Brecht: Erinnerung an die Marie A. – zur Interpretation

„An jenem Tag im blauen Mond September…“

Text des Gedichts

http://www.uni-saarland.de/fileadmin/user_upload/Professoren/fr41_ProfGutenberg/Gedicht_des_Monats/Erinnerung_an_die_Marie_A.pdf oder

http://erinnerungsort.de/erinnerung-an-die-marie-a.-_135.html

Als „Quelle“ oder Anregung für Brechts Gedicht (entstanden 1920) gilt heute primär der alte Schlager „Verlor’nes Glück“; dessen Text findet man unter http://de.wikisource.org/wiki/Verlor%E2%80%99nes_Gl%C3%BCck.

Die große Interpretation, der ich nicht viel hinzuzufügen habe, ist http://de.wikipedia.org/wiki/Erinnerung_an_die_Marie_A.; allerdings ist die Wolke bei Brecht eher eine Metapher des Vergessens, vgl. „Ballade vom Tod der Anna Gewölkegesicht“: „Mit Kirsch und Tabak, mit Orgeln und Orgien / Wie war ihr Gesicht, als sie wegwich von hier? / Wie war ihr Gesicht? Es verschwamm in den Wolken. / He, Gesicht! Und er sah dieses weiße Papier!“ (2. Str.; vgl. auch Str. 4 und 5: http://dtserv2.compsy.uni-jena.de/ss2012/ndlger/57880477/content.nsf/Pages/7E25B099F14880F5C1257A23004CFCE2/$FILE/PPP_Textanalyse_10.ppt, dort Folie 11; Anna Gewölkegesicht steht für das gleiche Mädchen wie Marie A.)

Wichtig fürs erste Verstehen sind die Abschnitte

–       Biographischer Kontext,

–       Literarische und musikalische Quellen,

–       Veröffentlichungen,

–       Vortragsanweisungen,

–       Interpretationen, darin v.a.

–       – Form und Symbolik,

–       – Rezeptionsgeschichte,

–       (Weitere Verwendung der Motive bei Brecht: fürs zweite Verstehen)

–       (Vertonungen: ebenfalls fürs zweite Verstehen).

Jan Knopfs Analyse („Sehr weiß und ungeheuer oben“, in: Interpretationen. Gedichte von Bertolt Brecht. Hrsg. von Jan Knopf, RUB 8814, Stuttgart 1995, S. 31 ff.) sei ganz knapp referiert:

  • Brechts Gedicht ist eine Parodie des Schlagers „Verlor’nes Glück“; die erste Überschrift (Sentimentales Lied No. 1004) setzt den Text „in ironische Anführungszeichen“.
  • Das Gedicht setzt Stimmungswerte, die es als unmittelbar erlebnishaft erscheinen lassen (klangliche Bezüge, rhythmische Leitmotive, Alliterationen, Assonanzen). „Dennoch läuft alles auf Desillusionierung hinaus.“ Es liegt kein Liebesgedicht vor.
  • Das Gedicht steht in „Bertolt Brechts Hauspostille“. „Vergehen und Lebensgenuß sind die zwei großen Themen der Hauspostille.“ Dass bereits das Vergessen im Leben den Lebensgenuss gefährdet, sagt „Erinnerung an die Marie A.“. So ist auch nach diesem Gedicht gemäß Brechts Anweisung „Gegen Verführung“ zu lesen: als Mahnung, das Leben in vollen Zügen zu schlürfen.

Weitere Interpretationen:

http://www.phil1.uni-wuerzburg.de/fileadmin/05010200/user_upload/Mitarbeiter/Will/ss2007_ps_02_marie.pdf (kurz: Thesenpapier)

http://www.phil1.uni-wuerzburg.de/fileadmin/05010200/user_upload/Mitarbeiter/Will/ss2007_ps_01_marie.pdf (ähnlich)

http://www.khristophoros.net/brecht.html

Vortrag

http://www.youtube.com/watch?v=DwHJl6odja0 (Andreas Risses Rezitation, gut)

http://www.youtube.com/watch?v=0foN1rnr83g (Rezitation Fritz Stavenhagens, problematisch)

http://www.youtube.com/watch?v=yFI4MraJLO0 gesungen (D. Niezing)

http://www.youtube.com/watch?v=7RC5op37j-0&feature=related (dito)

http://www.youtube.com/watch?v=ZYR0OZZQKDo&feature=related (gesungen von E. Busch)

Zu „Bertolt Brechts Hauspostille“ als Kontext:

www.phil1.uni-wuerzburg.de/fileadmin/05010200/user_upload/Mitarbeiter/Will/ss_2007_ps_02_hauspostille.pdf

An dieser Stelle soll auf einige methodische Probleme hingewiesen werden: 1. Das Gedicht ist seit 1924 mehrfach veröffentlicht worden, ehe es 1927 in „Bertolt Brechts Hauspostille“ stand – muss man es im Kontext der Hauspostille verstehen, oder hat es sein Recht auch außerhalb dieses Kontextes, oder eher im Kontext des ganzen Werkes Brechts? 2. Die erste Überschrift „Sentimentales Lied No. 1004“ ist von Brecht getilgt worden – darf man sich trotzdem noch auf ihn zum Verständnis des Gedichts berufen? 3. Wie wörtlich ist die einleitende „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen“, also die  Gebrauchsanweisung Brechts für die Hauspostille zu nehmen – gehört sie vielleicht eher zur Selbststilisierung Brechts?

