pdf (Brecht und seine Frauen)
P.S. In BW war 2013 ein Gedichtvergleich zwischen Brecht: Sonett Nr. 19, und Sarah Kirsch: Dreistufige Drohung“ (http://www.stiftikus.de/lyrik/liebe0.doc) ein Wahlthema im Abitur des LK Deutsch. Am Tag des schriftlichen Abiturs (10. April 2013) wurde meine Analyse von Brechts „Sonett“ 2304mal angeklickt.