Forschungsliteratur zur Lyrik Brechts:

http://germanistik.uni-mannheim.de/abteilungen/ng1_neuere_deutsche_literaturwissenschaft/wissenschaftliches_personal/apl_prof_dr_ulrich_kittstein/forschungsliteratur_zur_lyrik_bertolt_brechts/forschungsliteratur_bertolt_brechts_lyrik.pdf

Rezitation von Gedichten

Es gehört zu meinen besten Einsichten, dass man Gedichte hören muss, dass sie Klanggebilde sind. Aus diesem Grund weise ich auf zwei Rezitatoren deutscher Gedichte hin, deren Vorträge man kostenlos hören kann:

http://www.lutzgoerner.de/alle-gedichte-des-tages (Lutz Görner, früher: rezitator.de)

http://www.deutschelyrik.de/index.php/auslaender.html (Fritz Stavenhagen)

Die Vorträge sind zwar nicht immer ganz „richtig“, aber immerhin insgesamt gut, oft sehr gut. Auch bei youtube kann man versuchen, Rezitationen (oder Vertonungen) zu hören.

Brecht: Serenade – kurze Analyse

„Jetzt wachen nur mehr Mond und Katz…“ (Text: http://www2.ilch.uminho.pt/deg/Brecht_Texte.htm oder http://www.oocities.org/wellesley/garden/6745/Brecht27_39.html)

Das flotte Gedicht lebt von dem Kontrast, in den der ungenannte Sprecher, den man freilich mit dem Autor Brecht gleichsetzen darf, Bert Brecht zu allen anderen (1. Str.) setzt, welche er zum Schluss mit „ihr“ anspricht (V. 9). Es werden drei verschiedene Situationen beschrieben, in denen sich der besondere Bert Brecht von den anderen abhebt: Jetzt zur Schlafenszeit (1. Str.), eine Mai- oder Frühlingssituation (2. Str.), das Einst der ewigen Ruhe (3. Str.). In diesen Situationen tritt Bert Brecht als der Nichtschläfer auf, als der trunkene Sänger, als der auf ewig Verdammte – in gewisser Weise als Bohèmien, als der für bürgerliches Empfinden schreckliche Außenseiter; dementsprechend trottet er, statt zu gehen (V. 3); taumelt er betrunken (V. 7); stolpert er durch die Hölle (V. 11). Er trägt jeweils sein spezifisches Attribut bei sich, seinen Lampion (V. 4, V. 12) oder seine Klampfe (V. 8) – auch Lampion und „Klampfentier“ weisen ihn als schlicht anders aus. In der 2. Strophe lehnt er sich allerdings an Heines „Buch der Lieder“ an: „Im wunderschönen Monat Mai…“.

Das Gedicht ist im vierhebigen Jambus geschrieben, es plätschert munter im Kreuzreim dahin; die drei Strophen sind parallel aufgebaut: zwei Verse für die allgemeine Situation, dann zwei Verse für Bert Brecht. Im letzten Vers jeder Strophe wiederholt sich „Bert Brecht mit seinem …“ (V. 4, V. 8, V. 12).

Etwa 18 Jahre war Brecht, als er dieses Gedicht zur Bildung seines Profils bzw. des Images schrieb. Heute wirbt die Stadt Augsburg mit diesem Gedicht und den entsprechenden Gedenkstätten: http://www.augsburg-tourismus.de/tl_files/augsburg_tourismus/broschueren/pdf/bertolt-brecht-2009_web.pdf

Das Gedicht gilt als Ausdruck von Brechts Selbstinszenierung, vgl.  http://www2.ilch.uminho.pt/deg/Brecht_Seminar_Text.htm:„Lederjacke, Drahtbrille, Schiebermütze und die ewige Zigarre: So kennt man Brecht. 
Wie nur wenige andere Schriftsteller verfügt Bertolt Brecht schon zu Beginn seiner literarischen Karriere über ein feines Bewusstsein für die Notwendigkeit, als Autor ein spezifisches Image entwickeln zu müssen, um seine Texte, seine ‚Waren’ erfolgreich auf dem literarischen Markt veräußern zu können. Nicht zuletzt durch seine Selbstinszenierungen positioniert Brecht sich im literarischen Feld seiner Zeit und unterstreicht nachhaltig die ästhetischen wie politischen Standpunkte seiner Texte.“ (Alexander Fischer) Fischer berücksichtigt folgende Gedichte als Ausdruck dieser Selbstinszenierung: Serenade (um 1916), Ballade an meinen Totenschädel (1918), Anleitung und Anhang zur Taschen- bzw. Hauspostille (1925/26 bzw. 1927), Der Insasse (1935). 
Essay: Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker (1927).

Werner Frick hat die Stationen von Brechts poetischer Selbstinzenierung umfassend untersucht: „Ich, Bertolt Brecht…“ (in: Brechts Lyrik – neue Deutungen. Hrsg. von Helmut Koopmann, Würzburg 1999, S. 9-48).

Brecht: Moderne Legende – Analyse

„Als der Abend übers Schlachtfeld wehte…“: Das Gedicht wird als moderne Legende eingeführt. Was ist eine Legende? „Legenden waren ursprünglich mittelalterliche Leidensgeschichten von Märtyrern, Heiligen und religiösen Autoritäten, die bei kirchlichen Anlässen verlesen wurden. Später wurde der Begriff vor allem zur Sammelbezeichnung für die schriftlich fixierten ‚Viten‘ (Lebensgeschichten) der Heiligen. Schon im 15. Jahrhundert tauchen Legenden jedoch auch im außerkirchlichen Bereich auf. Hier meinen sie nichtbeglaubigte Berichte oder unwahrscheinliche Geschichten, die eng mit einem volkstümlichen, später auch mit einem kunstvoll-literarischen Erzählen verbunden sind. In dieser verweltlichten Form werden die Legenden zu moralisch-didaktischen Erzählungen über außergewöhnliche Schicksale, die nicht nur im Rationalen gründen.“ (http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/legende.htm; vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Legende). Einige kurze Interpretationshinweise bietet Christian Freitag (Ballade, 1986) mit einem Auszug aus Eberhard Rohse, der Brechts „Moderne Legende“ als Anti-Legende charakterisiert, da sie die erzählten Leiden nicht verklärend überhöhe, sondern ideologiekritisch entlarve. Das Textbild des Gedichts schwankt: Teilweise wird der Vers „Siehe, da ward es still bei Freunden und Feinden“ als eigenständige Strophe gedruckt. Ich halte mich hier an die Fassung in http://erinnerungsort.de/moderne-legende-_317.html (1967).

Es wird erzählt, was am Abend nach der Schlacht geschah (V. 1 ff.): Dass die Telegraphendrähte die Nachricht vom Sieg über die Feinde klingend hinaustrugen. Sowohl in der Bezeichnung „Feinde“ wie im Adverb „klingend“ stellt der Erzähler sich auf die Seite der Sieger. In der 2. und 3. Strophe wird berichtet, was „da“, also danach und deswegen geschah: Auf der einen Seite äußerte sich die Verzweiflung der Besiegten, auf der anderen Seite erklang der Jubel der Sieger. Die Äußerungen der beiden Seiten werden streng parallel berichtet, bis in die wörtlichen Entsprechungen von V. 5 f.  mit V. 11 f. (Ende der Welt, am Himmelsgewölbe zerschellt) und V. 9 f. (tausend Lippen, tausend Hände) mit V. 15 f. Bereits hier wird das Nicht-Legendarische des Berichts deutlich: Sowohl das Heulen der Besiegten wie auch das Jauchzen der Sieger „zerschellt’“ am Himmelsgewölbe, die Lippen wühlen nur „im alten Gebet“ (V. 15). Als der Erzähler berichtet, was danach „in der Nacht“ geschah, wird das Jauchzen und Beten als vorläufig aufgehoben: denn es wurde still (V. 20), es „ward“ still, wie in altertümlicher Legendensprache gesagt wird. Die gleichen Telegraphendrähte, die die Nachricht des Sieges hinausgetragen haben (V. 3 f.), vermelden, nein „sangen“ sogar (V. 18) „von den Toten, die auf dem Schlachtfeld geblieben“. Deren singender Bericht löst jedoch das allgemeine Verstummen aus: Es ist ein Bericht von den Toten beider Seiten. Dass die Sieger im Jubel verstummen, überrascht mich; dass die Besiegten verstummen, finde ich nicht erstaunlich – sie leiden jetzt still weiter. Das eigentlich Legendarische, die Kunde von einem unerhörten Heils-Ereignis ist: Auch die Sieger sehen die Kosten des Sieges und sind davon betroffen, ihr Siegesgeschrei verstummt. Die Berichte von der Verbreitung der Nachrichten über die Telegraphendrähte am Abend und in der Nacht (1. und 4. Str.) rahmen die Berichte von der Äußerungen der Besiegten und der Sieger (2. und 3. Str.) ein; und sie enden damit, dass das Geschehen in sich umschlägt (Kontrast): Die Drähte singen, aber die Menschen verstummen allesamt (Freunde und Feinde, V. 20, verbunden in der f-Alliteration).

Nach gehöriger Pause setzt der Erzähler seinen Bericht fort, mit einem neuen Kontrast zum Verstummen aller: „Nur die Mütter weinten“ (V. 21). Sie weinten „hüben – und drüben“ (V. 22). Mit diesem Freund und Feind umfassenden Hüben und Drüben kommt die Wahrheit des Krieges ans Licht: Die Klagen und die Jubelrufe erklangen jeweils nur an einem Ende der Welt (V. 5, V. 11); das Verstummen angesichts der Toten (V. 18 f.) und das Weinen der ihrer Kinder beraubten Mütter ist jedoch ein allgemeines, Freund und Feind umfassendes Geschehen.

Die Sprachform des Gedichtes ist einfach: In unregelmäßigen Metren sind die Verse teils im Kreuzreim (V. 1-4), dann im Paarreim aneinander gebunden (V. 5 ff.), in einfachster chronologischer Form aufgezählt (am Abend V. 1, da V. 5, in der Nacht V. 17, erneut „da“ in V. 20). Die sich reimenden Verse entsprechen einander inhaltlich (z.B. Rasen der Lust, Recken der Brust, V. 12 f.) oder sachlich (Abend wehte, Telegraphendrähte klangen, V. 1/3). Nur am Schluss, als der große Umschlag eintritt, fallen V. 19-22 aus dem bis dato dominierenden Schema der Paarreime heraus: Das Reimpaar „geblieben/drüben“ (V, 19/22) wird durch das Reimpaar „Feinden/weinten“ (V. 20 f.) unterbrochen, es liegt ein umfassender Reim vor.

Legendarisch ist vielleicht auch der lehrhafte Hinweis „siehe“ (V. 20), womit der Erzähler den Bericht vom allgemeinen Verstummen hervorhebt. Antilegendarisch ist jedoch, wie vom Beten berichtet wird: Die Lippen „wühlten im alten Gebet“ (V. 15); sowohl das Verb „wühlen“ bezeichnet die Vergeblichkeit des Betens, wie ja auch bereits Jubelrufe und Klagen am Himmelsgewölbe zerschellen (V. 6, V. 12). Ebenso qualifiziert das Gebets-Attribut „alt“ (V. 15) das Gebet als vergeblich; zudem ist das Beten nur die Äußerung der einen Seite – allgemein und damit richtig ist jedoch das Verstummen, und das Weinen der Mütter (V. 20-22). Dieses Motiv der Mütter taucht auch in den Gedichten „Mütter Vermisster“ und „Die Mütter der Vermißten“ auf (nach Edgar Marsch: Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk, 1974, S. 87), ebenso in „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1938/39).

Wir haben hier eine Fingerübung des jungen Brecht vor uns; er war 16 Jahre alt, als das Gedicht am 2. Dezember 1914 in „Der Erzähler“ veröffentlicht wurde. Kurt Eisler hat das Gedicht vertont (http://www.youtube.com/watch?v=pIt1woVU9HQ, gesungen von Ernst Busch (http://www.youtube.com/watch?v=EQySr8_Pa6M – gleiche Aufnahme); es wird heute auch im religiös-kirchlichen Kontext zitiert oder vorgetragen (http://www.redemptoristen.com/index.php?id=180&programm=365 oder http://www.s.shuttle.de/delta/kirche-swr/Worte04/worte08-29.htm).

http://www.ddr-hoerspiele.net/2-lp/helene-weigel-liest-brecht.html (Paul Rilla über die Lyrik Brechts insgesamt)

Vgl. noch http://www.club.it/culture/poesie-politica/helmut.gier/corpo.tx.gier.html (Helmut Gier: Brecht im 1. Weltkrieg).

Über Rezensionen und Buchbesprechungen

Wozu liest man eine Rezension? Ich lese Besprechungen, um mich über Bücher zu informieren, die ich nicht kenne; auf eine begeistere Rezension reagiere ich gelegentlich so, dass ich das gelobte Buch erwerbe, um es bald zu lesen. Manchmal bleibt es bei diesem guten Vorsatz; gelegentlich bin ich auch davon enttäuscht, dass meine durch das Lob geweckten Erwartungen sich nicht erfüllen. So ist es mir mit Henning Ritter: Notizhefte, ergangen – dabei hatte nicht nur Thomas Steinfeld das Buch in den Himmel erhoben („Wie wenige es sind, mit denen es sich reden lässt“, SZ 7.12.2010, S. 9): Ich habe Ritters Buch nicht zu Ende gelesen, so sehr habe ich mich über dessen hochtrabendes Gerede geärgert (https://norberto42.wordpress.com/2011/01/10/henning-ritter-notizhefte-berlin-2010-besprechung/).

Bei google findet man unter „Rezensionen OR Besprechungen“ ungefähr 35.200.000 Ergebnisse (25.10.2012) – ich schließe daraus, dass kein Mensch das Rezensionswesen oder -unwesen überblickt. Bekannt und auf ihre Weise berühmt sind die Feuilletons der großen Zeitungen, z.B. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/ oder http://www.zeit.de/kultur/literatur/index; aber auf die ist manchmal kein Verlass, sie loben Bücher zu oft und zu heftig. Die zahlreichen fachwissenschaftlichen Rezensionsfabriken beachte ich hier nicht, sie dürften den Interessenten bekannt sein. Einen Hinweis verdient aber das halbpopuläre Spektrum der Wissenschaft (http://www.spektrum.de/page/p_sdwv_sd_rezension&_z=859070).

Die Österreicher sind wieder einmal im Zusammenhang „Schule und Internet“ einen Schritt weiter als die Deutschen, sie haben http://rezensionen.schule.at/. Das Goethe-Institut hat ein entfernt analoges Angebot mit seinem Überblick über Rezensionsquellen (http://www.goethe.de/ins/nl/ams/prj/kij/link/rez/deindex.htm). Einen regelrechten Linkservice gibt es bei http://www.bsz-bw.de/SWBplus/linkliste/linkli-01.shtml.

Das Internet gibt aber auch den Nichtjournalisten, die man früher Leseratten nannte, Gelegenheit, Bücher zu rezensieren und ihre Besprechungen sogar auf Dauer präsent zu halten. Sie sind vielleicht ehrlicher als die Profis, aber nicht immer so kompetent. So sind im Blog http://www.leselupe.de/blog/ viele Leser als Rezensenten aktiv oder potenziell aktiv. Ähnlich arbeitet das von Jan Rintelen geleitete Blog http://www.rezensionen.ch/ – da gibt es Übersichten über die nach Kategorien sortierten Besprechungen. Bereits ins Professionelle scheint das Blog http://www.literaturnetz.com/ zu gehen (s. Impressum). http://www.u-lit.de/rezension/rezensionstart.html ist eines von vielen Literaturmagazinen, die regelmäßig ihre Besprechungen anbieten (vgl. auch http://www.versalia.de/rezensionen.php usw.).

Bleiben zum Schluss die echten Einzelkämpfer zu würdigen. Als ersten bzw. erste nenne ich http://www.buecherrezensionen.org/; hier schreibt ein inzwischen pensioniertes Kollegenpaar mit großer Sachkenntnis und Liebe seine Eindrücke nieder. Ebenfalls positiv vom durchschnittlichen Angebot hebt sich http://biblionomicon.blogspot.de/ ab; dort gibt es auch Links zu weiteren Bibliomanen.

Eher schlicht sind dagegen Blogs wie http://amelie-rezensionen.blogspot.de/ oder http://tanjaisaddictedto.blogspot.de/, neben vielen anderen selbstverständlich. Den Rubikon zur bloßen Vermarktungsinstanz hat Marcel Korstian überschritten; dessen Blog braucht man nicht zur Kenntnis zu nehmen, deshalb wird es auch nicht verlinkt.

Vergessen wir zum Schluss nicht den Zweck der Rezensionen: Sie sollen uns nicht vom Lesen der besprochenen Bücher abhalten, sondern in begründeten Fällen dazu anhalten – auch wenn es Leute gibt, die meinen, fürs Partygeplauder sei man mit einer Rezension beinahe schon überinformiert.

Trakl: Traum des Bösen – kurze Analyse

1. Fassung: 

Traum des Bösen

Verhallend eines Gongs braungoldne Klänge –
Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern
Die Wang‘ an Flammen, die im Fenster flimmern.
Am Strome blitzen Segel, Masten, Stränge.

Ein Mönch, ein schwangres Weib dort im Gedränge.
Guitarren klimpern, rote Kittel schimmern.
Kastanien schwül in goldnem Glanz verkümmern;
Schwarz ragt der Kirchen trauriges Gepränge.

Aus bleichen Masken schaut der Geist des Bösen.
Ein Platz verdämmert grauenvoll und düster;
Am Abend regt auf Inseln sich Geflüster.

Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen
Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen.
Im Park erblicken zitternd sich Geschwister.

2. Fassung: (Nachlass)

Traum des Bösen

O diese kalkgetünchten, kahlen Gänge; 
Ein alter Platz; die Sonn’ in schwarzen Trümmern. 
Gebein und Schatten durch ein Durchhaus schimmern 
Im Hafen blinken Segel, Masten, Stränge.

Ein Mönch, ein schwangres Weib dort im Gedränge.
Guitarren klimpern; Flucht aus leeren Zimmern.
Kastanien schwül in goldnem Glanz verkümmern;
Schwarz ragt der Kirchen trauriges Gepränge.

Aus bleichen Masken schaut der Geist des Bösen.
Paläste dämmern grauenvoll und düster;
Am Abend regt auf Inseln sich Geflüster.

Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen
Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen.
Im Park erblicken zitternd sich Geschwister.

3. Fassung: (Nachlass – Rückkehr zur 1. Fassung, kleine Korrekturen)

Traum des Bösen

Verhallend eines Sterbeglöckchens Klänge –
Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern,
Die Wang’ an Sternen, die am Fenster flimmern.
Am Strome blitzen Segel, Masten, Stränge.

Ein Mönch, ein schwangres Weib dort im Gedränge.
Guitarren klimpern, rote Kittel schimmern.
Kastanien schwül in goldnem Glanz verkümmern;
Schwarz ragt der Kirchen trauriges Gepränge.

Aus bleichen Masken schaut der Geist des Bösen.
Ein Platz verdämmert grauenvoll und düster;
Am Abend regt auf Inseln sich Geflüster.

Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen
Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen.
Im Park erblicken zitternd sich Geschwister.

Die Überschrift kündigt einen „Traum des Bösen“ an. Da jedoch nirgends von einem Träumer die Rede ist, bleibt unklar, was „Traum“ hier bedeutet; denn „Traum“ gibt es in zwei Lesarten, „Wunsch“ und „Schlafbilder“ (DWDS, owid). Da der Traum des Bösen kaum als Wunschbild zu verstehen ist, liegt zunächst die Vermutung nahe, im Text finde man „Bilder, Bildersequenzen bzw. Filme während des Schlafes“ (owid). „Traum“ taucht jedoch in den Dornseiff-Bedeutungsgruppen auch unter „Falsch, Irrtum; Einbildung, Wahn; Enttäuschung; Übersinnliches“ auf (Wortschatz Uni Leipzig). Auch dieses negative Traum-Verständnis würde den Text des Gedichtes abdecken.

Die Textgestalt des Gedichtes ist nicht ganz sicher. Die 1913 veröffentlichte Fassung (1. Fassung) hat Trakl zweimal überarbeitet, einmal ziemlich stark (1. Strophe fast vollständig, 2. und 3. Strophe geringfügig); in der 3. Fassung ist er fast vollständig (bis auf zwei kleine Korrekturen) zur 1. Fassung zurückgekehrt; die 2. und die 3. Fassung sind aber nicht (mehr) veröffentlicht worden. Diese Arbeit am Text zu untersuchen wäre ein eigenständiger Arbeitsgang – halten wir uns hier an die 1. Fassung; sie ist diejenige, die neben der 3. Fassung am häufigsten abgedruckt wird.

Wir haben in der Tat eine Abfolge von Bildern vor uns, die mit einer Ausnahme (V. 12 f.) jeweils einen Vers einnehmen und sprachlich nicht durch Konnektoren verbunden sind; lediglich in V. 2 könnte man das Erwachen als Folge der verhallenden Klänge auffassen. Es sind Bilder unheilvoller Situationen (schwarze Zimmer, V. 2; Flammen, V. 3; schwangres Weib, V. 5; usw.); zu ihnen gibt es nur in der 1. Strophe noch zwei Kontraste, des Gongs braungoldne Klänge (V. 1) und die blitzenden Segel und Masten (V. 4) – deren Blitzen kann aber auch als gefährlich verstanden werden. Die Sujets und Situationen wechseln beliebig: Zimmer (V. 2 f.), Gedränge in der Straße (V. 5), Kirchen in der Stadt (V. 8), ein Platz (V. 10) usw.; einige Vorgänge sind nicht lokalisiert (Gong verhallt, V. 1; Guitarren und Kittel, V. 6; verkümmernde Kastanien, V. 7; usw.). Einen zeitlichen Zusammenhang der einzelnen Ereignisse kann man nicht erkennen – es sei denn, man konstruierte eher willkürlich um den Abend (V. 11) herum einen zeitlichen Zusammenhang. Auch ist kein Sprecher auszumachen (mit dem 1. Vers der 2. Fassung wird ein betroffener Sprecher angedeutet, aber später wieder aufgegeben – zu Recht!). Der Tonfall ist ziemlich flüssig: fünf Jamben pro Vers plus eine weibliche Kadenz, die ein abschließendes Innehalten bewirkt.

Eine gewisse Bedeutung besitzt die Form des Sonetts: Zu Beginn der Terzette, in V. 9, steigert sich die Wahrnehmung der bösen Bilder zur Personifikation des Geists des Bösen, der aus den Masken schaut. Es wird angedeutet, dass die Aussätzigen möglicherweise bald verwesen (V. 12 f.), was ebenfalls die zuvor gezeigten Bilder des Bösen übertrifft. Als letzte Steigerung des Bösen ist die Andeutung des Geschwister-Inzests in V. 14 zu lesen.

Den Reihungsstil, dass also Bilder unverbunden aufeinander folgen, hat Trakl in seiner zweiten Schaffensperiode (1909-1912) entwickelt; dieser Stil ist dann typisch für Gedichte des Expressionismus geworden. In solchen Gedichten äußert sich das Unbehagen in der Kultur nach 1900 – in der Rückschau sagen wir dann leicht, darin kündige sich der 1. Weltkrieg und das Ende des bürgerlichen 19. Jahrhunderts an.

http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Trakl (Leben und Werk)

http://www.georgtrakl.de/index.html (ähnlich, mit großem Quellenverzeichnis)

http://www.wcurrlin.de/kulturepochen/kultur_expressionismus.htm (Expressionismus)

http://www.fundus.org/pdf.asp?ID=461 (Hermetische Lyrik: George – Trakl – Benn; dort die Einleitung, S. 2 ff., und die Ausführungen zu Trakl, S. 12-15)

Text(e):

http://www.textlog.de/17489.html

http://gedichte.xbib.de/Trakl_gedicht_Traum+des+B%F6sen.htm

www.munseys.com/diskeight/didi.pdf

http://www.literaturnische.de/Trakl/texte.htm (mit Materialien zu Trakl)

Birkenbihl: Das große Analograffiti-Buch – Besprechung

Frau Birkenbihls Buch (2002) bringt Beispiele zu zwei kreativen Methoden: Einmal leitet sie dazu an, Bildchen zu malen, die sie mit dem C-geschützten Begriff Analograffiti nennt; die zweite ist die altbekannte Idee, zu etwas ein Abc zu schreiben (s. den Artikel in meiner Rubrik Schreiben, produktiv).Zur ersten Methode trägt sie die Theorie vor, mit einzelnen Wörtern gelange man auf dem Weg der Assoziation ins riesige Wissensarsenal des gleichfalls assoziativ organisierten Unterbewussten, während man mit Sätzen bloß im Minibereich des Bewussten bleibe; das Verhältnis der beiden Bereiche betrage etwa 15 mm (Bewusstes) zu 11 km (Ubw). [Wie Frau B. die Größe des Ubw ermitteln kann, ist mir schleierhaft; das erinnert mich an die Angabe der Größe der Dunkelziffer bei Kinderschändung und Zigarettenschmuggel – die Pointe der Dunkelziffer ist doch gerade, dass sie unbekannt ist und von sogenannten Fachleuten geschätzt wird. Warum sollte das beim Areal des Unbewussten anders sein?] Sie beruft sich auf Tor Noerretranders: „Spüre die Welt“ (1994) als eines der besten Bücher, die sie je zum Thema gelesen hat; wenn man diesem Titel im Netz nachgeht, stößt man auf gut 60 Beiträge; der beste davon ist der aus Wikipedia: Nonverbale Kommunikation. Was Frau Birkenbihl anbietet, ist natürlich lange bekannt, nur lief es bisher nicht unter dem Titel gehirngerecht (noch besser: gehirn-gerecht – mein Ubw schlägt außerdem die Variante gehirn-geRECHT vor!). Frau B. weiß natürlich, „dass fast alle (sogenannten) Kreativitäts-Techniken (in der Vergangenheit) primär Gebrauchsanleitung von möglichst zahlreichen Assoziationen waren“ (S. 9); gleichwohl beschimpft sie (nein, tut sie nicht, sagt sie) die Schule, weil diese die von ihr empfohlenen Methoden nicht einübe [wäre es anders, brauchte sie das Buch nicht zu schreiben und könnte ergo nichts daran verdienen] – zur Entschuldigung der Schule führt sie an, dass „80 % dieser Forschungsergebnisse“ noch nicht bekannt waren, „als unsere Eltern und Lehrer ihre Ausbildung erhielten“ (S. 9, Anm. 2). Na, war auch nicht so schlimm – die richtige Idee, Assoziationen zu üben, hatten die Altvorderen durchaus! Hierhin gehört auch die Idee, Redewendungen (allgemeiner: Metaphern, Frau B.) wörtlich zu nehmen; das kann man bei intensiver Gedichtlektüre ebenfalls lernen. Und dass Assoziationsübungen nur sogenannte Techniken sind, während Analograffiti echte darstellen, verschmerze ich. Ich schlage vor, wir sollten den Mut zu mehr Metavorgriffen [neues Wort, aus metaphorisch und Vorgriff – ich beantrage copyright!] aufbringen, dann fielen die Rückgriffe aufs Altbekannte nicht als solche auf.In einer Sache muss ich Frau B. leider tadelN (bloßer Schreibfehler, aber trotzdem toll: Das ist ein Tadel von N!): Ihre Anleitung, im Text zu unterstreichen (S. 13), ist katastrophal; sie predigt nämlich, man solle möglichst viel unterstreichen (tun die Schüler längst, manche markieren drei Viertel eines Textes farbig – denen schlage ich vor, sie sollten lieber das Unwichtige markieren, das wäre weniger). Das GegenTEIL (oder GEGENteil?) ist richtig: Man sollte sich überlegen, was wirklich wichtig ist, und nur das ganz Wichtige markieren (am besten mit gelbem Textmarker, den sieht man beim Kopieren nicht, oder durch ein Stichwort oder ein Zeichen am Rand – dann ist der Text noch ganz sauber!). Noch einen Tipp hätte ich für Frau B. (daraus macht sie bestimmt ein neues Buch: Gehirn-geRECHT fragen, oder MetaMENTale Quaestionen, vielleicht auch Testa-Mentales Fragen): Man sollte herausfinden, welche Frage überhaupt zur Debatte steht und wie sie beantwortet wird. Das kann man aber bereits in meinem AB zur Analyse theoretischer Texte nachlesen.

PS

Man muss der assoziativen Methode ihren Platz zuweisen; sie zeigt ihre Stärke, wenn es darum geht, Ideen zu finden, sich etwas (relativ) Neues einfallen (einFALLen) zu lassen. Danach geht es darum, diese Einfälle zu sortieren, zu prüfen, und zwar mit Hilfe der Gedanken; Gedanken werden jedoch in Sätzen ausgesprochen – die Ereignisse in der Welt sind nicht assoziativ verbunden, ihre Zusammenhänge werden sprachlich in Sätzen erfasst. Das versuche ich den Schülern mühsam beizubringen: etwa dass man eine

Stichwortsammlung nicht als Lösung eines Problems ansehen kann, sondern nur den ausgearbeiteten, mehrfach geprüften

Text (textum, Frau B., Gewebe! – ziehen Sie sich stattdessen mal assoziativ verbundene Wollfäden an!).

Die ganze Bauchgefühl-Apologie beruht auf der Assoziation. Dunkle Haut – Moslem – Terrorist – schießen, das ist eine schöne Assoziationskette, die so gebildet werden kann und in London auch gebildet worden ist. Wohlgemerkt, ich klage nicht die schnell schießenden Polizisten an und ich behaupte auch nicht, Frau B. verteidige diese Kette; sie propagiert das assoziative Denken, dessen Grenzen ich aufzuzeigen versucht habe, als die unheimlich Wissen erschließende Methode – das ist bloß ein alter Hut, den sie frisch aufgeputzt hat.

Nachruf auf Vera Birkenbihl (mit Zugang zu einigen Aufsätzen): http://www.gehirn-und-geist.de/alias/nachruf/vera-f-birkenbihl/1131196

Kenneth Grahame: Der Wind in den Weiden – Besprechung

 

Nachdem ich den kleinen Bären vorgestellt habe, kann ich gleich Kröterich nachschieben; das ist der Held (oder was man in Büchern so nennt) des zauberhaften Buches von K. Grahame, das bereits 1908 in England erschienen ist und das ich leider erst vor einigen Jahren kennengelernt habe. Der Erzähler besitzt den gleichen Humor wie im Buch vom kleinen Bären – beeindruckt hat mich, wie die Freunde des angeberischen Kröterichs zu ihm halten und seine Schwächen ertragen (dezent!) und seine Fehler kompensieren.
Meine ausführlichere Besprechung (vor allem des 1. Kapitels – man kann das Buch überhaupt nicht kurz besprechen!) ist mit 20six.norberto42 untergegangen; doch das Loblied auf Kenneth Grahames Buch soll nicht verstummen. Und noch eines: Für Kinder ist das Buch fast zu schade, nur als Erwachsener weiß man es zu schätzen (stimmt das? Mensch, es ist schon so lange her, dass ich Kind war!). Also, der langen Rede kurzer Sinn: unbedingt lesenswert! – Bei dtv ist eine Taschenbuchausgabe greifbar.

Im März 2009 habe ich das Buch noch einmal gelesen: Ich bleibe bei meinem Lob und der Empfehlung, es zu lesen!

Der kleine Bär

Diese von Else Holmelund Minarik erfundene Gestalt (1957, wenn ich es richtig sehe) ist wesentlich klein, also voll naiver Hoffnungen, und von anderen Kleinen umgeben, wird aber von einer lieben Mutter und einem klugen Vater begleitet – und man kann es als Leser dadurch ertragen, dass die Wünsche des kleinen Bären nicht in Erfüllung gehen werden und dass man trotzdem nicht verzweifeln muss, weil in der Spannung der beiden Perspektiven (kleiner Bär – Eltern) sich ein objektiver Humor zeigt, dessen Weisheit mich berührt.
Das schönste der Bücher aus dieser Reihe ist für mich „Vater Bär kommt heim“ (1959). Die Bücher sind im Verlag Sauerländer immer wieder aufgelegt worden. Wer sich und seinen Kindern etwas Gutes tun will, soll sie ihnen vorlesen, ob die Kinder nun fünf oder zwanzig Jahre alt sind. Und wer keine Kinder hat oder keine mehr im Haus hat, soll sich selber etwas Gutes tun und die Bücher langsam lesen, als ob er sie Kindern vorläse.
Ende 2005 lief auf dem Kinderkanal abends um 18.40 Uhr eine Verfilmung der Erzählungen, aber wie üblich bunt und laut, die zarten Tröstungen überspielend.

Hartmut Rosa: Beschleunigung – Besprechung

Wenn man Thomas Assheuer glauben darf, der Hartmut Rosas Buch „Beschleunigung“ (2005, stw 1760) in DIE ZEIT vom 26. Januar besprochen hat, liegt hier endlich die große Zeittheorie vor (gewaltig, monumental und erschöpfend sei der Anspruch dieser soziologischen Theorie). Als Leser wird man jedoch an manches erinnert, was man bereits kennt:
Dass Beschleunigung unsere Welt im Innersten zusammenhält, wissen wir von Paul Virilio;
dass wir nicht im Licht zeitstabiler Werte entscheiden, hat Niklas Luhmann längst gezeigt: dass nämlich in der Politik nicht über Werte entschieden wird, sondern nur über die Reihenfolge, in der den unterschiedlichen Werten Rechnung getragen wird;
dass die vermehrte Güterproduktion mit einer Verknappung der Zeit einhergeht, konnte man bereits 1971 bei Staffan B. Linder nachlesen (und in einem großen Essay Nikolaus Pipers vor vielleicht 15 Jahren in der ZEIT);
und dass der Tod des Einzelnen anscheinend Menschen zwingt, das Leben intensiv auszukosten (carpe diem), ist auch keine originelle Einsicht – Hans Blumenberg hat von der Zeitschere gesprochen, die zwischen der Lebensdauer des Einzelnen und der größer gewordenen Weltzeit (genauer: deren Größe in unserem Wissen immer mehr gewachsen ist) immer stärker auseinanderklafft. Diese Zeitschere geht außerdem mit dem Verlust des Gottesglaubens parallel; denn wenn ich glauben kann, dass Gott mich selber gemeint hat, macht es nichts aus, ob die Welt sechstausend oder sechshunderttausend Jahre alt ist; aber wenn ich ohne Gott in einem Milliarden jahre alten Universum kurzzeitig herumirre (vielleicht sogar nur in einem von vielen Universen – obwohl das ein Widerspruch in sich ist), dann muss ich mein Quäntchen Zeit exzessiv nutzen.

Wenn ich ehrlich bin, kann ich aus Assheuers Besprechung nicht den großen Neuheitswert von Rosas Buch („eine soziologische Gesamtsicht, die systematische Einbettung von Zeit und Beschleunigung in eine Theorie der Moderne“) erkennen; denn dass ein neuer Sozialcharakter entstanden sei, „der Spieler oder Drifter“, der sich alle Optionen offen hält und Bindungen scheute, ist fragwürdig; neu ist das Wort „Drifter“, aber der Spieler ist als Typus in der Literatur schon lange bekannt – man kann es in Elisabeth Frenzels Buch „Motive der Weltliteratur“ nachlesen. Freilich halten heute weder Ehen (und eheähnliche Verhältnisse) noch Berufe lebenslang – aber ob man das mit einem Typus Drifter hinreichend erklären kann, bezweifle ich; Berufstätigkeit der Frauen und soziale Sicherungssysteme erklären mehr als ein vermeintlich neuer Typus.

Peter von Matt: Die Intrige – Besprechung

 

Ich kenne vier Bücher des Germanisten Peter von Matt; das neue, „Die Intrige“, kann sich mit dem „Liebesverrat“ darum streiten, welches das beste von allen ist. „Die Intrige“ ist also ein großes Buch, ein lesenswertes Buch: weil von Matt anschaulich Literatur referieren kann; weil er offensichtlich die europäische Literatur hervorragend kennt; und weil das Thema ein elementar menschliches ist.

Matt zeigt also, wie das Intrigieren mit dem Versuch des sich aufklärenden Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, verbunden ist; wie es die europäische Literatur seit der Ilias bestimmt; wie die scheinbar einfache Form der Fabel mit dem Fuchs als Akteur in der Literatur zentral ist. Und er zeigt in einem, was der Umbruch von der feudalen zur bürgerlichen Literatur im 18. Jahrhundert fürs Intrigieren bedeutet (das ist nichts mehr für Frauen) und wie sich der Umbruch zur Moderne ab 1900 in der Darstellung der Intrige spiegelt. Nebenher kriegt man noch einiges von Kriminalromanen mit, die man (also ich) nur dem Namen nach kannte.

Mich hat das Buch angeregt, einzelne seiner Gedanken weiterzuspinnen und sie an Themen zu binden, die mich interessieren; ich habe sogar Anregungen dafür gefunden, was ich in einem Jahr bei meiner Pensionierung sagen und nicht kann. Ein schönes Buch, für das ich seinem Autor danke.

Orhan Pamuk: Schnee – Besprechung

 

Ich habe die Lizenzausgabe für die BpB vor mir, nehme jedoch an, dass sie mit der Hanser’schen Ausgabe seitengleich ist.

Der Titel „Schnee“ hat zwei Dimensionen: Einmal schneit es in Kars, als sich der Dichter Ka dort einige Tage aufhält, und erst in der Trennung von der Außenwelt wird das ganze Morden in Kars möglich; zweitens sind die 19 in Kars entstandenen Gedichte in der Form einer Schneeflocke einander zugeordnet, und zwar auf den drei Bacon’schen Achsen Erinnerung, Vernunft, Phantasie. Um es gleich vorweg zu sagen: Die zweite Schnee-Idee überzeugt mich nicht; die durch Eingebung entstandenen Gedichte bleiben, da sie nirgends erhalten sind, zu unbestimmt beschrieben, als dass ich in ihnen das Abbild einer göttlichen Weltordnung sehen könnte.

Im Roman dominieren zwei Themen, die inneren Probleme der Türkei oder des Türkischseins, das zwischen Europa, Islam und Armut sich zu definieren sucht, wobei die Lust zu gewaltsamen Lösungen und endlosen Debatten mitschwingt – insgesamt wird für den Leser etwas zu viel debattiert, die Themen wiederholen sich; wie weit diese Türkeidarstellung „richtig“ ist, kann ich nicht beurteilen. Das zweite Thema ist die Liebe, die Liebeshoffnung und -erfahrung verschiedener Figuren – zunächst Kas zur schönen Ipek und die Kadifes zu Lapslazuli; aber da kommt noch einiges an Hoffnungen und Enttäuschungen hinzu. Dieser Aspekt Liebesroman ist der (mich) eher fesselnde, wobei zum Schluss letztlich unklar bleibt, warum Ka Lapislazuli verraten und so Ipek verloren hat. – Das Liebesthema ist mit zwei kriminalistischen Erzählfäden verwoben, den Morden während des Theaterspiels und den geheimen Treffen mit verfolgten Islamisten.

Die Erzählsituation befriedigt nicht: Zuerst hat man den Eindruck, ein allwissender Erzähler agiere souverän; dass ein Ich-Erzähler da ist, habe ich erstmals auf S. 123 bemerkt. Woher hat dieser Ich-Erzähler Orhan (Pamuk) sein umfassendes Wissen? Er war mit Ka befreundet und hat dessen akribisch genaue Aufzeichnungen von den Tagen in Kars gelesen (S. 496) – aber Ka hatte in den paar Tagen gar keine Zeit, alles genau zu notieren, und dass Ipek ihm weitere Details erzählt habe (S. 498), ist auch nicht plausibel. Dieser Ich-Erzähler Orhan (S. 301 ff.) spricht ebenso wie die Figur Fazil von dem Roman, den Orhan schreiben wird [also geschrieben hat], und von seinen Lesern sowie von dem, was diese glauben oder nicht glauben werden; der Ich-Erzähler kann derart in den Vordergrund treten, weil Ka vor einigen Jahren ermordet worden und das grüne Heft mit den 18 erhaltenen Gedichten und dem einen rekonstruierten verschwunden ist. Fazit: Der Ich-Erzähler weiß für seine Rolle zu viel; vielleicht wäre sein Versuch, sich aus Aufzeichnungen und Gesprächen zu informieren und aus diesem Wirrwarr von Perspektiven und Meinungen die Umrisse eines Bildes zu machen, besser gelungen.

Orhan Pamuk ist wegen des Buches in der Türkei heftig angegriffen worden; das war das Beste, was ihm als Autor passieren konnte.